Johann Heinrich Voß
Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier? (1)
Johann Heinrich Voß

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Um diese Zeit begann Stolberg die Übersetzung »Platonischer Gespräche«, die in 3 Bänden 1796–97 herauskam. Begeistert von der Gallitzin, seiner Diotima, eifert er in den Anmerkungen wider die neueren Weltweisen und Theologen mit gräflichem Selbstgefühl, zu vornehm für bürgerliche Bescheidenheit. Dabei erzählt er (I, 153) aus Plutarch vom Tode des großen Pan, welche Geschichte viel Aufsehens in Rom gemacht, so daß Tiberius (zu dessen Zeit unser Herr gekreuziget ward) sich erkundet nach dem großen Pan. Aus einem Worte des Sokrates lockt er (I, 159) die Lehre: eine Schrift habe nicht völlig Bestand ohne Überlieferung. Sehr wahr in Beziehung auf die Heilige Schrift, wenn er überlieferte Kenntnisse vom Geiste des damaligen Zeitalters gemeint hätte. Schön findet er (I, 295) die ehliche Liebe zwischen Hektor und Andromache, zwischen Odysseus und Penelope; »aber nirgends im ganzen Altertume so schön und so herzlich in edler Sitteneinfalt als in unsern heiligen Schriften bei Abraham, Isaak und Jakob und anderen«, wozu auch David gehören mag und Salomon. Keine Sprache, sagt er (I, 310), ist so züchtig als die Sprache der Heiligen Schrift. Wenn er noch gesagt hätte: sie ist manchmal für uns zu natürlich, aber keusch nach morgenländischer Art! Sei's auch nicht wahr, dacht er, ich sag es in guter Meinung, und das liebt der Herrgott.

Jetzt war Stolberg in beständiger Fieberglut, zumal wenn eine Münstersche Siegsnachricht, die er den zusammengerufenen Bedienten mitgeteilt, wie gewöhnlich in ein Lami ausging. Dann polterte sein rascher Tritt meine Treppe herauf, dann flog die Türe, daß im Winter Rauch und Feuer aus dem Ofen fuhr, dann kam Unruh in mein stilles Gemach. Flüche hört ich auf Franzosen und auf deutsche Jakobiner, nun auch Illuminaten genannt, und auf Unchristen; absetzen sollte man, ja wegjagen ohne weiteres. Kaum war noch ein vernünftiges Gespräch übrig. Denn, wenn St. mir dergleichen mit Worten, die zu hören sein Kutscher gewöhnt sein mochte, vorwütete oder wenn er, wie absichtlos, sich entfallen ließ, die Tugenden eines, der von Gott nicht denke wie er, sein gottlos; die Schriften der Heiden sein verderblich, weil demokratisch; man bedürfe jesuitischer Schullehrer – welche Antwort blieb, als ein Anblicken der Verwunderung? Eines Nachmittags, da ich in der Wohnstube auf dem Ohnsorgestuhle gestreckt ausruhte, brach der Dämonische herein und schüttete uns seine Galle vor. Ich, in behaglicher Laune, ruhete fort und hörte zu. Endlich erschöpft, sprach er mit meiner Frau über Blumen und ging.

Weit unerträglicher war's, wenn der Gallsüchtige im vornehmen Tone der Zurechtweisung sprach oder mit höfischen Stacheln prickelte. Ein solcher Besuch entpreßte mir das Gedicht »Offener Zorn«:

Hat Leides dir das Blut vergällt,
Und wühlt dir Groll im Herzen;
Ihn lieber grad herausgebellt,
Als unter bittern Scherzen!

Am Schluß:

Sei stets, auch eifernd, ungefälscht,
Du Sohn von Teut und Mana:
Nicht schlau gehöfelt noch gewelscht
Mit tückischer Tofana!

Nach einer der zu häufigen Aussöhnungen entstand das Gedicht »Die Andersdenkenden«, welches schließt:

Dein Bruder meint's, du Lieber,
Mit Gott und Menschen gut.
Sonst, sage mir, wie hüb er
So fröhlich Aug und Mut?

Laß denn die bösen Namen
Auf -aner, -ist und -at!
Sie streun des Bösen Samen
Und dämpfen Rat und Tat.

Die Summe der Vereinung:
Der Gegner sei geehrt!
Verfolgt sei nur die Meinung,
Die freie Meinung stört!

Den Zutritt eines Freundes mißbrauchen zu dem, was sonst kein Junker mir zu bieten gewagt hätte, war nicht edel. Aber den Unglücklichen hatte die politische Wut so besessen, daß das Sprichwort immer mehr in Erfüllung ging: vor Ärger katholisch werden.

Gleichwohl in dem selbigen Jahr 1794 vermochte Stolberg, uneins mit sich selbst, seinen elfjährigen Sohn Ernst und den siebenjährigen Andreas zu öffentlichem Unterricht meinem mir völlig gleichdenkenden Schwager und Amtsgenossen, dem jüngeren Boie, zu vertraun. Rudolf Boie war ein Mann von weitumfassender Gelehrsamkeit, die mir oft aushalf, bewandert in Dichtern und Prosaikern des Altertums und der neueren Zeit, in Geschichte, Weltweisheit und allen Fächern der Theologie, ein vorzüglicher Schullehrer und Kanzelredner, in engerem Kreise ein unterhaltender Gesellschafter, ein goldtreuer Freund. So kannte St. aus vielen Unterhaltungen bei mir den Bruder seines Freundes Christian Boie und den unsrigen. Aber niemals, eh Boie als ein Frommer den langsamen Tod erwartete, lud ihn St. in sein Haus, er, der mit allerhand Adligen sich gemein machte. Ein rangloser Gelehrter oder Tintenmann, und dabei Schullehrer mit dürftigem Gehalt, ist unserem deutschen Adel höchstens einer gütigen Aufmerksamkeit oder, wie St. bei den »Platonischen Gesprächen« (I, 311) sagt, einer banausischen Freundschaft»Banausos (sagt Stolberg) bezeichnet eigentlich einen Menschen, der am Feuer arbeitet, überhaupt bedeutet es einen Menschen von sitzender und durch Fleiß erwerbender Lebensart. Solche wurden, als wenig fähig zu edlen Geistesbeschäftigungen und zu kühnen Taten, geringgeschätzt. Eine gemeine Freundschaft wird irgendwo von Platon eine banausische Freundschaft genannt.« Der Grieche nennt Banausos einen Handwerker von sitzender Lebensart. Warum lieh unser Graf dem verachtenden Wort einen so weiten Sinn, der auch den fleißigen Gelehrten, den selbsttätigen Geschäftsmann und den Amtsbesorger umfaßt? Mitunter gewiß, wann er dies Lieblingswort nachdrücklich mit Lächeln aussprach, war ich selbst, ohn es zu ahnen, der banausische Freund! würdig. Ein Hochgeborener drechselt wohl selbst ein wenig zum Vergnügen; den eigentlichen Drechsler nutzt und verachtet er.

Zum Hauslehrer (denn gräflicher Anwachs muß was voraushaben) wählte sich St. einen Zögling von Funk in Magdeburg, den jetzigen Prof. Delbrück. Zwar hatte der die Gewissensfragen über Politik und Religion nicht ganz nach Wunsche beantwortet, aber mit dem Zusatz, auch Funk denke so, sich vorderhand geschützt. Nicht lange, so ward er verabschiedet, weil er von den Kreuzzügen unpäpstlich dachte, und ersetzt durch einen Pädagogen, der dachte, wie es gefodert ward.

Am 28. August 1794, dem Geburtstage der Fürstin Gallitzin, sang Stolberg voll dithyrambischer Begeisterung:

Schauer der Ehrfurcht,
Der Freude Schauer,
Beben mir, o Geliebte! durch Mark und Gebein
Beim Gedanken an dich,
Die du sonnest im Strahl
Der ewigen Sonne!

Heb, o Geliebte!
Heb, o Gesegnete des Herrn!
Auf deinen Schwingen
Zur ewigen Sonne,
Heb, o Geliebte, mich empor!

Das Licht dieser ewigen Sonne, sagt er, sei Wahrheit, ihre Glut Liebe. Zur wahren Religion der Liebe, zur römisch-katholischen, strebt er empor.

Der Winter 1794–95 brachte dem edlen Boie den schmerzhaft langsamen Tod. Seine Ruhe, sein heiterer Geist, der bis zu den letzten schlaflosen Nächten nach Kenntnis rang, war auch für Stolberg so rührend, daß er fast täglich ihn besuchte. Dennoch vernahm ich einmal liebloses Gezischel über unsere Religion. Als St. darauf in mein Zimmer stürmte, empfing ich ihn mit den Worten: »Heut müssen wir über ernsthafte Dinge uns aussprechen; Sie haben unser Verhältnis zu Gott wieder ein unchristliches genannt; das darf ich als Schullehrer nicht hingehn lassen.« Das anfangs heftige Gespräch ward allmählich gelassener und endigte nach drei Stunden in Wehmut. St. begann sich unwohl zu fühlen in der Kälte seiner dogmatischen Phantasie; das täuschende Sonnenbild seiner Gallitzin, das weder leuchtet noch wärmt, ward ihm verdächtig; die wahre Sonne, die Allbeleberin, die ein Gewölk ihm verdeckt hatte, traf mit vorblickenden Strahlen sein Herz. Er weinte an meinem Halse, da er gegenüber nicht Greuel sah, sondern Frieden in Gott und, als Zeugen dieser schon hier anfangenden Beseligung, Boies Abschied. Vom Abendmahl dacht er damals wie Zwingli; Luthers noch halbkatholische Vorstellung schien ihm »absurd«. Den letzten Unwillen richtete er gegen die Leugner der Weissagungen: »Hierüber zu urteilen«, sagte ich, »müßten wir jede Weissagung besonders untersuchen. Wollen Sie? Ich kann noch genug hebräisch; wir forschen, nicht gläubig und nicht ungläubig, wie etwa im Homer; was wir auch finden, das Gefundene wird uns erfreun als Wahrheit.« – Stolberg schwieg. – Ich wiederholte und erbot 4 bis 6 Stunden wöchentlich. – Er sprang ab. – Oh, hättest du die Prüfung nicht gescheut, Stolberg, manches, was du zu verantworten hast, wäre wohl nicht geschehn! Und doch rühmte sich nach dem Abfall der Verblendete, strenge geprüft zu haben bei »täglicher Anrufung des Geistes der Wahrheit«.

Von mir ging er zu meiner Frau bei Boie, wo er mit ungewöhnlich heiterem Gesicht erzählte, er habe mit mir eine sehr angenehme Unterredung gehabt. Am 5. April 1795 schrieb ich unserem Gleim: »Zu Stolbergs kommen wir jetzo nicht, weil sein Gast, der gemütskranke Zimmermann, alles Geräusch fürchtet. Desto fleißiger kommt Stolberg zu uns und zu unserm Kranken. Neulich vergingen uns drei Stunden wie Augenblicke im Gespräch über Religion. Er duldet jetzt andre Überzeugungen mit Ruhe, mit Heiterkeit. Ich träumte die ganze Nacht, wie wenn einem was außerordentlich Frohes begegnet ist; auch er war mit einer Fröhlichkeit zu den Seinigen gekommen, daß sie den folgenden Tag mit Verwunderung davon sprachen.« Und meine Frau schrieb ihm: »Mit Stolberg sind wir seit Jahren nicht so herzlich gewesen als jetzt; das tut uns innig wohl. Die dreistündige Unterredung und das ruhige Scheiden unseres Treuen haben sein Herz erschüttert.« Einige Tage darauf hatte Stolbergs Gemahlin Sophie am Lager des Absterbenden (dem sie gern Andachtsbücher vorlesen wollte) meine Frau lächelnd gefragt: »Was kann denn Voß mit meinem Manne gemacht haben?« Auffallend war's, daß St. es bei der einen Unterredung bewenden ließ.

Nach der Todesnacht, am 16. April, ging ich zu St. mit Boies letztem Gruß und letzter Bitte: Er möchte das Seinige tun, daß unser Freund Wolff, mein Kollaborator (jetzt Konrektor in Flensburg), der seit dem vorigen Sommer Boies Schule verwaltet hatte, mein Lieblingsschüler und Sohn des vorigen verdienstvollen Superintendenten in Eutin, das Konrektorat erhielte. Stolberg erblaßte: »Ach, wenn es nur nicht zu spät wäre!« – »Wie das?« – »Weil man Boies Tod voraussah, ist wahrscheinlich schon sein Nachfolger ernannt worden.« – »Unmöglich! die Form ist ja: das Konsistorium, mit dem Rektor sich besprechend, schlägt mehrere vor, und nach den Zeugnissen wird gewählt.« – St. antwortete verwirrt, W. werde für heterodox gehalten. – »Was und wessen denn ist die Anklage, die den guten W. ungehört von der Fähigkeit einer Anstellung im Vaterlande ausschließen soll?«

Stolbergs Antwort bewog mich, sogleich an Graf Holmer in Oldenburg einen Brief zu schreiben, woraus ich das Wesentliche mitteilen muß.

»Ew. Exzellenz werden mich mit Gefühl für einen Unschuldigen vernehmen und mit Unwillen gegen pfäffische Arglist, die unser edel regiertes Land mit einer Art Wöllneriade bedroht.

Es war im Herbst 1792, als auf Henslers langes und dringendes Betreiben sein Neffe, der Sohn des Pastors, nunmehrigen Generalsuperintendenten Callisen, mein Schüler ward. Nach Neujahr 1793 meldeten mir beide Hensler, der Kandidat Wolff erlaube sich in der theologischen Stunde Äußerungen, wovor der Vater erschrecke. Ich, voll Verwunderung, befragte Wolff und den jungen Callisen. Aus ihren gleichstimmigen Anzeigen ergab sich dies:

Der ehrliche Dorfpastor CallisenZu diesem Callisen ward ich im Frühling 1776 von Claudius geführt, als er, nach Darmstadt gehend, bei dessen Frau, Henslers Schwester, Abschied nahm. Ihn nannte Claudius auf Holsteinisch einen Swöger. Durch Swögen und Altgläubigkeit, als Nachbar des Bernstorffischen Guts Borstel, gelangte er, Gott weiß wie, zur Würde eines Holsteinischen Generalsuperintendenten, damit er der Aufklärung des Schleswigischen Generalsuperintendenten Adler, welcher Bernstorff begünstigte, entgegenwirkte. , von seinem Schwager Hensler genötigt, sandte mir seinen sechzehnjährigen Sohn mit dem Auftrage, ihm einzuberichten, was etwa bei mir gegen die Reinigkeit seiner Religion verlautete. Der gute, zum Auflaurer gar nicht geschaffene Jüngling meldete ein Vierteljahr lang allerlei, das dem Vater wohl bedenklich, aber noch immer kein Grund zur Anklage scheinen mochte. Endlich kommt der auffallende Satz: Die Bibel sei von Gott eingegeben; aber nicht wörtlich, nicht alles und jedes in der Bibel (z. B. Geschichte, Genealogie u. dgl.), nicht also die ganze Bibel sei Offenbarung, sondern in der Bibel sei Offenbarung. Ein ganz gemeiner Satz, der zwar in keine Kinderlehre gehört, aber wohl in den Unterricht denkender Jünglinge, worunter künftige Geistliche sind. – Ich drang auf des jungen Callisen Entfernung und auf eine Rüge des Schleichweges, den sich der Vater erlaubt hatte. Mein Freund Hensler besänftigte mich; sein Neffe blieb und ward der theologischen Stunden entledigt. Gegen diese Erlaubnis bedung ich strenge Verschwiegenheit, daß nicht dem unschuldig Verunglimpften ein Gezischel folgte.

Aber wer auch der Treulose oder Unvorsichtige sei, schon seit einem Jahre, wie man mir sagt, hat die Verleumdung, Wolff sei nicht rechtgläubig, sich in Eutin, zuerst bei den Höheren, herumgezischelt.

Vor Callisens Schleicherei liebte man Wolffs und Boies Predigten so allgemein, daß Eifersucht der Geistlichen sich äußerte. Einige Zeit nachher, sagt man, ward eine Predigt von Wolff in der Schloßkirche den Höheren zum Ärgernis; besonders soll eine Dame, wovon ich viel Rühmliches weiß, sich nicht wenig ereifert haben. Der Inhalt war: Nicht leeres Glauben, sondern ein gottgefälliges Tun führe zur Seligkeit, der Glaube müsse durch Liebe tätig sein. – Wolff hat die Predigt mir vorgelesen; ich lege sie bei zu Ew. Exzellenz Prüfung. Solche Speise sei zu stark für die Gemeine, haben einige gesagt. – Evangelische Milchspeise für eine Schloßgemeine! Gerade diese Predigt hat in den unteren Stühlen den lautesten Beifall gefunden; man hat sie noch in der Handschrift zu lesen begehrt. Desto befremdender war in den oberen Sitzen dies altfränkische Anstaunen, auch wenn man mit eingezischeltem Mißtrauen hörte.

Ist Wolff solcher Lehrsätze wegen unfähig, selbst der Mitwerbung um die zweite Schulstelle, wo nur harmlose Katechismusfragen zur Sprache kommen, so begreife ich, daß er noch weniger in der ersten Klasse mein Gehülf bleiben darf. Ja, ich selbst muß mein Herz fragen, ob ich zur Bildung der Jugend in Eutin noch tauglich sei. Es könnte ja sein, daß grade dasjenige, was ich als die edelste Nahrung für Geist und Herz, nicht mit schüchternem Umherschauen, nein frei und mit Wärme, vortrage, hier im Verruf wäre wie heimliches Gift.

Wolffs Kenntnisse und Glaubensmeinungen haben würdige Geistliche wie Adler geprüft. Er unterwirft sich hier einer neuen Prüfung; sei auch der Erfolg nur Zerstreuung des bösen Gerüchts, welches sein Glück gefährdet.

Ein Wort von Ew. Exzellenz wird die Verunglimpfungen, die den edelmütigsten Fürsten zu umlagern scheinen, in ihre faulen Dunstwinkel zurückscheuchen.«

Diesen Brief teilte ich dem Grafen Stolberg vor der Absendung mit; er selbst, wenn mein Gedächtnis nicht irrt, wollte für Wolff schreiben. Warum hat er die Verleumdung nicht frühe genug angezeigt, daß W. sich rechtfertigen könne? Dies ward mit Ausreden beschöniget.

Graf Holmer widersprach der Stolbergischen Vermutung: keine Rücksicht auf Rechtgläubigkeit, sondern eine andere, für Wolffs Glück unschädliche, habe S. Durchl. zur Anstellung eines Auswärtigen bewogen. Ich verstand nicht, was gemeint sei; erfuhr aber bald ein anderes Gezischel vom Ende des Jahrs 1793 her. Wolff, der mir seine Zeitung zu bringen pflegte, verkündigte einst im Hereintreten die unerwartete Wiedereroberung Toulons; und die Gräfin Sophie, die zum Weggehn bereit stand, wollte in Ohnmacht fallen. Seitdem, sagte man mir, hieß W. unter den Adligen, so gut wie Boie und ich selbst, ein Jakobiner, ein Demokrat, ein Begünstiger der Blutmenschen. Gewiß kam diese Anschwärzung aus Stolbergs Familie, wahrscheinlich auch die andere, die der wortbrüchige Callisen seinen hohen Gönnern ins Ohr geraunt. O Parteiwut! o schmähliche Kunstgriffe, einen hellsehenden Minister und den edelsten Fürsten zu mißleiten!

Der so angestellte Konrektor hätte gleichwohl ein würdiger Mann sein können. Als solchen empfing ich ihn, vertrauete ihm meine zwei jüngsten Söhne, kam ihm zuvor mit Rat und Willfährigkeit. Aber da half kein Rat, kein Zurechtstellen; der gute Mann war durchaus unbrauchbar; ich mußte meine Kinder noch unreif in eigene Zucht nehmen und sagte mich los von der Aufsicht der zweiten Klasse. Dem verdrängten Wolff, der bald in Glückstadt, dann in Flensburg Schullehrer ward, erteilte der Graf Stolberg vor seinen »Platonischen Gesprächen« im August 1795 ein gütiges Wort über die Vollendung der von Boie zum Teil übersetzten »Republik«: »zu welchen Erwartungen Wolff, ein Zögling von Voß, Freund und Gehülf von beiden, berechtige«.

Auch Stolberg überzeugte sich von des Konrektors Nichtigkeit und bat mich, zu meinen unreifen Söhnen die seinigen aufzunehmen. Wegen der Doppelverketzerung unserer Schule, um die er wenigstens gewußt hatte, lehnte ich's ab. »Sie wissen«, sagte ich, »aus langer Vertraulichkeit mit dem, der die Verstellung haßt, aus meinem Kommentar zum Virgil, aus den »Mythologischen Briefen«, aus mehreren Gedichten, aus den Gesinnungen, die ich dem Pfarrer von Grünau lieh, aus jenem dreistündigen Gespräch, aus dem Briefe an Holmer für Wolff, wie sehr meine Vorstellungen von göttlichen und menschlichen Dingen unähnlich den Ihrigen sind oder grade entgegenstehn. Daß Ihre Kinder den Religionsunterricht bei Ihnen selbst haben, schützt sie keineswegs vor meinen Gesinnungen. Allenthalben, wo sich Gelegenheit darbietet, bei Homer, Virgil, Cicero, Milton, Tasso, trachte ich die Jugend aus finsterem Wahn zu heiteren Begriffen von Menschenwohl zu erheben; das ist mir das Heiligste meines Berufs.« St. antwortete, daß seine Kinder bei mir nichts Verderbliches lernen könnten, und ich nahm die aufblühenden Agnessöhne mit Liebe und Vertraun in meine Schule. Dies geschah in dem Winter 1795 auf 1796.

Ein solches Aufdringen beweist, daß die Eindrücke von dem dreistündigen Gespräch und Boies Tode in Stolbergs Herzen noch nicht erloschen waren. Denselbigen Winter verweilte bei ihm seine Nichte Luise Bernstorff; diese durfte nicht nur unsere tägliche Hausfreundin, unser Töchterchen sein, sondern St. empfahl ihr zur Herzensbildung, wie er sich ausdrückte, mein Grünauisches Gedicht. Ja, seinen Söhnen gab er selbst meinen Kommentar zum Virgil in die Hand samt allen den Anstößigkeiten, die er religionswidrig genannt hatte. Was ihm und den Seinigen gegen Wolffs und meine Rechtschaffenheit entschlüpft war, hätt er wohl gern wieder gutgemacht. Sein Kopf hing vom Herzen ab, sein Herz leider von der Phantasie. Er war ein gutartiges Kind, aber verzogen durch Gräflichkeit und, wenn ihn Leidenschaft aufreizte, mitunter schlimm, sehr schlimm.

Nach so langem Kampfe mit Gram und Verdruß war uns eine Gesundheitsreise zum teilnehmenden Vater Gleim notwendig. Zwar, da mir Wolff fehlte, blieb indes meine Klasse verwaist; aber meine zur Selbsttätigkeit gewöhnten Schüler hielten für sich Schule. Die älteren, nach tüchtiger Vorbereitung, erklärten gemeinschaftlich in beratendem Gespräch, indem einer den Lehrer vorstellte, und halfen den jüngeren fort, wie auch sonst Sitte war; Zweifel und unlösbare Schwierigkeiten wurden für meine Zurückkunft angemerkt. Weil ich sie als ehrliebende Jünglinge nahm, mit ihnen auf den Bänken saß, die Grenzen meiner Erkenntnis, und was ich jenseits vermutete, aufrichtig angab, immer Wahrhaftigkeit, redlichen Fleiß, Selbstforschen empfahl, die reiferen oft zu Tische lud, oft alle zu einem Grünauischen Waldfest am Kellersee mitnahm: so könnt ich auch abwesend ihrer Bescheidenheit sicher sein. Leichtere Unarten wurden gewöhnlich von ihnen selbst abgetan; Verdruß machten mir nur einige Fremde, die ich, durch Umstände genötiget, schon mit einer Falte bekam; die Schulstunden, auch wenn sie mich abmüdeten, waren mir Aufheiterung. So war's auch in Boies Klasse. Als er, der Sanftmütige, durch beginnende Krankheit reizbar ward, hatten die Knirpse, wie ich später erfuhr, einen Bund gemacht, den, der ihn ärgerte, durchzuprügeln. Dabei vollkommene Schulfreiheit, ein für mich erkauftes heiteres Haus mit einem Garten am See, voll Agneserinnerungen, eine Gegend, die uns in Heidelberg reizend blieb, einfach herzliche Lebensart, Nähe von Hamburg, Lübeck, Dithmarschen und Kiel (und welchen Menschen!), biedere und zutrauliche Mitbürger, ein solcher Minister, ein solcher Fürst! Man begreift, daß ich jeden Ruf nach Halle (vor Wolff), nach Breslau (vor Manso), nach Altona, nach Kiel ablehnte und daß endlich mich Entkräfteten nur der tückische Ostwind wegkneipen konnte. Verzeihung, großgünstiger Leser; mir ward alteutinisch zumut.

Wir reisten gegen den Junius 1796 und kamen im Anfang des Julius zurück, ich mit Ohrenbrausen, Betäubung und stechendem Schmerz im Kopf, den Folgen eines auf der Roßtrappe bekommenen Sonnenstichs. Ohne Gehülfen mußte ich, zuerst halbträumend und dann in lebhafter Fieberwallung, Schule halten und dazu den Musenalmanach besorgen, ohne den ich, bei steigenden Bedürfnissen, nicht auskommen konnte. Gleim, der heftige Freund, wollte mir dort oder dort sorgenfreie Muße für Wissenschaft und Poesie erstürmen und bot mir vorläufig zweijährigen Unterhalt. Ich, an meinem Eutin hangend, bat um Erleichterung; und der gütige Fürst gewährte mir Zulage und einen Gehülfen nach eigener Wahl. Im Oktober kam Bredow, ein rüstiger Aushelfer, und bis zu seinem Tode ein lauterer Freund.

Unterdes hatte Stolberg bedeutende Fortschritte gemacht zum Ziele der Münsterschen Bekehrer. In des dritten Bandes »Platonischer Gespräche« Zueignung an seine Söhne vom 30. Julius 1796 tönt schon die Losung: »Alles ist eitel, dessen Grund und Ziel nicht Gott ist!« die er seitdem, zum papistischen Herrgott hinwinkend, unaufhörlich im Munde führt. Und in einer Anmerkung S. 70 wird Sokrates, weil er Wahrheit und Tugend lehrte, ein Proselytenmacher genannt, würdig ein Bruder der heiligen Proselytenmacher zu sein. Heraus kam dieser Band erst in der folgenden Ostermesse.

Voll innerer Stürme, achtete es Stolberg nicht, uns auch diese, durch sein Zutun nötig gewordene Reise der Aufheiterung zu entheitern. Am vorletzten Abend bei Gleim, da wir von der Roßtrappe zurückkamen, empfing uns ein Brief Stolbergs an meine Frau mit einer giftigen, zum Teil unsauberen Beschreibung des hochverräterischen Illuminatenbunds und dem Verlangen, daß ich, zum Beweise meines Abscheus, die beiliegende Strafode »Kassandra« in den Almanach aufnehmen müßte, und zwar ohne mildernde Anmerkung. Die Kränklichkeit meiner Frau kannte Stolberg wie die meinige; auch das Unleidliche meiner Lage. Warum verschob er nicht wenigstens die mitanklagende Zumutung bis zu unserer nahen Heimkehr? Man denke sich das Gespräch auf dem Rückwege, wieviel Herbes wieder aufgeregt, wieviel zum voraus gekostet ward. Und das, da wir anderer Sorgen genug hatten, da die leidende Frau kaum reisen konnte, da mir das Gehirn wie verödet war.

Das Wort Jakobiner für Deutsche, die römisches Pfaffentum und bevorrechtetes Adeltum als Staaten im Staate betrachteten, war endlich verbraucht und beinah lächerlich; man setzte das neugeprägte Illuminat in Umlauf. Die Baierschen Illuminaten, die den Jesuiten zum Teil, sagt man, mit jesuitischer List widerstrebten, hatten durch guten Zweck oder Schein auch Auswärtige angelocktSelbst Jacobi stand auf der Schwelle dieses Tempels; Männer, die J. ehrte, liebte, bewunderte, traten hinein. Siehe Jacobis Werke, B. 2. S. 488. . Der Bund ward gesprengt, und die Getäuschten schämten sich. Nun behauptete man, der Illuminatenbund, der gegen das bestehende Gute gerichtet sei, dauere heimlich fort durch ganz Deutschland; und was in den Papieren einzelner sollte gefunden sein, galt für illuminatische Ordensregel, nach welcher man jeden Mißfälligen kurzweg als Illuminaten verurteilte. Des Ordens Betrieb sei alles, wes er die Jesuiten falsch beschuldige: Anschleichen an Fürsten, an Räte, an Beichtväter und Hofprediger, an Gelehrte, an Weltdamen, Zeitungsschreiber, Postmeister; dabei Giftmischen, Dolche und (was St. mehrmals mit Kraft meiner Frau vorsagte) Unzucht und Kindermord. Schon durch Vertreibung der Jesuiten habe ein Illuminatenbund die französische Revolution eingeleitet und später beschleuniget in geheimen Versammlungen, wo besonders unser Bode (ein kräftiger Feind der Jesuiten) das Seinige getan. Ein Märchen der Mutter Gans, dessen St. noch vor einem Jahr in dem Gewäsch »Über den Zeitgeist« sich nicht schämte: unseren Fürsten zutrauend, der Tor! sie könnten Jesuiten zurückrufen. In solchen Bund winkte St. auch die Trefflichsten, die zu Abstellung der Mißbräuche rieten, besonders in Kiel und Hamburg; ich selbst, dessen Abscheu vor heimlichem Schwarmmachen und frommem Betrug er nicht ableugnen konnte, sollte, mir unbewußt, ein Werkzeug sein. Diese bequeme Art, sich der Widersacher zu entledigen, ward vor kurzem mit dem Wort Tugendbündner erneut. Die hätten als umgekleidete Illuminaten doch einige Figur gemacht; aber jenes verlegenen Märchens achtete man selbst nicht mehr. Werden die Machthaber nicht aufmerksam, daß die Verschwörung gegen das Gemeinwohl dort brütet, wo man solche Giftnamen ausheckt?

Nach unserer Zurückkunft schien St. die Vermehrung unseres Leidens zu bereun. Den 11. Julius schrieb ich an Gleim: »St. teilt meine Empfindungen als alter Freund; die verwünschte Illuminatensache ruht indes.« Aber am 4. August meldete ihm meine Frau, ich hätte mir von St. für die schwere Anklage Beweis erbeten. Den Erfolg meldete ich am 22. August: »Ich wollte mit umgehender Post antworten; der Ohrenteufel verbot's. Weit gefehlt, den Beschwörungen mit warmen Dämpfen, mit eingetröpfelten Ölen, Fußbädern, Abführungen zu weichen, hat sich der Unhold noch fester gesetzt und mich zu allem beinah unfähig gemacht. Jetzt brennt man ihn mit spanischen Fliegen und Schwefel, dann sollen Blutegel ihn lossaugen, dann ein kaltes Kopfbad ihn zur Hölle zurückjagen. Des Morgens rauscht er, mit Hammerschlägen dazwischen, und gegen Abend brummt er wie der Fliegenkönig. Indes meine Heiterkeit, die ich aus Halberstadt mitbrachte, zu umwölken, soll dem Beelzebub nicht gelingen. Wir wollen sehn, wer's am längsten aushält. – Stolbergs ›Kassandra‹, die wahnsinnig, nicht prophetisch ist, ohne Anmerkung in den Almanach aufzunehmen, habe ich mich bequemt, damit ich den verirrten Freund von der schimpflichen Teilnahme an der ›Eudämonia‹ rettete. Ein lebhafter Briefwechsel mit Stolberg und ein Gespräch darauf, wobei er, wie gewöhnlich, sehr weichherzig ward, hat mich überzeugt: Stolberg selbst glaubt nicht an seinen Illuminatenspuk! Wie kam in ein so liebendes Herz eine so grimmige, nach jeder Wehr haschende Verfolgungswut?«

Der ganze Beweis für den Illuminatenspuk war ein Pack Hefte der berüchtigten »Eudämonia«, und diese – unaufgeschnitten! Und aus der selbigen »Eudämonia« bewies ich durch angezeichnete Vergleichungen die Nichtigkeit der Anklage so klar, daß St. nichts antworten konnte, da ich seinen mir auf Glauben anderer gepriesenen Biedermann einen Schuft nannte. Er berief sich auf mündliche Zeugnisse von wienischen Ehrenmännern, die er nicht nennen dürfte (mit münsterschen Ehrenmännern und Ehrenfrauen sich nicht hervorwagend), und wünschte deshalb seine »Kassandra« in den Almanach, sonst müßt er in der »Eudämonia«, wohin er sie schon gesandt, sie erscheinen lassen. »Wohlan«, erwiderte ich, »so ins Blaue hinein weissagend, schadet Ihre ›Kassandra‹ keinem als Ihnen selbst; was sie meiner Person geschadet, sei verschmerzt; um Sie aus dem Kakodämonion zu retten, bewillige ich die Aufnahme in den Almanach und gebe mich für den alten Freund einer gerechten Rüge preis.« Stolberg ward gerührt und versprach, seine Ode sogleich von Grolmann zurückzufodern. Der aber druckte sie schnell und prunkte damit in politischen Blättern. Am 27. November meldete mir Gleim, er habe sie in der frankfurtischen Oberpostamtszeitung gelesen und zu Wernigerode ein Stück der »Eudämonia« voll Gift und Bosheit. Und Stolberg? – schwieg! Kein Wort des Mißfallens in der »Eudämonia«, keins in der Zeitung, wo er als Grolmanns Genoß prangte; kein Wort der Entschuldigung gegen mich!

Das Verschmerzen gelang mir nicht. Es erwachte so viel anderes: wie leicht Stolbergs natürlicher Edelmut durch Leidenschaft, durch Groll, durch Witzlaune sich verleiten ließ. Der alte Prinz Heinrich, erzählte er einst, hab in Berlin ihn französisch gefragt, was er von Ramler halte. Die Antwort: »Er ist ein Pedant!« sagt er, »entfuhr mir«, und lächelte zu meinem: »Pfui, Stolberg!« So sehr ihm Ramlers »Tod Jesu« und manche Ode gefiel, der Vernunftmensch, der Freund Lessings und Mendelssohns, war ihm widerlich; und ein Name, worauf Deutschland stolz sein darf, ward dem Halbfranzosen verächtlich gemacht. Der redliche Ehlers, den er gegenwärtig als lieben Freund behandelte, war in der Abwesenheit, weil er über Adel und Zwangsreligion ihm nicht nach dem Munde sprach, ein Ziel seines Spottes und ward samt Hegewisch und anderen Trefflichen als Illuminat bezeichnet. Wie mag wohl, grübelte mein dumpfer Kopf, dieser Freund über dich reden im Rat der Seinigen? Wie da, wo er hemmen will, als Bedaurender, als Entschuldiger? zufrieden mit sich, wenn ich für Eutin nicht ward, was ich sein konnte! Wie hat er öffentlich über den Freund geredet? Fand das Herz, das für Friedrich Leopold so manchen innigen Ton anstimmte, in dem seinigen je einen Widerhall? Dem Fleißigen, dem Regelfesten gibt er ein zweideutiges Lob und, worüber er kein Urteil hat, dem Gelehrten. Von dem, der nach höherem Geiste, nach edlem, nach erbauendem Wort und Gesänge strebte, weiß er nichts, obgleich er bei der »Luise« Tränen vergoß. Ein paar Gedichte hat er dem banausischen Freund zugeeignet: das eine sagt, ich will Satiren schreiben; das zweite, ich bin begeistert; das dritte, schlage mir Begeisterten keine Änderung vor, du Base, die an dem Brautkranz dreht. Dies und ähnliches ward im Gespräch mit der armen Frau wiedergekäut.

Unwillig über die kaltherzige, kein Mittel der Unterjochung verschmähende Eigensucht, schrieb ich das Gedicht »Die Anschwärzer«, welches schließt:

Ihr Finsterling', im Herzen
Eiskalt, im Kopfe warm!
Zu dunkeln und zu schwärzen,
Drum macht ihr selber Schwarm!
Bekämpft sei, was ihr trachtet,
Papsttum und Barbarei!
Kein Volk, wo Dummheit nachtet,
Bleibt Gott und Fürsten treu!

Dazu fügt ich im Jahr 1800 für den Druck die Anmerkung: »Dieses Lied weckt traurige Erinnerungen mir und den Meinen, auch anderen vielleicht. Heimlich und öffentlich verbündete Männer und Weiberchen, namenlose mit namhaften, Papisten (nicht redliche Katholiken!) mit unwürdigen Protestanten, durch die Zeitumstände ernsthaft und scheinbar erhitzt, über Besonnenheit und Scham hinweg, lästerten Vernunft und Luthers Reformation und Denkfreiheit, verleumdeten nach Abrede die Andersgesinnten als eine Bande von Missetätern, mit dem Giftnamen Illuminaten bezeichnet, erhoben die Hierarchie, wünschten Jesuiten in Schulen und Beichtstühle zurück, trachteten Absetzung und Einsetzung.«

Mein vielfach gereiztes Übel verschlimmerte sich. Am 6. Dezember sank ich ohnmächtig in einen neuntägigen Schlummer mit kurzen Augenblicken des Bewußtseins, die nur meine Frau wahrnahm. Ich, der Gefahr wohlkundig und zum Scheiden gefaßt, wollte sprechen und wunderte mich des Gelalls von Worten, die dem Gedanken fremd waren. Hensler, der drei Tag und Nächte nicht von mir wich, sah Hirnentzündung, sprach von Anbohren, tröstete die Frau, ich könnte vielleicht genesen, aber (ob das zu wünschen wäre?) kaum mit Verstand. Spät begriffen sie mein Zeichen, der rechte Arm sei gelähmt. Am neunten Abend erriet man mein Gekritzel, welches Getränk ich wünschte. Was man mir sagte, mußte laut sein und kurz und in Kindersprache, die nur meine Frau zu treffen wußte. In dieser Not war Stolberg meiner schlaflos ausharrenden Ernestine der alte herzliche Stolberg mit Rat und Tat; Trost gaben ihr Stellen aus meinen Liedern, die St. wie neue mit Erbauung hörte.

Am zehnten Morgen, da meine Frau die Fenstervorhänge aufzog, freute ich mich laut der Morgenröte, erkannte Stolberg am Fuß des Bettes und bot ihm die lebendige Herzenshand. – Wie damals, mein Stolberg, so wird uns sein, wann du in der Morgenröte des ewigen Tags aus deiner viel schwereren Betäubung erwachst.

In kurzem merkt ich, es sei mehr geschehn, als ich in den zusammengereiheten Augenblicken der Besinnung erkannt hatte, ließ mir erzählen und herzte mein heldenmütiges, halb grau gewordenes Weib mit den Kindern. Was mir Stolberg in der Genesung war, das vergelt ihm Gott! Erquickung brachte mir jetzt der bekannte Fußtritt, das freundliche Gesicht, das traute Gespräch. Auf Stolbergs Wunsch, daß mir die Sache mit der »Eudämonia« verhehlt bliebe, weil sie mich zurückwerfen könnte, hatt ihm meine Frau gesagt, ich hätte sie kurz vor der Betäubung durch Gleim erfahren und ihm ja beim Erwachen die Hand gereicht. In einer seligen Stunde des neuen Lebens sagt ich dem Geliebten: »Nun wird doch mein Stolberg nie wieder irre werden an mir.« Er drückte mir die Hand mit tiefer Rührung und schwieg.

Wunderbar ward durch diesen Herzbalsam die Genesung beschleunigt. Die Kräfte regten sich: »Laß mich arbeiten, Ernestine, nur vier bis sechs Verse des Tags, zum Zeitvertreib.« – »Du bist toll«, sagte sie; begriff aber bald, daß keine Gefahr sei. Der Tibull ward mir gereicht und, wann ein Besuch kam, unter die Bettdecke geschoben. Als Stolberg in das Geheimnis gezogen ward, flossen ihm die Tränen. Dem Tibull folgten Bion und Moschus, dann die Ovidischen Verwandlungen. Hensler wollte Einrede tun; ich trotzte: Sprache und Vers sei mir ein Spiel, ein Fliegenfang. »Nun denn«, sagte er, »so spiele mein Johann Heinrich, aber vorsichtig.« Im Januar 1797 reisete Stolberg mit einem Auftrage nach Petersburg. Aus seinen Briefen las uns die Gräfin Sophie manches Herzliche und Erheiternde vor; was wir lieber entbehrt hätten, war eine Beschönigung der deutsch-russischen Leibeigenschaft. Uns beiden verordnete Hensler, sobald der Frühling seine Ostwinde gezähmt, eine tüchtige Reise sonnenwärts.

Gegen den Junius 1797 fuhren wir ab, und auch auf dem Wagen mußte mein Ovid Deutsch lernen. Zwanzig bis dreißig Verse bildeten sich im Kopf und wurden bei der nächsten Fütterung aufgeschrieben. Neue Stärke gewannen wir bei vielen Teilnehmenden: in Penzlin bei meinem ersten und besten Lehrer Struck, von welchem ich Selbsttätigkeit und Anstreben gelernt; in Neubrandenburg bei Brückner und mehreren Jugendfreunden; bei Schulz, der in Rheinsberg zu genesen versprach; bei des fast neunzigjährigen Spaldings Familie und so vielen Guten in Berlin; bei den Guten in und vor Halle; bei unserem Gleim und den Freunden in Halberstadt; bei Eschenburg, und was in Braunschweig von Jerusalems und Lessings Genossen übrig war; in Lübeck bei unserem treuen Overbeck.

Als wir im Anfang des August zurückkamen, fanden wir um Stolberg die Fürstin Gallitzin und ihren Geistlichen Overberg in alter Geschäftigkeit. Der zugleich dagewesene Rektor Kleuker war schon weg. Unsere frisch erblühete Hoffnung zu Stolberg welkte. Zu ruhiger Brunnenkur reiseten wir nach Dithmarschen, wo Boie, die beiden Niebuhr, Vater und Sohn, und mein edler Piehl, ein Weiser in Baurentracht, durch treuherzige Liebe und gesunde Vernunft uns labten. Unterdes arbeiteten die münsterschen Proselytenmacher in Emkendorf, dem Sokrates sehr ungleich, das Überlieferte zu befestigen. Bald nach unserer Zurückkunft zogen sie heim. In Stolbergs Hause bemerkte ich, wie den guten Hauslehrer, dem der Pädagog Platz gemacht, einen von Kleuker zwar schlecht unterrichteten, aber eifrig fortstrebenden und sehr schätzbaren Mann, die feine Gallitzin wegzuspötteln trachtete. Den jungen Andreas behandelte sie und ihr Geistlicher, gleichsam im Scherz, als künftigen Missionar, in Gegenwart der zulächelnden Eltern. Der Fürstin eigener Sohn war es wirklich.

Einigemal in den Abendstunden besuchte mich Overberg, den ich lieb hatte, und lenkte das Gespräch auf Religion. Wie brüderlich eins wir waren, wie altchristlich, wie entfernt von Glaubensmäkelei! Die Verfolgungssucht der römischen Kirche, ihr Verdammungsgericht über Andersmeinende, die Kerker und Peinigungen und Scheiterhaufen, die Albasmorde, die Bartholomäusnächte, die Verjagungen der Hugenotten und der Salzburger, die feierliche Gründonnerstags-Verfluchung der Ketzer und namentlich der Lutherischen Auswürflinge: alles das mißbilligte Overberg als traurige Abirrungen vom wahren Geiste des Christentums. »Haben Sie«, fragte er, »das Tridentinische Konzilium?« – »Nein.« – »Nun«, fuhr er fort, »die Tridentinischen Väter haben dem Satz einer alleinseligmachenden Kirche förmlich entsagt.« – »Entsagt?« – »Ja«, antwortete er mit ehrlichem Blick, »euren Theologen ist dies Konzilium zu wenig bekannt. Wir lehren: ein jeder Guter, wes Glaubens er auch sei, kann selig werden. Auch gehn wir nicht aus auf Bekehrung; nur freiwillig Kommende nehmen wir an.« – Es werden, dacht ich, wenigstens einige Stellen des Konziliums so menschenfreundlicher Auslegung fähig sein.

Als die Münsterer in der Stolbergischen Begleitung von mir Abschied nahmen, drückte ich dem redlichen Overberg die Hand und sagte: »Wenn nicht hier, dort werden wir uns wiedersehn.« Auf einmal verdrehte der Mann die Augen, als betete er vor den Zuschauern, daß sein Herrgott mich bekehren möchte. Der Sinn dessen, was Overberg mir so mild gesagt hatte, war eigentlich: Außer der sichtbaren Kirche gibt's eine unsichtbare von solchen, die ihr Herz würdig macht, Katholiken zu sein; diese werden es durch Wunderkraft, wenn auch erst im Augenblicke des Verscheidens, um als Katholiken in den Himmel zu gehn. Bei milden Ausdrücken ließ Overberg mich etwas anderes denken als er dachte: nach weltlichem Sprachgebrauch – er log. – Das Tridentinische Konzilium, das in der ersten Sitzung schon Ausrottung aller Ketzerei ankündigte, sprach bei jeder einzelnen Meinung, die es für ursprüngliches Christentum ausgab, über die Andersmeinenden sein Anathema und am Schluß über die sämtlichen Ketzer sein vollstimmiges, aus zweihundertundfünfundfunfzig Kehlen laut fluchendes Gesamtanathema. Wer mit der Miene der Offenheit dies gräßliche Anathema verschwieg, wer ihm Duldsamkeit unterschob – der täuschte, der log!

Andere Unkundige vor Täuschungen schleichender Herrgottspfaffen zu bewahren, hab ich bei den »Lichtscheuen«, Fab. 2. S. 387, den Schluß jenes Konziliums lateinisch und deutsch mitgeteilt. Wenn solcher Fluchreligion irgend ein Engel zu Gebote steht, er bemühe sich nicht, mir seinen Himmel in der letzten Stunde zu empfehlen. Aber jeden echtkatholischen Bekenner der Segenslehre: »Kindlein, liebt euch einander!« – auch dich, gut geschaffener, nur verirrter Overberg, hoff ich dort zu finden, in dem Himmel des Allbarmherzigen, wo viel und mannigfaltige Wohnungen sind.

Nach dem Besuche der Gallitzin verbreiteten sich um Emkendorf und Eutin allerlei Witzwörtchen, womit fortzuwitzeln die Stolbergische Partei bis auf den heutigen Tag nicht müde wird: Der Protestant protestiere in eins weg, bis er den Fürsten ihr Reich, dem lieben Gott seine Gottheit abprotestiere; er erkenne nichts Positives, nur Negatives, nur Nullen ohne vorstehende Zahl; man müsse ihn festhalten auf der Grundfeste, die er sich selbst in den Symbolen gestellt habe. Die liebreiche Papistin wollte für ihr Anathema uns zu recht gründlichen Ketzern machen, scharfsinnig berechnend mit ihrer Philosophie, wohin erzwungener Erbglaube zuletzt führen muß. Und der Adel begriff, auch ohne Philosophie, das gute Verhältnis zwischen dem kirchlichen Erbglauben und der Erbmeinung, welche die ererbeten Vorrechte für rechtlich hält. Beide fügten sich in das Witzwörtchen: kindlicher Glaube an Überlieferung.

Mit Bedauern sahn wir, wie jetzt adlige Unart auch in Stolbergs herrliche Kinder drang. Ich mußte zum Vater gehn mit der Klage: »Ernst und Andreas sind an Geist und Herzen so gut, als ich sie wünschen kann; sie müßten an Kenntnis und Aufführung die besten in meiner Schule sein; sie sind die schlechtesten.« – »Woran liegt das?« – »An der häuslichen Erziehung. Sie leben in Pracht und Üppigkeit, hören unvorsichtige Laute von edlerer Geburt, die ohne Kopfanstrengung zu Ehren führt, werden bedient vom Lakai und vom Hauslehrer, Mietlingen für sie; Unfleiß und Mutwille wird von diesem mit Scheu getadelt, von jenem bestärkt; die armen Kinder werden mit den besten Anlagen verjunkert.« St. ward nachdenkend und versprach Besserung. Die kleine Julia, die häufig bei meiner Frau war, fragte: »Warum, Ernestine, stopfst du Strümpfe? Das tut Mama nicht.« – »Die überläßt es Hannchen und tut was anderes.« – »Ah! nu weiß ich, du bist so eine Art Baurenmensch.« – Dies erzählte meine Frau der Mutter, sie zu warnen vor dem verderbenden Gesinde. – »Oh«, sagte die Gräfin, »das Kind hat Ihnen ein Kompliment machen wollen; die Unschuldige kennt nichts Ehrwürdigeres als den Baurenstand.« – So keimt Menschenverachtung auf, so adliges Ehrgefühl! Der Vatersegen, womit Gott sein junges Geschlecht, als es untätig auf Torheit fiel, aus Edens Lustgarten entließ: Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen! wird als Fluch für Unadlige betrachtet. Gegen des Apostels Gebot will der Adlige nicht arbeiten, aber essen vollauf, was der Arbeitende mit Schweiß erstreben, mit bitterer Not erdarben soll.

Im Sommer 1797 starb Bernstorff, betrauert vom ganzen Lande wie vom Könige. Sein letzter wohlwollender Gedanke war, die Formeln und Gebräuche des öffentlichen Gottesdienstes zu verbessern für die Bedürfnisse des helleren Zeitalters. Er hatte, seiner Gewohnheit nach, selbst untersucht, ja die Anordnungen der auf bloße Vernunft sich beschränkenden Theophilanthropen geprüft und, wie man behauptete, die Gedanken Lavaters. Die Ausführung übernahm der Generalsuperintendent Adler, nicht ohne den Wunsch, sagte man, noch mehr Reife der Zeit, nämlich bei den Höheren, abzuwarten. Mein Freund Hensler wollte gerad aus Kopenhagen abreisen, als Adler mit der Ausarbeitung dahin unterwegs war; Bernstorff sprach warm für die Sache und wünschte den Universitätsfreund, der zuerst Theologie studiert hatte, noch zu halten zur Mitberatung. Die Bernstorff-Adlerische Agende, geprüft und genehmigt vom Gen.-Sup. Callisen und beiden Oberkonsistorien der Herzogtümer, erschien im Dezember 1796, mit dem Königlichen Befehl, sie bald einzuführen, doch ohne Anstoß für die Schwachen. Bernstorff starb vor der Einführung. Ihm folgte sein Tochtermann Cai von Reventlow, und dessen Bruder Friedrich von Reventlow in Emkendorf ward bald darauf Kurator der Universität Kiel und Oberaufseher des dortigen Schulmeisterseminars.

Der münstersche Samen war zu Emkendorf nicht unter Dornen und Kies gefallen, günstige Witterung trieb ihn zu fröhlichem Gedeihn. Mein Brief an Gleim vom 19. November 1797 enthält: »Stolberg kömmt in drei Tagen aus Emkendorf von Graf Reventlow zurück. Ich bered ihn, diesen Winter an seinen Aeschylus zu gehn. Er übersetzte daraus im Winter 1782–83, in dem ersten Jahre, da wir hier miteinander wohnten, da er des Abends in unsere kleine Stube mit dem noch feuchten Bogen zu stürmen pflegte, da er einst in die gleich armselige Nachbarshütte des Maurers sich verirrt hatte, da Agnes zu meinem Klavierspiel sang, da sie dem Spott der Hofleute zum Trotz immer traulicher ward, da so vieles anders war.« – Nicht für Aeschylus und Agnesempfindungen gestimmt, kam Stolberg aus dem hochadligen Emkendorf. Jetzo galt's, das Herkömmliche, den rechten Glauben an Überliefertes, mit Macht gegen Neuerungen zu verteidigen. Auf die Neue Kirchenagende war der erste Stoß abgezielt.

Dem königlichen Befehle mit Bernstorffs Unterschrift gehorsam, hatten mehrere Prediger in den Herzogtümern die Agende mit schonender Behutsamkeit, hier ganz, dort zum Teil, eingeführt; und nirgends ward mehr als in solchen Fällen gewöhnliche Krittelei einzelner Klüglinge bemerkt. Ja, lange vorher, um den Anfang der Siebziger, hatte mein Schwiegervater Joh. Friedr. Boie (mein Vorbild zu dem Pfarrer von Grünau) zuerst als Hauptpastor in Flensburg, dann als Propst, den Bedürfnissen seiner Gemeine gemäß, ohne Vorfrage, ohne Aufsehn, die Formen des öffentlichen Gottesdienstes veredelt für den Geist und für die Andacht geheiliget. Seine Veränderungen im Kirchengebet, seine kernhaften Formulare bei Taufen und Trauungen, seine reichhaltigen, herzerweckenden Predigten über selbstgewählte Stellen der Bibel, nach Ablesung der vorgeschriebenen, fanden so allgemeinen Beifall, selbst unter Greisen und Greisinnen, daß seine Kirche gedrängt voll war, daß für die Besucher aus der Nordgemeine neue Stühle gebaut wurden, daß Landleute und sogar Juden in den Winkeln horchten. Auch in den Mittwochspredigten für den Kinderunterricht war die Kirche gefüllt. Nach einer lehrreichen Homilie im Volkston ging er von der Kanzel zu den 80–100 Kindern, die im Gange gereiht standen, fragte auf und ab gehend und knüpfte daran irgendein Stück des Katechismus, zuerst hochdeutsch, allmählich, wie er mit den Kindern sich erwärmt hatte, in der sassischen Herzenssprache, die er, ein Dithmarscher und Nachkomme von Luthers Freunde Nicolaus Boie, erstem evangelischen Prediger zu Meldorf, in alter Reinheit, nicht zu gemeinem Plattdeutsch entstellt, redete. Dann drängten sich die Alten an den Gang, dann öffneten sich die Stühle, Männer und Weiber traten hervor und antworteten mit den Kindern. Ähnliches mit ähnlichem Erfolg versuchten mehrere, wie der alte, fast taube Landprediger Oest, der, ein weitverehrter Patriarch, hellere Kenntnis der Christuslehre, und dadurch Sittlichkeit, ausbreitete. Ein hohes Verdienst der Bernstorffischen Agende war, daß sie den Seelenhirten, die, was ihrer Herde zuträglich sei, wußten und redlich wollten, freiere Amtsführung gab.

Im Dezember 1797 erschien eine königliche Verfügung, unterzeichnet von Cai Reventlow. Diese verwies den Predigern Eilfertigkeit, befahl ihnen, den Wunsch der Gemeinen zu befolgen, und machte sie für etwanige Unordnungen verantwortlich. Bald darauf, als ob schon Unordnungen da wären, erklärte im Januar 1798 eine neue königliche Verfügung: Man werde nicht zugeben, daß eine andere Religion gelehrt werde als aus der Bibel geschöpftes evangelisches Christentum; man wolle dem Gewissen keinen Zwang auflegen durch die Agende; die sei das Werk einsichtsvoller und rechtschaffener Männer, die sich gewiß bestrebt, daß sie nichts der Religion Jesu Unwürdiges enthielte; auch werde sie von vielen für lehrreich und erbaulich geschätzt; doch möge jede Gemeine, der die bisherige Form des Gottesdienstes annoch lieber sei, dabei bleiben bis auf nähere Anordnung.

Die aufgerufenen Gemeinen nun übernahm Fritz Stolberg zu bearbeiten durch ein namenloses Heft: »Schreiben eines holsteinischen Kirchspielvogts über die neue Kirchenagende«, Hamburg, 1798. Diese auf handfeste Bauren berechnete Schrift flog bald nach dem Anfang des Jahrs umher und kam vielen unbemerkt ins Haus. Für den Verfasser ward Claudius gehalten; der verkappte Kirchspielvogt schalt auf die »schnöde und hämische Verunglimpfung« und drohete (was unerfüllt blieb), »zur Beschämung der Schreier« sich selbst öffentlich zu nennen: S. Hennings »Asmus.« In dem Schreiben behauptet der Kirchspielvogt: Die Agende, ein Werk Adlers, sei weder mit dem Augsburgischen Bekenntnis einstimmig noch mit unserer alten Bibel; neue Lehren wolle man widerrechtlich dem Volk aufdringen; dies zu tun, sei Bernstorff, der Vollzieher der königlichen Macht, überrascht worden, zur Freude einer »politisch irreligiösen Propaganda«. –

Welch ein Beispiel! Ein herrschender Familienbund erklärt den gemeinen Mann für den Summus Episcopus, dem es zukomme, Bernstorffs mit den ersten Geistlichen beratene und vom Könige zum Gesetz erhobene Anordnung in Kirchengebräuchen nach Willkür als Erschlichenes, als Aufgedrungenes abzuweisen, ja über Augsburgisches Bekenntnis und Bibel zu entscheiden! Die vorgeworfenen Ketzereien wurden aus der Agende von mehreren widerlegt, am vollständigsten von Theodor Ernst im Schreiben an Vetter Andres 1798. Zu des Kirchspielvogts Aufruf gesellte sich ein witziges Spottlied, »Die aufgeklärte Welt«, und in der Baurensprache ein Pasquill; sie wurden heimlich verbreitet und, wie verlautete, auf den Gassen verstreut. Die neue Agende trug ein Amtsbote im Beutel herum, den er in Dorfschenken vor den Bauren hinwarf mit den Worten: »Hier kömmt der neue Glaube!« Der Prediger mußte den Kätner fragen, ob ihm Altes oder Neues gefällig sei, und nicht mucksen, wenn der den Teufel aus seinem Jungen verbannt wissen wollte. Unruhige Köpfe sammelten Stimmen für das Alte, die Verständigen übergehend; mehrere Prediger erfuhren Grobheit und Verfolgung; wenige, ihres Berufs unwürdig, eiferten mit für den veralteten Schlendrian, aufgemuntert von dem schleichenden Callisen. Man vergleiche, was der plönische Amtmann Hennings und der ehrwürdige Oest, ein Achtzigjähriger, hierüber gesagt.


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