Alfred de Vigny
Hauptmann Renauds Leben und Tod
Alfred de Vigny

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8. Ein Steinkügelchen

Vierzehn Tage nach dieser Unterhaltung, die selbst die Revolution mich nicht vergessen ließ, dachte ich in meiner Einsamkeit über den bescheidenen Heroismus und die Uneigennützigkeit nach, die beide so selten sind.

Ich versuchte das eben vergossene reine Blut zu vergessen und las in der amerikanischen Geschichte wieder nach, wie die überall siegreiche anglo-amerikanische Armee im Jahre Siebzehnhundertdreiundachtzig nach Niederlegung der Waffen und Befreiung des Vaterlandes drauf und dran war sich wider den Kongreß zu empören, der, da er zu arm war, um ihr den Sold zahlen zu können, sie verabschieden wollte. Als Generalissimus und Sieger brauchte Washington nur ein Wort zu sagen oder ein Zeichen mit dem Kopfe zu geben, um Diktator zu werden; er tat, was er allein auszuführen vermochte: er verabschiedete das Heer und reichte seine Entlassung ein.

Ich hatte das Buch hingelegt und verglich diese heitere Größe mit unserer unruhigen Ehrsucht. Ich war traurig und erinnerte mich an alle reinen Kriegerseelen ohne falschen Glanz und ohne Marktschreierei, die Macht und Befehl nur des öffentlichen Wohles wegen geliebt, ohne Stolz bewahrt und sie weder gegen das Vaterland angewandt, noch in Gold verwandelt haben. Ich dachte an alle Männer, die im Bewußtsein seines wahren Wertes Krieg führten, ich dachte an den guten Collingwood, der Verzicht geleistet hatte, und schließlich an den unbekannten Hauptmann Renaud, als ich einen Mann von hohem Wuchs, welcher in einen langen blauen, sehr schäbigen Mantel gekleidet war, bei mir eintreten sah. An seinem weißen Schnauzbarte, den Narben auf seinem kupferbraunen Gesichte erkannte ich in ihm einen von den Grenadieren seiner Kompagnie. Ich fragte ihn, ob Renaud noch am Leben sei, und des braven Mannes Erregung ließ mich erkennen, daß ein Unglück geschehen war. Er setzte sich, wischte sich die Stirne ab und erzählte mir, als er sich nach einiger Mühe und etwelcher Zeit wieder erholt hatte, was vorgegangen war.

Während der beiden Tage des achtundzwanzigsten und neunundzwanzigsten Juli hatte Hauptmann Renaud nichts anderes getan, als an der Spitze seiner als Kolonne formierten Grenadiere die Straßen auf und ab zu marschieren. Er stellte sich vor den ersten Halbzug seiner Kolonne und zog friedlich inmitten eines Steinhagels und unter Flintenschüssen, die aus den Kaffeehäusern, von Balkons und aus den Fenstern abgegeben wurden, einher. Halt machte er nur, um die durch die Gefallenen gelichteten Reihen zusammenzuziehen, und um nachzusehn, ob die Flügelmänner seines linken Flügels richtigen Abstand beibehielten. Er hatte seinen Säbel nicht gezogen und marschierte mit seinem Spazierstöckchen in der Hand. Befehle waren ihm anfangs pünktlich zugekommen, doch, sei es, daß die Adjutanten auf dem Wege getötet wurden, sei es, daß der Stab sie nicht abgeschickt hatte, er ward in der Nacht vom Achtundzwanzigsten zum Neunundzwanzigsten auf dem Bastilleplatze ohne eine Instruktion gelassen; er hatte nur Weisung sich nach Saint-Cloud zurückzuziehn und die Barrikaden auf seinem Wege zu zerstören. Das tat er, ohne einen Flintenschuß abzugeben.

Als er bei der Jenabrücke angelangt war, machte er Halt, um Appell über seine Kompagnie abzuhalten. Es fehlte ihm weniger Mannschaft als allen ausgeschickten Gardekompagnien; auch waren seine Leute weniger ermüdet. Er war so klug gewesen, sie an diesen glühendheißen Tagen sich rechtzeitig und im Schatten ausruhen zu lassen, und hatte in den verödeten Kasernen die Nahrung welche ihnen die feindlichen Häuser verweigerten, für seine Leute gefunden. Die Haltung seiner Kolonne war dergestalt, daß er jede Barrikade verlassen fand und ihm nur die Mühe des Zerstörens blieb.

Staubbedeckt, seine Füße abputzend, stand er also am Kopf der Jenabrücke, blickte nach dem Eingangstore hin, ob nichts den Abzug seiner Abteilung hindere, und suchte Plänkler zum Vorgehn aus. Niemand befand sich auf dem Marsfelde außer zwei Maurern, die, auf dem Bauche liegend, zu schlafen schienen, und einem etwa vierzehnjährigen kleinen Jungen, der barfüßig einhertrabte und mit zwei Porzellanscherben wie mit Kastagnetten klapperte. Von Zeit zu Zeit kratzte er mit ihnen über die Brustwehr der Brücke und kam so spielend bis an den Prellstein, wo Renaud sich aufhielt. In diesem Augenblicke wies der Hauptmann mit seinem Spazierstöckchen auf die Höhen von Passy hin. Das Kind näherte sich ihm, sah ihn mit großen erstaunten Augen an, zog aus seiner Jacke eine Sattelpistole, nahm sie in beide Hände und richtete sie auf des Hauptmanns Brust.

Der lenkte den Schuß mit seinem Stocke ab, und da das Kind Feuer gegeben hatte, fuhr ihm die Kugel oben in den Schenkel. Ohne ein Wort zu äußern, sank der Hauptmann in sitzende Stellung nieder und betrachtete den seltsamen Feind mitleidig. Er sah den jungen Burschen, der seine Waffe immer noch in beiden Händen hielt und ganz erschrocken über das, was er angestellt hatte, dastand. Die Grenadiere stützten sich in diesem Augenblicke traurig auf ihre Gewehre; sie hielten es unter ihrer Würde gegen den kleinen Schlingel vorzugehen. Die Einen richteten ihren Hauptmann auf, die anderen ließen es dabei bewenden das Kind am Arme festzuhalten und zu dem hinzuführen, den es verwundet hatte. Es brach in Tränen aus und ward, als er des Offiziers Blut in Strömen über die weiße Hose rinnen sah, entsetzt über sein ruchloses Tun, ohnmächtig. Gleichzeitig trug man Mann und Kind in ein nahes kleines Haus in Passy, wo sich noch beide befanden.

Unter der Führung des Leutnants hatte die Kolonne ihren Weg nach Saint-Cloud fortgesetzt und vier Grenadiere waren, nachdem sie ihre Uniform ausgezogen, in dem gastlichen Hause geblieben, um ihren alten Befehlshaber zu pflegen. Der eine (der, welcher mit mir sprach) hatte Schwertfegerarbeit in Paris angenommen, andere gaben Fechtunterricht, brachten ihrem Hauptmann ihren Tagesverdienst und hatten dafür gesorgt, daß ihm bis zu diesem Tage nichts ermangelte. Das Bein ist ihm abgenommen worden; doch er hatte heftiges und übles Fieber, und da er fürchtete, daß es schlimmer würde, ließ er mich rufen.

Es galt keine Zeit zu verlieren. Sofort machte ich mich auf den Weg mit dem würdigen Soldaten, der mir mit feuchten Augen und bebender Stimme all diese Einzelheiten, aber ohne Murren, ohne Verwünschungen, ohne Anklagen berichtet hatte.

Immer nur wiederholte er: »Es ist ein großes Unglück für uns.«

Der Verwundete war zu einer kleinen Handelsfrau gebracht worden, die Witwe war und in einem Lädchen in einer abgelegenen Dorfstraße allein mit Kindern in zartem Alter lebte. Nicht einen Augenblick hatte sie Angst vor Unannehmlichkeiten gehabt, und kein Mensch war auf den Gedanken gekommen sie irgendwie zu beunruhigen. Im Gegenteil, die Nachbarn hatten sich eifrig bemüht, sie in der Pflege, die sie dem Kranken angedeihen ließ, zu unterstützen. Da die herbeigerufenen Sanitätsbeamten ihn nach der Operation für nicht transportfähig erklärt, hatte sie ihn dabehalten und häufig die Nacht an seinem Lager zugebracht.

Als ich eintrat kam sie mir mit dankbarer und ängstlicher Miene, die mir wehe tat, entgegen. Ich fühlte, wieviele Verlegenheiten sie aus natürlicher Güte und Wohltätigkeitssinn verheimlicht hatte. Sie war sehr blaß und ihre Augen sahen rot und müde aus. Sie ging und kam aus einem sehr engen Hinterladen, den ich von der Tür aus bemerkte, und ich sah an ihrer Hast, daß sie das kleine Zimmer des Verwundeten aufräumte und einen gewissen Stolz darein setzte, daß ein Fremder es schicklich finden möchte.

So richtete ich es denn auch ein nicht zu schnell zu gehn, und ließ ihr all die Zeit, deren sie bedurfte. … »Sehen Sie, mein Herr, er hat viel aushalten müssen,« sagte sie, als sie mir die Türe öffnete.

Hauptmann Renaud saß in einem kleinen Bette mit Sergevorhängen, das in der Zimmerecke stand, und mehrere Kopfpfühle stützten seinen Körper. Er war skelettartig abgemagert und seine Backenknochen waren glühend rot. Seine Stirnwunde sah schwarz aus. Ich fühlte, daß er nicht mehr lange leben würde, und sein Lächeln sagte das Gleiche. Er streckte mir die Hand entgegen und winkte mir, Platz zu nehmen. Zu seiner Rechten saß ein junger Bursche, der ein Glas Gummiwasser hielt und es mit dem Löffel umrührte. Er stand auf und brachte mir seinen Stuhl. Renaud faßte ihn von seinem Lager aus beim Ohrläppchen und sagte sanft mit geschwächter Stimme:

»Hier, mein Lieber, stelle ich Ihnen meinen Besieger vor!«

Ich zuckte die Achseln und der arme Junge schlug errötend die Augen nieder … ich sah eine dicke Träne über seine Backe rollen.

»Nicht doch, nicht doch,« sagte der Hauptmann, ihm mit der Hand durch die Haare fahrend. »Es ist nicht seine Schuld. Armer Junge! Zwei Männern ist er begegnet, die haben ihn Branntwein trinken lassen; sie haben ihn bezahlt und abgeschickt; er sollte einen Pistolenschuß auf mich abgeben. Das hat er getan, wie er ein Steinkügelchen in die Prellsteinecke geworfen hätte. … Nicht wahr, Jean?«

Und Jean hub zu zittern an und bekam den Ausdruck eines so herzzerreißenden Schmerzes, daß er mich rührte. Ich sah ihn mir näher an; er war ein sehr schöner Junge.

»Es war ja auch ein Steinkügelchen,« sagte die junge Krämersfrau zu mir. »Sehen Sie doch, mein Herr.« – Und sie zeigte mir eine kleine Achatkugel, so dick wie die stärksten Bleikugeln, und mit der hatte man eine Pistole von gleicher Stärke geladen.

»Mehr war nicht nötig, um ein Hauptmannsbein abzusäbeln,« sagte Renaud.

»Sie dürfen ihn nicht soviel reden lassen,« erklärte mir schüchtern die Krämerin.

Renaud hörte sie nicht.

»Ja, mein Lieber, von meinem Beine bleibt mir nicht soviel übrig, daß man ein Holzbein dran befestigen könnte.«

Stumm drückte ich ihm die Hand. Es stimmte mich wehmütig, daß es, um einen Mann zu töten, der soviel gesehn und soviel erduldet hatte, dessen Brust von zwanzig Feldzügen und zehn Wunden gestählt, in Eis und Feuer erprobt, durch Bajonette und Lanzen hindurchgegangen war, nur des Sprunges eines jener Pariser Gossenfrösche bedurfte, die man Straßenbengel nennt.

Renaud verstand meine Gedanken. Er lehnte seine Wange auf das Pfühl und drückte mir die Hand:

»Wir waren im Kriege,« sagte er zu mir, »er ist nicht mehr Mörder, als ich es in Reims war. Als ich das Russenkind tötete, war ich da etwa auch ein Mörder? … Im großen spanischen Kriege erstachen die Menschen unsere Wachen und hielten sich nicht für Mörder; da der Krieg herrschte, waren sie vielleicht keine. Ermordeten sich Katholiken und Hugenotten oder nicht ? … Aus wie vielen Mordtaten setzt sich eine Schlacht zusammen? … Das ist einer von den Punkten, wo unser Verstand stillsteht und nichts zu sagen weiß. … Der Krieg hat unrecht und nicht wir. Ich versichere Sie, das kleine Bürschchen ist sehr sanft und artig, liest und schreibt schon recht schön. Er ist ein Findelkind. … War Tischlerlehrling. … Seit vierzehn Tagen hat er mein Zimmer nicht verlassen; er liebt mich sehr, der arme Junge. Er zeigt rechnerische Begabung; man kann etwas aus ihm machen. …«

Da er mühsamer sprach und sich meinem Ohre näherte, neigte ich mich zu ihm und er gab mir ein kleines zusammengefaltetes Papier, das er mich durchzulesen bat. Ich erblickte ein kurzes Testament, in dem er etwas wie eine elende Meierei, die er besaß, der armen Krämerin, die ihn aufgenommen hatte, hinterließ; nach ihr sollte sie Jean, den sie erziehen sollte, unter der Bedingung haben, daß er niemals Soldat würde. Er warf eine Summe für seinen Ersatzmann aus, und gab das kleine Stückchen Erde seinen vier alten Grenadieren als Asyl. Mit alledem beauftragte er einen Advokaten aus seiner Heimat. Als ich das Papier in den Händen hatte, schien er ruhiger zu sein und wollte einschlafen. Dann fuhr er zusammen, riß die Augen auf und bat mich sein Spazierstöckchen zu nehmen und aufzubewahren. …

Danach schlummerte er wieder ein.

Sein alter Soldat schüttelte den Kopf und faßte ihn bei der Hand. Ich nahm die andere, die sich eiskalt anfühlte. Er sagte, er habe kalte Beine, und Jean beugte sich und legte seine kleine Kinderbrust auf das Bett, um ihn zu erwärmen.

Dann begann Hauptmann Renaud seine Bettücher mit den Händen abzutasten und sagte, er fühle sie nicht mehr, was ein schlimmes Zeichen ist. Seine Stimme klang hohl. Mühsam führte er eine Hand an die Schläfe, schaute Jean aufmerksam an und sagte noch:

»Es ist merkwürdig... Das Kind sieht dem Russenkinde ähnlich!«

Dann schloß er die Augen, drückte mir mit wiederkehrender Geistesgegenwart die Hand und sagte:

»Sehen Sie, jetzt kommt es ins Gehirn, das ist das Ende.«

Sein Blick war anders und ruhiger. Wir begriffen den Kampf eines starken Geistes, der sich wider den Schmerz wehrte, welcher ihn verwirrte, und dies Schauspiel auf einem elenden Bette war für mich von feierlicher Erhabenheit. Von neuem überkam ihn eine Hitzewelle und er sagte sehr laut:

»Sie waren vierzehnjährig... Alle beide... Wer weiß, ob jene junge Seele nicht in diesen andern jungen Leib zurückgekehrt ist, um sich zu rächen ?« ...

Dann zitterte er, wurde bleich und schaute mich ruhig und gerührt an:

»Sagen Sie mir ... könnten Sie mir nicht den Mund schließen ? ... Ich fürchte zu sprechen ... man wird schwächer... Ich möchte nicht mehr reden... Ich habe Durst...«

Man reichte ihm einige Schlucke zu trinken und er sagte:

»Ich hab' meine Pflicht getan... Der Gedanke tut einem wohl...«

Und er fügte hinzu:

»Wenn es dem Lande nach allem, was geschehen ist, besser geht, haben wir nichts zu sagen; doch Sie sollen sehn ...«

Dann schlummerte er ein und schlief etwa eine halbe Stunde. Nach dieser Zeit kam eine Frau schüchtern an die Tür und machte ein Zeichen, daß der Chirurg da sei.

Ich ging auf den Zehenspitzen hinaus, um mit ihm zu sprechen, und als ich mit ihm in den kleinen Garten getreten und bei einem Brunnen stehen geblieben war, um ihn zu fragen, hörten wir einen lauten Schrei. Wir eilten hin und sahen ein Laken über das Haupt des braven Mannes gebreitet, der nicht mehr war...


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