Alfred de Vigny
Hauptmann Renauds Leben und Tod
Alfred de Vigny

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7. Der russische Wachtposten

»Ist's möglich?« sagte ich mit dem Fuße aufstampfend. »Wenn ich solche Sachen erzählt bekomme, gratuliere ich mir, daß der Offizier in mir seit mehreren Jahren tot ist. Bleibt nur mehr der einsame und unabhängige Schriftsteller, der zusieht, was aus seiner Freiheit werden soll, und der sie vor seinen alten Freunden nicht verteidigen will.«

Und ich meinte bei der Erinnerung dessen, was er mir erzählte, an Hauptmann Renaud Spuren des Unwillens entdecken zu müssen; er aber lächelte sanft und mit zufriedener Miene.

»Das war ganz harmlos«, fuhr er fort. »Der Oberst war der bravste Mann der Welt; doch gibts Leute, die, wie das berühmte Wort sagt, sich schlechter und härter machen als sie sind. Er wollte mich malträtieren, weil der Kaiser das Beispiel gegeben hatte. Eine plumpe Wachtstubenschmeichelei...

Welch ein Glück war aber das für mich!... Von dem Tage an begann ich mich innerlich zu schätzen, Vertrauen zu mir zu hegen und zu fühlen, wie mein Charakter sich läuterte, bildete, vervollkommnete und befestigte. Von dem Tage an sah ich klar, daß Ereignisse nichts sind, daß unser innere Mensch alles ist; ich stellte mich durchaus über meine Richter. Endlich fühlte ich mein Gewissen und entschloß mich, einzig und allein mich auf mein Gewissen zu verlassen und allgemeines Urteil, glänzende Belohnungen, jähe Glücksfälle und den Tagesberichtsruhm für lächerliche Prahlereien und ein Zufallspiel zu halten, mit dem sich zu beschäftigen nicht der Mühe lohne.

Rasch zog ich in den Krieg, um in den unbekannten Reihen der Linieninfanterie, der Schlachteninfanterie unterzutauchen, in der die Bauern des Heeres, die einander so gleich, so ähnlich sind wie die Gräser einer fetten Wiese der Beauce, sich zu Tausenden auf einmal niedermähen ließen...

Dort verbarg ich mich wie ein Karthäuser in seinem Kloster; inmitten dieser bewaffneten Menge marschierte ich zu Fuß wie die Soldaten, trug einen Tornister, aß ihr Brot und machte die großen Kriege des Kaiserreichs mit, solange das Kaiserreich oben war.

Ach, wenn Sie wüßten, wie zufrieden ich mich bei solch unerhörten Strapazen fühlte! Wie ich die Verborgenheit liebte und welch wilde Freuden mir die großen Schlachten bereiteten! Des Krieges Schönheit erlebt man nur mitten unter Soldaten, im Lagerleben, im Dreck der Märsche und der Feldwache. Ich rächte mich an Bonaparte, indem ich dem Vaterlande diente, ohne mich irgendwie um Napoleon zu kümmern; und wenn er an meinem Regimente vorbeikam, verbarg ich mich aus Furcht vor einer Gunst. Erfahrung hatte mich Rang und Macht bei ihrem richtigen Werte einschätzen lassen; ich wollte weiter nichts, als mir bei jeder unserer Waffentaten so viel Stolz anmaßen, wie mir nach meinem eigenen Gefühle zukam. Ich wollte da Bürger sein, wo es noch erlaubt war, einer zu sein, und zwar auf meine eigene Weise. Bald wurden meine Taten nicht bemerkt, bald über ihr Verdienst erhoben; ich aber suchte sie mit aller meiner Macht immer im Dunkeln zu halten, da ich vor allem fürchtete, daß mein Name zuviel genannt werden könnte. Die Menge derer, die einen entgegengesetzten Weg verfolgten, war so groß, daß ich mich leicht verbergen konnte. Als ich Achtzehnhundertvierzehn die Wunde an der Stirn, die Sie da sehn und die mir heute abend mehr Schmerzen bereitet als gewöhnlich, erhielt, war ich immer noch Leutnant der kaiserlichen Garde«.

Hier strich Hauptmann Renaud mehrere Male mit der Hand über seine Stirn; und da er anscheinend schweigen wollte, drängte ich ihn so inständig, fortzufahren, daß er schließlich nachgab.

Er stützte sein Haupt auf den Knopf seines Spazierstocks.

»Es ist sonderbar,« sagte er, »all das hab' ich niemals erzählt, und heute abend macht es mir Spaß.

Bah, was macht's, einem alten Kameraden gegenüber laß ich mich gern gehn. Für Sie wird's ein Gegenstand ernsthafter Betrachtungen sein, wenn Sie nichts Besseres zu tun haben. Dessen sind die Dinge da, scheints, nicht unwert. Sie werden mich nun für recht schwach oder recht närrisch halten; doch das ist einerlei. Bis zu dem für andere ganz gewöhnlichen Ereignisse, das ich Ihnen erzählen will und vor dessen Bericht ich wider Willen zurückschrecke, war meine Liebe zum Waffenruhm weise, ernst, hingebend und vollkommen rein geworden, wie es das einfache und einzige Pflichtgefühl ist; von dem Tage aber an stiegen andere Gedanken in mir auf und verdunkelten abermals mein Leben.

Es war im Jahre Achtzehnhundertvierzehn, es war zu Anfang des Jahres und am Ende jenes düsteren Krieges, wo unser armes Heer das Kaiserreich und den Kaiser verteidigte und wo Frankreich dem Kampf entmutigt zuschaute. Soissons hatte sich gerade dem Preußen Bülow ergeben. Die schlesische und die Nordarmee hatten sich dort vereinigt. Macdonald hatte Troyes verlassen und das Tal der Yonne preisgegeben, um mit dreißigtausend Mann seine Verteidigungslinie von Nogent bis Montereau aufzustellen.

Wir sollten Reims angreifen, das der Kaiser wieder haben wollte. Es war trübes Wetter und regnete fortgesetzt. Am Vorabend hatten wir einen höheren Offizier verloren, der die Gefangenen führte. Die Russen hatten ihn in der vorhergehenden Nacht überrascht, getötet und ihre Kameraden befreit. Unser Oberst, der, wie man zu sagen pflegt, ein mit allen Wassern gewaschener Kerl war, wollte sich Genugtuung verschaffen. Wir waren bei Epernay und umgingen die benachbarten Höhen. Der Abend kam, und nachdem wir den ganzen Tag unserer Erholung gewidmet, rückten wir an ein hübsches weißes Schloß mit Türmchen, namens Boursault, heran, als der Oberst mich rief.

Er führte mich beiseite, während man die Gewehre zusammensetzte, und sagte mit seiner alten knarrenden Stimme zu mir:

»Sie sehen doch da oben eine Scheune auf jenem steilabfallenden Hügel, da, wo jener große Flegel von einem russischen Posten mit seiner Bischofsmütze auf und ab geht?«

»Jawohl, jawohl,« sagte ich, »ich sehe Grenadier und Scheune genau.«

»Nun, Sie, der Sie ein alter Soldat sind, müssen wissen, daß das der Punkt ist, den die Russen vorgestern nahmen und der dem Kaiser jetzt am meisten zu schaffen macht. Er sagte mir, es sei der Schlüssel von Reims, und das kann wohl stimmen. Auf jeden Fall wollen wir Woronzoff einen Streich spielen. Um elf Uhr abends nehmen Sie zweihundert von Ihren Kerls und überrumpeln die Wache, die sie in die Scheune gelegt haben. Um aber ja keinen Lärm zu machen, sollen sie nur die Bajonette gebrauchen.«

Er nahm und bot mir eine Tabakprise an, und indem er den Rest, wie ich es da tue, nach und nach fallen ließ, sagte er zu mir, zu jedem in den Wind gestreuten Körnchen ein Wort sprechend: »Sie können sich wohl denken, daß ich mit meiner Kolonne hinter Ihnen sein will... Sie werden kaum sechzig Mann verlieren, werden die dort aufgestellten sechs Geschütze nehmen... Sie werden sie dann auf Reims richten... Um elf Uhr... elfeinhalb Uhr gehört die Stellung uns... Und dann wollen wir bis drei Uhr schlafen, um uns ein bißchen von dem kleinen Gefecht von Craonne auszuruhen, das, wie man so sagt, nicht von Pappe war.«

»Gut«, erklärte ich ihm und ging fort, um mit meinem Unterleutnant die Abendunternehmung in etwas vorzubereiten. Die Hauptsache war, wie Sie sehen, es durfte kein Lärm gemacht werden. Ich besichtigte die Waffen und ließ aus allen denen, die geladen waren, die Patronen mit dem Krätzer herausnehmen. Dann ging ich, der Stunde harrend, mit meinen Sergeanten ein bißchen spazieren. Um zehneinhalb Uhr ließ ich sie den Mantel über die Uniform ziehen und das Gewehr unter den Mantel verbergen, denn, wie man's auch anstellt, das Bajonett sieht man, wie Sie heut abend ja sehen, immer, und obwohl es noch viel dunkler war als jetzt, traute ich der Sache doch nicht. Ich hatte mir die kleinen, von Hecken eingefaßten Pfade gemerkt, die zu dem russischen Wachtposten führten, und die ließ ich die entschlossensten Kerls, die ich je befehligte, hinansteigen... Dort in den Reihen gibt's noch zwei, die dabei waren und sich dessen gut erinnern... Sie kannten die Russen und wußten, wie man sie fassen muß. Die Posten, auf die wir beim Hinaufsteigen stießen, verschwanden geräuschlos wie Schilf, das man mit der Hand zur Erde biegt. Der vor den Gewehren erforderte mehr Sorgfalt.

Er stand unbeweglich, Gewehr bei Fuß und das Kinn auf den Lauf gestützt; der arme Teufel schwankte hin und her wie ein Mensch, der vor Müdigkeit einschläft und umsinken will. Einer meiner Grenadiere nahm ihn in seine Arme, indem er ihn zum Ersticken drückte, und zwei andere warfen ihn, nachdem sie ihn geknebelt hatten, in die Büsche. Langsam kam ich heran und konnte mich eingestandenermaßen einer gewissen Bewegung, die ich im Augenblicke anderer Kämpfe nie verspürt hatte, nicht erwehren. Es war die Scham, schlafende Leute anzugreifen. Ich sah sie, von einer Blendlaterne beleuchtet, in ihre Mäntel gewickelt, und mein Herz schlug wild. Plötzlich aber, im Augenblicke des Handelns, fürchtete ich, es möchte eine Schwäche sein, wie sie Feiglinge verspüren; ich hatte Angst, einmal Furcht zu verspüren, und drang, meinen unter dem Arme versteckten Säbel hernehmend, meinen Grenadieren ein Beispiel gebend, ungestüm als der erste ein. Ich machte ihnen eine Handbewegung, die sie verstanden; sie warfen sich zuerst auf die Waffen, dann wie die Wölfe auf eine Herde auf die Menschen. O, es war eine blinde und gräßliche Schlachterei! Das Bajonett durchstach, der Flintenkolben zerschmetterte, das Knie erstickte und die Hand erdrosselte. Alle kaum ausgestoßenen Schreie wurden unter den Füßen unserer Soldaten erstickt und kein Kopf erhob sich, ohne den Todeshieb zu empfangen. Beim Eindringen hatt' ich auf gut Glück einen schrecklichen Hieb gradeaus, auf etwas Schwarzes geführt, und der Hieb war durch und durch gegangen. Ein alter Offizier, ein großer kräftiger Mann, den Kopf voller weißer Haare, erhob sich wie ein Gespenst, stieß, als er sah, was ich getan, einen schrecklichen Schrei aus, versetzte mir einen wilden Säbelhieb ins Gesicht und fiel sofort tot unter den Bajonetten nieder. Ich aber sank betäubt von dem Hiebe, der mich zwischen die Augen getroffen hatte, in sitzender Stellung neben ihn und hörte unter mir die ersterbende und zärtliche Stimme eines Kindes, das »Papa« rief.

Nun begriff ich meine Heldentat und schaute mit wahnsinniger Hast hin. Ich sah einen jener vierzehnjährigen Offiziere, die in den russischen Heeren, die uns zu jener Zeit überfielen, so häufig waren und die man in solch schreckliche Schule schleppte. Seine langen Ringellocken fielen so blond, so seidenweich wie die einer Frau auf seine Brust und sein Kopf hatte sich geneigt, wie wenn er nur ein zweites Mal eingeschlafen wäre. Seine Rosenlippen, die sich wie die eines Neugeborenen entfalteten, schienen noch feuchtfettig von der Ammenmilch und seine großen halboffenen blauen Augen waren von seltener weiblicher und liebreizender Formenschönheit. Ich richtete ihn in meinem Arme auf und seine Wange sank an meine blutige Wange, wie wenn er seinen Kopf zwischen seiner Mutter Kinn und Schulter bergen wollte, um sich zu wärmen. Er schien sich unter meine Brust zu kauern, um seinen Mördern zu entfliehen. Kindliche Zärtlichkeit, Vertrauen und Ruhe eines köstlichen Schlummers lagen auf seinem toten Antlitze und er schien zu sagen: Schlafen wir in Frieden.

»War das ein Feind?« schrie ich... Und was Gott an Vatergefühlen jedwedem Manne ins Herz gelegt, regte sich und zitterte in mir. Ich preßte ihn gegen meine Brust, als ich fühlte, daß ich mich auf den Knauf meines Säbels stützte, der sein Herz durchbohrte und den entschlummerten Engel getötet hatte. Ich wollte meinen Kopf an seinen Kopf legen, doch mein Blut bedeckte ihn mit breiten Flecken; ich fühlte meine Stirnwunde und erinnerte mich, daß sein Vater sie mir beigebracht hatte. Schamerfüllt blickte ich zur Seite und sah nur eine Anhäufung von Leichen, die meine Grenadiere bei den Beinen packten und hinauswarfen, wobei sie ihnen nur die Patronen abnahmen.

In diesem Augenblicke trat der Oberst in Gefolgschaft seiner Kolonne ein und ich hörte Schritte und Waffenklirren.

»Bravo, mein Lieber,« sagte er zu mir, »Sie haben das ja flink genommen. Doch sind Sie verwundet?«

»Sehen Sie hier,« sagte ich, »welcher Unterschied besteht zwischen einem Mörder und mir?«

»He, zum Kuckuck, mein Lieber, was wollen Sie, das gehört zum Handwerk.«

»Das stimmt«, antwortete ich und stand auf, um mein Kommando wieder zu übernehmen. Das Kind sank in die Falten seines Mantels zurück, in den ich es einhüllte, und seine kleine, mit schweren Ringen geschmückte Hand ließ ein Spazierstöckchen sinken, das auf meine Hand fiel, wie wenn er's mir geben wollte. Ich nahm es, fest entschlossen, welche Gefahren auch über mich kommen sollten, keine andere Waffe mehr zu gebrauchen, denn es gebrach mir an Mut, meinen mörderischen Säbel aus seiner Brust herauszuziehen.

Eilig verließ ich diese nach Blut riechende Höhle. Als ich mich wieder in freier Luft befand, hatt' ich die Kraft, meine rote und feuchte Stirn abzuwischen. Meine Grenadiere standen in ihren Reihen; jeder wischte kalten Blutes sein Bajonett im Grase ab und befestigte seinen Feuerstein wieder am Gewehre. Mein Feldwebel, von seinem Schreiber gefolgt, schritt vor den Reihen her, hielt seine Liste in der Hand und las sie beim Lichte eines Kerzenstummels herunter, den er wie auf einen Leuchter auf seinen Gewehrlauf gesteckt hatte; friedlich hielt er Appell ab. Ich lehnte mich an einen Baum, der Regimentschirurg kam und verband mir die Stirn. Ein reichlicher Märzregen fiel auf meinen Kopf und tat mir sehr wohl. Einen tiefen Seufzer konnte ich nicht unterdrücken:

»Ich bin des Krieges müde«, sagte ich zu dem Chirurgen.

»Und ich auch«, sagte eine ernste Stimme, die mir bekannt war. Ich schob den Verband von meinen Augenbrauen fort und sah nicht den Kaiser Napoleon sondern den Soldaten Bonaparte. Er war allein, traurig, zu Fuß, stand vor mir; seine Stiefel waren im Dreck versunken, seine Uniform zerrissen, von den Rändern seines Hutes rann der Regen... Er fühlte, daß seine letzten Tage gekommen waren, und sah seine letzten Soldaten um sich herum.

Aufmerksam betrachtete er mich...

»Hab' ich Dich schon irgendwo gesehen, alter Haudegen?« fragte er.

An dem letzten Worte merkte ich, daß er mir nur eine banale Phrase sagte; ich wußte, daß ich älter aussah, als ich war, und daß Ermüdungen, Schnurrbart und Wunden mich ziemlich unkenntlich machten.

»Ich habe Sie überall gesehen, ohne gesehen zu werden«, antwortete ich.

»Willst Du befördert werden?«

Ich sagte: »Es ist sehr spät.«

Einen Augenblick kreuzte er die Arme, ohne zu antworten; dann erwiderte er:

»Du hast recht, ja; in drei Tagen werden wir, Du und ich, den Dienst quittieren.«

Er kehrte mir den Rücken und stieg wieder auf sein Pferd; einige Schritte von dort hielt man es. In diesem Augenblicke hatte die Spitze unserer Kolonne angegriffen und man überschüttete uns mit Haubitzen. Eine fiel vor die Front meiner Kompagnie und in einer ersten Bewegung, deren sie sich hinterdrein schämten, sprangen einige Mann rückwärts. Bonaparte aber näherte sich allein der Haubitze, die vor seinem Pferde brannte und schwelte, und ließ es den Rauch einatmen. Alles schwieg und verharrte bewegungslos; die Haubitze krepierte und traf niemanden. Die Grenadiere begriffen die fürchterliche Lektion, die er ihnen erteilte; ich aber sah etwas mehr dahinter stehn, etwas, das Verzweiflung ähnelte.

Frankreich ließ ihn im Stich und er hatte einen Augenblick an seinen alten Haudegen gezweifelt. Durch ein so gänzliches Aufgeben fühlte ich mich zu sehr gerächt und ihn zu schwer für seine Fehler bestraft. Mühsam erhob ich mich, näherte mich ihm und nahm und drückte seine Hand, die er mehreren von uns hinstreckte. Er erkannte mich nicht wieder; für mich aber war es eine stillschweigende Versöhnung mit dem dunkelsten und glänzendsten der Männer unseres Jahrhunderts.

Man trommelte zum Sturmangriff und, folgenden Tags am Morgen, wurde Reims wieder von uns genommen. Doch einige Tage später ward es Paris von den anderen.« Hauptmann Renaud schwieg lange Zeit über nach dieser Erzählung und verharrte mit gesenktem Kopf; ich wollte ihn in seiner Träumerei nicht stören. Ehrfürchtig betrachtete ich den wackeren Mann. Während er sprach, hatte ich aufmerksamen Ohres die langsamen Wandlungen dieser guten und einfachen Seele verfolgt, die, wenn sie sich ganz hingeben wollte, stets zurückgestoßen, durch einen unbesiegbaren Willen stets zermalmt worden war, schließlich aber in der bescheidensten und strengsten Pflichterfüllung Ruhe gefunden hatte...

Sein unbekanntes Leben kam mir vor wie ein innerliches Schauspiel, das ebenso schön war wie das glänzende Leben irgendwelches Tatenmenschen ... Jede Meereswoge fügt den Schönheiten einer Perle einen weißlichen Schleier hinzu, still müht sich jedwede Welle sie noch vollkommener zu machen, jede Schaumflocke, die sich auf ihr wiegt, läßt einen halb goldenen, halb durchschimmernden geheimnisvollen Glanz auf ihr zurück, von dem man nur einen aus ihrem Innern hervorbrechenden Strahl erraten kann; genau so hatte sich dieser Charakter in den großen Umwälzungen und in der Tiefe der finstersten und ständigen Prüfungen geformt. Ich wußte, daß er es bis zu des Kaisers Tode für seine Pflicht gehalten hatte, nicht zu dienen, indem er trotz aller inständigen Bitten seiner Freunde das respektierte, was er Schicklichkeit nannte. Und als er später frei vom Bande seines alten Versprechens war, welches er einem Herrn geleistet hatte, der ihn nicht mehr kannte, kehrte er zurück, um in der königlichen Garde die Überbleibsel seiner alten Garde zu befehligen, und da er nie von sich selber sprach, hatte man nicht Obacht auf ihn gehabt und ihn auch nicht befördert...

Daraus machte er sich wenig und pflegte zu sagen, wenn man nicht mit fünfundzwanzig Jahren, einem Alter, in dem man Gebrauch von seiner Einbildungskraft zu machen vermöchte, General sein könne, sei es besser, simpler Hauptmann zu bleiben und mit seinen Soldaten wie ein Familienvater, wie ein Klosterprior zu leben.

»Sehn Sie da,« sagte er zu mir nach dieser momentanen Ruhe, »unsern alten Grenadier Poirier mit seinen finsteren und schielenden Augen, seinem kahlen Schädel und seinen Säbelhieben auf der Backe an, vor dem Frankreichs Marschälle bewundernd stehen bleiben, wenn er vor des Königs Tür das Gewehr vor ihnen präsentiert; sehen Sie Beccaria mit seinem römischen Veteranenprofil, Frechon mit seinem weißen Schnauzbarte an, sehen Sie das ganze erste dekorierte Glied an, das drei Winkeltressen an seinen Armen trägt! Was würden diese alten Mönche der alten Armee, die nie etwas anderes als Grenadiere sein wollten, gesagt haben, wenn ich, der sie noch vor vierzehn Tagen befehligte, ihnen heute früh gefehlt hätte?

Wenn ich mich schon seit mehreren Jahren häuslichen Gewohnheiten, der Ruhe oder einem anderen Berufe zugewandt hätte, wär' es etwas anderes gewesen; so aber frommt mir wahrlich, was ihnen frommt. Sehen Sie übrigens, wie ruhig heute Abend alles in Paris ist, ruhig, wie die Luft,« fügte er, wie ich aufstehend, hinzu. »Da kommt der Tag; sonder Zweifel wird man nicht wieder mit Laterneneinschlagen beginnen und morgen können wir wieder ins Quartier rücken. Ich aber werde mich in einigen Tagen wahrscheinlich auf ein kleines Fleckchen Erde zurückgezogen haben, das ich irgendwo in Frankreich besitze, wo es ein kleines Türmchen gibt, in dem ich zu meiner Freude Polybius, Turenne, Folard und Vauban zu Ende studieren will. Fast alle meine Kameraden sind in der großen Armee getötet worden oder seitdem gestorben; seit langem schon plaudere ich mit keinem Menschen mehr, und Sie wissen, auf welchem Wege ich dahin gekommen bin, den Krieg, ob ich gleich all' meine Kräfte für ihn einsetzte, zu hassen.«

Dabei schüttelte er mir lebhaft die Hand, indem er mich nochmals um den Ringkragen bat, der ihm abging, wenn meiner nicht zu verrostet sei und ich ihn zu Hause fände. Dann rief er mich zurück und sagte:

»Halt, da es doch nicht ganz ausgeschlossen ist, daß man von irgendeinem Fenster aus nochmals auf uns feuert, so heben Sie mir bitte diese Brieftasche mit alten Briefen auf; sie haben nur für mich Interesse und Sie mögen sie verbrennen, wenn wir uns nicht wiedersehn sollten.

Manche von unseren alten Kameraden sind zu uns gekommen und wir haben sie gebeten wieder nach Hause zu gehen … Wir führen keinen Bürgerkrieg. … Wir sind friedfertig wie Spritzenmänner, deren Pflicht es ist Brände zu löschen. Man wird sich später schon verständigen, das geht uns nichts an.«

Und lächelnd verließ er mich.


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