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Zweiter Theil.

(Fortsetzung.)

IV.
Die Witwe Stephan Bathory's.

Die Ankunft des Doctors Antekirtt hatte nicht nur in Ragusa, sondern auch in der ganzen dalmatinischen Provinz von sich reden gemacht. Die Zeitungen, nachdem sie das Eintreffen der Yacht im Hafen von Gravosa gemeldet, warfen sich mit Heißhunger auf diese Beute, die eine Reihe lockender Notizen versprach. Der Besitzer der »Savarena« konnte somit den Ehren, aber auch den Nachtheilen, die eine Berühmtheit mit sich bringt, nicht entgehen. Seine Person bildete das Gespräch des Tages. Die Sage bemächtigte sich ihrer. Man wußte nicht, wer er war, woher er kam, wohin er ging. Das mußte die Neugierde des Publikums naturgemäß vergrößern. Wenn man aber nichts weiß, ist das Feld der Vermuthungen ein ungeheures, die Einbildungskraft zieht davon den Nutzen und der, welcher am besten unterrichtet erscheint.

Die Reporter eilten, in dem Wunsche, ihre Leser befriedigen zu können, so schnell sie konnten, nach Gravosa, einige kamen sogar an Bord des Schooners. Sie bekamen die Persönlichkeit, mit der die öffentliche Meinung sich unablässig beschäftigte, nicht zu Gesicht. Die Befehle waren gemessener Natur. Der Doctor empfing Niemand. Auch die Auskünfte, welche Capitän Narsos allen Fragen der Besucher entgegensetzte, waren unveränderlich dieselben:

»Woher kommt der Herr Doctor?

– Woher es ihm gefällt.

– Und wohin fährt er?

– Wohin es ihm zu fahren beliebt.

– Aber wer ist er?

– Niemand weiß es, vielleicht weiß er selbst nicht einmal mehr als die, welche nach ihm fragen.«

Ein gutes Mittel wäre das zwar gewesen, die Neugier der Leser durch Mittheilung dieser lakonischen Antworten zu befriedigen! Doch das ging nicht gut, es folgte daraus, daß die Einbildungskraft, welcher der kurze Bescheid einen weiten Spielraum einräumte, nicht zögerte, in den kühnsten Vermuthungen umherzuschweifen. Doctor Antekirtt wußte schon im Voraus, was man von ihm wollte. Ihm war es schon recht, Alles das gewesen zu sein, was jene indiscreten Plauderer für gut befanden, ihm anzudichten. Den Einen galt er als ein Piratenchef, den Anderen als König eines mächtigen afrikanischen Staates, der incognito reiste, um sich zu unterrichten. Diese behaupteten, daß er ein verbannter Politiker wäre, Jene, daß eine Revolution ihn aus seinen Staaten getrieben hätte und er nun als Philosoph und Wißbegieriger durch die Welt streife. Die Auswahl stand frei. Was den Doctortitel anbelangte, mit dem er sich schmückte, so waren die Meinungen derer, die ihm denselben zugestanden, getheilt: nach der Ansicht der Einen war er ein großer Arzt, der in hoffnungslosen Fällen noch erfolgreiche Curen machen konnte, nach derjenigen der Anderen war er der König der Charlatans und es würde ihm sehr schwer fallen, Patente oder Diplome aufzuweisen.

Die Mediciner in Ragusa und Gravosa würden kaum in die Lage gekommen sein, den Doctor wegen ungesetzlichen Ausübens der medicinischen Praxis zu belangen. Denn derselbe verhielt sich beständig äußerst reservirt, und wenn man ihm die Ehre einer Consultation zu Theil werden lassen wollte, so pflegte er sich stets heimlich zu entfernen.

Der Besitzer der »Savarena« hatte auch kein Gelaß auf dem Festlande für die Zeit seines Aufenthaltes gemiethet. Er stieg nicht einmal in einem der Hotels der Stadt ab. Während der ersten zwei Tage seines Aufenthaltes in Gravosa ging er nicht weiter als bis in die Nähe von Ragusa. Er beschränkte sich darauf, einige Spaziergänge in der Umgegend zu unternehmen und ließ sich zwei- oder dreimal von Pointe Pescade begleiten, dessen natürliche Intelligenz ihm zusagte.

Während er selbst sich von Ragusa fern hielt, ging Pointe Pescade eines Tages für ihn dorthin. Mit dem Vertrauensauftrag beehrt, Erkundigungen für ihn einzuholen, gab der junge anstellige Mann nach der Rückkehr dem Doctor folgende Antworten auf dessen Fragen:

»Jener wohnt also im Stradone?

– Ja, Herr Doctor, in der schönsten Straße der Stadt. Er bewohnt ein Hotel in der Nähe des Platzes, auf welchem den Fremden der alte Dogenpalast gezeigt wird, ein prächtiges Hotel mit Dienerschaft und Wagen. Eine richtige Millionärswirthschaft.

– Und der Andere?

– Der Andere oder vielmehr die Anderen? erwiderte Pointe Pescade. Sie wohnen ebenfalls in diesem Stadttheile, aber ihr Haus steht wie verloren in einer der hügeligen, schmalen, gewundenen Gassen – wahre Treppen – durch welche man zu den bescheideneren Behausungen gelangt.

– Und ihr Haus?

– Ist niedrig, klein und bietet von außen wie von innen einen ärmlichen Anblick; ich denke mir aber, daß es äußerst sauber gehalten wird. Man merkt, daß arme, aber stolze Leute in ihm wohnen.

– Die Dame?

– Ich habe sie nicht gesehen und man erzählt sich, daß sie fast nie die Marinella-Straße verläßt.

– Ihr Sohn?

– Ich habe ihn gesehen, Herr Doctor, als er gerade zu seiner Mutter heimkehrte.

– Und was für einen Eindruck machte er auf Dich?

– Er schien mir etwas besorgt, ja fast beunruhigt zu sein. Man könnte sagen, daß der junge Mann schon eine Schule des Leidens durchgemacht hat. Man merkt es.

– Du, Pointe Pescade, hast ebenfalls viel gelitten und man merkt es Dir doch nicht an.

– Seelische und körperliche Leiden sind zweierlei, Herr Doctor. Deshalb habe ich die meinigen stets gut verbergen können und noch dabei gelacht.«

Der Doctor sagte zu Pointe Pescade bereits »Du«, was dieser sich als eine Gunst ausgebeten hatte und Kap Matifu sollte bald den Vortheil dieser vertraulichen Anrede genießen. Der Herkules war eine zu imposante Erscheinung, als daß man sich hätte so schnell erlauben können, ihn zu duzen.

Doctor Antekirtt hörte nach diesem Bescheide, den er von Pointe Pescade erhalten hatte, bald mit seinen Spaziergängen um Gravosa auf. Er schien irgend ein Ereigniß abzuwarten, dem er nicht durch sein Auftreten in Ragusa vorgreifen wollte, woselbst seine Ankunft auf der »Savarena« bekannt genug geworden war. Er blieb also an Bord, bis das von ihm erwartete Ereigniß eintrat.

Am 29. Mai in der elften Stunde befahl der Doctor, nachdem er die Quais des Hafens mit dem Fernrohr gemustert, sein Boot herabzulassen; er stieg hinein und ließ sich an den Molo bringen, woselbst ein Mann auf ihn zu warten schien.

»Er ist es, er ist es, sagte der Doctor bei sich. Ich erkenne ihn wieder, so sehr er sich auch verändert hat.«

Dieser Mann war ein von der Bürde des Alters geknickter Greis, obwohl er erst siebzig Jahre zählte. Weiße Haare bedeckten das sich vorn überneigende Haupt. Sein Gesicht zeigte einen ernsten traurigen Ausdruck, der kaum von einem halberloschenen Blick belebt wurde; die Thränen schienen es oft benetzt zu haben. Er stand unbeweglich auf dem Quai und ließ das Boot nicht aus den Augen, seitdem es vom Schooner abgestoßen war.

Der Doctor that absichtlich so, als bemerke er weder den Greis noch als erkenne er ihn wieder. Ihm schien nicht einmal dessen Anwesenheit aufzufallen. Doch kaum war er einige Schritte weit gegangen, so schritt der Greis auch schon auf ihn zu und sich demüthig entblößend, fragte er:

»Herr Doctor Antekirtt?

– Mein Name,« antwortete der Doctor und betrachtete den armen Mann, dessen Augenlider nicht einmal zuckten, als seine Augen sich auf ihn hefteten.

Dann fragte er:

»Wer seid Ihr, mein Freund, und was wünscht Ihr von mir?

– Ich heiße Borik, erwiderte der Greis, und stehe im Dienste der Frau Bathory. Meine Dame ersucht Sie, ihr ein Rendezvous zu bestimmen ...

– Frau Bathory? wiederholte der Doctor. Sollte diese Dame die Witwe jenes Ungarn sein, der seinen Patriotismus mit dem Leben bezahlte?

– Dieselbe. Obwohl Sie Frau Bathory nie gesehen haben, so müssen Sie sie jedenfalls doch kennen, da Sie der Herr Doctor Antekirtt sind.«

Dieser horchte aufmerksam auf die Worte des alten Dieners, dessen Augen gesenkt blieben. Er schien sich zu fragen, ob sich in diesen Worten wohl ein Hintergedanke verbärge.

»Was wünscht Frau Bathory von mir? fragte er dann.

– Aus Gründen, die Ihnen bekannt sein dürften, Herr Doctor, wünscht meine Dame eine Unterredung mit Ihnen.

– Ich werde sie besuchen.

– Sie würde vorziehen, zu Ihnen auf das Schiff zu kommen.

– Warum?

– Es liegt ihr daran, daß diese Unterredung geheim bleibt.

– Geheim? Wem gegenüber?

– Ihrem Sohne. Peter braucht nicht zu erfahren, daß Frau Bathory einen Besuch von Ihnen empfangen hat.«

Diese Antwort schien den Doctor zu befremden; doch ließ er sich vor Borik nichts merken.

»Ich ziehe es vor, Frau Bathory aufzusuchen, meinte er laut. Könnte ich nicht zu ihr kommen, wenn ihr Sohn nicht zu Hause ist?

– Sie können es, Herr Doctor, wenn Sie geneigt sind, nicht vor morgen zu kommen. Peter reist heute Abend nach Zara und wird erst einen Tag später zurückkehren.

– Und womit beschäftigt sich Peter Bathory?

– Er ist Techniker, hat aber bis jetzt keine Stellung finden können. Ja, ja! Mutter und Sohn haben ein entbehrungsreiches Leben geführt.

– Entbehrungsreich! entfuhr es den Lippen des Doctors. Madame Bathory verfügt also über keine Hilfsquellen?«

Er schwieg. Der Greis hatte den Rücken noch tiefer gebeugt und nur schwere Seufzer hoben seine Brust.

»Ich kann Ihnen nichts weiter sagen, Herr Doctor. In der Unterredung mit Ihnen wird Frau Bathory Ihnen gewiß Alles erzählen, was Sie wissen dürfen.«

Der Doctor mußte sich stark zusammennehmen, um nichts von seiner Bewegung merken zu lassen.

»Wo wohnt Frau Bathory? fragte er weiter.

– In Ragusa, im Stadttheile des Stradone, Marinella-Straße 17.

– Wird Frau Bathory morgen Mittag zwischen ein und zwei Uhr zu sprechen sein?

– Ja wohl, Herr Doctor, ich selbst werde Sie zu ihr führen.

– So sagt Frau Bathory, daß sie morgen zur eben genannten Stunde auf meinen Besuch rechnen kann.

– Ich danke Ihnen in ihrem Namen,« erwiderte der Greis.

Nach einigem Zögern setzte er noch hinzu:

»Sie dürfen annehmen, Herr Doctor, daß es sich um einen Frau Bathory zu leistenden Dienst handelt.

– Und worin bestände er? fragte lebhaft der Doctor.

– Ich kann es nicht sagen,« antwortete Borik.

Dann verneigte er sich tief und wendete sich der Straße zu, die von Gravosa nach Ragusa führt.

Die letzten Worte des alten Dieners hatten Doctor Antekirtt sichtlich überrascht. Er war unbeweglich auf dem Quai stehen geblieben und blickte dem sich entfernenden Borik nach. Nach seiner Rückkehr an Bord ertheilte er Pointe Pescade und Kap Matifu Urlaub; er schloß sich alsdann in sein Zimmer ein und wollte während der übrigen Tagesstunden nicht gestört sein.

Pointe Pescade und Kap Matifu nützten die erhaltene Erlaubniß ganz in der Weise wirklicher Rentner aus, die sie jetzt waren. Sie konnten es sich sogar nicht versagen, einige der Jahrmarktsbuden zu betreten. Wenn man behaupten wollte, daß unser gewandter Clown nicht Lust empfand, einen ungeschickten Equilibristen zurecht zu weisen, daß es dem mächtigen Kämpen nicht in den Fingern juckte, an dem Athletenkampfe Theil zu nehmen, so wäre das eine offene Unwahrheit. Beide erinnerten sich indessen rechtzeitig, daß sie die Ehre hatten, zur Besatzung der »Savarena« zu gehören. Sie blieben also einfache Zuschauer und kargten mit ihrem Beifalle nicht, wenn er ihnen verdient erschien.

Am nächsten Tage kurz vor zwölf Uhr ließ sich der Doctor an Land bringen. Nachdem er sein Boot wieder zurückgeschickt hatte, schlug er den Weg nach Ragusa ein durch die in der Höhe angelegte, zwei Kilometer lange, von Landhäusern und schattigen Bäumen eingefaßte Straße.

Die Allee war noch nicht so belebt, wie sie es gewöhnlich durch die auf und ab fahrenden Equipagen, durch die Menge der Fußgänger und Reiter einige Stunden später wurde.

Der Doctor, in Gedanken an das bevorstehende Zusammentreffen mit Frau Bathory verloren, hatte einen Seitenweg eingeschlagen und war bald am Borgo-Pille angelangt, einer Steinwand, die außerhalb der drei Befestigungswälle der Stadt gelegen ist. Das Ausfallthor stand offen und der Weg führte unter den drei Wällen fort in das Innere der Stadt.

Dieser Stradone ist ein wundervoller gepflasterter Straßenzug, der vom Borgo-Pille bis zur Vorstadt Plocce, also durch die ganze Stadt läuft. Er verbreitert sich am Fuße eines Hügels, auf dem sich ein vollständiges Amphitheater von Häusern aufbaut. An einem Ende erhebt sich der alte Dogenpalast, ein schönes Bauwerk aus dem fünfzehnten Jahrhundert, mit einem inneren Hof, einer Säulenhalle im Renaissancestyl und Fenstern mit Vollbögen; die schlanken Säulchen erinnern an die Blüthezeit der toscanischen Architektur.

Der Doctor brauchte nicht so weit zu gehen. Die Marinella-Straße, die ihm Borik Tags zuvor genannt hatte, biegt in der Mitte der Länge des Stradone nach links ab. Sein Schritt verlangsamte sich ein wenig, als er einen schnellen Blick an einem aus Granit erbauten Palaste emporwarf, dessen reiche Façade und Nebengebäude in schiefem Winkel zu seiner Rechten aufstiegen. Durch das offenstehende Hofportal konnte man einen Herrenwagen mit herrlichem Gespann davor, den Kutscher auf seinem Bocke und einen Bedienten erblicken, der vor dem von einer eleganten Veranda überdachten Perron wartete.

Ein Herr kam gerade jetzt aus dem Hause und bestieg den Wagen; die Pferde zogen an, trabten auf die Straße und hinter ihnen schloß sich das Thor.

Jener Herr war derselbe, der drei Tage zuvor Doctor Antekirtt auf dem Quai von Gravosa angesprochen hatte, der ehemalige Bankier in Triest, Silas Toronthal.

Der Doctor wollte ein Zusammentreffen mit demselben möglichst vermeiden und trat schnell bei Seite; er ging aber erst weiter, als der schnell dahinrollende Wagen am Ende des Stradone verschwunden war.

»Beide in derselben Stadt, murmelte er; Schuld des Zufalls, nicht die meinige.«

Eng, eckig, schlecht gepflastert, ärmlich aussehend sind die Straßen, die links vom Stradone abführen. Man möge sich einen breiten Strom vorstellen, der auf seiner einen Seite nur Regenbäche als Nebenflüsse aufweist. In dem Verlangen, etwas Luft zu genießen, scheinen die Häuser übereinander zu klettern, sich gegenseitig zu stoßen. Auge blickt in Auge, wenn man die Fenster oder Mansarden, die sich auf ihrer Vorderseite öffnen, so bezeichnen darf. So gestaltet ziehen sie sich bis auf die eine der Anhöhen hinauf, deren Gipfel von den Forts Mincetto und San Lorenzo gekrönt sind. Ein Wagen kann hier nicht fahren. Zur Regenzeit bilden diese Straßen vollständige Regenbäche; aber auch zu anderen Zeiten bilden sie wahre Schluchten, und man hat die Abhänge und Unebenheiten ihres Bodens durch Absätze und Stufen beseitigen müssen. Ein in die Augen springender Abstand zwischen den bescheidenen Behausungen hier und den Prachtbauten auf dem Stradone.

Der Doctor kam an den Eingang der Marinella-Straße und begann die unendliche Treppe derselben hinaufzusteigen. Er mußte mehr als sechzig Stufen nehmen, bis er vor das Haus Nummer 17 gelangte.

Dort öffnete sich sofort die Thür. Der alte Borik erwartete den Doctor. Er führte ihn, ohne ein Wort zu sprechen, in ein sauber gehaltenes, doch ärmlich ausgestattetes Gemach.

Der Doctor setzte sich. Nichts erweckte den Anschein, als ob seine Anwesenheit in dieser Behausung auch nur die leiseste Bewegung in ihm wachrief – nicht einmal als Frau Bathory eintrat und ihn ansprach:

»Herr Doctor Antekirtt?

– Jawohl, gnädige Frau, antwortete dieser sich erhebend.

– Ich hätte Ihnen gern die Mühe erspart, so weit zu kommen und so hoch zu steigen, Herr Doctor.

– Ich bestand darauf, Ihnen einen Besuch zu machen, gnädige Frau, und ich bitte Sie, glauben zu wollen, daß ich Ihnen vollständig zu Diensten stehe.

– Ich habe erst gestern von Ihrer Ankunft in Gravosa gehört, Herr Doctor, und habe sogleich Borik zu Ihnen geschickt und Sie um eine Unterredung mit mir ersuchen lassen.

– Ich bin, wie Sie sehen, bereit, das Nähere von Ihnen zu hören.

– Darf ich mich zurückziehen? fragte Borik.

– Nein, bleibe, sagte Frau Bathory. Du als einziger Freund meines Hauses weißt, was ich Herrn Doctor Antekirtt zu sagen habe.«

Frau Bathory setzte sich und der Doctor nahm vor ihr Platz, während der Greis am Fenster stehen blieb.

Die Witwe des Professors Stephan Bathory stand jetzt in ihrem sechzigsten Jahre. Obgleich ihre Haltung trotz des hohen Alters noch eine kerzengerade war, so verriethen ihr völlig weißes Haar und das von Falten durchfurchte Gesicht dennoch, wie sehr sie gegen den Kummer und das Elend hatte ankämpfen müssen. Man merkte indessen, daß auch jetzt noch nicht ihre frühere Willensstärke gewichen war. Man erkannte in ihr noch die tapfere Gefährtin, die intime Vertraute des Mannes wieder, der seine Stellung seiner vermeintlichen Pflicht zu Liebe geopfert hatte, seine Mitschuldige, als er sich mit Mathias Sandorf und Ladislaus Zathmar in die Verschwörung eingelassen hatte.

»Herr Doctor, sagte sie mit einer Stimme, deren Rührung sie vergebens zu unterdrücken suchte, wenn Sie wirklich Doctor Antekirtt sind, so schulde ich Ihnen die Erzählung der Ereignisse, welche sich vor fünfzehn Jahren in Triest zugetragen haben.

– Da ich wirklich der Doctor Antekirtt bin, gnädige Frau, so ersparen Sie sich, bitte, eine Wiederholung jener für Sie so schmerzlichen Thatsachen. Ich kenne sie und setze noch hinzu – da ich eben Doctor Antekirtt bin – daß ich auch weiß, wie Ihr Leben seit jenem unvergeßlichen 30. Juni des Jahres 1867 verflossen ist.

– So werden Sie mir auch sagen können, Herr Doctor, welchem Beweggrunde das Interesse, welches Sie an meinem Leben nehmen, entspringt?

– Es ist das Interesse, welches jeder Mann von Gemüth der Witwe des Magyaren schuldet, der nicht gezögert hat, seine Existenz für die Unabhängigkeit seines Vaterlandes hinzugeben.

– Sie haben meinen Mann, den Professor Stephan Bathory gekannt? fragte die Witwe mit zitternder Stimme.

– Ich habe ihn gekannt, ihn geliebt und verehre alle Diejenigen, welche seinen Namen tragen.

– Stammen Sie aus dem Lande, für welches er sein Blut vergossen hat?

– Ich stamme aus keinem Lande, gnädige Frau.

– Wer sind Sie also?

– Ein Todter, der sein Grab noch nicht gefunden hat,« erwiderte Doctor Antekirtt kühl.

Frau Bathory und Borik überlief es bei dieser unerwarteten Antwort kalt. Der Doctor setzte schnell hinzu:

»Ich muß indessen die Erzählung, die ich Sie bat, mir nicht zu wiederholen, jetzt selbst noch einmal berühren, denn so viele Umstände Sie auch bereits kennen, so gibt es doch noch andere, welche Ihnen bisher unbekannt waren, die Ihnen aber jetzt nicht länger vorenthalten werden sollen.

– Ich höre, Herr Doctor.

– Vor fünfzehn Jahren, gnädige Frau, begann Doctor Antekirtt, stellten sich drei Edle Ungarns an die Spitze einer Verschwörung, welche Ungarns frühere Unabhängigkeit wieder herzustellen bezweckte. Diese Männer waren Graf Mathias Sandorf, Professor Stephan Bathory, Graf Ladislaus Zathmar, drei seit Langem derselben Hoffnung lebende Freunde, drei Wesen, denen das gleiche Herz in der Brust schlug.

– Am 8. Juni 1867, dem Tage vor dem zum Ausbruche des Aufstandes festgesetzten Termine, der sich über ganz Ungarn und Siebenbürgen erstrecken sollte, wurde das Haus des Grafen Zathmar in Triest, in welchem die Häupter der Verschwörung versammelt waren, von der Polizei umstellt. Graf Sandorf und seine beiden Genossen wurden verhaftet, fortgeführt, in derselben Nacht noch in den Thurm von Pisino eingesperrt und wenige Wochen später zum Tode verurtheilt.

– Ein junger Commis, Namens Sarcany, wurde gleichzeitig mit den Genannten im Hause des Grafen Zathmar verhaftet. Da sich im Verlaufe der Verhandlung herausstellte, daß er dem Complot völlig ferngestanden habe, so zögerte man nicht, die Anklage gegen ihn zurückzunehmen und ihn freizulassen.

– In der Nacht vor dem Tage der Urtheilsvollstreckung wurde von den Gefangenen, die in derselben Zelle vereinigt waren, ein Ausbruch versucht. Graf Sandorf und Stephan Bathory entkamen mit Hilfe des Blitzableiterkabels aus dem Wartthurme von Pisino und stürzten in dem Augenblicke in den Strudel der Foiba, als Ladislaus Zathmar von den Aufsehern ergriffen und seine Flucht vereitelt wurde.

– Obwohl die Flüchtigen wenig Aussicht hatten, dem Tode zu entgehen, da ein unterirdischer Strom sie in ein Land spülte, welches sie nicht kannten, so gelang es ihnen doch, das Ufer des Canals von Leme, später die Stadt Rovigno zu erreichen, wo sie in dem Hause des Fischers Andrea Ferrato ein Unterkommen fanden.

– Dieser Fischer – ein edelmüthiger Mann – traf alle Vorbereitungen, um sie auf die italienische Küste hinüber zu bringen. Ein Spanier, Namens Carpena, jedoch, der ihren Schlupfwinkel aufgespürt hatte, verrieth sie aus Rachsucht gegen den Fischer der Polizei von Rovigno. Sie versuchten zum zweiten Male zu entkommen. Allein Stephan Bathory fiel verwundet in die Hände der Verfolger. Mathias Sandorf, der bis in das Meer hinein gejagt wurde, fiel unter einem Hagel von Kugeln und das Meer hat nicht einmal seinen Leichnam herausgegeben.

– Zwei Tage später wurden Stephan Bathory und Ladislaus Zathmar in der Festung Pisino erschossen. Der Fischer Andrea Ferrato wurde, weil er die Flüchtlinge bei sich aufgenommen hatte, zu lebenslänglicher Sträflingsarbeit verurtheilt und nach Stein gebracht.«

Frau Bathory hatte den Kopf gesenkt. Sie hatte mit beklommenem Herzen der Erzählung des Doctors zugehört, ohne ihn zu unterbrechen.

»Sie kennen diese Einzelheiten, gnädige Frau? fragte dieser.

– Ja, mein Herr, aus den Zeitungen, wie Sie wahrscheinlich ebenfalls?

– Ja, gnädige Frau, ich kenne sie natürlich auch aus den Zeitungen, erwiderte der Doctor, doch was die Zeitungen ihren Lesern nicht mittheilen konnten, weil die ganze Affaire sich mit der größten Heimlichkeit abspielte, weiß ich allein, dank einer Indiscretion eines Festungsaufsehers, und Sie sehen mich bereit, es Ihnen mitzutheilen.

– Sprechen Sie, Herr Doctor, drängte Frau Bathory.

– Graf Mathias Sandorf und Stephan Bathory wurden in dem Hause des Fischers Ferrato gefunden und ergriffen, weil sie von dem Spanier Carpena verrathen wurden. In Triest waren sie drei Wochen früher verhaftet worden aus demselben Grunde, sie wurden durch Verräther der österreichischen Polizei angezeigt.

– Durch Verräther? rief Frau Bathory.

– Ja, gnädige Frau, und die Beweise des Verrathes gingen aus den Verhandlungen vor dem Kriegsgerichte deutlich genug hervor. Erstens hatten diese Menschen ein an den Grafen Sandorf gerichtetes chiffrirtes Billet vom Halse einer Brieftaube gestohlen und eine Abschrift von diesem genommen. Zweitens setzten sie sich im Hause des Grafen Zathmar in den Besitz eines Abdrucks des Gitters, das zum Verständniß dieser chiffrirten Depeschen nothwendig war. Nachdem sie mit Hilfe dieses Gitters Kenntniß von dem Inhalte des Billets genommen, überlieferten sie Beides dem Gouverneur von Triest. Zweifellos bildete ein Theil der confiscirten Güter des Grafen Sandorf den Lohn für diesen Verrath.

– Kennt man diese Schurken? fragte Frau Bathory mit vor Aufregung zitternder Stimme.

– Nein, gnädige Frau, antwortete der Doctor. Vielleicht haben die drei Verurtheilten sie gekannt und sie würden vielleicht ihre Namen genannt haben, wenn sie noch ein Mal ihre Familie vor ihrem Tode bei sich hätten sehen können.«

Man wird sich erinnern, daß weder Frau Bathory, welche mit ihrem Sohne nicht mehr in Triest weilte, noch Borik, der noch im Gefängnisse saß, den Verurtheilten in ihren letzten Augenblicken zur Seite gestanden hatten.

»Und wird man die Namen nie erfahren können? fragte Frau Bathory.

– Fast stets pflegen Verräther schließlich sich selbst zu verrathen, gnädige Frau, erwiderte der Doctor. Ich muß nun noch etwas meiner Erzählung hinzufügen. Sie sind Witwe geblieben und besaßen einen achtjährigen Knaben, doch kein Vermögen. Borik, der Diener des Grafen Zathmar, wollte nach dem Tode seines Herrn Sie nicht verlassen; doch auch er war arm und konnte Ihnen nur mit seiner Ergebenheit zu Hilfe kommen.

– Sie verließen Triest und bezogen dieses bescheidene Heim hier in Ragusa. Sie haben gearbeitet und mit Ihrer Hände Arbeit das Nothwendigste, was man zum körperlichen und auch zum geistigen Leben braucht, verdient. Ihr Herzenswunsch war es, daß Ihr Sohn dieselben Bahnen der Wissenschaft einschlagen konnte, welche den Vater berühmt gemacht hatten. Wie viele unaufhörliche Kämpfe mußten Sie bestehen, wie viel Elend muthig ertragen! Ich verneige mich mit Hochachtung vor der edlen Dame, die so viel Willensstärke gezeigt, vor der Mutter, deren Aufopferung den Sohn zum Manne gemacht hat.«

Der Doctor hatte sich bei diesen Worten erhoben und durch seine gewöhnlich gezeigte Kälte drang es wie ein Hauch herzlichen Empfindens.

Frau Bathory erwiderte nichts. Sie wußte nicht, ob der Doctor seine Rede schon beendet hatte oder ob er sie noch fortzusetzen gedachte; sie erwog, wie sie ihm die Mittheilungen persönlicher Natur machen sollte, um deren willen sie um eine Unterredung mit ihm ersucht hatte.

Der Doctor, der ihre Gedanken zu errathen schien, fuhr fort:

»Aber über eine gewisse Grenze, gnädige Frau, reicht die menschliche Kraft nicht hinaus, und auch Sie, bereits krank und hinfällig durch so viele schwere Prüfungen, wären am Ende unterlegen, wenn nicht ein Unbekannter, nein, ein Freund des Professors Bathory Ihnen zu Hilfe gekommen wäre. Ich würde Ihnen nie davon gesprochen haben, wenn Ihr alter Diener mich nicht über das Verlangen aufgeklärt hätte, dem zu Folge Sie mich sprechen wollten.

– Allerdings, Herr Doctor, erwiderte Frau Bathory. Bin ich dem Herrn Doctor Antekirtt nicht Dank schuldig?

– Und warum, gnädige Frau? Weil vor fünf oder sechs Jahren zum Gedächtniß der Freundschaft, welche den Grafen Sandorf und seine beiden Gefährten verband und zur Unterstützung Ihres Werkes, dieser Doctor Antekirtt Ihnen eine Summe von hunderttausend Gulden zukommen ließ? War er nicht überglücklich, Ihnen dieses Geld zur Verfügung stellen zu können? Nein, gnädige Frau, ich habe Ihnen zu danken, daß Sie die Summe von mir annahmen, daß ich der Witwe und dem Sohne Stephan Bathory's zu Hilfe kommen durfte.«

Die Witwe verneigte sich und sagte:

»Welchem Beweggrunde auch immer Ihre Großmuth entsprungen sein mag, ich muß Ihnen meine Erkenntlichkeit bezeugen. Das war auch der Grund, weshalb ich Ihnen einen Besuch abstatten wollte. Der zweite aber ...

– Was für einer ist das?

– War, Ihnen dieses Geld zurückzuerstatten ...

– Mir, gnädige Frau? rief der Doctor betroffen, Sie haben die Summe nicht von mir angenommen?

– Ich habe nicht geglaubt das Recht zu haben, über dieselbe verfügen zu können, Herr Doctor. Ich kannte keinen Doctor Antekirtt. Ich hatte nicht einmal bis dahin seinen Namen vernommen. Dieses Geld konnte ein Almosen derer sein, die mein Gatte bekämpft hatte und deren Mitleid mir hassenswerth erschien. Deshalb habe ich nicht gewagt, es anzugreifen, nicht einmal zu dem Zwecke, für den der Doctor Antekirtt es bestimmt hatte.

– Das Geld also ...

– Ist unberührt.

– Und Ihr Sohn?

– Mein Sohn soll Alles nur sich selbst zu verdanken haben ...

– Und seiner Mutter,« ergänzte der Doctor; so viel Seelengröße und Charakterstärke mußten seine Bewunderung wachrufen und seine Achtung vor der Matrone erhöhen.

Inzwischen war Frau Bathory aufgestanden und hatte aus einem verschlossenen Schranke ein Packet Banknoten geholt, welches sie dem Doctor hinhielt.

»Ich bitte, Herr Doctor, sagte sie zu ihm, nehmen Sie das Geld zurück, denn es gehört Ihnen und empfangen Sie dieselben herzlichen Danksagungen einer Mutter, als wenn das Geld zur Erziehung ihres Sohnes benutzt worden wäre.

– Das Geld gehört mir nicht mehr, gnädige Frau, antwortete der Doctor mit abweisender Geberde.

– Ich wiederhole Ihnen, daß es mir nie gehören durfte!

– Wenn aber Peter Bathory Gebrauch davon machen könnte ...

– Mein Sohn wird eine Stellung finden, die seiner würdig ist, und ich würde dann auf ihn rechnen können, wie er auf mich gerechnet hat.

– Er wird das nicht zurückweisen, was ein Freund seines Vaters ihn anzunehmen bittet.

– Er wird es!

– Gestatten Sie mir wenigstens den Versuch, gnädige Frau?

– Ich bitte Sie, in dieser Hinsicht nichts zu unternehmen, Herr Doctor, antwortete Frau Bathory. Mein Sohn weiß nicht einmal, daß ich das Geld erhalten habe und ich wünsche auch, daß er es nie erfährt.

– Es sei! Ich verstehe die Beweggründe Ihrer Handlungsweise, da ich Ihnen nur ein Unbekannter war und bin. Ja, ich begreife und bewundere sie. Ich wiederhole Ihnen aber trotzdem, daß das Geld, wenn es Ihnen nicht gehört, auch mir nicht gehört.«

Doctor Antekirtt erhob sich. Die Weigerung der Frau Bathory hatte nichts ihn persönlich Verletzendes. Dieses Zartgefühl mußte in ihm die höchste Achtung wachrufen. Er verneigte sich vor der Witwe und wollte sich entfernen, als eine Frage der Frau Bathory ihn noch zurückhielt:

»Sie haben mir von einer ehrlosen Handlungsweise gesprochen, Herr Doctor, welche den Tod Ladislaus Zathmar's, Stephan Bathory's und des Grafen Sandorf veranlaßt hat?

– Ich habe Ihnen den wahren Sachverhalt erzählt, gnädige Frau.

– Und Niemand kennt die Verräther?

– O doch, gnädige Frau.

– Wer ist es?

– Gott!«

Doctor Antekirtt verneigte sich noch ein Mal und ging.

Frau Bathory blieb in Nachdenken versunken zurück. Durch eine geheime Sympathie, von der sie sich vielleicht nicht einmal Rechenschaft ablegen konnte, fühlte sie sich unwiderstehlich zu der geheimnißvollen Persönlichkeit hingezogen, welche sich in die intimsten Geschehnisse ihres Lebens eingemischt hatte. Würde sie ihn jemals wiedersehen und würde er nun nicht wieder in See gehen und nie mehr zurückkehren, nachdem er mit der »Savarena« nach Ragusa gekommen war nur um ihr einen Besuch abzustatten?

Am folgenden Tage erzählten die Zeitungen, daß ein Unbekannter den Hospitälern der Stadt ein Geschenk von hunderttausend Gulden gemacht hätte.

Es war das Almosen des Doctors Antekirtt, zugleich auch dasjenige der Witwe, welche die Annahme desselben für sich und ihren Sohn verweigert hatte.


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