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Siebentes Kapitel.
Worin Präsident kein Wort mehr spricht, als ihm paßt.

Am 22. Dezember wurden die Kapitalisten, welche sich bei der »G. m. b. H.« Barbicane & Co. beteiligt hatten, zu einer Generalversammlung einberufen. Selbstverständlich waren hierzu die Räume des Kanonenklubs im Hotel am Union-Square erwählt worden. In Wahrheit hätte eigentlich der ganze Union-Square kaum gereicht, die »mobile« Menge von Aktionären zu bergen. Wie hätte aber zu dieser Jahreszeit, wo die Quecksilbersäule bis zu 10 Grad Celsius unter Null sinkt, eine Versammlung unter freiem Himmel auf einem Platze von Balmore abgehalten werden sollen?

Aus allen Himmelsrichtungen der Vereinigten Staaten waren sie herbeigeeilt, die Leute, die sich darum rissen, ihr Geld am Nordpol festzulegen, und in den Sälen war ein Gedränge, daß tatsächlich keine Kugel hätte den Weg zur Erde finden können. Man drängte sich, stieß sich, quetschte sich, riß sich die Kleider vom Leibe, und noch war des Zuflusses kein Ende, noch immer strömten neue und neue Massen herzu, so daß sich eine endlose »Queue« vor dem Eingangsportal bildete, die bis auf die Mitte des Union-Square reichte.

Natürlicherweise nahmen die Mitglieder des Kanonenklubs – als erste Aktionäre der neuen Handelsfirma – die am Präsidialtische zunächst liegenden Sitze ein. Hier sah man sie alle wieder, mit siegesfroherer Miene denn je, den Colonel Bloomsberry, Quecksilber-Bilsby und das Doppelstelzbein Tom Hunter. Für Mrs. Evangelina Scorbitt war höchst galanterweise ein bequemer Lehnstuhl herbeigeschafft worden; eigentlich hätte ihr freilich als der finanziellen Hauptperson bei diesem arktischen Immobiliengeschäft ein Sitz neben dem Präsidenten Barbicane gebührt. An Damen, und zwar aus allen Klassen der City, war im übrigen durchaus kein Mangel, im Gegenteil: sie brachten durch ihre Hüte mit allerhand buntem Gefieder und Blumenputz, allerhand farbigen Bändern und Streifen in die unter der Glaskuppel des Saals auf und ab wogende Menge den frischsten Zug des geselligen Allerlei. –

Auf abgesonderten Plätzen hatten die Delegierten Europas Platz gefunden, und zwar wohnten sie dieser Versammlung bei auf Grund der Tatsache, daß jeder von ihnen – Schweden sowohl als Dänemark, England, Holland und Rußland, – soviel Aktien gekauft hatten, als zum Erwerb einer beratenden Stimme nötig waren. So einig wie sie vorher betreffs Erwerbung des Pols gewesen waren, so einig waren sie auch jetzt wieder in der Absicht, diejenigen, welchen der Zuschlag bei der Versteigerung erteilt worden war, zum Narren zu haben. Man wird sich leicht die Neugierde ausmalen, mit welcher sie den Mitteilungen entgegensahen, die Präsident Barbicane ihnen aufzutischen vorhatte, versprachen sich doch nicht bloß sie hierdurch völlige Klarheit darüber, wie man sich die Bezwingung des Nordpols dachte. Wäre das nicht eine weit größere Schwierigkeit noch, als der Abbau der Kohlenflöze selbst? Fänden sich Gründe zu Einwänden, so würden die Herren Erich Baldenak, Boris Karkof, Jakob Jansen, Jan Harald sich ganz gewiß nicht entblöden, das Wort zu begehren. Major Donellan mit seinem Einbläser Dean Toodrink war seinerseits fest gewillt, seinen Nebenbuhler Impey Barbicane bis in die äußersten Verschanzungen zu jagen.

Es war 8 Uhr abends. Die Halle, die Salons, die Korridore des Kanonenklubs strahlten in x-fachem Edison-Licht. Seit die vom Volk belagerten Türen geöffnet worden, entstieg dem Auditorium eine Flut ununterbrochenen Gemurmels. Aber alles schwieg auf der Stelle, als der Saalwart den Eintritt des Verwaltungsrats meldete.

Nun nahmen auf drapiertem Podium, vor einem schwarzbehangenen Tische, im Volllicht Edison'scher Bestrahlung, nacheinander Platz: der Präsident Barbicane, der Schriftführer J. T. Maston, ihr Amtskollege Kapitän Nicholl. Ein dreifaches Hurra, durchsetzt mit Geknurr und Hip! Hip!-Geschrei, brauste durch den Saal und ergoß sich bis in die angrenzenden Straßen.

Feierlich hatten sich J. T. Maston und Kapitän Nicholl im Vollbewußtsein ihres Ruhms auf ihre Sitze niedergelassen.

Jetzt fuhr Präsident Barbieane, der stehen geblieben war, mit der linken Hand in die Hosentasche, mit der rechten Hand unter die Weste und ergriff das Wort zu folgender Ansprache:

»Meine Herren und Damen, soweit ich Sie als Aktionäre zu begrüßen habe! – Der Verwaltungsrat der »North Polar Practical Association« hat Sie hierher in die Säle des Kanonenklubs gerufen, weil er Ihnen eine Mitteilung von Wichtigkeit zu machen hat.

»Sie haben durch die Diskussionen in den Tagesblättern bereits erfahren, daß unsere neue Gesellschaft den Zweck verfolgt, die Kohlenflöze des arktischen Pols auszubeuten, wozu uns durch die Bundesregierung die Konzession erteilt worden ist. Dieses im öffentlichen Ausstreich uns zugesprochene Dominium bildet bei dem in Frage stehenden Geschäft das Haben, die Aktiva der Teilnehmer, bezw. Teilnehmerinnen. Durch eine am letzten 11. Dezember geschlossene Subskription sind dem Verwaltungsrat der Gesellschaft weitere Kapitalien zugeflossen, die ihm die Ausgestaltung des Unternehmens ermöglichen. Dasselbe verspricht die Ausschüttung einer Dividende, wie sie bisher noch bei keinem kommerziellen oder industriellen: Unternehmen erzielt worden ist.«

Hier setzte das erste Beifallsgemurmel ein, das den Redner eine Weile am Vortrag hinderte.

»Es wird Ihnen nicht unbekannt sein,« fuhr er fort, »wie wir dazu gelangten, in den cirkumpolaren Regionen das Vorhandensein reicher Kohlenlager, vielleicht auch Lager fossilen Elfenbeins anzunehmen. Die Presse der ganzen Welt, – deren Gewicht, von Journal zu Journal gewogen, zur Zeit 300 Millionen Kilogramm jährlich übersteigt, – hat hierüber Belege publiziert, die an dem Vorhandensein solcher Flöze Zweifel nicht mehr bestehen lassen.

»Wie bekannt, ist aber die Steinkohle zur Quelle aller modernen Industrie geworden. Von der Kohle oder dem Cokes, die wir zur Erzielung von Wärme und zur Erzeugung von Dampf oder Elektrizität benutzen, braucht nicht gesprochen zu werden, dagegen wollen wir uns die Derivate, die aus Kohle gewonnen werden, vor Augen führen, als da sind: die Krapp-, Orseille-, Indigo-, Fuchsin-, Karminfarben, die Vanille-, Bittermandel-, Geisbart-, Levkoje-, Wintergrün-, Anis-, Kampher-, Thymol-, und Heliotrop-Parfums, die pikrinsauren Salze, die Salicylsäure, das Napthol, Phenol, Antipyrin, Benzin, Naphthalin, die Pyrogallussäure, usw. usw.«

Dem Redner tat es not, Atem zu schöpfen. Dann fuhr er fort:

»Es liegt auf der Hand, daß diese so äußerst kostbare Subtanz, die wir unter dem Namen Steinkohle kennen, durch solchen ungeheuren Verbrauch in absehbarer Zeit sich erschöpfen muß. Vor Ablauf von 500 Jahren werden die dermalen in Betrieb befindlichen Flöze erschöpft sein –«

»Vor Ablauf von 300 Jahren!« rief ein Zuhörer.

»Vor 200!« rief ein anderer.

»Sagen wir also: innerhalb einer mehr oder minder nahegerückten Zeit,« nahm Präsident Barbicane wieder das Wort, »und schaffen wir uns die Möglichkeit, neue Produktionsstätten zu entdecken, ganz so, als stünde die Erschöpfung unsrer Flöze schon vor Ende des 19. Jahrhunderts zu gewärtigen.«

Hier machte er eine Kunstpause, die den Zuhörern Zeit schaffen sollte, die Ohren zu spitzen. Dann sprach er weiter:

»Darum, meine Herren und Damen, erheben Sie sich und folgen Sie mir! lassen Sie uns aufbrechen nach dem Pole!«

In das Publikum fuhr wirklich eine Bewegung, als wolle es schon die Koffer schnüren, um mit dem Präsidenten auf das zur Fahrt nach dem Pole bereite Schiff zu steigen. Aber eine vom Major Donellan mit scharfer, schriller Stimme dazwischen geworfene Bemerkung hemmte diese wohl begeisterte, aber nicht minder unbedachte Bewegung im Keime.

»Bevor wir uns auf die Strümpfe machen,« rief er, »ist wohl die Frage am Platze: wie man zum Pole gelangen kann? Wollen Sie zu Wasser hin?«

»Weder zu Wasser, noch zu Lande, noch durch die Luft,« versetzte ruhig und gelassen Präsident Barbicane.

Die Versammlung setzte sich wieder. Eine Regung sehr begreiflicher Neugierde hatte sich ihrer bemächtigt.

»Es werden Ihnen wohl die Versuche bekannt sein,« nahm der Redner wieder das Wort, »die von der Menschheit unternommen worden sind, um zu diesem unzugänglichen Punkte unsers Erdballs zu gelangen. Es wird also nicht notwendig sein, dieselben hier einzeln aufzuzählen; sie datieren von 1845, der dritten Reise Sir John Franklins, bis auf die jüngste Gegenwart; indessen mag es Wohl am Platze sein, auf den Versuch unsers großen Mitbürgers Greely 1881 und auf die Versuche unserer nicht minder großen Mitbürger Lockwood und Brainard 1882 hinzuweisen, von denen Greely bis unterhalb des 84. Breitengrades, Lockwood und Brainard bis zu 83 Grad 35 Minuten gelangten, also ihre Vorgänger um ein bedeutendes schlugen. Das letzterzielte Resultat ist zur Zeit der äußerst erreichte Punkt, ist die ultima Thule der cirkumpolaren Kartographie!« Daß diese Versuche von schwedischen Forschern (Nansen und Sverdrup) und von dem Italiener Cagni inzwischen um 2 volle Grade überholt worden sind, ist schon an früherer Stelle bemerkt worden. Dagegen hat Jules Verne in einem seiner berühmtesten Romane, in dem zweibändigen Werke »Kapitän Hatteras« (Bd. 14 und 15 dieser neuen Ausgabe) die erdichtete Bezwingung des Nordpols auf meisterhafte Weise behandelt. Dieser Roman bildet zusammen mit dem Romane »Das Land der Pelze«, dessen Handlung gleichfalls in diesen hohen Norden gelegt wurde, einen Bildungsstoff über die Probleme ohnegleichen.

Hurras und Hips zu Ehren dieser amerikanischen Entdecker schier ohne Ende!

»Aber,« fuhr Präsident Barbicane fort, »bis zur Stunde hat es trotz aller Mühen und Opfer, trotz alles Muts und aller Ausdauer, nicht gelingen wollen, über den 84. Breitengrad hinauszugelangen. Ja man darf sogar behaupten, daß dies mit den Mitteln, die bis zur Stunde benutzt worden sind, gleichviel ob es Schiffe waren, mit denen man bis zum Packeis dringen, oder Schlitten, mit denen man über die Eisfelder fahren wollte, überhaupt nicht gelingen wird. Solchen Gefahren die Stirn zu bieten, solches Sinken der Temperatur zu ertragen, das ist der Mensch eben einfach nicht imstande. Es müssen also andere Wege gesucht werden, um den Pol zu bezwingen.«

An dem Schauer, der durch das Auditorium glitt, spürte man, daß der Redner zu denk springenden Punkt gelangt war, nämlich vor der Enthüllung des von allen gesuchten und von allen begehrten Geheimnisses stand.

»Und wie gedenken denn Sie das Ding zu erreichen, Mr.?« fragte der Delegierte von Großbritannien.

»Ehe zehn weitere Minuten verflossen sind, Major Donellan, sollen Sie es wissen,« antwortete Präsident Barbicane, »und indem ich mich an alle unsere Aktionäre wende, setze ich hinzu: Haben Sie Vertrauen zu uns, denn die Männer, die dieses Werk unternehmen, sind dieselben, welche sich in einem Projektil von cylindrisch-konischer –«

»Cylindrisch-komisch, wollen Sie sagen,« rief Dean Toodrink.

– »cylindrisch-konischer Form,« wiederholte, ohne auf den Kalauer anzubeißen, Präsident Barbicane, »einzuschiffen wagten zur Reise nach dem Monde –«

»Man sieht ja doch, daß sie wieder heimgekehrt sind!« setzte der Sekretär des Majors Donellan hinzu, dessen höchst unpassende Aeußerungen auf allen Seiten lebhafte Proteste hervorriefen.

Aber Präsident Barbicane zuckte die Achseln und wiederholte mit fester Stimme:

»Ja! noch ehe 10 Minuten verstrichen sind, meine Herren und Damen Aktionäre, sollen Sie wissen, woran Sie sich zu halten haben!«

Ein Gemurmel, aus langgezogenen Ah, Aeh und Oh gemischt, begrüßte diese Antwort. Es hörte sich wirklich an, als wenn der Redner dem Publikum zuriefe: »Noch ehe 10 Minuten verstrichen sind, sind wir auf der Fahrt nach dem Pole!«

Der Präsident fuhr fort:

»Zunächst die Frage: bildet die arktische Kappe, welche die Erde aufhat, einen Kontinent? oder ist sie nicht vielmehr ein Meer, so daß also Kommandant Nares recht gehabt hätte, sie mit dem Namen eines »paläokrystischen Meers« – was etwa Ureismeer heißt – auszuzeichnen? Hierauf antworte ich: wir sind solcher Meinung nicht!«

»Das kann nicht ausreichen!« rief Erich Baldenak; »hier ist doch mit Meinungen nichts getan – hier heißt es doch seiner Sache gewiß sein!«

»Nun denn, wir sind unserer Sache gewiß, gebe ich meinem hitzigen Zwischenredner zur Antwort. Ja! es ist Festland, kein Wasserbecken, was die »North Polar Practical Association« im Auktionswege erstanden hat und was jetzt den Vereinigten Staaten gehört, ohne daß irgend welche europäische Macht je die Hand darauf legen könnte.«

Gemurmel auf den Bänken der europäischen Delegierten.

»Pah! – ein Wasserloch – eine Waschschüssel – die Sie nun und nimmer ausschöpfen werden!« rief von neuem Dean Toodrink.

Rauschender Beifall von seiten seiner europäischen Amtskollegen.

»Nein, mein Herr,« versetzte lebhaft Präsident Barbicane; »dort liegt ein Festland, ein ansteigendes Plateau, vielleicht ähnlich der Wüste Gobi in Mittelasien, 3–4 Kilometer über der Meeresfläche. Das läßt sich leicht und logisch herleiten aus Beobachtungen, die in Grenzländern angestellt worden sind, als deren Fortsetzung wir das Polargebiet lediglich zu betrachten haben. So haben Nordenskjöld, Peary, Maaigaard auf ihren Forschungsreisen festgestellt, daß Grönland in nördlicher Richtung beständig ansteigt. Bei 160 Kilometer im Innern, von der Insel Diskoe ausgegangen, beträgt seine Höhe schon 2100 Meter. Zieht man diese Beobachtungen nebst den verschiedenen Produkten animalischer und vegetabilischer Herkunft in Betracht, die dort im Umkreis gefunden wurden, desgleichen Mastodon-Gerippe, Elfenbein-Hauer und Elfenbeinzähne, wie auch Koniferen-Stämme, so läßt sich behaupten, daß dieser Kontinent einstmals ein fruchtbares, ganz sicher von Tieren, vielleicht auch Menschen belebtes Land gewesen sein muß. Hier wurden die dichten Wälder vorgeschichtlicher Epochen begraben, und aus ihnen sind die Kohlenflöze entstanden, deren Ausbeutung wir uns werden angelegen sein lassen. Ja! ein Festland ist es, was sich um den Pol herum erstreckt, ein jungfräuliches Festland, das noch kein menschlicher Fuß betreten hat und auf dem wir die Flagge der Vereinigten Staaten aufpflanzen werden!«

Donnernder Beifall.

Als das letzte Brausen in den weiten Perspektiven vom Union-Square verhallt war, ließ sich die knarrende Stimme des Majors Donellan vernehmen.

»Sieben von den zehn Minuten, die ausreichen sollten, den Pol zu erreichen, sind schon vorüber –«

»Binnen drei Minuten werden wir da sein,« erwiderte Präsident Barbicane kalt.

Dann fuhr er fort:

»Wenn es aber auch ein Festland ist, das unser neuer Immobilienbesitz bildet, und wenn auch dieses Festland zu beträchtlicher Höhe ansteigt, wie wir anzunehmen befugt sind, so ist dasselbe nichtsdestoweniger von ewigem Eise umgürtet, von Eisbergen und Eisfeldern bedeckt und in Verhältnissen befindlich, unter denen die Ausbeutung schwierig sein würde –«

»Unmöglich!« bemerkte Jan Harald, diese Behauptung durch eine mächtige Gebärde unterstreichend.

»Unmöglich, meinetwegen,« versetzte Impey Barbicane, »deshalb haben Wir unsere Anstrengungen darauf gerichtet, diese Unmöglichkeit zu besiegen. Wir werden nicht bloß weder Schiffe noch Schlitten brauchen, um zum Pole zu gelangen, sondern zufolge unsers Vorgehens wird die Schmelzung des Eises, des Jung-Eises sowohl wie des Pack- und Ureises, wie durch Zauberschlag erfolgen und ohne daß es uns weder einen Dollar unsers Kapitals noch eine Minute unserer Arbeit kosten wird.«

Hier trat nun absolute Stille ein. Man stand vor dem Augenblick, für den Dean Toodrink seinem Kollegen Jakob Jansen den eleganten Ausdruck: »jetzt bringt er uns auf den Trichter« ins Ohr flüsterte.

»Meine Herren,« nahm der Vorsitzende des Kanonenklubs wieder das Wort, »Archimedes begehrte bloß einen Stützpunkt, die Welt aus den Angeln zu heben. Nun! diesen Stützpunkt haben wir gefunden. Dem großen Geometer von Syrakus mußte ein Hebel genügen, und diesen Hebel besitzen wir. Wir befinden uns also in der Lage, den Pol vom Flecke zu rücken –«

»Den Pol vom Flecke rücken!« schrie Erich Baldenak.

»Ihn nach Amerika schaffen!« schrie Jan Harald.

Ohne Zweifel mochte sich Präsident Barbicane noch nicht genau ausdrücken, denn er fuhr in seiner Rede fort:

»Was diesen Stützpunkt anbetrifft –«

»Sagen Sie es nicht! – sagen Sie es nicht!« schrie mit furchtbarer Stimme jemand aus dem Publikum.

»Und was den Hebel anbetrifft –« hub Präsident Barbicane wieder an.

»Hüten Sie das Geheimnis! hüten Sie es!« schrie die Mehrheit des anwesenden Publikums.

»Wir werden es hüten!« versetzte Präsident Barbicane.

Wenn nun die Delegierten Europas ob dieser Antwort sehr verschnupft waren, so wird wohl das niemand wundern. Aber trotz all ihrer Einsprüche wollte der Redner von seiner Weise vorzugehen nichts bekannt geben. Er begnügte sich mit dem Beisatze:

»Was nun die Resultate der mechanischen Arbeit betrifft – die wir eine Arbeit nennen können, für die sich in den Annalen der Industrie kein Vorgang findet – die wir aber mit Hilfe der uns überwiesenen Kapitalien in die Hand nehmen und zu gutem Ende führen werden, so will ich Ihnen ohne jeden Verzug Mitteilung hierüber machen.«

»Hört! – hört!«

Und – ob man – hörte!!

»Zunächst,« fuhr Präsident Barbicane fort, »entstammt die erste Idee zu unserm Werk einem unserer weisesten, rührigsten, erlauchtesten Mitglieder. Ihm gebührt auch der Ruhm, die Berechnungen aufgestellt zu haben, die erst die Möglichkeit schufen, diese Idee in die Praxis überzusetzen; denn wenn die Ausbeutung der arktischen Kohlenflöze bloß Spielerei ist, so war die Verrückung des Pols ein Problem, das allein die höhere Mechanik zu lösen vermochte. Darum haben wir uns an unser ehrenwertes Mitglied den Schriftführer des Kanonenklubs J. T. Maston gewandt –«

»Hurra! Hip! hip! hip! Hurra J. T. Maston!« schrie das ganze Auditorium, elektrisiert durch die Gegenwart dieses hervorragenden und außerordentlichen Menschen

Ach, wie ergriffen fühlte sich Mrs. Evangelina Scorbitt durch diese Ausrufe, die um das gefeierte Rechen-Genie herum erdröhnten, und welch köstlichen Widerhall fanden sie in ihrem

J. T. Maston begnügte sich in seiner Bescheidenheit, sanft das Haupt von rechts nach links zu wiegen und mit seinem Armhaken dem begeisterten Auditorium Grüße zuzuschwenken.

»Schon damals, werte Aktionäre,« fuhr Präsident Barbicane in seiner Ansprache fort, »als das große Meeting tagte zur Feier der Ankunft des Franzosen Michel Ardan in unserm Lande, wenige Monate vor unserm Aufbruch nach dem Monde –«

War das ein Kerl von Yankee! so gelassen und kaltblütig sprach er von dieser Reise, als wenn es nicht weiter sei wie mit der Bahn von Baltimore nach Newyork!

»– hatte J. T. Maston den Ausspruch getan: »Laßt uns Maschinen erfinden! lasset uns einen Stützpunkt finden, und wir rücken die Erdachse zurecht!« Nun denn. Sie alle, die mich hier hören, Sie alle mögen wissen: die Maschinen sind erfunden, der Stützpunkt ist gefunden, und auf den letzten Punkt konzentrieren wir nun unsere Arbeit: auf die Verrückung der Erdachse!«

Hier folgten nun Minuten einer Gemütsstimmung und geistigen Verfassung, für die der Ausdruck verblüfft nicht volle Deckung gibt – perplex ist schon besser, aber im Volke gibt es dafür noch ein besseres Wort, und das heißt »paff«!

»Was! Sie wollen sich unterfangen, die Erdachse zu verrücken?« rief Major Donellan.

»Allerdings, mein Herr,« entgegnete Präsident Barbicane, »oder vielmehr, wir haben das Mittel an der Hand, eine neue Erdachse zu schaffen, um die sich hinfort die Erde täglich drehen wird –«

»Die tägliche Umdrehung der Erde wollen Sie umwandeln!« wiederholte Oberst Karkoff, aus dessen Augen Blitze schossen.

»Unbedingt, und ohne an ihre Dauer zu rühren!« versetzte Präsident Barbicane; »diese Maßnahme wird den jetzigen Pol fast auf den 67. Breitengrad rücken und für unsere Erde die gleichen Verhältnisse schaffen wie sie für den Planeten Jupiter gelten, dessen Achse ziemlich senkrecht auf der Fläche seiner Bahn steht. Diese Verrückung um 23 Grad 28 Minuten wird genügen, um unserm Immobilienbesitz denjenigen Grad von Wärme zu verschaffen, der ausreichen wird, das seit Tausenden von Jahrhunderten angesammelte Eis zu schmelzen!«

Das Auditorium rang nach Atem. Niemand dachte daran, den Redner zu unterbrechen, nicht einmal ihm Beifall zu klatschen. Alle standen unter dem Banne des ebenso geistvollen wie einfachen Gedankens: die Achse, um die sich das Sphäroid der Erde dreht, zu verrücken!

Von den Delegierten Europas läßt sich nichts weiter sagen, als daß sie einfach außer sich, betäubt, »plattgedrückt«, vernichtet, zu Boden geschmettert waren; wie entgeistert saßen und gafften sie, keiner konnte die Lippen auseinander bringen, alle packte der höchste Grad von Staunen, um nicht zu sagen Entsetzen.

Aber ein Beifallssturm tobte durch die Räume, so rasend, daß er alles in Atome zu brechen drohte, als Präsident Barbicane seine Ansprache mit dem in seiner Einfachheit majestätischen Satze schloß:

»Der Sonne also wird die Aufgabe zufallen, die Eisberge und Eisbänke zu schmelzen und den Weg zum Pole zu schaffen!«

»Wo kommt das Ganze auf den Satz heraus,« fragte Major Donellan: »kann der Mensch nicht zum Pole kommen, so muß der Pol zum Menschen kommen?«

»Ganz wie Sie sagen,« pflichtete Präsident Barbicane dem Major bei.


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