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Alles in Ordnung.
( Sans dessus dessous.)

 

Erstes Kapitel.
Worin die »North Polar Practical Association« ein Dokument durch beide Welten schnellt.

»Sie behaupten also, Mr. Maston, daß keine Frau je imstande gewesen sei, die mathematischen oder die Experimental-Wissenschaften um einen Schritt weiterzubringen?«

»Zu meinem größten Bedauern muß ich das, Mrs. Scorbitt,« versetzte J. T. Maston. Der Jules Verne-Leser wird hier mit besonderer Freude bemerken, daß die berühmte Figur des J. T. Maston aus den berühmten Mondromanen (2. u. 3. Band) des genialen Franzosen wieder auftritt. A. d. Uebers. »Sehr gern gebe ich ja zu, daß hin und wieder einmal Damen sich, in der Mathematik ausgezeichnet haben. Ganz besonders in Rußland. Da sich nun aber doch an der Gehirnbildung des Weibes nichts ändern läßt, müssen wir es als ausgeschlossen betrachten, daß uns aus dem anderen Geschlechte jemals ein Archimedes, geschweige ein Newton erstehen könnte.«

»Oho, Mr. Maston, erlauben Sie, bitte, daß ich im Namen unsers Geschlechts Einspruch erhebe!«

»Im Namen eines Geschlechts, Mrs. Scorbitt, dessen Liebreiz um so größer ist, als es ganz und gar nicht dazu geschaffen ist, sich mit Wissenschaften abzugeben, welche jenseits der menschlichen Erfahrungen liegen.«

»Ihrer Meinung nach hätte also kein Weib durch den Anblick eines zur Erde fallenden Apfels auf die Entdeckung des Gesetzes der Schwere kommen können, wie der von Ihnen genannte berühmte Gelehrte Englands um das Ende des 17. Jahrhunderts herum?«

»Keiner Frau, die einen Apfel fallen sah, Mrs. Scorbitt, wäre was anderes eingefallen, als ihn zu essen – wie ja das Beispiel unserer Allmutter Eva lehrt –«

»Aber ich bitte Sie, daraus läßt sich schon sattsam ersehen, daß Sie uns jede Befähigung für die höheren Wissensgebiete absprechen.«

»Jede Befähigung? – Nein, Mrs. Scorbitt, und doch möchte ich darauf hinweisen, daß sich, seitdem es Menschen, also auch Frauen, auf der Erde gibt, noch kein weibliches Gehirn gefunden hat, dem sich auch nur eine einzige Entdeckung verdanken ließe, die denen eines Aristoteles, Euklides, Kepler oder Laplace gliche.«

»Ist denn das ein Grund, und gilt die Vergangenheit unwiderruflich für die Zukunft?«

»Hm, was seit Tausenden von Jahren Geltung gehabt hat, wird wohl auch für weitere Tausende Geltung behalten.«

»Hm, ich sehe schon, daß es heißt, für unsere Partei in die Bresche treten, Mr. Maston, und daß wir wirklich bloß gut genug sind ...«

»– um gut zu sein!« erwiderte J. T. Maston, und zwar mit all jener liebenswürdigen Ritterlichkeit, über die ein mit x plus x bis zur Nase vollgepfropfter Gelehrter gebeut.«

Mrs. Evangelina Scorbitt war übrigens voll im Zuge, sich mit diesem letzten Bescheide für befriedigt zu halten.

»Nun gut, Mr. Maston,« nahm sie wieder das Wort, »jedem ist sein Schicksal auf der Welt vorgezeichnet. Bleiben Sie der Rechenmeister erster Klasse wie bisher, widmen Sie sich mit Leib und Seele den Problemen jenes Riesenwerks, dem Sie mitsamt Ihren Freunden Ihr Dasein zu opfern gedenken. Ich dagegen will pflichtschuldigst die ›nette Dame‹ bleiben, die mit ihrem Geld herhält –«

»– wofür wir mit ewiger Dankbarkeit herhalten werden,« antwortete J. T. Maston.

Auf Mrs. Evangelina Scorbitts Antlitz trat köstliches Erröten, denn sie fühlte, wenn nicht für das Gelehrtentum im allgemeinen, so doch zum wenigsten für J. T. Maston eine wirklich auffällige Sympathie. Ist das Herz des Werkes nicht ein unergründlicher Abgrund?

Ein Riesenwerk war es in der Tat, in das diese reiche amerikanische Witwe beträchtliche Kapitalien zu stecken willens war.

Was die Unternehmer zu erreichen vorhatten, war nämlich folgendes.

Die »arktischen Länder« im eigentlichen Sinne umfassen nach der Klassifikation unserer hervorragendsten Geographen:

1) das nördliche Devon, nämlich die mit Eis bedeckten Inseln der Baffinsbai und Lancaster-Straße;

2) das nördliche Georgsland, das vom Bankslande und von zahlreichen Inseln gebildet wird, z. B. den Sabine-Inseln, Byam-Martin, Griffith, Cornwallis und Bathurst;

3) den Archipel von Baffin-Perry, der verschiedene Teile des um den Pol gelegenen Kontinents einbegreift, die wir unter dem Namen Cumberland, Southampton, James-Somerset, Boothia-Felix, Melville kennen und wozu noch andere so gut wie unbekannte Inselstriche oder Inseln gehören.

In diesem durch den 78. Grad nördlicher Breite umzogenen Gesamtstück erstrecken sich Landmassen in ungefähren Flächengehalt von 1 400 000 Meilen und Wassermassen von 700 000 englischen Quadratmeilen.

Innerhalb dieses Breitengrads ist es unerschrockenen Forschern der Neuzeit gelungen, bis zum Rande des 84. Breitengrads vorzudringen. Sie haben dort, hinter der hohen Barre, die das Packeis bildet, Küstenbereiche festgestellt, haben Kaps und Vorgebirgen, Golfen und Buchten dieser mächtigen Gebiete, die sich als arktisches Hochland bezeichnen ließen, Namen beigelegt. Aber jenseits vom 84. Breitengrade lagert noch das Geheimnis, das unerfüllbare »Desideratum« der Kartographischen Welt, und bis zur Stunde vermag noch immer niemand zu sagen, ob es Landmassen oder Meere sein mögen, welche die unüberwindlichen Eismassen des Nordpols auf einem Raume von sechs Breitengraden bergen.

Da hatte nun im Jahre 189. die Regierung der Vereinigten Staaten den höchst unerwarteten Einfall, alles, was noch um den Pol herum an unentdecktem Land vorhanden sei, »in Akkord zu geben«, weil sich nämlich zur Verfolgung des Zweckes, die arktische »Mütze«, die unsere Mutter Erde noch immer zu tragen beliebt, »einzuschlumpsen«, in Amerika eine Finanzgesellschaft gebildet hatte, die sich um solche Konzession bewarb.

Freilich hatte vor ein paar Jahren die Berliner Konferenz einen Spezialkodex ad usum von Großmächten abgefaßt, die sich unter dem Deckmantel von Kolonisationsbestrebungen oder der Erschließung neuer Handelswege fremdes Besitztum anzueignen trachten. Indessen schien dieser Kodex auf den vorliegenden Fall insofern keine Anwendung zu vertragen, als das polare Landgebiet ja überhaupt nicht bewohnt wird. Nichtsdestoweniger mochte die neue Gesellschaft, weil was niemand gehört, gleicherweise jedermann gehört, nicht »stiebitzen«, sondern »käuflich erwerben« oder »pachten«, um künftigen Einsprüchen allen Nährboden zu entziehen.

In den Vereinigten Staaten gibt es kein Projekt, das verwegen genug wäre, ja keines sogar, selbst wenn ihm die Unausführbarkeit gewissermaßen auf die Stirn geschrieben steht, für das sich nicht Leute finden sollten, die ihm praktische Seiten abgewinnen, die Kapital aufbringen, um es ins Leben zu rufen. Das hatte man ja doch vor ein paar Jahren zur Genüge gesehen, als der Kanonenklub von Baltimore sich die Aufgabe gestellt hatte, ein Geschoß nach dem Monde hinaufzuschießen in der Hoffnung, eine direkte Verkehrsverbindung mit unserm Trabanten zu schaffen. Waren es denn nicht diese selbigen unternehmungslustigen Yankees gewesen, welche die zu solchem interessanten Versuch notwendigen Riesensummen aufgebracht hatten? und wenn der Versuch den Weg in die Praxis fand, hatte man das nicht zwei Mitgliedern besagten Klubs zu verdanken, die allen Fährlichkeiten dieses übermenschlichen Experiments zu trotzen wagten?

Wenn ein Lesseps eines Tages mit dem Projekt vor die Öffentlichkeit tritt, einen Kanal größten Maßstabs durch Europa und Asien zu graben, der vom Atlantischen Ozean bis zu den chinesischen Meeren reichen soll – wenn ein Brunnengräber-Genie Bohrversuche machen will, um über die im schmelzflüssigen Zustande befindlichen kieselsauren Salzschichten hinaus zu gelangen zu dem Zwecke, direkt aus dem Zentralfeuerherde zu schöpfen – wenn ein unternehmender Elektrotechniker die über die Erdoberfläche verstreuten Ströme zusammenlegen will, nur eine unerschöpfliche Licht- und Wärmequelle zu bilden – wenn ein kühner Ingenieur auf den Gedanken kommt, in Riesensammelbecken den Ueberschuß der Sommertemperaturen aufzuspeichern zum Nutzen der zur Winterszeit von Kälte heimgesuchten Zonen – wenn ein Uebermensch aus der hydraulischen Richtung die lebendige Kraft der Gezeiten zur Verwertung zu bringen sucht, um nach Belieben Wärme oder Arbeit hervorzubringen – wenn sich Kommanditgesellschaften oder Gesellschaften mit »beschränkter« oder »unbeschränkter« Haftpflicht zusammentun, um hunderterlei derartige Projekte zu gutem Ende zu führen – immer sind es Amerikaner, die sich an erster Stelle in die »Sammellisten« einzeichnen, immer sind es amerikanische Dollars, die allem andern Geld voran in die Gesellschafts-»Sammelbüchsen« strömen, gleichwie sich die großen Ströme und Flüsse Nordamerikas in den Busen der Weltmeere ergießen.

Demnach läßt sich ganz natürlicherweise annehmen, daß die Stimmung merkwürdig überreizt war, als sich diese zum mindesten fremdartige Nachricht verbreitete, die arktischen Ländermassen sollten »von Amerikas wegen« in Akkord gegeben und dem letzten und höchsten Bieter zugeschlagen werden. Zudem wurde keine öffentliche Subskription aufgelegt zum Zweck dieser »Erwerbung«, weil das hierzu notwendige Kapital bereits »vorgezeichnet« war. Sollte es geschehen, daß man sich mit der wirtschaftlichen Ausbeutung dieses an die neuen »Erwerber« als Eigentum gefallenen Länderbereichs befasse, würde ja später zu erwägen sein, ob man dieser weiteren Frage näher zu treten hätte oder nicht.

Die arktische Ländermasse wirtschaftlich ausbeuten! Fürwahr, solcher Gedanke konnte bloß im Hirn von Tollköpfen keimen!

Und doch ließ sich kaum etwas denken, das mit größerm Ernst ins Werk gesetzt werden könnte, als es bei diesem Projekt der Fall war. Es wurde nämlich an die Zeitungen und Zeitschriften beider Welten, an die in Europa, Afrika, Australien, Asien sowohl als an die in Amerika erscheinenden, ein Bericht erlassen zu dem Zwecke, alle hierbei interessierten Personen zu einer Enquete pro und contra zusammenzurufen. Der »New-York Herold« hatte die Ehre gehabt, den Erstdruck dieses Berichts zu publizieren. So kam es, daß die zahllosen Abonnenten Gordon Bennetts in der Nummer vom 7. November die im nächsten Absatz folgende Mitteilung zu lesen fanden, die alsbald ihren Weg durch die gesamte gelehrte und industrielle Welt machte, um dort auf höchst verschiedenartige Weise kritisiert und abgeschätzt zu werden:

 

Anzeige an die Bewohner des Erdballs!

Die innerhalb des 84. Grads nördlicher Breite gelegenen Nordpolargebiete haben aus dem vortrefflichen Grunde noch nicht ausgebeutet werden können, weil sie noch nicht entdeckt worden sind.

Die von den Schiffahrern verschiedener Nationalitäten festgestellten Endpunkte der Forschung sind nämlich nach Breitegraden die folgenden:

82° 45', erreicht durch den Engländer Parry im Juli 1847 auf dem 28. Grade westlicher Länge, im Norden von Spitzbergen;

83° 20' 28'', erreicht durch Markham, Mitglied der englischen Expedition unter Sir John Georges Nares im Mai 1876 auf dem 50. Grade westlicher Länge, im Norden von Grinnell-Land;

83° 35, erreicht durch Lockwood und Brainard, Mitglieder der amerikanischen Expedition unter Leutnant Greeley Die von der Lady Franklin-Bai 1881 ausgegangene Expedition, von der erst 1884 die Nachricht nach Amerika gelangte, daß von den 25 Mann, die ausgefahren waren, alle bis auf 7 verhungert seien, und diese letzten 7 im Smithsund und bei Kap Sabine im elendesten Zustande aufgefunden worden seien. im Mai 1882 auf dem 42. Grad westlicher Länge, im Norden vom Nares-Lande. Inzwischen sind wesentlich höhere Grade erreicht worden, so von Peary, der auf seiner letzten Expedition (1898-1902) unter 84° 17' nördlicher Breite Grinnell-Land erreichte, wohingegen Nansen auf seiner Polfahrt 1893, den von den neusibirischen Inseln aus die Breite von 86° 4' gewann und Sverdrup mit Nansens »Fram« bis zu 85° 57' nördl. Breite gelangte. Die höchste bisher erreichte Breite (86° 33') hat der italienische Kapitän Cagni, Mitglied der Expedition unter dem Herzog der Abruzzen, Prinz Amadeus von Savoyen, auf einer 104tägigen Schlittenfahrt, von der Nordküste von Franz-Josephland aus, gewonnen. A. d. Uebers.

Man kann also das Gebiet, das sich vom 84. Breitengrade bis zum Pol über einen Raum von sechs Graden erstreckt, als ein Dominium betrachten, dessen Teilung unter die verschiedenen Großmächte der Erde noch nicht erfolgt ist, und das zufolgedessen sich ganz vorzüglich zu einem im Wege öffentlichen Aufstreichs an Privatkäufer veräußerlichen Objekt eignet. Nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ist es nun aber für jegliches Ding ausgeschlossen, herrenloses Gut zu verbleiben. Deshalb haben sich die Vereinigten Staaten, auf diese Grundsätze fußend, zur Veräußerung dieses Dominiums entschlossen.

Zu Baltimore hat sich unter der handelsgerichtlich eingetragenen Firma »North Polar Practical Association« Auf praktischen Vereinbarungen und Anschauungen beruhende, praktische Ziele verfolgende Nordpolar-Gesellschaft. A. d. Uebers. eine Anzahl von Personen zusammengeschlossen, zu dem Zwecke, dieses Ländergebiet in all seinen Bestandteilen, und zwar sowohl festem Lande und Inseln, Eilanden, Felsen, als auch Meeren, Seen, Strömen, Flüssen, Bächen, und allem sonstigen Land- und Wasserreichtum, woraus sich dieses arktische Immobiliengut zur Zeit zusammensetzt, gleichviel ob es von ewigem Eise bedeckt ist oder ob das Eis während der Sommerszeit schwindet, in aller Form Rechtens an sich zu bringen als unbeschränktes Eigentum.

Als Sonderbestimmung wird hierbei aufgestellt, daß dieses Eigentumsrecht niemals verfallen kann, sogar nicht in dem Falle, daß die Erdkugel von geographischen oder meteorologischen Veränderungen, gleichviel welcher Art, betroffen würde.

Dies wird andurch zur Kenntnis der Bevölkerung beider Weltteile gebracht mit dem Bemerken, daß sämtliche Staaten und Mächte zur Teilnahme bei dem öffentlichen Aufstreich zugelassen werden, sowie daß der Zuschlag zum Nutzen des höchsten und letzten Bieters erfolgen wird.

Als Aufstreichstag wird der 3. Dezember laufenden Jahres festgesetzt, als Stelle hierfür das öffentliche Auktionslokal zu Baltimore im Staate Maryland, Vereinigte Staaten von Nordamerika.

Wegen alles Näheren beliebe man sich zu wenden an William S. Forster, Bevollmächtigter der »North Polar Practical Association«, zu Baltimore, High-Street 93.

 

Diese Kundgebung mag als sinnlos, als hirnverbrannt gelten, meinethalben! jedenfalls läßt sie, wie wohl allseitig anerkannt werden dürfte, an Klarheit, Deutlichkeit und Freimut nichts zu wünschen. Ein Umstand übrigens, durch den sie an Ernst und Würdigkeit nicht wenig gewann, war der, daß die Bundesregierung bereits das Besitzinstrument ausgefertigt hatte für den Fall, daß ihr durch den Aufstreich das unumstößliche Besitzrecht zugesprochen würde.

Im großen und ganzen waren die Meinungen geteilt. Manche wollten in der Sache bloß einen jener erstaunlichen »Humbugs« amerikanischer Herkunft erblicken, die alle Grenzen marktschreierischer Reklame über den Haufen rennen würden, sofern nicht auch menschlicher Dummheit Grenzen gezogen wären. Andere wieder waren der Meinung, daß solcher Vorschlag ernstlicher Aufnahme wohl wert sei; und diese letzteren gerade bestanden darauf, daß von seiten der neuen Handelsgesellschaft keinerlei Appell an den Geldbeutel des Publikums gerichtet werden solle. Nur mit eignem Kapital sollte die Gesellschaft arbeiten und kaufen. Es konnte also gar nicht die Rede davon sein, daß sie bei Gimpeln auf Dollar- und Banknotenfang zur Füllung der eignen Kassen auszuziehen gedächte.

Leuten, die rechnen können, wollte es so vorkommen, als hätte besagte Gesellschaft gar nichts weiter nötig gehabt als sich das Recht des ersten Besitznehmers zu sichern, dadurch daß sie die Hand auf die Landbereiche legte, statt diese Aufstreichskomödie zu veranstalten. Aber hierin beruhte ja gerade die Schwierigkeit, denn bis zum heutigen Tage schien ja dem Menschen der Zutritt zum Pole wie mit Brettern vernagelt. Eben deshalb wollten die Konzessionsinhaber, für den Fall daß die Vereinigten Staaten den Erwerb dieses Länderbereichs bewirkten, einen regelrechten Kontrakt haben, damit ihnen später niemand ihr Recht abstreiten könne. Sie deshalb zu tadeln wäre ungerecht gewesen. Sie gingen mit Klugheit zu Werke, und wenn es sich um Abmachungen solcher Art handelt, kann man gar nicht zuviel gesetzlicher Vorsichtsmaßregeln erfassen.

Zudem enthielt das Schriftstück eine Klausel, die alle Zweifel aufhob, die im Schoße der Zukunft etwa noch lagen. Diese Klausel sollte zu mancherlei kontradiktorischen Deutungen Veranlassung geben, denn ihr richtiger Sinn entzog sich den subtilsten Geistern. Es war die letzte des Schriftstücks, daß »das Eigentumsrecht an diesem cirkumpolaren Länderbereich niemals verfallen könne, sogar nicht in dem Falle, daß die Erdkugel von geographischen oder meteorologischen Veränderungen, gleichviel welcher Art, betroffen würde.«

Was bedeutete dieser Satz? welcher Möglichkeit wollte er vorbeugen? wie sollte die Erde jemals eine Wandlung erfahren, mit welcher die Geographie oder Meteorologie zu rechnen hätte – vornehmlich in den Länderstrichen, die unter Aufstreich gebracht wurden?

»Augenscheinlich steckt doch was dahinter!« sagten diejenigen, die zur Gattung der Menschen gehören, die das Gras wachsen hören.

Den Deutungen blieb also weiter Spielraum, und das war insofern recht gut, als hierdurch bei den einen der Scharfsinn, bei den andern die Neugierde geschärft wurde.

Ein Journal, der in Philadelphia erscheinende »Ledger«, brachte zuerst die folgende amüsante Notiz:

 

»Durch Berechnungen wird jedenfalls für die zukünftigen Eroberer der arktischen Landmassen festgestellt worden sein, daß in nächster Zeit ein Komet mit hartem Innenkörper mit der Erde zusammenrennen wird, und zwar unter Bedingungen, die sowohl jene geographischen als meteorologischen Veränderungen zeitigen werden, mit denen sich die besagte Klausel befaßt.«

 

Der Satz war ein bißchen lang, wie es sich für Sätze wissenschaftlichen Anstrichs ja immer schickt, aber er schuf in keiner Hinsicht Klarheit. Zudem konnte doch kein ernsthafter Mensch einräumen, daß für solchen Zusammenstoß der Erde mit solchem Kometen Wahrscheinlichkeit vorliege. Jedenfalls mußte man es für ausgeschlossen halten, daß sich die Konzessionsinhaber mit solcher ins Reich der Hypothesen gehörigen Möglichkeit befaßt hätten.

»Sollte die neue G. m. b. H.«, fragte das »Delta« von New-Orleans, »am Ende sich einbilden, das Vorrücken der Tag- und Nachtgleichen könne jemals Veränderungen, die für die Ausbeutung ihrer Landbereiche günstig sein möchten, im Gefolge haben?«

»Und warum nicht, wenn doch als erwiesen gilt,« fragte der Hamburger »Korrespondent«, »daß diese Bewegung den Parallelismus der Achse unsers Sphäroids beeinflußt?«

»Freilich,« erwiderte die Pariser »Revue Scientifique«, »hat es denn nicht Adhemar in seinem Buche »Die Revolutionen des Meeres« ausgesprochen, daß das Vorrücken der Tag- und Nachtgleichen im Verein mit der hundertjährigen Bewegung der großen Erdkugel-Achse mit der Zeit, wenn auch erst nach langer Zeit, in der Durchschnittstemperatur der verschiedenen Erdpunkte und in den an ihren beiden Polen aufgehäuften Eismengen eine Wandlung zeitigen würde?«

»Fest steht das nicht,« nahm die Edinburger »Review« hierzu das Wort; »und auch wenn es wäre, ist nicht ein Zeitraum von 12 000 Jahren für die ›Vega‹ nötig, bis sie zufolge besagten Phänomens unser Polarstern werden kann? und bis die Lage der arktischen Landgebiete sich in klimatischer Hinsicht verändert haben wird?«

»Hm,« meinte das Kopenhagener »Dagblad«, »dann wird es doch in 12 000 Jahren noch Zeit sein, Geld in solcher Sache anzulegen. Aber vor dieser Zeit eine »Krone« riskieren? Niemals!«

Immerhin war es, auch wenn sich annehmen ließ, daß die »Revue Scientifique« mit Adhemar nicht im Unrecht sei, höchst wahrscheinlich, daß die »North Polar Practical Association« auf solche durch das Vorrücken der Tag- und Nachtgleichen bedingte Wandlung keine Sekunde gerechnet hatte.

Tatsächlich wußte im Grunde niemand, was diese Klausel des vielerörterten Schriftstücks bedeutete, und ebensowenig, auf welche zukünftige Wandlung im Weltall sie abzielte.

Vielleicht wäre, um es zu erfahren, nichts weiter nötig gewesen als sich an den Verwaltungsrat der neuen Gesellschaft, und wenn man noch sichrer gehen wollte, an den Vorsitzenden desselben zu wenden. Aber den Vorsitzenden kannte niemand, und von einem Schriftführer oder von Mitgliedern eines solchen Verwaltungsrats wußte auch niemand etwas. Man wußte nicht einmal, von wem das Schriftstück herrührte. Der Redaktion des »New-York Herald« war es durch einen gewissen William S. Forster aus Baltimore, von Beruf Stockfischhändler, und zwar Vertreter des Hauses Ardrinell u. Co. auf Neufundland, zugegangen. Der sehr ehrenwerte Herr war in diesem Fall offenbar Strohmann. Ueber den Fall war er stumm, genau so stumm wie die in seinen Speichern aufgestapelten Stockfische, und kein Reporter, weder der zudringlichste noch der gewandteste, konnte hierüber etwas aus ihm herausbringen.

Kurz, diese »North Polar Practical Association« war dermaßen anonym, daß man ihr keinen faktischen Namen vorsetzen oder anhängen konnte. Es war die Anonymität bei ihr tatsächlich auf die Spitze getrieben.

Wenn aber auch diejenigen, welche hinter diesem industriellen Werk steckten, nicht davon abgingen, ihre Person in unbedingtes Geheimnis zu hüllen, so wurde doch ihr Zweck durch das zur Kenntnis beider Welten gebrachte Dokument klar und deutlich bekannt gegeben.

Es handelte sich nämlich, wie ja zur Genüge feststand, um die faktische Besitznahme desjenigen Teils der arktischen Regionen, die durch den 84. Breitegrad kreisförmig umgrenzt werden und deren Mittelpunkt der Nordpol einnimmt.

Uebrigens steht wohl nichts fester, als daß von den Entdeckern der Neuzeit diejenigen, welche sich diesem unzugänglichen Punkte am meisten genähert hatten, Parry, Markham, Lockwood und Brainard, noch immer diesseits von dem genannten Parallelkreise geblieben waren. Alle übrigen Schiffahrer in den Nordpolmeeren waren nur zu Breiten hinauf gelangt, die erheblich hinter den durch die genannten vier gewonnenen Resultate zurückstanden. Zum Beispiel war Payer 1874 im Norden von Franz Josefsland und Nowaja Semlja nur bis 82° 15', Beut 1870 über Sibirien hinaus nur bis 72° 47', de Long 1879 bei der Expedition der »Jeannette« nur bis 78° 45' gelangt, der letztere bis an die Gestade der Inseln, die seinen Namen führen. Die anderen, welche über Neusibirien und Grönland in Höhe vom Kap Bismarck vordrangen, hatten den 76., 77. und 79. Breitengrad nicht überschritten. Wurde nun ein Abstand von 25 Bogenminuten zwischen dem Punkte – nämlich 83° 35', bis wohin Lockwood und Brainard den Fuß gesetzt hatten, und dem 84. Parallelkreise gelassen, wie sich das Schriftstück aussprach, so verletzte die »North Polar Practical Association« auf keinen Fall die Resultate der in frühere Zeit fallenden Entdeckungen. Ihr Projekt umfaßte ein im wahrsten Sinne des Wortes noch jungfräuliches Terrain: solches also, in welchem noch keines Menschen Tritt eine Spur hinterlassen hatte.

Nun ein paar Worte über die Ausdehnung dieses vom 84. Breitengrade umschriebenen Teils der Erdkugel:

Vom 84. bis zum 90. Breitengrade werden 6 Grade zu je 60 Meilen gerechnet, die einen Radius von 360 Meilen und einen Durchmesser von 720 Meilen geben. Der Kreisumfang beläuft sich also auf 2260 Meilen, die Oberfläche auf 407 000 Quadratmeilen, in runden Ziffern gesprochen. Nämlich über 108.000.000 Hektar, also annähernd zweimal so groß wie Frankreich, oder über 1,9mal so groß als die Fläche des Deutschen Reichs. A. d. Ue.

Dieser Umfang entsprach annähernd dem 10. Teile von ganz Europa: ein Stück von ganz stattlicher Größe also!

Das Schriftstück wies, wie man gesehen hat, auch im Prinzip nach, daß diese geographisch noch nicht rekognoszierten Regionen, weil sie noch niemand angehörten, der ganzen Welt angehörten. Daß die Mehrzahl der Großmächte nicht daran dachte, Hand auf dieses Objekt zu legen, ließ sich wohl annehmen. Aber das ließ sich voraussehen, daß wenigstens die Grenzstaaten geneigt sein würden, diese Regionen als die Fortsetzung ihrer Besitzungen in nördlicher Richtung anzusehen, mithin sich ein Besitzrecht anmaßen dürften. Zudem würde wohl ihren Ansprüchen um so größere Berechtigung beizumessen sein, als die in dem Gesamtgebiet der arktischen Regionen bewirkten Entdeckungen vorwiegend der Kühnheit ihrer eigenen Landeskinder zu verdanken sind. Zufolgedessen forderte die Bundesregierung – vertreten durch die neue Handelsgesellschaft – alle in Betracht kommenden Grenzstaaten auf zur Geltendmachung ihrer Rechte und erklärte, sie bei dem Anschaffungspreise mit zu berücksichtigen. Gleichviel, alle die auf seiten der »North Polar Practical Association« standen, hörten nicht auf, folgendes fort und fort zu wiederholen: das Besitzrecht sei ungeteilt, und da niemand gezwungen sei, sich im Stadium der Ungeteiltheit zu verhalten, könne sich niemand der Licitation dieses ausgedehnten Landbereichs widersetzen.

Die Staaten, über deren Rechte, als Grenznachbarn wohlverstanden, sich unbedingt nicht diskutieren ließ, waren der Zahl nach 6: Amerika, England, Dänemark, Schweden und Norwegen, Holland, Rußland. Aber andere Staaten konnten mit Entdeckungen vorrücken, die durch ihre Landeskinder, Schiffahrer sowohl als Forschungsreisende, bewirkt worden waren.

So hätte beispielsweise Frankreich intervenieren können, da verschiedene Söhne von ihm sich an den Expeditionen beteiligt hatten, die die Aufschließung der cirkumpolaren Territorien zum Ziele hatten. Ließe sich nicht unter andern jener mutige, 1853 an der Küste der Beechey-Insel verstorbene Bellot nennen, der mit ausgesandt worden war zur Auffindung John Franklins? oder Octave Pavy, der 1884 in der Nähe vom Kap Sabine als Leutnant vorm Fort Conger lag und umkam? und jene 1838–39 unternommene Expedition, die Charles Martins, Marmier, Bravais mit ihren verwegenen Gefährten bis zu den Meeren von Spitzbergen führte? Trotz alledem erachtete Frankreich es nicht für angemessen, seinen Senf zu diesem mehr in die Industrie als in die Wissenschaft schlagenden Unternehmen beizugeben, und verzichtete auf seinen Anteil an diesem »Pol-Happen«, bei dem die anderen Mächte Gefahr liefen sich die Zähne auszubrechen. Vielleicht tat es recht und auch wohl daran.

Desgleichen Deutschland. Auf seinem »Haben« standen seit 1671 die Probefahrt des Hamburger Schiffers Friedrich Martens nach Spitzbergen und 1869–70 die durch Kolderwey und Hegemann geführten Expeditionen der »Germania« und der »Hansa«, die längs der Küste von Grönland bis zum Kap Bismarck hinauf gelangten. Aber auch Deutschland glaubte, trotz solcher an glänzenden Entdeckungen reichen Vergangenheit, besser zu tun, wenn es sein Reich nicht durch einen »Pol-Happen« noch mehr vergrößerte.

Ganz ebenso verhielt es sich mit Oesterreich-Ungarn, trotzdem es bereits Herr und Besitzer des von Kindern seines Landes entdeckten, nordwärts der Küste von Sibirien belegenen Franz-Josefslandes war.

Was Italien anbetrifft, so stand ihm keinerlei Recht zur Intervention zu – und so unwahrscheinlich das im Grunde auch klingen mag, Italien intervenierte auch nicht.

Die Samojeden vom asiatischen Sibirien, die mehr über die Landgebiete des nördlichen Amerika verbreiteten Eskimos, die Eingeborenen von Grönland, Labrador, vom Archipel der Baffins- und Parry-Inseln, von dem zwischen Asien und Amerika gestreuten Aleuten-Archipel waren freilich auch noch da, desgleichen die unter dem Namen »Tschuktschen« bekannten Völkerschaften, die in dem vormals russischen, seit 1867 amerikanisch gewordenen Alaska hausen. Aber diese Völkerschaften, im Grunde genommen die wirklichen Eingeborenen, die, wie sich nach keiner Seite hin bestreiten läßt, ureingesessenen Bewohner der nordischen Regionen, sollten in diesem Kapitel keine Stimme haben. Und wie hätten auch diese armen Teufel bei dem von der »North Polar Practical Association« veranstalteten Aufstreich mitbieten sollen, und wäre es auch noch so minimal gewesen, was sie boten? und wie hätten sie erst bezahlen sollen, diese blutarmen Gesellen? In Schnecken, in Walroßzähnen oder in Robbentran? Dennoch gehörte, auf Grund des Rechtes der ersten Besitznahme, doch ihnen gerade nicht zum wenigsten dieser Länderbereich, der hier unter den Hammer kommen sollte! Aber Eskimos, Tschuktschen, Samojeden – solch »Völkergesindel« wurde gar nicht erst gefragt.

So geht es nun einmal in der Welt!


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