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Viertes Kapitel.
Worin alte Bekannte unserer jungen Leser wieder auftauchen.

Barbicane & Co.! – Der Präsident eines artilleristischen Klubs! – Schockschwerenot! was hatten Artilleristen mit solcher Affäre vor? – Nun, man wird es schon sehen.

Ist es wohl nötig, Impey Barbicane, Vorsitzenden des Kanonenklubs von Baltimore, und Kapitän Nicholl, sowie J. T. Maston, Tom Hunter mit den Stelzbeinen, Bilsby den Zappelhans, Colonel Bloomsberry mitsamt der übrigen artilleristischen Gesellschaft offiziell vorzustellen? Nein! denn wenn diese absonderlichen Figuren auch um einige 20 Jahre älter geworden sind, seit sie die Aufmerksamkeit der ganzen Welt durch ihr Mondfahrten-Experiment auf sich lenkten, so sind sie doch die gleichen geblieben, nach wie vor körperlich unvollständig, aber nach wie vor trubulös, verwegen, »aus Rand und Band«, sobald es gilt, sich in das erste beste waghalsige Abenteuer zu stürzen. Die Zeit hat über diese Legion von Artilleristen im Ruhestand keine Gewalt gehabt, sondern hat sie respektiert wie die außer Gebrauch gestellten Kanonen, die als Dekor für alte Arsenale dienen.

Wenn der Kanonenklub seit seiner Gründung 1833 Mitglieder zählte – darunter freilich Leute, die insofern nicht recht als »vollzählig« gelten konnten, als ihnen Arme oder Beine fehlten oder sonst welches Gebreste anhaftete – wenn sich 30 575 korrespondierende Mitglieder mit den Beziehungen großtaten, die sie an den besagten Klub fesselten, so haben sich diese Ziffern um nichts verringert. Im Gegenteil. Ja, zufolge des höchst unwahrscheinlichen Experiments, das er unternommen hatte, um zwischen Erde und Mond eine direkte Verbindung herzustellen, hatte sich seine Berühmtheit sogar noch in ungeheurem Maße gesteigert. Hierüber geben die beiden »Mondromane« Jules Vernes, die in dieser neuen Ausgabe die Nr. 2 und 3 bilden, ein höchst interessantes, man darf wohl sagen, weltberühmtes Lesematerial.

Welchen Rumor jenes denkwürdige Experiment seinerzeit verursachte, wird zwar noch immer nicht vergessen sein, nichtsdestoweniger mögen hier ein paar Erinnerungszeilen folgen.

Wenige Jahre nach dem Sezessionskriege Geschildert in dem höchst spannend geschriebenen Roman »Nord gegen Süd« Von Jules Verne hatte eine Anzahl von Mitgliedern des Kanonenklubs, ihres Müßiggangs überdrüssig, den Plan gefaßt, mittels eines Riesengeschützes ein Geschoß nach dem Monde hinauf zu senden, das in »Mond-City«, auf dem Boden der floridischen Halbinsel, feierlich gegossen, dann mit 400 000 Pfund Schießbaumwolle geladen worden war. Mit diesem Geschütz hatte man ein Aluminium-Geschoß von cylindrisch-konischer Form unter dem Druck von 6 Milliarden Litern Gas zum Gestirn der Nächte hinaufgefeuert. Das Geschoß war von seiner Bahn abgeirrt und, statt auf den Mond zu fallen, zufolgedessen um den Mond herumgerissen worden, bis es wieder auf die Erde zurückgestürzt war, und zwar unter 27 Grad 7 Min. nördlicher Breite und 41 Grad 37 Min. westlicher Länge in die Fluten des Stillen Weltmeers. Dort hatte es die Fregatte »Susquehanna« von der Bundesmarine wieder an die Oberfläche des Meeres, zum starken Nutzen seiner Insassen, heraufgefischt.

Jawohl, seiner Insassen! denn zwei Mitglieder des Kanonenklubs, sein Präsident Impey Barbicane und Kapitän Nicholl hatten in diesem Waggon-Projektil, in Begleitung eines durch seine halsbrecherischen Streiche sehr bekannten Franzosen, namens Michel Ardan, Platz genommen. Alle drei waren von dieser waghalsigen Fahrt heil und gesund zurückgekehrt. Die beiden Amerikaner waren nun wohl noch zur Stelle und stündlich bereit zu jeglichem neuen Abenteuer, der Franzose Michel Ardan aber nicht mehr, denn er war nach Europa zurückgekehrt, dem Anschein nach mit einem hübschen Stück Geld – was viele Leute nicht gerade wundern dürfte – dort pflanzte und verspeiste, verdaute sogar, wenn die Berichte bestunterrichteter Zeitungsschreiber Glauben verdienen, Michel Ardan jetzt höchstselbst seinen Kohl.

Nach jenem Gewaltstück menschlicher Kraft hatten Impey Barbicane und Kapitän Nicholl in verhältnismäßiger Zurückgezogenheit und Ruhe von ihrem Ruhme gelebt, aber, nach wie vor begierig nach großen Dingen, ständig von einem zweiten ähnlichen Unternehmen geträumt. An Geld fehlte es ihnen nicht. Von jenem letzten Unternehmen, das mit annähernd sechstehalb Millionen im Subskriptionswege fundiert worden war, besaßen sie noch immer einen Ueberschuß von 200 000 Dollars. Außerdem hatten sie durch »Kunstreisen« mit ihrem Aluminium-Geschoß, in welchem sie sich, als eine Art neuen Weltwunders in einem Käfig, selbst ausstellten, nochmals recht hübsche Einnahmen gelöst und einen Ruhm geerntet, wie sich das ehrgeizigste Menschengehirn ihn nicht großartiger auszumalen vermöchte.

Impey Barbicane und Nicholl hätten also, wenn sie nicht die Langeweile geplagt hätte, auf ihren Lorbeeren recht gut ausruhen können; und eben um sich aus ihrer Untätigkeit zu befreien, hatten sie jedenfalls sich zum Ankauf dieses arktischen Ländergebiets entschlossen.

Indessen weiß man, daß hierzu ein Kapital von über 800 000 Dollar nötig wurde, und daß sie, was ihnen dazu fehlte, dem liberalen Sinne einer Dame, Mrs. Evangelina Scorbitt, verdankten. Dank ihr war Europa durch Amerika geschlagen worden.

Wie es sich um diesen Edelsinn verhielt, wird aus dem Folgenden erhellen.

Genossen seit ihrer Wiederkehr Präsident Impey Barbicane und Kapitän Nicholl einer unvergleichlichen Berühmtheit, so lebte noch ein anderer Mann, auf den ein reichliches Teil hiervon abfiel. Dieser Mann, wie der Leser errät, war J. T. Maston, der überschäumende Schriftführer des Kanonenklubs. Hatte man nicht diesem gewandten Rechenmeister die mathematischen Formeln zu verdanken, die jenes große Experiment einer Mondfahrt erst ermöglicht hatten? Hatte er seine beiden Kollegen auf ihrer außerirdischen Fahrt nicht begleitet, Bomben und Granaten! so war das nicht aus Furcht unterblieben, sondern darum verhielt es sich so: der würdige Artillerist, dem der rechte Arm fehlte, hatte auch noch eine künstliche Schädeldecke aus Guttapercha – im Kriege trifft es sich nun einmal, daß den Menschen Glieder flöten gehen – hätte er sich nun in so defektem Zustande den Seleniten oder Mondbewohnern vorgestellt, so hätten diese doch eine höchst klägliche Vorstellung von den Erdenbewohnern bekommen müssen, und der Mond ist und bleibt doch einmal der Erde bescheidener Trabant.

Zu seinem tiefen Leidwesen hatte also J. T. Maston auf die Teilnahme an dieser Mondfahrt verzichten müssen. Aber müßig war er deshalb nicht gewesen, sondern hatte ein Riesenteleskop gebaut und im Felsengebirge auf dem Gipfel des Long's Peak aufgestellt. Dorthin hatte er sich begeben. Von dort aus hatte er das Projektil auf seiner Bahn verfolgt. Vor dem Okular des gewaltigen Instruments hatte er sich postiert und künftig seine Aufgabe nur darin erblickt, seine Freunde auf ihrer Fahrt um den Mond herum zu verfolgen. Endlich hatte die Richtung des Projektils sich geändert. Dann war es mit einer Geschwindigkeit von 57 600 Meilen in der Stunde ins Meer gesaust. Dann war es, nach langen Sondierungen, aufgefunden worden, und J. T. Maston hatte nicht mit dem Versuch gezaudert, seinen Freunden im Tauchergewand auf dem Meeresgrunde eine Willkommensvisite zu machen. Dann hatte sich das Aluminiumgeschoß, weil es eine größere Wassermenge als sein Eigengewicht verdrängte, wieder zur Meeresfläche hinauf gearbeitet, und Präsident Barbicane, Kapitän Nicholl und Michel Ardan waren an der Meeresoberfläche entdeckt und aufgefischt worden, während sie sich in ihrem schwimmenden Gefängnis die Zeit vertrieben mit – einer Partie Domino.

Um auf J. T. Maston zurückzukommen, so resultierte eben aus seinem Antrieb an besagtem Experiment sein Ruhm.

Daß J. T. Maston mit seiner geflickten Schädeldecke und dem Haken-Ersatz für den verlorenen rechten Arm kein Stutzer war, braucht wohl nicht gesagt zu werden. Jung war er auch nicht mehr, denn er zählte ganze 58 Jahre zu Beginn der Erzählung. Aber die Ursprünglichkeit seines Charakters, die Lebhaftigkeit seiner Intelligenz, das Feuer seines Blickes, die Glut, mit der er alles in Angriff nahm und durchführte, hatten ihn in den Augen einer Dame, jener Mrs. Evangelina Scorbitt, die wir in früheren Kapiteln zu erwähnen Gelegenheit fanden, zu einem Idealtypus gemacht. Sein Gehirn war übrigens, unter dem sichern Schutze seiner Guttapercha-Schädelkappe, wohlerhalten, und J. T. Maston galt noch immer mit Fug und Recht als eines der bedeutendsten Rechen-Genies seiner Zeit.

Nun hatte Mrs. Evangelina Scorbitt, während ihr die kleinste Rechenarbeit Migräne bereitete, für mathematische Geister, wenn auch nicht für mathematische Arbeit, ein ausgesprochenes Faible. Mathematiker sah sie für besondere und für höhere Wesen an. Man erwäge doch: Köpfe, worin die X herumtanzen wie Nüsse in einem Sack, Gehirne, die mit den algebraischen Zeichen spielend fertig werden, Hände, die mit den dreifachen Integralen jonglieren, wie Taschenspieler mit Gläsern und Flaschen, Geister, die bald dies, bald das durch Formeln darstellen wie:

Formel

ja, solche Gelehrte erschienen höchster Bewunderung würdig und geschaffen dazu, ein weibliches Wesen in dem gleichen Verhältnis der Mengen und im umgekehrten Verhältnis des Quadrats der Entfernungen an sich zu ziehen. Und grade J. T. Maston war korpulent genug, um eine unwiderstehliche Anziehung auf sie zu üben, und betreffs der Entfernung stand zu erwarten, daß sie gleich Null sein würde, wenn sie jemals ein Paar werden könnten.

Das brachte nun, wie wir bekennen wollen, dem Schriftführer des Kanonenklubs, der niemals das Glück in so engen Verbindungen gesucht hatte, Beunruhigung. Uebrigens war Mrs. Evangelina Scorbitt nicht mehr im Stadium der ersten – nicht einmal mehr der zweiten Jugend, denn sie zählte 45 Jahre und trug das Haar, das wie gefärbter und aufgefärbter Stoff aussah, mit glattem Scheitel. Ihr Mund war mit Zähnen ausgestattet, die um einige Linien zu lang, aber noch vollzählig vorhanden waren; ihre Taille entbehrte alles Profils, ihre Haltung aller Grazie. Kurz, von A bis Z alte Jungfer, obgleich sie, wenn auch freilich nur ein paar Jahre, verheiratet gewesen war.

Aber sonst war sie eine vortreffliche Dame, der von irdischen Freuden nichts mehr gefehlt hätte, wenn sie sich in den Salons von Baltimore als Mrs. J. T. Maston hätte bewegen dürfen.

Diese Witfrau besaß ein sehr beträchtliches Vermögen. Zu den Milliardärfiguren à la Vanderbilt, Bennett, Gould usw. gehörte sie freilich nicht; auch keine 300 Mill, besaß sie wie Mrs. Moses Carper, auch keine 200 wie Mrs. Stewart, ja nicht einmal 80 wie Mrs. Crocker – drei Witfrauen gleich ihr – auch noch nicht so reich war wie sie wie Mrs. Hammersley, Helly Green, Maffitt, Marshall, Para Stevens usw. usw. – aber an jenem denkwürdigen Festessen im Newyorker Fifth-Avenue-Hotel, zu dem nur Leute Zutritt hatten, die wenigstens über 5 Millionen geboten, hätte sie mit mehr denn Fug und Recht teilnehmen können. Her stammte ihr Vermögen von Mr. John P. Scorbitt, und dieser hatte es erworben durch zweifachen Handel: nämlich mit Modewaren und mit Schweinepökelfleisch. Seine Witwe nun wäre das glücklichste Weib unter der Sonne gewesen, wenn ihr das Schicksal das Los beschieden hätte, dieses Vermögen mit J. T. Maston zu teilen, dem sie noch einen weit unerschöpflicheren Schatz von Zärtlichkeit und Liebe zugebracht hätte.

Kein Wunder, daß Mrs. Evangelina Scorbitt auf J. T. Mastons Vorfrage sofort einverstanden gewesen war, einige hunderttausend Dollar in die Affäre der »North Polar Practical Association« zu stecken, ohne daß sie im übrigen wußte, um was es sich dabei handelte. Wollte sie sich darüber belehren, was mit all diesem Nordpol-Dominium einmal werden solle, und drang sie in J. T. Maston, es ihr zu sagen, so legte dieser seinen Armhaken an die halbgeschlossenen Lippen und beschränkte sich auf den Bescheid:

»Liebe Mrs. Scorbitt, haben Sie, bitte, Vertrauen!«

Manchmal setzte er wohl hinzu, wenn sich die Dame nachdrücklicher um Belehrung an ihn wandte:

»Nur eine kleine Weile Geduld, Mrs. Scorbitt, und Sie werden alles erfahren!«

Und dann schüttelte er ihr die Hand auf echte Amerikaner-Art, und diese erschütternde Bewegung übte immer die unmittelbare Wirkung auf sie, ihre Ungeduld zu zügeln. Bald wurden auch die Alte und Neue Welt ganz ebenso erschüttert durch die Kunde, die endlich über die Pläne der »North Polar Practical Association« verlautete, und durch die Auflegung einer Subskription zum Zwecke der Ausführung dieses unsinnigsten aller Pläne, die je ein Menschenhirn ausgeheckt hat – die »North Polar Practical Association« hatte nämlich den betreffenden Teil der cirkumpolaren Regionen zu dem Zwecke an sich gebracht, um die – Steinkohlenflöze abzubauen, die man in der Nähe des Nordpols vermutete.


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