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IV. In den Grotten

Als der Kaw-djer das Regierungsgebäude verließ, war das Gewitter bereits vorübergegangen. Heiter hatte sich die Sonne aus den Wassern erhoben und die Wolkenschleier mit ihren siegreichen Strahlen zerrissen.

Der Kaw-djer blickte um sich. Niemand war weit und breit zu sehen. Wie täglich, war er auch heute der erste, welcher sein Lager schon verlassen hatte.

Langsam und behaglich atmete er die erquickende Morgenluft ein und machte einige Schritte auf den Platz, den das nächtliche Gewitter in ein Kotmeer verwandelt hatte. Da lenkte die offenstehende Tür des Gerichtssaales seine Aufmerksamkeit auf sich. Ohne dieser augenscheinlichen Nachlässigkeit viel Gewicht beizulegen, näherte er sich der Türe in der Absicht, sie zu schließen. Nun erst bemerkte er, daß das Schloß erbrochen war, und erst dieser Umstand verwunderte ihn sehr. Was konnte denn ein solcher Gewaltakt bezwecken? Gab es denn jemanden auf der Insel, der so arm war, daß der mehr als einfache Inhalt dieses Raumes seine Begierde wachrufen konnte?

Der Kaw-djer stieß die Türe vollends auf und erblickte gleich von der Schwelle aus das Pulverfaß, nur verstand er nicht sofort den Sachverhalt. Aber eine schnelle Untersuchung hatte ihm bald alles klar gemacht. Das verstreute Schießpulver ... die zu zwei Dritteln verkohlte Zündschnur, die am Boden lag ... kein Zweifel war da möglich: man hatte ihn und auch das Regierungsgebäude in die Luft sprengen wollen!

Diese Entdeckung erstarrte ihn förmlich. Es gab also einige unter den Kolonisten, deren Haß so weit ging! ... Dann versuchte er ruhig zu überlegen und die Urheber dieses Attentates ausfindig zu machen. Er wollte niemanden fälschlich beschuldigen; aber er kannte die Bevölkerung der Insel zu genau, um seine Vermutungen über einen sehr beschränkten Kreis hinaus verirren zu lassen. Sollte es Ferdinand Beauval gewesen sein, trotz seiner neuen Würde? ... Vielleicht war auch Lewis Dorick der Urheber dieser finsteren Tat? ... Das war schon eher möglich! Jedenfalls war es jemand aus diesem Kreise!

Der Kaw-djer ließ seine Blicke über den Saal schweifen und bemerkte das Loch an der Wand. Der ganze Vorgang war ihm nun klar. Man hatte das Pulverfaß aus dem Depot gestohlen, es an die Stelle gebracht, wo es sich jetzt befand, dann war der Schuldige entflohen, nachdem er die Zündschnur, welche die Explosion des Pulvers herbeiführen sollte, an dem einen Ende in Brand gesteckt hatte ... Aber die Hoffnungen der Verbrecher waren getäuscht worden, es war nicht zur Explosion gekommen! Die Zündschnur war erloschen, nachdem sie bis zu zwei Dritteln ihrer Länge verbrannt war. Die Wasserlache, die ihr drittes Drittel bedeckte, hatte sie am Weiterglimmen verhindert.

Woher kam dieses Wasser? Um es zu erfahren, brauchte der Kaw-djer nur den Kopf zu heben. Es war vom Himmel gefallen und durch eine Spalte im Dache und im weiteren Verlaufe durch die ziemlich undichte Zimmerdecke hereingesickert. Zwischen zwei klaffenden Holzstücken waren die Spuren ihres Weges noch zu verfolgen. Von hier war das Wasser langsam abgetropft, bis es die Lache gebildet hatte, die dem Weitergreifen des Feuers ein unüberwindliches Hindernis in den Weg gelegt hatte.

Den Kaw-djer überlief ein kalter Schauer; er dachte nicht allein an sich, sondern an die anderen, die das Regierungsgebäude mitbeherbergte; an Hartlepool, welcher mit den zwei Kindern hier wohnte, und an diejenigen, welche während der letzten Nacht hier zu wachen hatten. Ihr Leben hatte nur an einem schwachen Faden, einem kleinen Zufallsspiel gehangen. Ohne das Gewitter, das in den frühen Morgenstunden tobte, wären jetzt alle tot gewesen.

Nach reiflicher Überlegung schien es dem Kaw-djer das Beste, diesen mißglückten Massenmordversuch geheimzuhalten. Es bedurfte nicht dieses Vorfalles, um seine Popularität zu vergrößern und es war, als letzter Grund, besser, die ahnungslose Bevölkerung nicht in Unruhe zu versetzen.

Er schloß die Türe hinter sich und weckte Hartlepool, den er in den Gerichtssaal führte und in alles einweihte. Hartlepool war sprachlos vor Schrecken. Ebensowenig wie der Gouverneur war er imstande, die Schuldigen zu nennen, aber auch er zögerte nicht, dieselben Personen zu verdächtigen, die dem Kaw-djer als zu jeder Schandtat fähig erschienen.

Dieser war fest entschlossen, den Vorfall dieser Nacht nicht an die große Glocke zu hängen, so mußte denn das Loch in der Mauer im Geheimen ohne fremde Beihilfe verschlossen werden. Hartlepool ging auf die Suche nach den nötigen Materialien, während der Kaw-djer das Faß an seinen gewöhnlichen Aufbewahrungsort zurückbrachte.

Jetzt bemerkte er aber, daß auch ein zweites Pulverfaß verschwunden war. Das im Gerichtssaal aufgefundene mit eingerechnet, waren nur vier Fässer vorhanden, anstatt fünf. Was wollte man mit dem Pulver beginnen? Gewiß nichts Gutes! Aber nachdem jede Feuerwaffe fehlte, war es kaum verwendbar; denn die Diebe mußten sich wohl sagen, daß man einen zweiten ähnlichen Versuch, den ein glücklicher Zufall an der Ausführung verhindert hatte, nicht geschehen lassen würde!

Als Hartlepool zurückgekehrt war, setzten die beiden improvisierten Maurer das Stück des von Kennedy herausgeschnittenen Balkens wieder ein, dann wurden die Lücken wie früher durch ein Gemenge voll Mörtel und Steinen ausgefüllt. Bald war keine Spur von dem geplanten Verbrechen zu entdecken. Dann erst zog sich der Kaw-djer in sein Gemach zurück und rief Hartlepool zu sich, dem er nun von dem Verschwinden eines zweiten Pulverfäßchens Mitteilung machte.

Die Sache war ernster Beachtung wert. Daß die Schuldigen sich des Pulvers bemächtigt hatten, war ein Beweis, daß sie eine Wiederholung des Attentates planten und man mußte über die entsprechenden Mittel beraten, um sich vor einem zweiten ähnlichen Versuch zu schützen.

Nachdem die Angelegenheit nach allen Richtungen hin erwogen worden war, wurde endgültig beschlossen, von dem geplanten Attentat nichts verlauten zu lassen und recht vorsichtig zu sein, damit ja nichts zur Kenntnis der Öffentlichkeit gelange. Vor allem aber sollte die Polizei von vierzig auf sechzig Mann erhöht werden und auch noch mehr, wenn sich diese Notwendigkeit späterhin ergeben sollte. Vorläufig mußte man sich mit acht Ersatzmännern begnügen, da man nur über ebensoviele Reservegewehre verfügte, aber der Kaw-djer gedachte zweihundert Schußwaffen kommen zu lassen, um in Zukunft gegen ähnliche Vorkommnisse gefeit zu sein. Liberia vergrößerte sich zusehends – man mußte der Stadt auch die nötige Sicherheit bieten, ihre Interessen verteidigen können.

Es wurde ferner beschlossen, daß die Wachen während der Nacht nicht mehr im Wachtlokale verbleiben, sondern im Freien auf und ab wandern sollten; dort mußten sie um das Regierungsgebäude herumgehen, wodurch jede Überraschung ausgeschlossen wurde.

Der Kaw-djer glaubte, mit diesen Vorschriften seine Pflicht getan zu haben, aber Hartlepool nahm sich insgeheim vor, dieselben noch zu verschärfen und den Gouverneur mit einer größeren, wenn auch sehr diskreten Wachsamkeit zu umgeben.

Die Hoffnung, die Schuldtragenden zu entdecken, war besser, aufzugeben, wollte man nicht die ganze Stadt in Aufregung bringen. Sie hatten keine Spur zurückgelassen, nur die Entdeckung des gestohlenen Pulverfäßchens hätte sie entlarven können. – Aber um dieses corpus delicti aufzufinden, hätte man Hausdurchsuchungen vornehmen müssen, welche in der Bevölkerung große Erregung hervorgerufen haben würden, und das wollte der Kaw-djer ja um jeden Preis vermeiden.

Nachdem die Sache so beigelegt war, ging das Leben seinen ruhigen Gang weiter. Ein Tag folgte dem anderen und die Erinnerung an den Zwischenfall, der um ein Haar so tragische Folgen nach sich gezogen hätte, erstarb allmählich. Die dahinfließende Zeit nahm auch viel von seiner ursprünglichen Wichtigkeit mit sich und die neuen, verschärften Vorschriften machten einen ähnlichen Versuch unmöglich.

Der Kaw-djer erinnerte sich bald nicht mehr daran. Andere Sorgen beschäftigten ihn. Sein Werk begeisterte ihn derart, daß er etwas von dem berauschenden Bewußtsein des Schöpfers in sich fühlte. Sein überarbeitetes Gehirn suchte immer nach neuen Unternehmungen und die Ausführung des einen Projektes war noch nicht zur Vollendung gediehen, als er schon ein zweites bereit hielt und anzufangen wünschte.

Noch waren die Grundmauern des künftigen Kais nicht geschaffen, als er sich schon mit anderen Plänen beschäftigte. Einer von diesen, der sehr leicht ausführbar war, bestand darin, einen wenige Kilometer stromaufwärts gelegenen Wasserfall zu verwerten; dort wollte er ein Elektrizitätswerk anlegen, das überall hin Licht und Kraft liefern sollte. Liberia mit elektrischer Straßenbeleuchtung! ... Wer hätte das vor zwei Jahren für menschenmöglich gehalten?

Aber dieses Projekt begeisterte den Kaw-djer nicht einmal so sehr – er liebäugelte mit einem anderen, glänzenderen. Liberia mit Licht versorgen, war ja sehr nützlich und gut, aber die Durchführung dieses Planes kam nur einem ganz kleinen Bruchteil der Menschheit zugute und anderseits bot die Inangriffnahme dieser Arbeiten so geringe Schwierigkeiten, daß man sie als angenehme Zerstreuung auffassen konnte. Nein! Das Werk, das ihm wirkliche Begeisterung einflößte, war allgemeiner und groß angelegt! Es berührte die ganze Menschheit!

Die erste Idee war ihm beim Schiffbruch des »Jonathan« gekommen. Als die Notschüsse des Fahrzeuges durch die stille Nacht drangen, hatte der Kaw-djer, wie man sich erinnert, auf dem höchsten Punkte des Kap Hoorn ein Feuer entzündet. Das war aber nur ein Notbehelf gewesen und nach wie vor war kein Zeichen vorhanden, das den in Gefahr befindlichen Schiffen die Nähe des Landes angezeigt hätte. Der Todeskampf des »Jonathan« war nur eine herausgegriffene Szene aus dem ewigen Drama, das sich unaufhörlich in jenen Breiten abspielt. Hunderte von Schiffen müssen bei Sturm und Ungewitter die gefürchteten äußersten Ausläufer Amerikas passieren. Sie sind nicht so glücklich wie der »Jonathan«, dem wenigstens ein Feuerschein geleuchtet hatte, und wie oft bedecken ihre Trümmer die Klippen dieser Inselwelt. Anders wäre es, wenn an jedem Abend nach Sonnenuntergang die Feuer eines Leuchtturmes entzündet würden. Auf diese Weise wären die Fahrzeuge rechtzeitig gewarnt und könnten sich ins freie Meer hinaus retten. Wie viele, viele Schiffskatastrophen würden dann verhindert werden! ...

Seitdem der Kaw-djer auf dem Kap Hoorn gestanden, war kein Tag verflossen, an dem ihm nicht dieses herrliche Werk in immer lockenderen Farben erschienen wäre. Er verkannte durchaus nicht die Schwierigkeiten und lange hatte er daran nur gedacht, wie man an ein unausführbares Luftschloß denkt. Jetzt aber verhielt es sich anders. Als Gouverneur eines im schönsten Aufblühen begriffenen Staates stand ihm eine fast unbegrenzte Menge von Arbeitskräften zur Verfügung. Das Luftschloß war nicht mehr unausführbar.

Auch die Geldfrage, die er früher in Betracht gezogen hatte, spielte jetzt keine Rolle mehr. Dem Kaw-djer mußten unversiegbare Geldquellen zur Verfügung stehen, nachdem er dem hostelischen Staate so bedeutende Vorschüsse machen konnte, daß dieser sein Emporblühen allein dieser rechtzeitigen Hilfe verdankte. Lange Zeit hatte er sich dagegen gesträubt, seine Reichtümer anzurühren, deren Existenz er freiwillig vergessen hatte; aber nachdem er sie schon einmal benutzt hatte, war sein Widerstreben nicht mehr stichhaltig. Das Opfer war einmal schon vollbracht; es lag daher gar kein Grund vor, nicht ein zweites Mal auf gleiche Weise zu handeln.

Der hostelische Staat erfreute sich übrigens eines so bedeutenden Wohlstandes, daß er schon daran denken konnte, mit der Rückzahlung jener Geldbeträge zu beginnen, die ihm sein Schöpfer vorgestreckt hatte. Diese Kapitalien wollte der Kaw-djer nicht auf Zins anlegen, wie der nächstbeste kleine Bürger. Wie hätte er, der stets nur Verachtung für Geld und Geldeswert zur Schau getragen, sich zum Ansammeln toter Schätze verstanden! Konnte er einen besseren Gebrauch davon machen, sie nützlicher anlegen, als durch die Ausführung seines großen Projektes: die Erbauung eines Leuchtturmes auf dem Gipfel des verhängnisvollen Vorgebirges, an dessen gefährlichen Klippen so viele Schiffe ihr Verderben gefunden hatten!?

Aber eine große Schwierigkeit war nicht abzuleugnen! Die Insel Hoste war freies Land, jedoch die Insel Hoorn gehörte zu Chile! Aber vielleicht konnte diese Schwierigkeit umgangen werden! Es war nicht unmöglich, daß Chile einwilligte, seine Rechte auf die Insel Hoorn – einen kahlen Felsen – abzutreten, wenn sich der neue Besitzer verpflichtete, davon den schon erwähnten Gebrauch zum Wohle der Menschheit zu machen. Jedenfalls lohnte es sich der Mühe, den Versuch zu einer Verständigung zu wagen. In der Tat trug das nächste, die Insel Hoste verlassende Schiff eine dieses Thema behandelnde offizielle Anfrage der Regierung des hostelischen Staates an die Republik Chile mit sich fort.

Während der Kaw-djer sich in sein geplantes Werk vertiefte, schwebte das Damoklesschwert immer noch über seinem Haupte; die Gefahren, die er längst vergessen hatte, bedrohten sein Leben noch immer. Die Urheber des Attentates waren nicht entdeckt worden. Ihre verbrecherische Absicht war unbestraft geblieben; immer noch im Besitze des Pulverfasses, das in ihren Händen eine so schreckliche Drohung bedeutete, lebten sie unerkannt in der Menge der übrigen Kolonisten weiter.

Wenn der Kaw-djer, welcher unter dem Vorwand, den Frieden der Bevölkerung von Liberia nicht stören zu wollen, seinen Widerwillen gegen jede polizeiliche Untersuchung, der ihm als Rest seiner alten Freiheitsideen geblieben war, rechtfertigen wollte, gleich anfangs eine sorgfältige Untersuchung angestellt haben würde, hätte er die Schuldigen sicher entdeckt. Das Pulverfaß war gar nicht weit; Dorick und Kennedy hatten es noch am Morgen des Attentates in eine der in der Ostspitze der Insel befindlichen Grotten gebracht, die dem Kaw-djer nicht unbekannt sein konnten, nachdem Hartlepool seinerzeit die Gewehre und die Munition dort versteckt hatte.

Es gab drei solcher unterirdischer Grotten, wie vielleicht noch erinnerlich ist: zwei tiefer gelegene, deren eine eine Öffnung nach dem Südabhang hatte und mit der zweiten in Verbindung stand, die des Berges Mitte einnahm; die dritte Grotte lag fast fünfzig Meter höher als die anderen und öffnete sich nach dem Nordabhang der Landspitze; von hier aus konnte man Liberia überblicken. Eine schmale Spalte stellte die Verbindung mit den anderen Grotten her. Trotz der starken Neigung des Bodens konnte man diesen beschwerlichen Durchgang benutzen; ungefähr in der Hälfte wurde der Durchlaß so klein, daß man genötigt war, sich einige Meter kriechend weiter zu bewegen, dabei mußte man aber sorgfältig vermeiden, an einen losen Steinblock anzustreifen, der an dieser Stelle die alleinige Stütze des Gewölbes bildete; kam der Stein beim Passieren der Stelle ins Wanken, so waren die Folgen nicht auszudenken.

In dieser hochgelegenen Grotte hatte Hartlepool die Gewehre verborgen gehalten. Das Pulverfaß war von Dorick und Kennedy in einer der unteren Höhlungen versteckt worden.

Sie hatten es nicht einmal für notwendig erachtet, es in der zweiten niederzulegen, die von der Natur mitten im Felsen ausgehöhlt worden war. Nachdem sie die letztere flüchtig untersucht hatten – dabei war ihnen die Spalte entgangen, die sich nach der höher gelegenen Grotte gegen den Nordabhang hinzog – begnügten sie sich, das unter Laub und Zweigen versteckte Faß in der ersten Grotte zu lassen, in die durch eine hohe, breite Bogenöffnung das Licht in warmen Strömen hereinflutete.

Ihre Überraschung war groß, als sie am Morgen des 27. Februar von dieser unterirdischen Expedition zurückkehrten und das Regierungsgebäude heil und ganz an Ort und Stelle erblickten. Während sie sich aus der Stadt entfernten und ihres Pulverfasses entledigten, und auch dann, als sie sich Liberia wieder näherten, hatten sie von Sekunde zu Sekunde angstvoll auf die Explosion gewartet. Aber – wie man weiß – erfolgte diese nicht und die beiden Missetäter erreichten ihre Wohnung, ohne daß etwas Außergewöhnliches sich ereignet hätte.

Sie konnten es nicht begreifen.

Aber so groß auch ihre Neugierde war, beeilten sich die Schuldigen nicht, sie zu befriedigen. Das Scheitern ihres Anschlages brachte sie in Gefahr und ihr einziges Bestreben zielte jetzt dahin, unbemerkt zu bleiben. Sie mengten sich daher unter die anderen Arbeiter und befleißigten sich, alles zu vermeiden, was die Aufmerksamkeit auf sie lenken konnte.

Erst im Laufe des Nachmittags wagte es Dorick, am Regierungsgebäude vorbeizugehen. Von weitem warf er einen verstohlenen Blick nach der Türe des Gerichtssaales und sah, daß der Schlosser Lawson im Begriffe stand, das erbrochene Türschloß auszubessern. Lawson schien der Arbeit keine besondere Wichtigkeit beizumessen. Man hatte ihn beauftragt, ein neues Schloß zu verfertigen und er tat es.

Aber die Ruhe Lawsons beruhigte Dorick nicht. Nachdem die Türe repariert wurde, mußte man wissen, daß das Schloß erbrochen worden war. Folglich hatte man auch das Pulverfaß und die Zündschnur entdeckt. Wer hatte diese Entdeckung gemacht? Dorick konnte es natürlich nicht erraten. Aber er zweifelte nicht daran, daß eine so wichtige Sache augenblicklich dem Kaw-djer mitgeteilt worden war und er folgerte daraus, daß nun eine strenge Untersuchung zu erwarten stand, daß eine genauere Überwachung in Szene gesetzt werden würde und sah sich von allen Seiten bedroht.

Ein schärferes Nachsinnen gab ihm seine Kaltblütigkeit wieder. Nichts konnte seine Schuld beweisen. Auch wenn man ihn verdächtigte, verhaften kann man niemanden auf eine bloße Verdächtigung hin, und verurteilen noch weniger. Dazu bedarf es unumstößlicher Beweise. Und Beweise konnten gegen ihn nicht erbracht werden, so lange seine Mitschuldigen das Geheimnis hüteten.

Diese beruhigenden Gedanken hinderten ihn aber nicht, heftig zu erschrecken, als er sich gegen Abend unverhofft dem Kaw-djer gegenüber sah, welcher, wie täglich um diese Zeit, den Fortschritt der Hafenarbeiten überwachte. Er hatte sein gewöhnliches Aussehen, niemand konnte aus seinem Wesen erkennen, daß etwas Besonderes vorgefallen sein müsse. Aber für Doricks Empfindung war diese Ruhe fürchterlicher als der heftigste Zorn. Er sagte sich, daß der Gouverneur, um so sicher auftreten zu können, die Schuldigen unbedingt kennen müsse. Er zitterte am ganzen Körper, schien sich aber nur um seine Arbeit zu kümmern, wobei er sorgfältig vermied, den Kaw-djer anzusehen, denn er fühlte, daß er seinen Blick nicht ertragen würde. Wenn er vom Gouverneur angesprochen worden wäre, hätte der Elende sich selbst verraten.

Aber nachdem der Kaw-djer nicht das Wort an ihn richtete, faßte er wieder neues Vertrauen. Und dieses Vertrauen erstarkte in dem Maße, als die Tage verstrichen. Es gelang ihm nicht, die Handlungsweise der Regierung zu begreifen, aber er bemerkte, daß nichts in der Stadt verändert war, obwohl das Attentat bekannt sein mußte – das bewies die verschärfte Wachtordnung während der Nacht.

Aber lange gelang es ihm nicht, der peinigenden Furcht Herr zu werden. Während vierzehn Tagen mieden sich die Schuldigen und befleißigten sich einer so tadellosen Aufführung, daß schon dieser Umstand allein einem aufmerksamen Beobachter auffallen mußte. Nach diesen zwei Wochen fühlten sie sich sicher. Erst wechselten sie einige Worte im Vorübergehen und als die ungetrübte Sicherheit ihnen ihren früheren Mut zurückgegeben hatte, nahmen sie ihre Abendspaziergänge und ihre gewöhnlichen Beratungen wieder auf.

Ihr Wagemut wuchs von Tag zu Tag und veranlaßte sie zuletzt sogar, die Grotte zu betreten, in der das Pulverfaß verborgen lag. Sie fanden es in demselben Zustand, an derselben Stelle, wo sie es hingelegt hatten, und waren nun ganz beruhigt.

Bald wurde die unterirdische Höhle das Ziel ihrer Ausgänge. Einen Monat nach dem mißglückten Attentat bildete sie ihren täglichen Versammlungsort.

Ihr Gesprächsthema war immer noch dasselbe. Es hatte sich ebensowenig verändert als die Ursachen ihrer Unzufriedenheit. Was ihr Leben vor dem versuchten Attentat gewesen war – war es auch jetzt. Sie fuhren fort, sich, wie alle, dem Gebote der Arbeit zu fügen, und dieses »Muß« war ein Hauptgrund ihrer Verzweiflung.

Mit ihren gegenseitigen unaufhörlichen Klagen und Verwünschungen schürten sie die Unzufriedenheit und den Haß stets aufs neue an, das Mißglücken ihres Anschlages war bald vergessen und sie suchten schon wieder nach einem anderen Ausweg, der diesmal zum gewünschten Ziel führen sollte.

Die ohnmächtige Wut regte sich immer mächtiger in ihnen und es kam der Tag, an dem sie für das Schmieden eines neuen Komplottes reif waren.

An diesem Tage – es war der 30. März – hatten die fünf würdigen Gefährten Liberia getrennt verlassen und sich, wie gewöhnlich, erst in einer gewissen Entfernung von der Stadt zusammengefunden. Die kleine Gruppe war vollzählig, als sie ihren täglichen Versammlungsort erreichte.

Den Weg hatte man schweigsam zurückgelegt. Dorick hatte den Mund nicht aufgetan und schien in Betrachtungen verloren, die anderen ahmten sein Schweigen nach. Stumm waren ihre Lippen, finster ihr Gesichtsausdruck. Das Gewitter grollte von ferne. Wilde Rachegedanken erfüllten ihre verderbten Gemüter.

Dorick trat als erster in die Grotte und erschrak nicht wenig, als er am Eingange derselben ein Feuer brennen sah. Es war somit jemand hier gewesen und es konnte nur kurze Zeit seit dem Weggehen des Eindringlings vergangen sein, denn die Flamme war noch ganz lebenskräftig.

Feuer in der Grotte! ... Dorick hatte sich plötzlich an das Pulver erinnert. Wenn das Feuer nur wenige Meter weiter nach innen entzündet worden wäre, wäre der Unvorsichtige, welcher es entzündet hatte, unrettbar in die Luft geflogen. Welcher Gefahr hatte er sich ausgesetzt, ohne sie zu ahnen!

Dorick lief zum Fasse hin ... Nein, es war nicht entdeckt worden ... Es lag immer noch da unter einem Haufen dürrer Zweige; einige derselben hatte man zu dem kleinen Holzstoß benutzt, der noch lustig knisterte.

Inzwischen hatte sich Kennedy mit einem brennenden Aste ausgerüstet und untersuchte die zweite Grotte. Bald kam er beruhigt wieder. Niemand war zu entdecken, sie war leer. Der unbekannte Besucher der Grotte war fortgegangen.

Als er diese beruhigende Nachricht den Freunden mitgeteilt hatte, wollte er das Feuer austreten, welches immerhin gefährlich werden konnte, trotz seiner Entfernung vom Pulverfasse.

Aber Dorick hielt ihn davon ab, sammelte die glimmenden Holzstückchen und warf neue Nahrung auf die Glut, während seine Gefährten ihn erstaunt beobachteten.

»Kameraden! sagte er, ich bin zu Ende mit meiner Kraft und Geduld ... Schon vorher war ich entschlossen zur Tat ... Was wir gesehen haben, muß uns in unserer Absicht bestärken ... Man ist hieher gekommen ... ein Grund mehr zur Eile, denn man kann wiederkommen und was man heute nicht gefunden hat, findet man morgen bestimmt!«

Doricks Stimme zitterte, die Worte kamen abgerissen, keuchend von seinen Lippen und er begleitete sie mit heftigen Bewegungen. Es ging wirklich zu Ende mit ihm, wie er selbst sagte.

Außer Sirdey, der unbeweglich verharrte, stimmten ihm die Genossen lebhaft bei.

»Wann soll es geschehen? fragte Fred Moore.

– Noch heute Abend« ... erwiderte Dorick.

Und er fügte hinzu, indem er die Worte abhackte wie ein Mensch, der alle Herrschaft über seine Nerven verloren hat:

»Ich habe alles überlegt ... Nachdem wir keine Waffen besitzen, werde ich sie mir selbst schaffen ... Eine Bombe ... Und noch diesen Abend ... ich werde mehrere Lagen Pulver zwischen mit Teer getränkte Leinwand pressen ... deshalb brauche ich das Feuer, um den Teer zum Sieden zu bringen ... Natürlich wird meine Bombe an Wert den vollkommenen, modernen Höllenmaschinen bedeutend nachstehen ... Ich tue eben, was ich kann ... Ich bin ja auch kein Chemiker ... Aber auch so wird die Bombe ihre Wirkung haben ... Eine Zündschnur werde ich von einem Ende zum anderen durchführen ... sie wird dreißig Sekunden dauern ... Ich habe alles ausprobiert ... Man hat gerade Zeit, sie anzuzünden und zu schleudern« ...

Seine Zuhörer wurden durch diese Worte und sein Aussehen eigentümlich bewegt. Aus seinen Blicken sprach Fieber und – fast möchte man sagen – Wahnsinn. War Lewis Dorick verrückt geworden?

Nein, er war es nicht; wenigstens nicht im pathologischen Sinne des Wortes. Wenn ihm auch jetzt die Bitterkeit und der Neid, der sein ganzes Leben ausfüllte, zu dieser Stunde diese Worte auf die Lippen gedrängt hatte, so behielt er immer noch so viel Geistesklarheit, als ein Mann, der die Beute blinden Hasses geworden ist, beanspruchen kann.

»Wer soll die Bombe werfen? fragte Sirdey gleichmütig.

– Ich, antwortete Dorick.

– Wann?

– Diese Nacht ... Gegen zwei Uhr werde ich an die Türe des Regierungsgebäudes pochen ... Der Kaw-djer wird mir öffnen ... Sobald ich seinen Schritt vernehme, zünde ich die Schnur an ... Alles Nötige werde ich bei mir haben ... Wenn er die Türe öffnet, schleudere ich die Bombe ins Innere ...

– Und du?

– Ich werde schon Zeit haben, mich zu retten ... Aber auch wenn ich mich mitverderben sollte ... ein Ende muß gemacht werden.«

Alles schwieg. Man sah sich bestürzt an, das Projekt Doricks erschreckte die Männer.

»Auf diese Weise brauchst du uns nicht dabei, bemerkte Sirdey ruhig.

– Ich brauche gar niemanden, rief Dorick heftig. Die Memmen können hingehen, wo es ihnen beliebt.«

Dieses Wort verletzte die Eigenliebe.

»Ich bleibe, sagte Kennedy.

– Ich auch, erklärte William Moore.

– Ich auch,« sprach auch Fred Moore.

Nur Sirdey blieb schweigsam.

Die Stimmen waren ziemlich laut geworden; ohne zu wollen, verhandelte man im Tonfall eines erregten Wortwechsels miteinander. Trotz der Warnung, die das entzündete Feuer für sie bedeutete, dachte man nicht daran, daß es Lauscher in der Nähe geben könne, welche diese unvorsichtigen Worte auffangen könnten.

Und dennoch gab es einen, einen einzigen, dessen kleine Gestalt nicht furchterregend war, selbst wenn man um seine Gegenwart gewußt hätte. Derjenige, der sich – wider seinen Willen, muß gesagt werden – zum Lauscher hergeben mußte, war niemand anderer als Dick, und die fünf kräftigen Männer hatten von diesem Kinde in der Tat nichts zu befürchten.

Der 30. März war ein Feiertag für Dick und Sand, welche die Stadt schon frühmorgens verlassen hatten, um die Grotten wieder zu besuchen, die einst der Schauplatz ihrer frohen Spiele gewesen waren. Die Kindheit ist launenhaft. Die beliebtesten Belustigungen werden eines schönen Tages im Stich gelassen, wenn die Übersättigung eintritt – dann, mit derselben Plötzlichkeit, wieder begeistert aufgenommen, wenn andere Zerstreuungen ihrerseits langweilig geworden sind. Die Grotten waren zuerst das Entzückendste gewesen, das man sich vorstellen konnte. Dann hatten sie die Kinder vernachlässigt, jetzt kamen sie wieder in Mode.

Während Dick und Sand rasch ausschritten, besprachen sie voll Wichtigkeit den Plan des Tages. Das heißt, genauer gesagt: Dick gab, wie gewöhnlich, kraft seiner Autorität, den Tagesbefehl aus und Sand fügte sich willig in alles.

»Mein Alter, hob Dick an, als sie die letzten Häuser hinter sich hatten, ich habe eine gute Nachricht für dich!«

Sand war ganz Ohr.

»Wir werden ›Restaurant‹ spielen.«

Sand nickte zustimmend, aber eigentlich begriff er nicht recht.

»Nimm einmal das, mein Alter, verkündete Dick triumphierend.

– Zündhölzchen! ... rief Sand entzückt von dem wundervollen Spielzeug.

– Und jetzt dies!« ... und Dick zerrte mühsam aus seiner Tasche ein halbes Dutzend Kartoffeln, die er gewaltsam hineingestopft hatte, ehe sie fortgingen.

Sand klatschte freudig in die Hände.

»So! erklärte Dick kategorisch, du bist der Wirt und ich werde der Gast sein!

– Warum? fragte Sand unschuldig.

– Darum!« antwortete Dick.

Vor diesem peremptorischen Wort mußte sich Sand natürlich fügen. Als sie dann in der Grotte waren, geschah alles so, wie der tyrannische Spielgenosse bestimmt hatte. In einem Winkel fanden sie einen Haufen dürrer Zweige, dessen Herkunft sie nicht ahnten. Sie halfen ein herrliches Feuer anzünden, in dem die Kartoffeln gebraten wurden.

Nun begann das eigentliche Spiel. Sand fand sich in die Rolle des Wirtes ganz ausgezeichnet und Dick stand ihm als Gast darin nicht nach. Man mußte ihn nur beobachten! Mit welch zwangloser Unbefangenheit er in die Grotte trat – zuerst war er selbstverständlich hinausgegangen, der größeren Wahrscheinlichkeit wegen – mit welch vornehmem Anstand er sich zu dem imaginären Tisch setzte, mit welch gebietendem Tone er die Speisen begehrte, die ihm gerade in den Sinn kamen! Er wünschte Eier, Schinken, ein gebratenes Huhn, Roastbeef, Reis, Pudding und noch verschiedenes andere. Zum Glück konnte der Gast unbesorgt die größten Ansprüche an den Wirt stellen – ein besser geführtes Restaurant konnte gar nicht gedacht werden. Alles Verlangte war vorhanden. Was immer der Gast forderte, der Wirt konnte stets ohne Zögern antreten: »Hier, mein Herr!« und schon standen die gewünschten Speisen auf dem Tisch und waren wirklich, jeder Zweifel ist ausgeschlossen, Eier, Schinken und Brathuhn, obwohl ein uneingeweihter Beobachter sie vielleicht mit gewöhnlichen Kartoffeln verwechselt haben würde.

Aber ein Laden kann noch so herrlich ausgestattet sein – mit der Zeit erschöpfen sich die Vorräte, so wie auch der kräftigste Appetit mit der Zeit gesättigt werden kann. Durch ein merkwürdiges Zusammentreffen geschah dies – o Wunder – in dem Augenblicke, als auch nicht eine Kartoffel mehr übrig blieb.

Sand wurde traurig, als er diese betrübende Entdeckung machte.

»Du hast ja alles aufgegessen!« seufzte er mit einem Gesichte, auf dem die Enttäuschung deutlich geschrieben stand.

Dick ließ sich zu einer Erklärung herbei.

»Nachdem ich Gast war ... sagte er, als ob es die natürlichste Sache von der Welt wäre. Ißt vielleicht der Wirt seine Speisen selbst auf?«

Aber diesmal schien Sand sich nicht überzeugen lassen zu wollen.

»Ja, aber ich habe gar nichts bekommen,« sagte er ganz gedrückt.

Dick bestieg das hohe Roß:

»Das soll wohl heißen, daß ich ein Nimmersatt bin? Auch recht! Ich spiele einfach nicht mehr mit! So!

– Dick!« ... flehte Sand, durch diese fürchterliche Drohung ganz mürbe gemacht.

Das genügte! Dick ließ sofort alle Rachegedanken fallen.

»Nun gut, sagte er mit Gönnermiene; so will ich jetzt den Wirt machen und du kannst Gast sein.«

Das Spiel wickelte sich nun nach diesem neuen Programm ab. Sand ging erst aus der Grotte hinaus, kam wieder herein und setzte sich zu Tisch. Nach dieser Inszenierung näherte sich Dick seinem entzückten Gaste und bot ihm lächelnd einen Kieselstein an.

Aber Sand, dessen Geist nicht so schnell arbeitete, verstand nicht gleich und schaute bestürzt auf den Kieselstein.

»Dummkopf ... sagte Dick. Das ist doch die Rechnung!

– Aber ich habe ja gar nichts gehabt, wagte der empörte Sand zu bemerken.

– Nachdem nichts mehr da ist ... bleibt nur mehr das Zahlen übrig ... In jedem Restaurant muß man doch zahlen! ... Du mußt sagen: Kellner, ich will zahlen! – Ich sage darauf: Bitte sehr, mein Herr! – Dann sagst du: Hier ist ein Cent für das Essen und ein Cent für Sie! – Danke, mein Herr, werde ich sagen. – Dann mußt du mir zwei Cents geben.«

Alles spielte sich nach diesem logischen Plan ab. Sand traf den richtigen Ton, als er befahl: »Kellner, ich will zahlen,« und Dick brachte sein »Bitte sehr!« so naturgetreu vor, daß man ihn mit einem richtigen Kellner hätte verwechseln können. Der entzückte Sand gab ihm zwei Cents.

Aber bald trübte ein Gedanke das Vergnügen des Kindes.

»Du hast die guten Kartoffeln gegessen und ich muß sie bezahlen!« sagte er sehr niedergeschlagen.

Dick schien nichts zu hören; natürlich war ihm kein Wort entgangen; zum Beweise dafür wurde er bis über die Ohren rot.

»Wir kaufen dann eine Zuckerstange im Bazar »Rhodes«,« versprach er und suchte damit sein Gewissen zu beruhigen.

Dann, als gewiegter Diplomat, sagte er, um die Gedanken von dem einen Gegenstand abzuziehen.

»Jetzt wollen wir etwas spielen!

– Was denn? erkundigte sich Sand.

– Wir werden »Löwe« spielen, sagte Dick, welcher sich die schöne Rolle natürlich selbst zudiktierte. Ich bin der Löwe. Du mußt erst hinausgehen und wenn du wieder hereinkommst, falle ich über dich her und fresse dich auf. Dann schreist du, so laut du kannst: »Zu Hilfe!« ... Dann laufe ich schnell fort und komme als Jäger wieder und töte den Löwen!

– Aber du bist doch selbst der Löwe, sagte Sand nicht ohne Logik.

– Nein, ich bin der Jäger.

– Ja, wer soll mich denn dann fressen?

– Dummkopf! ... Ich natürlich, während ich Löwe bin!«

Sand verfiel in allerlei tiefsinnige Betrachtungen und sah seinen Kameraden ganz verträumt an. Dieser störte ihn in seinem Nachsinnen.

»Du brauchst das gar nicht zu verstehen, sagte er. Jetzt geh' hinaus. Dann kommst du herein – und der Löwe wird in den Felsen auf dich warten ... Der Löwe bin ich ... Ich liege auf der Lauer. Ein Löwe, mußt du wissen, muß oft sehr lange auf der Lauer liegen ... Steige durch die Galerie in die obere Grotte und komme von außen wieder herein. Aber du ahnst von gar nichts, verstehst du? ... Erst bis du den Löwen brüllen hörst« ...

Und Dick stieß ein ohrenbetäubendes Gebrüll aus.

Sand war schon fortgelaufen. Er eilte durch die Spalte hinauf und mußte bald folgsam herunterkommen, um sich von dem Löwen fressen zu lassen.

Nachdem sein kleiner Freund sich entfernt hatte, verbarg sich Dick zwischen den Felsen. Er mußte eine halbe Stunde warten, aber das schien ihm nicht lang. Er war ganz Löwe und, wie er früher sehr weise bemerkt hatte, muß ein Löwe es verstehen, sich in Geduld zu fassen, wenn er auf der Lauer liegt. Um alles in der Welt hätte er nicht den Kopf aus seinem Versteck gestreckt, und obwohl er ganz allein war, ließ er doch gewissenhaft von Zeit zu Zeit ein gemäßigtes Brüllen hören, das der Vorläufer zu dem großen, fürchterlichen Triumphgebrülle war, das der Löwe ausstoßen würde, wenn der unglückliche Reisende gefressen war.

In diesen vorbereitenden Übungen wurde er unterbrochen; mehrere Personen stiegen den Weg zur Grotte hinan. Dick, ganz überzeugt, ein wirklicher Löwe zu sein, zeigte sich nicht, aber trotz seiner Umwandlung zum Wüstenkönig erkannte er in den Ankommenden Lewis Dorick, die Brüder Moore, Kennedy und Sirdey. Dick schnitt eine Grimasse. Er hatte gar keine Vorliebe für diese Gesellschaft und besonders Fred Moore war ihm verhaßt, weil er ihn als seinen erbitterten Feind betrachtete.

Die fünf Männer verschwanden in der Grotte, was Dick wieder sehr unangenehm berührte, und bald tönten ihre erstaunten Rufe an sein Ohr, als sie das Feuer entdeckten.

»Die Grotte gehört nicht ihnen!« brummte der »Löwe« in seinen Bart.

Aber nun folgten andere Reden, die ihn aufhorchen und schaudern machten.

Sie sprachen von Pulver und Bomben und dieses letzte Wort, das er nicht recht verstand, wurde mit dem Namen des Gouverneurs und Hartlepools in Verbindung gebracht.

Vielleicht war er zu weit entfernt und hörte nicht genau ... Vorsichtig näherte er sich dem Eingang der Grotte, bis er eine Stelle gefunden hatte, von der aus er jedes Wort deutlich vernehmen konnte.

Jetzt sprach gerade einer der Männer. Dick erkannte die Stimme Sirdeys.

»Nun, und dann? fragte der ehemalige Koch, welcher seiner Rolle als Kritiker treu geblieben war.

– Was – und dann? sagte Dorick in ärgerlichem Ton.

– Ja ... sagte Sirdey. Deine Bombe und das Pulverfaß, das sind zwei verschiedene Dinge ... Du kannst damit nicht alle umbringen ... Und wenn auch der Kaw-djer in die Luft geflogen ist, bleiben noch Hartlepool und die Männer der Wache!

– Was liegt an denen! ... antwortete Dorick heftig. Ich fürchte sie nicht! ... Wenn der Kopf abgeschnitten ist, zählt der Körper nichts mehr!« ...

Umbringen! ... Dem Gouverneur den Kopf abschneiden! ... Dick war mit einem Male todernst geworden, als er, an allen Gliedern zitternd, diese schrecklichen Reden anhören mußte!

 

Ende des zweiten Bandes.


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