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III. Das Attentat

»So kann das nicht fortgehen!« schrie Lewis Dorick, welchem seine Gefährten lebhaft beistimmten.

Ihre Tagesarbeit war getan und sie lustwandelten nun, vier Mann hoch, Dorick, die beiden Brüder Moore und Sirdey, im Süden Liberias auf den Abhängen jener Hügel, die sich von der mittleren Bergkette der Halbinsel Hardy loslösen, um sich später im Meer zu verlieren, wo sie das Knochengerippe der Ostspitze bilden.

»Nein, so geht das nicht weiter! wiederholte Lewis Dorick in gesteigerter Erregung. Wir sind keine Männer, wenn wir uns dies alles gefallen lassen! Diesem Wildling, welcher uns nach Belieben Gesetze vorschreibt, muß der Kopf zurechtgesetzt werden!

– Er behandelt uns ja wie Hunde! beteuerte Sirdey. Man ist weniger als nichts. – Tun Sie dies ... Und jetzt machen Sie das! ... So heißt's immer und dabei hält er es nicht einmal der Mühe wert, einen anzusehen ... Vielleicht ist man dieser Rothaut nicht schön genug! ...

– Mit welchem Recht kommandiert er hier herum? fragte Dorick zähneknirschend. Wer hat ihn zum Gouverneur gewählt?

– Ich nicht, sprach Sirdey.

– Ich auch nicht, sagte Fred Moore.

– Auch ich nicht, ließ sich sein Bruder William hören.

– Weder ihr noch überhaupt jemand hat ihn gewählt! brach Dorick los. Dumm ist er nicht, der Kerl! ... Der hat nicht gewartet, bis man ihm die Würde angeboten hat ... Er hat sie sich einfach selbst genommen! ...

– Das ist ungesetzlich! protestierte Fred Moore in dozierendem Ton.

– Ungesetzlich? ... Darnach fragt er einen Pfifferling! entgegnete Dorick. Warum sollte er auch lange Umstände machen mit einer Herde von Schafen, die geduldig den Rücken hinhalten, daß man sie scheren möge! ... Hat er uns um Rat gefragt, wie er die Ländereien verteilt hat? Früher waren alle gleich begütert. Jetzt gibt es auf der Insel Arme und Reiche.

– Und wir sind die Armen, konstatierte Sirdey ganz schwermütig. Vor drei Tagen, fügte er entrüstet hinzu, hat er mir angekündet, daß ich von jetzt an für mein Tagewerk um zehn Cents weniger bekommen werde.

– Kurz und bündig? ... Ohne Gründe anzuführen?

– O ja. Er behauptet, daß ich nicht genug arbeite ... Ich mache immer noch so viel wie er, der von früh bis abends spazieren geht und die Hände müßig in die Taschen steckt ... Zehn Cents Abzug bei einem Taglohn von einem halben Dollar! ... Wenn er glaubt, mich zu den Hafenarbeiten pressen zu können, kann er lange warten! ...

– Dann gehst du einfach an Hunger elend zugrunde! erklärte ihm Dorick mit eisigem Ton.

– Teufel! ... fluchte Sirdey und ballte die Fäuste.

– Mit mir, sagte William Moore, ist er vor vier Tagen übers Kreuz gekommen. Der gnädige Herr fand, daß ich mit John Rame, seinem Vorratswächter nicht höflich genug gewesen sei. Es scheint, daß ich den Herrn gestört habe ... Wenn ihr ihn nur gesehen hättet! ... Ganz »Majestät«! ... Da muß man sein elendes Essen selbst zahlen und soll sich dafür noch zehnmal bedanken.

– Mich hat er letzte Woche hergenommen, fiel Fred Moore ein, unter dem Vorwand, ich hätte mich mit einem Kameraden geschlagen! ... Ja, hat man denn jetzt nicht einmal mehr das Recht, sich in aller Freundschaft zu prügeln? ... Er ist mich direkt angegangen ... und wie! ... Um ein Haar wäre ich dagelegen! ...

– Als ob wir seine Diener wären! schloß Sirdey.

– Nein, seine Sklaven!« murrte William Moore.

Dieses Thema behandelten sie an diesem Abend mindestens zum hundertsten Male. Es war fast ihr ausschließlicher täglicher Gesprächsstoff.

Als der Kaw-djer das Gebot der Arbeit erst verkündete, dann in Anwendung brachte, hatte er natürlich verschiedene persönliche Interessen verletzt; vor allem hatte diese Wendung der Dinge die Trägen sehr empört, welche lieber in süßem Nichtstun auf Kosten anderer gelebt haben würden. Das war für sie eine Quelle großer Erbitterung und des Hasses auf den Kaw-djer.

Um Dorick scharten sich alle Unzufriedenen. Aber vergeblich hatte er samt Gefolge versucht, die früheren Gewohnheiten wieder aufzunehmen. Die ehemaligen Opfer, welche sich stets so fügsam gezeigt hatten, waren zum Bewußtsein ihrer Rechte und Pflichten gekommen und die Gewißheit, im Bedarfsfalle einen Beschützer zu haben, hatte diesen Lämmern Krallen wachsen lassen. Nach mehreren mißglückten Einschüchterungsversuchen sahen sich die Freibeuter doch gezwungen, zur Arbeit ihre Zuflucht zu nehmen, um ihr Leben zu fristen.

Aber sie taten es zähneknirschend und ergingen sich in Verwünschungen, was sie erleichterte und gleichzeitig ihre wachsende Empörung nährte.

Bisher wurde alles mit Worten abgetan. Aber an diesem Abend nahm das Gespräch eine andere, ernstere Wendung. Die hundert Mal vorgebrachten Klagen sollten sich in Taten verwandeln, der lange verborgene, im Inneren kochende Zorn sollte zu gewichtigen Entschlüssen führen.

Dorick hatte seine Gefährten angehört, ohne sie zu unterbrechen. Diese hatten sich nach ihm umgewandt und blickten ihn an, als ob sie ihn als Zeugen anrufen und seinen Beifall hören wollten.

»Das alles sind eben – Worte; sagte er mit schneidender Stimme. Ihr seid Sklavenseelen und verdient nichts Besseres, als geknechtet zu werden. Wenn ihr das Herz auf dem rechten Fleck hättet, wäret ihr schon längst frei! Ihr seid tausend und ertragt geduldig die Tyrannei eines einzelnen.

– Was können wir denn tun? fragte Sirdey kläglich. Er ist der Stärkere.

– Unsinn! entgegnete Dorick. Seine Stärke ist nur die Schwäche der Feiglinge, die ihn umgeben.«

Fred Moore schüttelte zweifelnd den Kopf.

»Möglich, meinte er; das hindert aber nicht, daß er eine große Anzahl Anhänger hat, die fest zu ihm halten. Wir können doch nicht, wir vier allein ...

– Schwachkopf! ... erwiderte Dorick hart. Nicht dem Kaw-djer, dem Gouverneur hängen sie an. Wenn er nur von seinem Piedestal gerissen würde, würden sie ihn beschimpfen und verhöhnen. Wenn ich an seiner Stelle stünde, läge man mir zu Füßen wie jetzt ihm!

– Das will ich nicht bestreiten, sagte William Moore etwas schadenfroh. Der Haken besteht nur darin, daß eben er am Platze sitzt und nicht du!

– Auf deine Weisheit brauche ich nicht zu warten, um das zu wissen, sagte Dorick, ganz bleich vor Zorn. Das ist ja des Pudels Kern. Ich behaupte nochmals, der Haufen von Speichelleckern, die den Kaw-djer umschleichen, braucht uns nicht besorgt zu machen; die würden auch seinem Nachfolger auf den Fersen folgen. Der Gouverneur macht sie zu beachtenswerten Gegnern, der Gouverneur allein ist uns im Wege! ... Nun, also ... Schaffen wir ihn aus der Welt!« ...

Einen Augenblick lang herrschte Totenstille. Die drei Gefährten Doricks schauten sich furchtsam an.

»Ihn aus der Welt schaffen! ... sagte Sirdey endlich. Du treibst es zu weit! ... Bei der Arbeit darfst du auf meine Hilfe nicht rechnen!«

Lewis Dorick zuckte die Achseln.

»Dich wird man wohl noch entbehren können, das geht auch ohne dich! sagte er wegwerfend.

– Und ohne mich, fügte William Moore hinzu.

– Ich aber bin dabei, erklärte sein Bruder sehr energisch, welcher die Demütigung noch nicht vergessen hatte, die der Kaw-djer ihm einst zugefügt. Aber ... ich meine ... sehr bequem wird die Sache nicht sein!

– Im Gegenteil, es ist sehr leicht! sagte Dorick.

– Wie?

– O, das ist ganz einfach« ...

Sirdey unterbrach sie.

»Ta! Ta! Ta! ... Ihr geht aber ins Zeug! ... Ihr redet und redet! ... Was wollt ihr denn tun, wenn der Kaw-djer – aus der Welt geschafft ist, wie Dorick sagt?

– Was wir machen werden?

– Ja ... Ein Mensch weniger ist ein Mensch weniger und das ist alles. Und wieviele bleiben noch! Dorick hat leicht reden! Ich bin gar nicht so überzeugt, daß es dann alle mit uns halten werden!

– Sie werden zu uns halten! versicherte Dorick.

– Hm! machte der skeptische Sirdey. Alle bestimmt nicht!

– Warum nicht? ... Heute – hat man noch niemanden gewonnen; morgen – laufen alle nach! ... Übrigens, alle brauchen wir auch gar nicht! Es genügen einige, die Bewegung in die Masse bringen müssen. Der Rest folgt dann schon nach.

– Und diese einige?

– Hat man!

– Hm! konnte Sirdey sich nicht enthalten, zu brummen.

– Da sind einmal wir vier, nicht? sagte Dorick, den dieses Hin- und Herreden erhitzte.

– Das sind aber nur vier, bemerkte Sirdey sehr sanft.

– Und Kennedy? ... Kann man auf ihn zählen?

– Ja, versicherte Sirdey. Macht fünf!

– Und Jackson, zählte Dorick auf, und Smirnoff, Reede, Blumenfeldt, Loreley?

– Zehn.

– Es gibt noch andere; wir brauchen sie nur zusammenzuzählen.

– Ja, zählen wir nur! schlug Sirdey vor.

– Gut!« stimmte Dorick bei und zog aus der Tasche einen Bleistift und ein Notizbuch.

Alle vier lagerten sich auf die Erde und zählten nochmals die Kräfte zusammen, auf die sie rechnen zu können glaubten nach dem Verschwinden des einen Mannes, welcher alle – nach Dorick – die überall zerstreute Menge zu einer zu fürchtenden Gesamtheit machte. Jeder nannte Namen, die aber in das Notizheft nur nach reiflicher Überlegung und Besprechung eingetragen wurden.

Sie hatten einen erhöhten Punkt zu ihrer Lagerstelle gewählt, von dem aus sich ihren Augen ein herrlicher Rundblick bot. Der aus Westen kommende Fluß floß plätschernd zu ihren Füßen vorbei, beschrieb dann einen Bogen und verschwand in nordwestlicher Richtung, das heißt, fast parallel zu seinem früheren Lauf, Neudorf zu, wo er sich ins Meer ergoß. Am Knie des Flusses breitete sich Liberia aus und weiter hinaus zog sich die sumpfige Ebene hin, die die Stadt vom Ufer trennte.

Man schrieb den 24. Februar 1884. Mehr als achtzehn Monate waren verflossen, seit der Kaw-djer die Zügel der Regierung übernommen hatte. Das in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit Vollbrachte grenzte wirklich ans Wunderbare.

Neue Arbeiterkontingente hatten nach und nach die Leere ausgefüllt, die jene gelassen hatten, welche sich der Existenz auf der Insel Hoste nicht anpassen konnten; jetzt überstieg die Bevölkerungszahl längst den Tausender. Aber auch die Häuser, meist hölzerne Konstruktionen, hatten sich vervielfältigt und jedermann hatte schon sein eigenes Heim. Im Westen waren der Stadt durch den Fluß Grenzen gezogen, daher entwickelte sie sich in der entgegengesetzten Himmelsrichtung und im Süden mächtig weiter.

Es war eine richtige Stadt und längst kein gewöhnlicher Lagerplatz. Nichts war mehr zu vermissen, was zum Leben nützlich oder auch nur angenehm ist. Bäcker, Krämer und Fleischer waren da und sorgten für die elementaren Ansprüche der Bewohner. Von den in Umlauf gesetzten Produkten lieferte das Innere der Insel schon seinen Anteil, außerdem waren die Bedürfnisse der Erzeuger vollkommen gedeckt. Es war anzunehmen, daß die Insel im folgenden Jahre sich selbst genügen konnte, was Getreide-, Gemüse- und Fleischproduktion anbetraf, und so dämmerte langsam in der Ferne der Tag herauf, an dem man vom Import zum Export übergehen konnte.

Auch die Kinder trieben sich nicht mehr ziel- und tatenlos umher. Es war eine Schule eröffnet worden, über die Herr und Frau Rhodes abwechselnd die Aufsicht führten.

Nach fast einem Jahre der Abwesenheit war Harry Rhodes endlich im Laufe des Oktober zurückgekommen und brachte wieder einen beträchtlichen Vorrat von Waren aller Art mit. Gleich nach seiner Ankunft hatte er eine lange Unterredung mit dem Kaw-djer, dann widmete er sich seinen eigenen Angelegenheiten, aber ohne die geringste Erklärung über die ungewöhnlich lange Dauer und den Zweck seiner Abwesenheit fallen zu lassen.

Die Zeit, die Herr und Frau Rhodes für die Schule verwenden mußten, tat ihrem Bazar keinen Eintrag; denn Edward und Clary, von Tullia und Graziella tatkräftig unterstützt, standen diesem mit Lust und Eifer vor und das Geschäft hatte schöne Gewinste zu verzeichnen.

Ein Arzt, Dr. Samuel Arvidson, und ein Apotheker waren aus Valparaiso angekommen und hatten sich in Liberia niedergelassen; – ihr Beruf erschloß ihnen eine Goldquelle. Ein Kleider- und ein Schuhwarengeschäft hatten sich geöffnet und alles gedieh prächtig. Jene Emigranten, welche schon einmal versucht hatten, sich in ihrem Handwerk zu betätigen, wiederholten den Versuch und diesmal mit besserem Erfolg. In Liberia waren mehrere Unternehmer erstanden, welche eine große Anzahl Arbeiter beschäftigten: ein Maurermeister, ein Zimmermann, zwei Tischler, ein Drechsler, zwei Schlosser, deren einer sich durch besondere Geschicklichkeit auszeichnete und die Bezeichnung »Kunstschlosser« verdiente.

In der Nähe der Stadt, gegen Süden, nicht weit von dem Platze, wo jetzt Lewis Dorick und seine Begleiter lagerten, war ein Ziegelofen erstanden, der ausgezeichnete Ziegel lieferte. Im Osten, in dem die Landspitze bildenden Gebirge, hatte man Kalk- und Gipslager von großer Ausdehnung entdeckt und es hatte sich ein Unternehmungslustiger gefunden, welcher mit den einfachsten Mitteln Zement herstellen wollte, den die Hafenbauten in gewaltigen Mengen verschlangen.

Die breite Straße, die sich am Fuß der Hügelkette hinzog, war dieselbe, die das früher erwähnte Quartett der Unzufriedenen benützt hatte, ehe es auf dem steilen, schmalen Bergpfad die Höhe hinangestiegen war. Diese Straße, die allen Windungen des Flusses folgte, blieb ungefähr einen Kilometer weit sichtbar, dann verlor sie sich im Westen zwischen zwei Hügeln. Aber jedermann wußte, daß sie ins Innere der Insel geführt und daß ununterbrochen daran gearbeitet wurde. Vor zwei Monaten hatte man Rivières Haus erreicht, von wo aus sie weiter nach Norden lief, indem sie sich immer mehr verzweigte.

Eine andere, vollständig fertiggestellte Straße übersetzte den Fluß auf einer festen, steinernen Brücke und verband die Hauptstadt mit ihrem Vorort.

Der letztere hatte nur wenig Veränderungen erfahren, aber der mit der Küste im Zusammenhang stehende Damm machte große Fortschritte und schob sich immer weiter ins Meer vor. Schon schützte er die Bucht von Neudorf gegen die Ostwinde und langsam, aber stetig wurde sie zu einem großen, vollkommen ruhigen Hafen umgewandelt.

An diesem Tage hatte man mit den ersten Angriffsarbeiten für die Errichtung des künftigen Kais begonnen, an dem die ankommenden Schiffe später im tiefen Wasser anlegen konnten.

Sie hatten aber weder die Vollendung des Kais noch die Fertigstellung des Dammes abgewartet, um der Insel Hoste zu nahen und mit den Bewohnern Handel zu treiben. Im Vorjahre waren drei Fahrzeuge gekommen – ausschließlich auf Rechnung des Kaw-djer. Dieses Jahr hatten sich schon sieben gezeigt, wovon bloß zwei im Auftrage der Kolonieverwaltung erschienen waren; die Reise der fünf anderen war durch Privatgeschäfte und individuelle Unternehmungen bedingt.

Eben jetzt war ein großes Segelschiff vor Neudorf verankert, halb mit Brettern beladen, die aus der Säge Rivières stammten, während ein zweites Fahrzeug, das dieselbe Ladung gelöscht hatte, vor wenigen Stunden Anker gelichtet hatte und nun um die Ostspitze langsam verschwand.

Alles in dem Bilde, das sich vor Doricks und seiner Gefährten Blicken entrollte, sprach beredt von dem wachsenden Gedeihen und Fortschritt der Kolonie. Aber diese sprechenden Beweise wollten sie weder hören noch sehen. Sie waren übrigens an den täglichen Anblick gewöhnt und die Gewohnheit verringert manchmal die Wertschätzung. Langsam fortschreitende Veränderungen werden nicht leicht beobachtet und was sie jetzt sahen, hatten sie unter ihren Augen langsam entstehen sehen. Selbst wenn ihre Gedanken einen Sprung nach rückwärts getan hätten, bis zur Strandung des »Jonathan« – drei Jahre war es her – ist es fraglich, ob ihnen der Fortschritt bewußt geworden wäre. Es war zu bezweifeln. Sie waren an das »Jetzt« gewöhnt, und es erschien ihnen, als ob alles immer so gewesen sein müßte!

Jetzt beschäftigten sie jedenfalls ganz andere Gedanken. Langsam, prüfend zählten sie die Namen der Einwohner Liberias auf und stimmten über jeden einzelnen ab.

»Nun finde ich keinen mehr, sagte Sirdey. Wieviel haben wir im ganzen?

– Dorick überzählte rasch die in dem Buche notierten Namen.

– Einhundertundsiebzehn, sagte er.

– Was ist das! ... Auf tausend! ... bemerkte Sirdey.

– Nun, was denn? erwiderte Dorick ... Einhundertundsiebzehn ist eine ganz hübsche Zahl. Glaubt ihr denn, daß der Kaw-djer mehr für sich hat? Ich meine, erklärte Anhänger, Leute, die wissen, was sie tun und zu allem bereit sind. Die anderen sind Schafe und folgen dem nächsten Besten!«

Sirdey gab keine Antwort, schien aber nicht sehr überzeugt.

»Und jetzt haben wir nachgerade genug darüber verhandelt, erklärte Dorick heftig. Wir sind vier. Stimmen wir ab!

– Ich für meinen Teil, schrie Fred Moore und hob drohend seine mächtige Faust, erkläre, daß ich genug davon habe. Es komme, was da wolle! Ich stimme dafür, daß man handelt ... und möglichst rasch!

– Ich desgleichen, äußerte sich sein Bruder.

– Das macht drei Stimmen mit der meinigen ... und du, Sirdey?

– Ich werde tun wie die anderen, sagte Sirdey ohne alle Begeisterung, der ehemalige Koch. Aber« ...

Dorick schnitt ihm das Wort ab.

»Kein Aber wird geduldet; gestimmt ist gestimmt.

– Man muß sich aber doch – beharrte Sirdey, ohne sich einschüchtern zu lassen – über das Mittel zur Ausführung einigen. Den Kaw-djer aus der Welt schaffen – das ist leicht gesagt; aber das »Wie?« ist nicht so einfach.

– Ach, hätten wir doch Schußwaffen ... ein Gewehr ... einen Revolver ... eine kleine Pistole wenigstens ... rief Fred Moore aus.

– Das wäre ja sehr schön, aber wir haben nichts dergleichen, sagte Sirdey mit größtem Phlegma.

– Wie wäre es mit einem Messer? ... schlug William Moore vor.

– Das wäre das sicherste Mittel, dich sofort erwischen zu lassen, mein Alter! erwiderte Sirdey. Du weißt, der Kaw-djer hat seine Leibwache, wie ein König ... Und dann ist zu bedenken, daß er sich wehren wird, und daß er stark ist; – mit vieren nimmt er's leicht auf!

– Fred Moore runzelte die Stirne, biß die Zähne zusammen und fuchtelte wütend in der Luft herum. Sirdey hatte recht! Er kannte die Faust des Kaw-djer aus Erfahrung und wußte, daß sein mächtiger Körper dieser Athletenkraft nicht widerstehen konnte.

– Ich weiß euch einen besseren Vorschlag zu machen, sagte Dorick nach einer Pause des Schweigens, die nach Sirdeys Bemerkung eingetreten war.

– Seine Gefährten warfen ihm erwartungsvolle Blicke zu.

– Das Pulver! ...

– Das Pulver? ... wiederholten alle drei verständnislos. Und einer fragte:

– Was sollen wir damit tun?

– Wir fertigen eine Bombe! ... Ah, der Kaw-djer ist ja – wie man sagt – ein bekehrter Anarchist! Nun wohl, wir werden ihm mit der Waffe der Anarchisten entgegentreten!«

Doricks Zuhörer waren nicht sehr begeistert. Fred Moore knurrte:

»Wer soll sie denn anfertigen, diese Bombe? ... Ich tu's nicht!

– Ich, sagte Dorick. Wer weiß übrigens, ob wir sie brauchen werden. Ich habe eine Idee ... wenn sie sich ausführen ließe, fliegt der Kaw-djer nicht allein in die Luft. Hartlepool und die ganze Bande »im Dienst« werden ihm Gesellschaft leisten ... Das macht für uns immer eine hübsche Anzahl Feinde weniger am nächsten Morgen!«

Die drei Männer blickten jetzt ihren Kameraden mit unverhohlener Bewunderung an. Selbst Sirdey wurde mitgerissen.

»Ja, so ... murmelte er und schien allen Widerspruch vergessen zu haben. Aber plötzlich erinnerte er sich wieder:

– Sapristi! rief er, wir rechnen da mit Pulver, als ob wir es besäßen!

– Im Depot ist genug, sagte Dorick, wir brauchen es nur von dort zu holen.

– Du hast leicht reden, rief Sirdey wieder, welcher entschieden die Rolle der Opposition übernommen hatte. Als ob das so furchtbar einfach wäre! ... Wer soll denn dieses angenehme Geschäft auf sich nehmen?

– Ich nicht! sagte Dorick.

– Aha! machte Sirdey höhnisch.

– Ich kann's nicht tun, erklärte Dorick, denn ich bin nicht kräftig genug dazu; du kannst es auch nicht, weil du zu feige bist, und Fred und William Moore passen gleichfalls nicht; sie sind zu brutal und ungeschickt.

– Wer soll's denn tun?

– Kennedy!«

Niemand widersprach. Ja, Kennedy, der ehemalige Matrose, war geschickt, findig, leichtfüßig, war zu allen schlechten Streichen zu haben und wußte sich aus jeder Patsche zu ziehen; wenn einer die Aufgabe lösen konnte, so war er es. Die Wahl Doricks war gut.

Dieser unterbrach die stillen Reflexionen der anderen.

»Es ist spät geworden, sagte er; wenn es euch recht ist, so kommt morgen zur selben Stunde hierher. Dann wird auch Kennedy anwesend sein. Wir werden alles besprechen und uns über alles einigen.«

Als sie die ersten Häuser erreicht hatten, hielten sie es für ratsam, sich zu trennen, und am nächsten Abend beobachteten sie die gleiche Vorsicht, um sich bei dem Stelldichein einzufinden.

Jeder verließ die Stadt allein und erst als sie aus deren Gesichtskreis entschwunden waren, verringerte sich die Entfernung, die sie trennte.

Jetzt waren es fünf Männer, welche sich trafen; Kennedy, durch Lewis Dorick benachrichtigt, hatte sich dem Quartett zugesellt.

»Er steht auf unserer Seite,« sagte Dorick und klopfte dem Ex-Matrosen freundschaftlich auf die Schulter.

Man wechselte Händedrücke und ging dann ohne Zeitverlust auf den Kernpunkt der heutigen Besprechung über, indem man beriet, wie das am Vorabende gefaßte Projekt am besten auszuführen sei. Die Besprechung dauerte lange. Es war finstere Nacht, als die fünf Männer den Heimweg antraten. Sie hatten sich in allem geeinigt. Noch diese Nacht wollte man handeln ...

Obwohl vollständige Finsternis herrschte, teilten sie sich dennoch wie am vorhergehenden Tage. Sie ließen einen Zeitraum von einigen Minuten zwischen sich, verließen die Straße und gingen über die Felder, wobei sie die Häuser im Bogen umgingen. Dann hatten sie den Fluß erreicht und schlichen längs der Umzäumung Pattersons hin. Nichts regte sich. Ohne gesehen zu werden, erreichten sie das Regierungsgebäude, wo jetzt der Kaw-djer, Hartlepool und die Schiffsjungen schliefen. Im Schatten eines Hauses vereinten sie sich wieder, unsichtbar für alle anderen. Da blieben sie unbeweglich stehen und lauschten aufmerksam auf jedes leise Geräusch, während ihre Blicke die dunkle Nacht zu durchdringen suchten ...

Vor sich hatten sie die Türe des Gerichtssaales. Von den auf der entgegengesetzten Seite gelegenen Polizeiposten drang schwacher Lärm herüber. Dort wachten die Männer noch. Aber auf dieser Seite rührte sich nichts, die Straße war vollkommen ruhig und verlassen.

Warum hätte man auch den Gerichtssaal bewachen sollen? Er enthielt nichts als einen Tisch, einen schweren Stuhl und mehrere am Boden befestigte Bänke.

Als sie sich überzeugt hatten, daß sie ganz allein zur Stelle waren, verließen Dorick und Kennedy ihr Versteck und überschritten rasch den freien Raum vor ihnen. In einem Augenblick hatten sie die Türe des Gerichtssaales erreicht, die Kennedy erbrach, während Dorick über die Sicherheit wachte. Nun entfernten sich auch die Brüder Moore und Sirdey blieb allein zurück. Der eine ging nach rechts, der andere nach links, nach wenigen Schritten blieben sie stehen. Von ihrem neuen Standort aus konnte der eine die Hauptfassade und den Platz vor dem Regierungsgebäude übersehen, der andere die Südseite, die Mauer, die das Gefängnis umgab, und die Straße, die diese von den übrigen Häusern trennte. Kennedy war gut bewacht. Bei dem leisesten Zeichen von Gefahr würde er gewarnt werden und konnte entfliehen.

Aber es ereignete sich nichts Verdächtiges. Der frühere Matrose konnte ganz unbesorgt arbeiten. Und sie war nicht schwer, diese Arbeit, denn das Schloß an der Türe des Gerichtssaales war nicht sehr fest.

Jetzt schlich Kennedy hinein, während Dorick an der Türe Wache hielt.

Man konnte in dem Saal absolut nichts unterscheiden. Kennedy rieb ein Zündhölzchen und zündete damit eine Kerze an. Er wußte, wohin er seine Schritte zu lenken hatte, Dorick hatte ihm seine Lektion sorgfältig eingeprägt.

Von den drei Wänden, die das Gemach, in das er eindrang, begrenzten, trennte die rechts gelegene den Gerichtssaal vom Gefängnis; hinter der linken Mauer lagen die vom Kaw-djer benützten Räume und das Depot lag hinter der Wand, die ihm gegenüberlag.

Kennedy durchschritt den Saal in schiefer Richtung bis zur Ecke, die durch das Zusammentreffen dieser letzten Wand und derjenigen des Gefängnisses gebildet wurde. Das Gefängnis war jetzt leer, daher konnte ihn niemand hören. Hier blieb er stehen und beleuchtete die Stelle mit seiner Kerze, um zu sehen, was zu tun war.

Er lächelte befriedigt. Diese Wand zu durchbrechen war ein Kinderspiel. Das Haus war ja in den ersten Tagen fertiggestellt worden, die dem Staatsstreich des Kaw-djer gefolgt waren, zu einer Zeit, wo es sich darum gehandelt hatte, schnell fertig zu werden, daher bildete diese Zwischenwand kein ernst zu nehmendes Hindernis. Sie bestand aus vertikalen Bohlen, die an ihrem Ende im Fußboden und an der Decke festgemacht waren; die Zwischenräume waren mit einem Gemenge von Steinen und Mörtel von minderer Qualität ausgefüllt, dessen Festigkeit nicht sehr groß war. Das Messer Kennedys drang leicht in den Mörtel ein und die Steine waren bald aus ihren Löchern entfernt. Es konnte nur der Lärm, den sie beim Hinabfallen verursachen mußten, Grund zu Besorgnis geben. Deshalb löste sie Kennedy, sobald er sie gelockert hatte, sorgsam mit den Händen los und legte sie leise auf die Erde nieder.

In einer Stunde hatte er eine Öffnung geschaffen, die ihn der Höhe nach hätte durchlassen können, auch der Breite nach, wenn nicht ein Balken störend durchgegangen wäre, der entfernt werden mußte. Das war der schwerste Teil der Arbeit, die wieder eine volle Stunde in Anspruch nahm.

Von Zeit zu Zeit hielt Kennedy in seiner Beschäftigung inne und lauschte auf Zeichen von außen; alles blieb aber ruhig. Kein Warnungsruf der Wachen verkündete eine nahende Gefahr.

Als das Loch genügend groß war, stieg er in den anderen Raum hinüber; jetzt tauchten neue Schwierigkeiten auf! Sich zwischen all den Kisten und Säcken und Waren aller Arten, die das Depot anfüllten, geräuschlos zu bewegen, war keine leichte Sache. Da war die allergrößte Vorsicht geboten!

Wo hatte man die Pulverfässer versteckt? ... Er konnte sie nirgends entdecken ... Und doch mußten sie hier sein ...

Er suchte und suchte. Langsam, auch die leiseste Bewegung überwachend, schob er sich zwischen den Kisten hindurch; manchmal war er genötigt, eine von der Stelle zu rücken, um sich den Weg frei zu machen.

Fast zwei Stunden verstrichen auf diese Weise. Die Wartenden draußen konnten die Verzögerung sicher nicht begreifen und auch er verzweifelte schon am Erfolg. Er war jetzt fieberhaft erregt. Die Nacht mußte bald weichen und der Tag zu dämmern beginnen. Sollte er fort müssen und von einem Beginnen abstehen, das die erbrochene Türe und das Loch in der Wand verraten mußten? Denn diese Schäden konnten nicht ausgebessert werden.

Müde vom erfolglosen Suchen wollte er wirklich schon den Rückzug antreten, als er endlich den Gegenstand seiner Anstrengungen entdeckte. Vor seinen Blicken lagen die Pulverfässer, fünf an der Zahl, wohlgeordnet neben einer Türe, die ins Polizeizimmer führte. Kennedy hielt den Atem an und hörte die Männer, welche die Nachtwache hatten, sorglos miteinander sprechen. Jedes ihrer Worte konnte er verstehen. Mehr als je war jetzt die äußerste Vorsicht am Platze.

Kennedy hob eines der Fäßchen empor, setzte es aber sogleich wieder nieder; – es war viel zu schwer, als daß es ein einzelner Mann, ohne Lärm zu machen, den schwierigen Weg transportieren konnte, der eingeschlagen werden mußte. Er schlich wieder zwischen den Kisten hindurch bis zum Gerichtssaal, steckte den Kopf in das Loch der Wand und rief Dorick, dessen dunkle Silhouette sich in der weniger dunklen Nacht außerhalb des Saales abzeichnete. Dieser näherte sich auf den Ruf des Matrosen.

»Wie lang du brauchst! sagte er leise, als er sich zu der Öffnung beugte. Was ist dir denn geschehen?

– Nichts, antwortete Kennedy, ebenso vorsichtig; es ist eben nicht leicht, in diesem Fahrwasser zu schiffen!

– Hast du das Pulver?

– Nein; die Fässer sind zu schwer ... Es muß mir einer helfen ... Komm!«

Dorick ließ sich durch die Öffnung gleiten und durcheilte, von Kennedy geführt, das Depot. Die beiden Männer ergriffen eines der Fässer, hoben es über die verschiedenen Kisten hinweg und brachten es glücklich bis in den Gerichtssaal. Dorick kroch augenblicklich durch das Loch zurück.

»Wohin gehst du? fragte Kennedy mit unterdrückter Stimme.

– Ein zweites Faß holen, antwortete Dorick. Machen wir schnell, es wird gleich Tag werden.

– Noch ein Faß? fragte Kennedy erstaunt. Mit dem einen können wir ja ganz Liberia in die Luft sprengen!

– Einerlei; wir holen noch eines! bestimmte Dorick.

– Warum denn?

– Das ist meine Sache ... Wenn wir uns des Kaw-djer entledigt haben werden, wollen wir die Herren spielen ... Da kann uns das Pulver gute Dienste leisten!

– Wo willst du es einstweilen verbergen?

– Ich weiß ein gutes Versteck ... Kümmere dich nicht weiter darum.«

Kennedy gehorchte nur widerstrebend. Eine Viertelstunde später lag ein zweites Pulverfäßchen neben dem ersten.

Eines wurde schnell an die linke Wand gerückt, dann brachte Kennedy unten eine Öffnung an, aus der eine kleine Pulvermenge herauslief.

Inzwischen hatte Dorick aus seiner Tasche eine aus Baumwollfasern locker geflochtene Schnur herausgezogen. Diese Schnur war früher umsichtigerweise befeuchtet worden; jetzt legte er sie ins Pulver; dann schnitt er ein kleines Stückchen mit dem Messer ab und zündete es versuchsweise an. Das Feuer faßte an, glimmte rasch weiter und erlosch.

»Ausgezeichnet! erklärte Dorick; fünf Zentimeter brennen in der Minute ab. Folglich dauert die ganze Zündschnur zwanzig Minuten; das ist viel mehr, als wir brauchen!«

Er näherte sich dem Pulverfaß ...

Im selben Augenblicke ließ sich ein lautes Geräusch hören. Dorick blieb wie angewurzelt stehen und blickte Kennedy an; beide waren leichenblaß geworden ...

Aber ihr Schrecken war von kurzer Dauer. Dorick hatte sogleich seine gewohnte Kaltblütigkeit wiedergewonnen und begann zu lachen.

»Es ist nur der Regen,« sagte er, mit den Achseln zuckend.

Er eilte zur Türe und blickte hinaus. Ein heftiger Platzregen ging nieder und der Lärm, der sie erschreckt hatte, ging von den schweren Tropfen aus, die prasselnd auf das Dach aufschlugen. Eigentlich ein günstiger Zwischenfall! Der Regen mußte alle Spuren verwischen und nichts konnte sie verraten, falls sich zufällig der Verdacht auf ihre Personen lenken sollte. Anderseits wurde durch das Rauschen und Prasseln das Knistern der Zündschnur erstickt.

Aber es war jetzt keine Zeit mehr zu verlieren! Schon färbte ein leiser Lichtschimmer den Osten rosig. In wenigen Minuten war es Tag und Dorick kannte die Gewohnheiten des Kaw-djer zur Genüge, um zu wissen, daß er sehr bald sein Lager verlassen würde.

»Schnell!« sagte er.

Die Zündschnur wurde aufgerollt, das eine Ende in das Pulverfaß eingeführt, dann entzündete Dorick ein Schwefelholz und näherte es dem anderen Ende. Darauf verließen beide Männer schleunigst das Haus. Kennedy trug das zweite Pulverfaß, Dorick folgte, indem er die Türe des Gerichtssaales so gut als möglich hinter sich schloß.

Die Brüder Moore standen unbeweglich auf ihren Posten.

Dorick rief sie mit einem leisen Pfiff ab und beruhigte sie mit einer Handbewegung über den Erfolg ihres Anschlages.

Nun entfernten sich alle in größter Eile, während auf dem nun wieder menschenleeren Platze ein Gewitter unter heftigen Regengüssen niederging.


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