Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II. Die werdende Stadt

Sogleich ging der Kaw-djer an die Verteilung der Beschäftigungen. Alle angebotenen Kräfte wurden verwendet und es hatte sich die Mehrzahl der Kolonisten zur Arbeit gedrängt. Die Leute wurden abteilungsweise unter den Befehl von schnell ernannten Werkmeistern gestellt; die einen begannen den Bau einer Fahrstraße, die Liberia und Neudorf verbinden sollte, die anderen mußten die zerlegbaren Häuser versetzen, die bisher ganz regellos aufgerichtet worden waren; jetzt wurden sie planmäßig verteilt. Der Kaw-djer gab selbst die Bauordnung an. Einige wurden in parallelen Reihen, andere gegenüber der einstigen Behausung Doricks errichtet, welche sich ihrerseits an Stelle des ehemaligen »Regierungspalastes« Beauvals erhob.

Eine Schwierigkeit machte sich gleich bemerkbar. Man verfügte nicht über eine genügende Menge von Werkzeugen. Die Emigranten, welche aus dem einen oder anderen Grunde ihre Unternehmungen im Inneren der Insel im Stiche gelassen, hatten nicht daran gedacht, ihr Handwerkzeug mitzunehmen. Sie mußten es nun holen gehen, und so bestand die erste Arbeit dieser Kolonisten darin, sich die Mittel zur Arbeit zu verschaffen.

Sie mußten nochmals den Weg wandern, den sie im Winter unter so großen Schwierigkeiten zurückgelegt hatten, als sie nach Liberia flüchteten. Aber die Umstände hatten sich geändert; jetzt schien er ihnen so viel leichter. Der Frühling war auf den Winter gefolgt, es herrschte kein Mangel an Nahrungsmitteln, und die Gewißheit, nach ihrer Rückkehr ihr Leben verdienen zu können, erfüllte sie mit großer Freudigkeit. Nach zehn Tagen war auch der letzte schon zurückgekehrt.

Die mit den Wegbauten beschäftigten Arbeiter hatten schon sehr viel geleistet. Die Straße wuchs zusehends. Die Häuser standen in freundlichen harmonischen Gruppen da. Jedes war von einem großen, freien Raum umgeben, in dem später ein Garten angelegt werden sollte. Jedes Haus war von dem anderen durch eine breite Straße getrennt, das der Ansiedlung eher das Aussehen einer Stadt als eines provisorischen Lagers verlieh. Gleichzeitig schaffte man die Trümmer und den Schmutz beiseite, den die frühere Nachlässigkeit der Bewohner hatte anhäufen lassen.

Nachdem das einstige Haus Doricks zuerst in Angriff genommen worden war, ging es auch als erstes seiner Vollendung entgegen und war schon bald bewohnbar. Es war kein sehr zeitraubendes Geschäft gewesen, diesen leichten Bau niederzureißen und an einer anderen Stelle wieder aufzurichten, trotzdem er bedeutend vergrößert worden war. Ganz fertig war er noch nicht, aber seine Mauern standen schon, auch das Dach war aufgesetzt, desgleichen war man schon mit den inneren Teilwänden fertig. Um das Haus zu beziehen, brauchte die Fertigstellung der äußeren Stützmauern nicht abgewartet zu werden!

Am 7. November nahm der Kaw-djer davon Besitz. Die Einteilung war die denkbar einfachste. In der Mitte befand sich der zur Aufnahme sämtlicher Vorräte bestimmte Raum; um diesen Mittelraum lief eine Reihe miteinander verbundener Zimmer, die nach Norden, Osten und Westen gingen und auch von außen zu betreten waren. Das einzige Südzimmer hatte keinen Ausgang auf die Straße; man konnte nur durch die anderen Gemächer hineingelangen.

Inschriften, die in gemalten Lettern auf Holztafeln prangten, zeigten die Bestimmung der verschiedenen Räume an. Über dem Nord-, West- und Ostzimmer las man: »Verwaltung«, »Gericht«, »Polizei«. Das Südzimmer trug keine Aufschrift, aber es wurde gemunkelt, daß es zum künftigen Gefängnis bestimmt sei.

Man sieht, der Kaw-djer traute nicht mehr blindlings der guten Aufführung seiner Gefährten; um seiner Autorität den nötigen Rückhalt zu verleihen, suchte er sie durch folgende drei Stützen: Gerechtigkeit, Gewalt und Strafe, zu befestigen. Seine lange und unfruchtbare Empörung hatte nun zur Folge, daß er jetzt mit doppelter Strenge seinen Geboten Geltung verschaffte, ohne die die menschliche Unvollkommenheit seit Anbeginn der Zeiten jede Zivilisation und jeden Fortschritt unmöglich gemacht haben würde.

Aber diese Räume, die Inschriften, die deren Verwendung anzeigten, waren nur ein Skelett der Administration; zu den Ämtern brauchte man Beamte. Der Kaw-djer ernannte sie ohne Zögern. Hartlepool wurde an die Spitze der Polizei gestellt, zu der vierzig mit besonderer Umsicht gewählte verheiratete Männer zugezogen worden waren. Den Vorsitz bei Gericht behielt sich der Kaw-djer natürlich vor, aber die laufenden Geschäfte wurden Ferdinand Beauval übertragen. Diese letzte Wahl setzte viele in Staunen. Aber sie war nicht die erste dieser Art. Wenige Tage vorher hatte der Kaw-djer eine mindestens ebenso merkwürdige getroffen.

Das Auszahlen des Taglohnes und der Verkauf der Rationen bildeten jetzt eine ermüdende Arbeit. Der Austausch zwischen Arbeit und Lebensmitteln erforderte – trotzdem die Operation durch den Zwischenhändler »Geld« erleichtert wurde – eine genaue Verrechnung, die Verrechnung aber einen Verrechner. Zu diesem Amte hatte der Kaw-djer – John Rame ernannt, denselben, den ein zu fröhliches Leben um Gesundheit und Vermögen gebracht hatte. Welches Ziel hatte denn dieser arme Teufel ins Auge gefaßt, als er dem Unternehmen einer Kolonisation als Teilnehmer beitrat? Wahrscheinlich kannte er es selbst nicht und hatte sich nur von der Hoffnung leiten lassen, in irgendeinem fernen Wunderlande ein angenehmes Leben führen zu können. Die nüchterne Wirklichkeit hatte ihm die beiden Winter auf der Insel Hoste beschert, und es war fast ein Wunder zu nennen, daß seine geschwächte Natur sie überdauert hatte. Durch die Notwendigkeit gedrängt, hatte er, seitdem das neue Regime in Kraft bestand, vergeblich versucht, sich den Wegarbeitern zuzugesellen, welche die neue Straße bauten. Am Abend des ersten Tages war er so überanstrengt, gebrochen, todmüde, daß er auf diese Art Beschäftigung verzichten mußte. Seine weißen Hände hatte er an den Felsen ganz blutig gerissen. Überglücklich nahm er das Amt an, das ihm der Kaw-djer anbot und das seine unbedeutende Persönlichkeit ganz mit Beschlag belegte. Er blieb ganz unsichtbar, wurde eins mit seinen Ziffernkolonnen und verschwand in seinem Amte wie in einem Grab. Man sah und hörte nichts mehr von ihm.

Auch die schwächste Kraft in Diensten des Staates und zu dessen Nutzen heranziehen zu können, ist vielleicht eine der Haupteigenschaften eines Menschenbeherrschers. Er kann nicht alles selbst leisten, das ist ein Ding der Unmöglichkeit, er muß sich notwendigerweise mit Mitarbeitern umgeben, und in der klugen Wahl dieser Mitarbeiter zeigt sich mit Sicherheit das Genie des Oberhauptes.

So merkwürdig die Wahl des Kaw-djer auch scheinen mochte, unter den Personen, die ihm zur Verfügung standen, hätte er keine bessere treffen können. Er hatte nur eines ins Auge gefaßt: zum Besten der Allgemeinheit von jedem die besten Leistungen zu erlangen. Nun war Beauval, trotz seiner gänzlichen Unfähigkeit in anderer Richtung, ein tüchtiger Advokat. Darum war er, besser als jeder andere, geeignet, den Lauf der Gerechtigkeit zu überwachen; der Kaw-djer war ja immer da, um eventuelle phantastische Seitensprünge rechtzeitig einzustellen.

John Rame war wohl der am wenigsten taugende Mensch in der Kolonie. Es war zu wundern, daß es der Kaw-djer verstanden hatte, in diesem energie- und willenlosen Schwächling wenigstens eine gute Seite ausfindig zu machen. Während sich die Organisation des hostelischen Staates in dieser Weise langsam ausbildete, entwickelte der Kaw-djer eine bewunderungswürdige Tätigkeit.

Er hatte Neudorf endgültig verlassen. Seine Instrumente, Bücher, Medikamente waren alle in das »Regierungsgebäude« – mit diesem Namen bezeichnete man schon das ehemalige Haus Doricks – geschafft worden. Dort schlief er auch täglich einige Stunden. Die übrige Zeit war er überall gleichzeitig. Er eiferte die Arbeiter an, half die Schwierigkeiten, in dem Maße, wie sie sich einstellten, aus dem Wege räumen und hielt mit Ruhe und Festigkeit die gute Eintracht und Ordnung aufrecht. Niemand würde gewagt haben, in seiner Gegenwart einen Streit zu beginnen; er brauchte sich nur zu zeigen, so ging die Arbeit rascher vonstatten und die Muskeln lieferten ihr Maximum an Kraftleistung.

Von diesem armen Volke, das er einer besseren Zukunft zuzuführen unternommen hatte, ahnten selbstverständlich nur die allerwenigsten, welche Kämpfe sich vorher in seinem Inneren abgespielt hatten, und selbst wenn ihnen die Tatsache nicht unbekannt geblieben, waren sie viel zu wenig Seelenkenner und es gebrach ihnen an der nötigen idealen Auffassung, um nur im entferntesten vermuten zu können, welche Verheerungen in dieser Männerbrust der Konflikt von Abstraktionen hervorgerufen hatte, die so ganz verschieden von ihren eigenen materiellen Sorgen waren. Aber wenn sie ihren Gouverneur aufmerksam anblickten, so konnten sie erkennen, daß ein geheimer Kummer ihn bedrückte. Der Kaw-djer war nie ein Mann vieler Worte gewesen – jetzt schien er wie versteinert. Sein unbewegliches Gesicht lächelte niemals, seine Lippen öffneten sich nur, um das Notwendigste zu sprechen und dies in möglichster Kürze. Er flößte den Kolonisten Furcht ein, sowohl wegen seines finsteren Aussehens als seiner herkulischen Kraft halber; man fürchtete ihn und – bewunderte gleichzeitig seinen Geist und seine Willenskraft und man liebte ihn um der Güte willen, die sich unter der eisigen Außenseite verbarg, man verehrte ihn dankbar um der vielen Liebesdienste willen, die er ihnen erwiesen hatte und noch erweisen würde.

Die Vielseitigkeit der Beschäftigungen erschöpfte den Kaw-djer keineswegs; der Regent störte den Arzt nicht. Jeden Tag besuchte er seine Kranken und die beim letzten Aufstand Verwundeten. Er hatte übrigens täglich weniger zu tun. Unter der dreifachen Einwirkung der günstigeren Jahreszeit, der Arbeit und des Friedenszustandes besserten sich die Gesundheitsverhältnisse der Kolonie zusehends.

Unter allen Kranken und Verwundeten stand Halg seinem Herzen natürlich am nächsten. Er scheute kein Unwetter, keine Ermüdung, nach ihm zu sehen. Jeden Morgen und jeden Abend war er am Lager des jungen Indianers anzutreffen, das Graziella und deren Mutter nicht mehr verließen. Wie glücklich war er, als er eine fortschreitende Besserung konstatieren konnte. Bald hatte er die Sicherheit, daß die Lungenwunde zu vernarben begann. Am 15. November konnte Halg zum ersten Male das Lager verlassen, das ihn fast einen Monat lang gefesselt gehalten hatte.

An diesem Tage begab sich der Kaw-djer in das von der Familie Rhodes bewohnte Haus.

»Guten Morgen, Frau Rhodes! ... Guten Tag, Kinder! sagte er beim Eintritt.

– Guten Tag, Kaw-djer,« tönte es zurück.

In dieser herzlichen Atmosphäre vergaß er seine gewöhnliche Kälte und Starrheit; Edward und Clary schmiegten sich an ihn, er küßte das Mädchen väterlich auf die Stirne und streichelte die Wange des jungen Mannes.

»Endlich kommen Sie wieder einmal, Kaw-djer, sagte Frau Rhodes mit leisem Vorwurf; ich wußte gar nicht mehr, ob Sie noch unter den Lebenden weilen.

– Ich habe sehr viel zu tun gehabt, Frau Rhodes.

– Ich weiß es, Kaw-djer, ich weiß, sagte Frau Rhodes, ich freue mich jetzt um so mehr, Sie wieder zu sehen ... Hoffentlich bringen Sie mir Nachricht von meinem Manne.

– Ihr Mann ist verreist, Frau Rhodes. Mehr weiß auch ich nicht.

– Vielen Dank für die Auskunft! ... Aber wann wird er zurückkommen?

– Nicht so bald, Frau Rhodes. Ihr Witwentum wird nicht so schnell beendigt sein.«

Frau Rhodes seufzte traurig.

– Sie müssen deshalb nicht traurig sein, Frau Rhodes, tröstete der Kaw-djer. – Mit ein wenig Geduld wird alles wieder gut! ... Übrigens habe ich eine Beschäftigung für Sie bereit, das heißt, eine Ablenkung. Sie müssen die Wohnung wechseln, Frau Rhodes.

– Wohnung wechseln?

– Ja! ... Sie werden sich in Liberia niederlassen.

– In Liberia ... Lieber Himmel, was soll ich denn dort?

– Handel treiben, Frau Rhodes. Sie werden den bestgehendsten Verkaufsladen in Liberia besitzen, erstens – ein untrüglicher Beweis – weil kein zweiter existiert; zweitens, weil – wie ich sehr hoffe – Sie gute Geschäfte machen werden.

– Verkaufsladen? ... Geschäfte machen? ... fragte Frau Rhodes immer mehr erstaunt; womit denn, Kaw-djer?

– Mit den Waren Harry Rhodes'! Sie haben doch gewiß nicht vergessen, daß Sie einen prächtigen Warenvorrat besitzen? Jetzt ist der Moment gekommen, ihn zu verwerten.

– Wie! ... sagte Frau Rhodes zögernd. Sie wollen, daß ich ... ganz allein ... ohne meinem Manne ...

– Ihre Kinder werden Sie schon unterstützen, unterbrach sie der Kaw-djer, sie stehen in einem Alter, wo sie arbeiten können, und jetzt arbeitet alles in der Kolonie. Ich will keine Müßiggänger auf der Insel Hoste.«

Die Stimme des Kaw-djer hatte einen ernsteren Klang angenommen. Neben dem ratenden Freunde tauchte der befehlende Machthaber auf.

»Tullia Ceroni und ihre Tochter, fuhr er fort, werden Ihnen auch an die Hand gehen, sobald Halg wieder ganz gesund ist ... Sie haben kein Recht mehr, all diese nützlichen Gegenstände länger vorzuenthalten, die zum Besten der Kolonie Verwendung finden können.

– Aber in diesen Waren steckt unser ganzes Vermögen, bemerkte Frau Rhodes, welche sehr bewegt schien. Was wird mein Mann dazu sagen, wenn ich auf diesem so schwankenden Boden all unser Hab und Gut aufs Spiel setze, in einem Lande, wo es mit der Sicherheit ...

– Sehr gut bestellt ist, fiel der Kaw-djer ein. Sie dürfen mir glauben, Frau Rhodes: es gibt kein Land, wo für die Sicherheit besser gesorgt ist, mein Wort darauf.

– Nun wohl, sagen Sie mir, was ich mit den Waren anfangen soll, fragte Frau Rhodes.

– Sie werden dieselben verkaufen.

– Wem?

– Den Käufern natürlich.

– Gibt es denn Käufer auf der Insel, und sind dieselben mit Geld versehen?

– Zweifeln Sie daran? Sie wissen ja, daß jedermann bei der Abreise Geld besitzen mußte. Und jetzt verdient man auch Geld.

– Wie, man verdient? ... Hier auf der Insel Hoste?

– Gewiß. Wenn man für die Kolonie arbeitet, welche die Leute anstellt und auch bezahlt.

– So ist die Kolonie auch im Besitze von Geld? ... Das ist mir neu ... Das wußte ich nicht!

– Die Kolonie besitzt nichts, aber sie verschafft sich Geld durch den Verkauf der Lebensmittel, die sie in Verwahrung hält. Das müssen Sie ja wissen, nachdem Sie Ihre Nahrung auch kaufen müssen!

– Sie haben Recht, sagte Frau Rhodes. Aber dabei handelt es sich doch nur um einen Tausch, wenn die Kolonisten das Geld, das sie durch ihre tägliche Arbeit verdienen, wieder auf ihre Ernährung verwenden müssen. Ich sehe nicht gut ein, wie sie dann neue Waren kaufen können.

– Machen Sie sich deshalb keine Sorgen, Frau Rhodes. Ich habe die Preise bestimmt und es so eingerichtet, daß die Kolonisten kleine Ersparnisse machen können.

– Und wer begleicht diese Differenz?

– Ich, Frau Rhodes.

– Sind Sie so reich, Kaw-djer?

– Es scheint so.«

Frau Rhodes betrachtete den Sprecher ganz verblüfft. Dieser schien es aber nicht zu bemerken.

»Ich erachte es als eine Sache von größter Wichtigkeit, sagte er ernst, daß Ihr Verkaufsladen in kürzester Zeit eröffnet werde.

– Wenn Sie meinen, Kaw-djer ...« Frau Rhodes sagte es ohne alle Begeisterung.

Fünf Tage später war der Wunsch des Kaw-djer verwirklicht.

Als am 20. November Karroly mit der Wel-kiej ankam, war der Bazar »Rhodes« schon in vollem Betrieb.

Karroly war allein zurückgekommen und Harry Rhodes war in Punta-Arenas geblieben; etwas anderes wußte er auf die angstvollen Fragen der Frau Rhodes nicht zu erwidern, welche auch den Kaw-djer vergebens um Erklärungen bat. Dieser beruhigte sie nur und gab ihr die Versicherung, daß sie keinen Grund zur Besorgnis habe, aber sich mit Geduld bewaffnen müsse, da Harry Rhodes Abwesenheit noch einige Zeit in Anspruch nehmen werde.

Karroly war ganz begeistert von dem veränderten Aussehen der Kolonie. Was war alles seit einem Monat geschehen! Liberia war nicht wieder zu erkennen! Nur sehr wenige Häuser waren auf ihrem alten Platz stehen geblieben. Die Mehrzahl war jetzt um das Regierungsgebäude – wie alle es bezeichneten – gruppiert. Die vierzig zunächstgelegenen beherbergten die vierzig verheirateten Männer und deren Familien, welche die Polizei der Insel ausmachten und mit Gewehren versehen waren. Die acht noch vorhandenen Gewehre wurden in einem zwischen der Wohnung des Kaw-djer und Hartlepools gelegenem Raume niedergelegt und Tag und Nacht bewacht; die Pulvervorräte waren in dem die Mitte des Regierungsgebäudes befindlichen Depot aufbewahrt, das keinen Ausgang auf den Platz aufwies.

Unweit davon stand der Bazar »Rhodes«, dieser gab Karroly Anlaß zu größtem Staunen. Keines der Geschäfte in Punta-Arenas – das war die einzige Stadt, die er kannte – übertraf ihn in seinen Augen an Prächtigkeit. – Im Osten und Westen schritt die Arbeit munter vorwärts. Dort, wo die letzten Häuser erstehen sollten, applanierte man den Boden, und überall, wohin der Blick reichte, war man tätig. Auch andere Häuser, teils aus Holz, teils aus Stein, wuchsen aus dem Boden.

Zwischen den nach einem bestimmten Plan, der keiner individuellen Phantasie Spielraum ließ, errichteten Häusern kreuzten sich gerade verlaufende Straßen in rechten Winkeln; sie waren so breit angelegt, daß sich vier Wagen bequem begegnen konnten. Zwar waren sie noch ziemlich uneben und weich, aber durch die häufige Benützung härtete sich der Boden von Tag zu Tag.

Die Straße, die Liberia mit Neudorf verbinden sollte, war schon über das Sumpfland geführt und hatte das Flußufer erreicht, an welchem mächtige Steinhaufen lagen, denn es sollte statt des leichten Holzsteges eine dauerhafte steinerne Brücke geschaffen werden.

Neudorf war jetzt fast ganz verlassen. Außer vier Matrosen des »Jonathan« und drei anderen Kolonisten, welche sich auf den Fischfang verlegt hatten, waren alle ehemaligen Bewohner nach Liberia gezogen, wo sie ihre Beschäftigungen erwarteten. Neudorf wurde somit ein ausschließlicher Fischerhafen, die Boote fuhren jeden Morgen hinaus ins Meer, um spät abends mit Fischen beladen heimzukehren, die leicht Abnehmer fanden.

Aber trotzdem die Einwohnerzahl Neudorfs sich bedeutend verringert hatte, wurde keines seiner Häuser abgebrochen. Der Kaw-djer wollte es nicht. So stand auch noch Karrolys Behausung und groß war die Freude des Indianers, Halg fast geheilt darin anzutreffen.

Einen schweren Kummer bildete für ihn die Abwesenheit des Kaw-djer, dessen neuer Wirkungskreis die langjährigen Hausgenossen auf immer trennte. Es war vorbei, das gemeinsame Leben so vieler Jahre! ... Wie verändert er war! ... Als er den treuen Indianer fortschickte, hatte kaum ein Lächeln seine Züge erhellt, kaum hatte er für wenige Minuten seine fieberhafte Tätigkeit unterbrochen.

An diesem Tage – wie an allen anderen – nachdem der Kaw-djer die Morgenstunden dazu verwendet hatte, die laufenden Geschäfte zu erledigen, untersuchte er die Lage der Kolonie in bezug auf den finanziellen Standpunkt sowohl als mit Rücksicht auf die noch zur Verfügung stehenden Lebensmittel, dann ging er zu der neuen Straße.

Er kam gerade zur Ruhepause. Spitzhacken und Spaten ruhten, die meisten der Wegarbeiter lagen auf der Erde und schlummerten ein wenig; andere kauten langsam an ihrer Ration und wechselten wenige nichtssagende Worte. Als der Kaw-djer vorbeikam, richteten sich die Leute aus ihrer bequemen Lage auf, die Gespräche verstummten und alle lüfteten ihre Mützen, indem sie diese Bewegung mit freundlichem Gruß begleiteten.

»Guten Tag, Gouverneur,« sagte einer nach dem anderen dieser rauhen Männer.

Ohne sich aufzuhalten, grüßte der Kaw-djer mit der Hand.

Schon hatte er die Hälfte des Weges zurückgelegt, als er unweit des Flusses eine Menschengruppe bemerkte, vielleicht hundert Personen, darunter einige Frauen. Er beschleunigte den Schritt und war mehr als erstaunt, als plötzlich die Klänge einer Geige an sein Ohr trafen.

Eine Geige? ... Es war das erste Mal, daß seit dem Tode Fritz Groß' Geigenklänge über die Insel Hoste zogen!

Er schloß sich den Leuten an, deren Reihen sich vor ihm sogleich öffneten. In der Mitte standen zwei Kinder. Einer der beiden spielte, ziemlich linkisch übrigens. Während dieser Zeit stellte der andere aus Weidenruten geflochtene Körbe auf den Boden nieder, die mit Feldblumensträußen gefüllt waren: Kreuzwurz, Heidekraut und Stechpalmenzweige waren darin zu sehen.

Dick und Sand! ... Der Kaw-djer hatte sie ganz vergessen in dieser Umwandlung, die mit seinem Leben vorgefallen war. Warum hätte er sich mit den beiden auch mehr beschäftigen sollen als mit den anderen Kindern der Kolonie? Sie hatten ja auch ihre Familie – in der Person des braven Hartlepool. Aber der kleine Sand hatte seine Zeit nicht verloren! Erst drei Monate waren verflossen, seit er die Geige des verstorbenen Fritz Groß geerbt hatte und er mußte staunenswerte musikalische Anlagen haben, um ohne Lehrer, ohne Ratschläge in so kurzer Zeit solche Fortschritte gemacht zu haben. Natürlich war er noch kein Virtuose, auch war keine Veranlassung vorhanden, zur Annahme, daß er jemals sich dazu ausbilden werde, die Anfangsgründe der Technik mußten ihm immer fehlen – aber er spielte mit großer Sicherheit und fand – ohne daß er darnach zu suchen schien – einfache und doch sinnreiche und reizende Melodien, die er durch Modulationen von unglaublicher Kühnheit aneinanderreihte.

Die Geige verstummte und Dick, welcher seine Körbchen aufgestellt hatte, nahm das Wort:

»Ehrenwerte Hostelianer! – begann er mit komischer Emphase, indem er seine zarte Gestalt hoch aufrichtete. Mein Gefährte, welcher mit der Leitung der künstlerischen und musikalischen Seite unseres gemeinsamen Unternehmens, der Firma »Dick und Komp.« betraut ist, der berühmte Maestro Sand, Kammervirtuose Seiner Majestät des Königs von Kap Hoorn und anderer Orte, legt den hohen Herrschaften seinen besten Dank zu Füßen für die ehrende Aufmerksamkeit, die man ihm hat zuteil werden lassen« ...

Dick seufzte nach dieser Anstrengung tief, schöpfte neu Atem und fuhr mit frischem Eifer fort:

»Das Konzert, ehrenwerte Hostelianer, ist für jedermann gratis; nicht so verhält es sich mit unseren anderen Waren, welche, wie ich zu behaupten wage, womöglich noch wunderbarer und vor allem dauerhafter sind. Die Firma »Dick und Komp.« bringt heute Blumensträuße und Körbe zum Verkauf. Die letzteren sind von größtem Nutzen, wenn man auf den Markt einkaufen geht – bis es auf der Insel Hoste einen Markt geben wird! Ein Strauß kostet einen Cent Ungefähr fünf Heller. ... Ein Korb – einen Cent ... Kauft! Ehrenwerte Hostelianer! Bitte, laßt das Geld springen!« ...

Mit diesen Worten ging Dick im Kreise herum und bot seine Waren an, während die Geige, um den Enthusiasmus und die Kauflust zu erregen, wieder ihre schönsten Weisen begann.

Die Zuschauer lachten und aus ihren Bemerkungen schloß der Kaw-djer, daß sie nicht zum ersten Mal einer Szene dieser Art beiwohnten. Wahrscheinlich hatten es sich Dick und Sand zur Gewohnheit gemacht, die Arbeitsplätze zur Zeit der Ruhepause aufzusuchen und dort ihre eigenartigen Handelsgeschäfte abzuschließen. Er wunderte sich nur, sie noch niemals gesehen zu haben.

Währenddessen hatte Dick im Handumdrehen für seine Blumen und Körbe Käufer gefunden.

»Es bleibt nur ein einziger Korb übrig, meine Damen und Herren, verkündete er; der schönste von allen! Zwei Cents, meine Herrschaften, für den schönsten und letzten Korb!«

Eine Hausfrau gab ihm die verlangten zwei Cents.

»Vielen Dank, meine Herren und Damen! Acht Cents! ... Ein Vermögen! ...« schrie Dick und verfiel in einen Tanzschritt.

Aber der Tanz fand ein ebenso rasches als unerwartetes Ende. Der Kaw-djer hatte den tanzenden Dick beim Ohr erwischt.

»Was soll denn das heißen?« fragte er strenge.

Durch einen verstohlenen Blick suchte sich der Knabe über die wahre Gesinnung des Kaw-djer klar zu werden; die Prüfung schien ihn zu befriedigen, denn er antwortete sehr würdevoll mit größtem Ernste:

»Wir arbeiten, Gouverneur!

– So, das nennst du arbeiten?« rief der Kaw-djer, indem er seinen Gefangenen freiließ.

Dieser drehte sich ganz herum und sah dem Kaw-djer fest in die Augen:

»Wir haben uns etabliert, sagte er mit unglaublichem Aplomb und warf sich in die Brust; Sand spielt die Geige und ich bin Blumenhändler und Korbflechter ... Manchesmal tun wir Botengänge ... oder verkaufen Muscheln ... Ich kann auch tanzen ... und weiß einige Kunststücke ... Das ist ja auch ein Beruf, Gouverneur.«

Ob er wollte oder nicht, der Kaw-djer mußte lachen.

»So, sagte er, aber wozu braucht ihr denn Geld?

– Das bekommt Ihr Schatzmeister, Herr John Rame, Gouverneur!

– Was? ... rief der Kaw-djer, John Rame nimmt euch euer Geld ab?

– Er nimmt es uns nicht, Gouverneur, erwiderte Dick, aber wir müssen es ihm geben, sonst haben wir nichts zu essen.«

Der Kaw-djer war einen Augenblick sprachlos, dann wiederholte er:

»Nichts zu essen ... Ihr bezahlt eure Nahrung? ... Ja, wohnt Ihr denn nicht mehr bei Hartlepool?

– Ja, Gouverneur, aber das ändert nichts an der Sache!«

Dick blies seine Wangen auf, dann ahmte er den Kaw-djer selbst nach mit einer Treue, daß man hätte irregeführt werden können:

»Die Arbeit ist ein Gebot!« Er brachte die wenigen Worte mit unbezahlbarem Ausdruck vor.

Sollte der Kaw-djer lachen oder sich ärgern? ... Er entschied sich fürs Lachen. Es blieb ihm schlechterdings kein anderer Ausweg, denn es lag Dick ferne, Spott treiben zu wollen. Warum sollte er diese Kinder tadeln, die darauf bedacht waren, sich »durchzubringen«, während so viele Erwachsene diese Sorge gerne anderen überlassen hätten.

Er fragte:

»Bringt euch denn die »Arbeit« genug für euren Lebensunterhalt ein?

– Natürlich, erklärte Dick mit wichtiger Miene. Wir verdienen zwölf, manchmal sogar fünfzehn Cents täglich, Gouverneur! – Damit kann ein Mann schon sein Auskommen finden!«

Ein Mann! ... Die Umstehenden brachen in lautes Lachen aus. Dick sah beleidigt auf die Lacher.

»Was gibt es denn da zu lachen? ... Dummköpfe!« murmelte er zwischen den Zähnen und sah sehr geärgert aus.

Der Kaw-djer brachte wieder die Rede auf seine Arbeitsleistung:

»Fünfzehn Cents ist in der Tat eine ganz hübsche Summe, sagte er anerkennend; ihr würdet aber mehr verdienen, wenn ihr den Maurern oder den Wegarbeitern helfen würdet.

– Das ist unmöglich, Gouverneur, sagte Dick lebhaft.

– Warum unmöglich? fragte der Kaw-djer.

– Sand ist zu klein; er ist auch nicht kräftig genug, erklärte Dick, dessen Stimme zärtliche Sorge verriet, wobei es aber wie ein Schatten von Verachtung durchklang.

– Nun, und du?

– O ... ich!«

Den Ausdruck mußte man gehört haben! Er, er war stark genug, selbstverständlich. Daran zweifeln, hieße ihn beleidigen.

»Nun? ...

– Ich weiß nicht recht ... stammelte Dick ganz traumverloren. Es sagt mir nicht zu« ...

Dann brach es von seinen Lippen:

»Ich, Gouverneur, ich liebe die Ungebundenheit zu sehr!« ...

Der Kaw-djer betrachtete mit Interesse diesen kleinen Mann, der barhaupt, mit vom Winde zerzausten Haaren vor ihm stand, aufrecht, ohne die glänzenden Augen zu Boden zu schlagen. Er erkannte sich in dieser groß angelegten, aber überschwenglichen Kindesseele wieder. Auch er hatte über alles die Freiheit geliebt, auch er hatte ungeduldig jede Einschränkung abzuschütteln versucht und der Zwang war ihm schließlich so hassenswert geworden, daß er seinen Haß auf die ganze Menschheit übertragen hatte. Die Erfahrung hatte ihn über seinen Irrtum belehrt, indem sie ihm den Beweis lieferte, daß die Menschen durchaus nicht von einem unstillbaren Durste nach Freiheit erfüllt sind, wie er geglaubt hatte, daß sie im Gegenteil ein Joch, das sie erst zum Bewußtsein des rechten Lebens bringt, lieben, und daß es für große wie für kleine Kinder oft gut ist, wenn ein höherer Wille sie beeinflußt.

Er erwiderte:

»Die Freiheit muß man sich erst erobern, mein Kind, indem man sich den anderen und sich selbst nützlich zu machen sucht, und um dies durchführen zu können, muß man mit dem Gehorchen anfangen. Ihr werdet jetzt in meinem Auftrage zu Hartlepool gehen und ihm sagen: ich wünsche, daß er euch nach eueren Kräften und Fähigkeiten eine Beschäftigung zuweist. Ich werde übrigens Sorge tragen, daß Sand seine musikalischen Studien weiter betreiben kann. Geht, Kinder!«

Dieser Vorfall lenkte die Gedanken des Kaw-djer auf ein Gebiet, das sehr zu beachten war. In der Kolonie wimmelte es von Kindern. Unbeschäftigt, der Aufsicht ihrer Eltern entzogen, lungerten sie von früh bis abends überall herum. Um ein Volk zu bilden, zu gründen, mußte man schon jetzt für künftige Generationen vorarbeiten, die das Erbe der jetzt Lebenden antreten würden. Die Notwendigkeit der Errichtung einer Schule wurde ihm klar und sie mußte bald geschaffen werden.

Aber wer kann alles gleichzeitig vollbringen! So wichtig die Lösung dieser Frage war, er mußte sie bis zu seiner Rückkehr von einer Wanderung, die er durch das Innere der Insel zu unternehmen gedachte, aufschieben. Seitdem er die Lasten seines Amtes auf sich genommen hatte, war diese Inspektionsreise von ihm ins Auge gefaßt worden, aber wichtigere Geschäfte hatten den Tag der Ausführung des Projektes immer wieder hinausgeschoben. Jetzt konnte er sich für einige Zeit entfernen, ohne sich einer Unvorsichtigkeit schuldig zu machen. Die Maschine hatte den nötigen Impuls bekommen und konnte schon einige Zeit allein in Gang bleiben.

Zwei Tage nach Karrolys Rückkehr wollte er endlich fortgehen, als ein Zwischenfall ihn wieder zum Bleiben nötigte. Eines Morgens drang ein heftiger Wortwechsel an sein Ohr. Er eilte nach der Richtung der streitenden Stimmen; da erblickte er ungefähr hundert Frauen, welche vor einer aus starken Bohlen errichteten Barriere, die den Weg versperrte, laut zankten. Der Kaw-djer konnte nicht gleich verstehen, worum es sich handelte. Diese Barriere grenzte die Behausung Pattersons ab, aber es schien ihm, als wäre sie weiter vorgeschoben worden, seitdem er sie zum letzten Mal gesehen.

Er wurde bald von allem in Kenntnis gesetzt. Patterson, welcher sich seit dem Frühling mit Gemüsekulturen beschäftigte, hatte sein Mühen mit Erfolg belohnt gesehen. Der unermüdliche Arbeiter hatte eine reiche Ernte erzielt und seit dem Sturze Beauvals bezogen die Bewohner von Liberia bei ihm ihren Bedarf an frischen Gemüsen.

Er dankte seinen Erfolg größtenteils dem günstigen Platz, den er ausgewählt hatte. Sein Haus lag am Ufer des Flusses; Wasser und Feuchtigkeit gab es da im Überfluß. Und diese bevorzugte Lage war Ursache der gegenwärtigen Aufregung.

Die Kulturen Pattersons, die sich in einer Länge von zwei- bis dreihundert Metern erstreckten, breiteten sich über die einzige Stelle aus, wo der Fluß in der nächsten Nähe Liberias zugänglich war. Stromabwärts zog sich längs des rechten Ufers ein Sumpf hin, welcher nicht passierbar war und den Zugang zum Flusse untersagte bis hinauf zur Brücke, die fünfzehnhundert Meter davon entfernt im Westen lag. Stromaufwärts stieg das Ufer steil und hoch aus dem reißenden Flusse auf.

Die Hausfrauen von Liberia mußten daher immer durch Pattersons Garten gehen, um zum Flusse zu gelangen, wo sie das für ihren Bedarf nötige Wasser holten. Deshalb hatte der Eigentümer des Gartens bis jetzt in der Umzäunung, die seinen Besitz umgrenzte, einen Durchgang gelassen. Aber schließlich hatte er überlegt, daß diese ununterbrochene Benützung seines Eigentums seinen Rechten zuwiderlief und ihm vielfachen Schaden verursachte. Während der letzten Nacht hatte er daher mit Hilfe Longs den Eingang fest verrammelt und das war der Grund zur Enttäuschung und dem Zorn der Hausfrauen, welche am frühen Morgen Wasser holen wollten.

Als der Kaw-djer erschien, beruhigten sich die Gemüter und der Fall wurde ihm vorgelegt. Er hörte erst alle Gründe für und wider geduldig an, dann sprach er das Urteil. Zur allgemeinen Überraschung fiel es zugunsten Pattersons aus.

Der Kaw-djer bestimmte nämlich, daß die Schranken augenblicklich fallen und ein Weg von zwanzig Meter Breite für den allgemeinen Verkehr freigelassen werden müßte; aber er erkannte auch die Rechte Pattersons an und erklärte, daß dieser für jenen Teil seines Gartens, den er im Interesse der Allgemeinheit abtrat, schadlos gehalten werden müsse.

Die Höhe der Entschädigungssumme sollte in aller Form bestimmt werden. Es gab ja Richter auf der Insel Hoste. Patterson sollte sich an diese wenden.

Die Angelegenheit wurde noch am selben Tage verhandelt; es war das erste Rechtsverfahren, das Beauval leitete. Nach längerer Debatte verurteilte er den hostelischen Staat zu einer Entschädigungssumme in der Höhe von fünfzig Dollars. Diese Summe wurde dem Irländer sofort eingehändigt, welcher seine lebhafte Befriedigung nicht zu verbergen suchte.

Der Vorfall wurde verschieden beurteilt; im allgemeinen war man zufrieden mit der Lösung der Streitfrage. Man hatte das Gefühl, als ob von nun an niemand mehr übervorteilt oder seines Eigentumes beraubt werden könne, und das allgemeine Vertrauen wuchs. Das hatte der Kaw-djer gewollt.

Nun konnte er endlich seine längst geplante Reise antreten. Drei Wochen lang durchstreifte er die Insel nach allen Richtungen hin bis zu ihren nordwestlichen Ausläufern, bis zu ihren östlichsten Halbinseln Dumas und Pasteur. Er besuchte der Reihe nach, ohne eine zu umgehen, alle Niederlassungen, sowohl die im Laufe des letzten Winters freiwillig verlassenen als diejenigen, deren Besitzer bei Ausbruch der Meuterei von der Bande der Plünderer vertrieben worden waren.

Diese Untersuchung hatte das Schlußergebnis zur Folge, daß einhunderteinundsechzig Kolonisten, welche zweiundvierzig Familien bildeten, noch im Inneren der Insel lebten. Diese zweiundvierzig Familien hatten alle ihre Unternehmungen mit Erfolg gekrönt gesehen, allerdings in verschiedenem Grade. Die einen mußten froh sein, wenn sie sich das tägliche Brot erarbeiteten, während andere, welche über mehr kräftige Männerarme verfügten, ihre Felder hatten bedeutend vergrößern können.

Die Niederlassungen der achtundzwanzig Familien, die aus hundertundsiebzehn Kolonisten bestanden, welche zur Zeit der Unruhen zur Flucht gezwungen worden waren, waren jetzt in einer sehr traurigen Verfassung, mußten aber vor diesem Zeitpunkt zu den schönsten Hoffnungen berechtigt haben.

Einhundertsiebenundneunzig Versuche der Kultivierung des Landes waren ganz gescheitert. Etwa vierzig dieser vom Unglück verfolgten Unternehmer waren gestorben und die übrigen hatten, einer nach dem anderen, während des Winters an der Küste Zuflucht gesucht.

An Berichten über alle Geschehnisse fehlte es dem Kaw-djer nicht; die Kolonisten setzten großen Eifer daran, ihn von allem Vorgefallenen in Kenntnis zu setzen. Allgemein war der Enthusiasmus, als sie von der neuen Organisation der Kolonie Kunde erhielten und er wuchs noch an, als der Kaw-djer von seinen weiteren Plänen sprach. Als er Abschied genommen hatte, nahm man, von neuer Hoffnung belebt, die Arbeit mit zehnfachem Eifer auf.

Alles, was der Kaw-djer sah und hörte, merkte er sich wohl; gleichzeitig machte er einen großzügigen Plan von den verschiedenen Niederlassungen und ihrer gegenseitigen Lage.

Diese Dokumente benützte er gleich nach seiner Rückkehr, um eine Karte der Insel zu zeichnen, die in geographischer Hinsicht nur annähernd richtig, aber von einer mehr als genügenden Genauigkeit in bezug auf die Felder war, die aneinandergrenzten; dann verteilte er die Hälfte der Insel unter einhundertfünfundsechzig Familien, welche er auswählte, und stellte ihnen regelrechte Konzessionen aus.

Indem er dem Besitze diese solide Basis gab, vollzog sich eine förmliche Revolution. Die Herrschaft des Zufalles ersetzte er durch Gesetzmäßigkeit; den Besitz von Ländereien sicherte er durch ein unantastbares Beweisstück.

Darum wurden auch diese Schriftstücke von den damit Beteilten mit ebenso großer Genugtuung in Empfang genommen als die Felder selbst, zu deren Besitz sie berechtigten. Bisher hatten sie immer in einem Gefühl der Unsicherheit ihre Tage verbracht; nie wußten sie, was der künftige Morgen bringen würde. Diese Papiere änderten alles. Dieses Stück Land gehörte ihnen. Sie konnten es ihren Kindern hinterlassen. Jetzt erst bekamen sie ein stabiles Heim, faßten sie Wurzel auf der Insel, wurden wirkliche Kolonisten – echte Hostelianer!

Der Kaw-djer bestätigte auch die Rechte jener zweiundvierzig Familien, welche der Scholle treu geblieben waren und bewog die achtundzwanzig anderen, die seinerzeit ausgeplündert worden und nach Liberia geflohen waren, auf ihren verlassenen Grund und Boden zurückzukehren und sich aufs neue – diesmal unter besseren Auspizien – dort seßhaft zu machen. Dann wählte er noch aus den übrigen fünfundneunzig Familien aus, welche ihm der Teilnahme und Hilfe würdig schienen, um die anderen kümmerte er sich nicht.

Das war bloße Willkür – und nicht die einzige. Schon bei Verteilung der Konzessionen hatte die Gleichheit wenig zu suchen, auch bei der Ausdehnung der einzelnen Teilgebiete kam sie schlecht weg. Den einen ließ der Kaw-djer genau dasselbe Besitztum, das sie einst gehabt hatten, jenen schmälerte er das frühere Eigentum, um damit andere Unternehmer zu bereichern. In allen Bestimmungen verfolgte er nur ein bestimmtes Ziel: das Wohl und Gedeihen der Kolonie. Denjenigen, welche am meisten Geschick, Kraft und Ausdauer bewiesen hatten, wurden die größten Konzessionen zuteil. Gar nichts erhielten jene Emigranten, von deren Unfähigkeit er überzeugt war und diese verurteilte er, bis zu ihrem Lebensende Proletarier und Taglöhner zu sein.

Der Taglohn mußte notwendigerweise auf der Insel Hoste aufkommen. Einige Besitze – zum Beispiel derjenige der vier benachbarten Familien, zu denen Germain Rivière zählte – erfreuten sich einer so großen Ausdehnung und eines so herrlichen Bestandes, daß sie Hunderten von Arbeitern hätten Beschäftigung bieten können. Wer die Arbeit auf freiem Felde der Arbeit in der Stadt vorzog, fand daher deren übergenug.

Zum zweiten Male entvölkerte sich Liberia. Kaum hatte ein Kolonist seine Konzession in Händen, als er mit den Seinigen fortzog, mit Lebensmitteln wohl versehen, die später – der Kaw-djer hatte es versichert – erneuert werden sollten. Einige, die bei der Verteilung leer ausgegangen waren, folgten in die Einsamkeit nach, um ihnen ihre Dienste zur Verfügung zu stellen.

Am 10. Januar war die Bevölkerung auf ungefähr vierhundert Einwohner zusammengeschrumpft, worunter zweihundertundfünfzig arbeitsfähige Männer waren. Alle übrigen (nicht ganz sechshundert, Frauen und Kinder mit eingerechnet) waren jetzt im Inneren der Insel verstreut. Wie der Kaw-djer gelegentlich seiner Reise konstatieren konnte, erreichte die Bevölkerungszahl nicht mehr die Ziffer eintausend. Die anderen waren gestorben, fast zweihundert während des letzten Winters.

Noch einige Hekatomben dieser Art – und die Insel Hoste würde ganz menschenleer und bald eine Wüstenei sein.

Die Arbeiten in der Stadt schritten jetzt viel langsamer vor, da der Mangel an Arbeitskräften sehr fühlbar war. Den Kaw-djer ließ aber dieser Umstand sehr ruhig. Bald verstand man den Grund seiner Sorglosigkeit. Wenige Tage später, am 17. Januar, ging ein großes Dampfschiff von zweitausend Tonnen bei Neudorf vor Anker. Gleich am folgenden Tage wurde mit der Ausschiffung seiner Ladung begonnen und die Liberier sahen voll Staunen unfaßbare Reichtümer ans Land bringen. Zunächst Haustiere, Schafe, Pferde und selbst zwei Schäferhunde. Dann landwirtschaftliche Geräte: Pflüge, Eggen, Mäh- und Dreschmaschinen; viele Gattungen Samen; Lebensmittel in reicher Fülle, Wagen und Karren; Metalle: Blei, Eisen, Stahl, Zink, Zinn usw.; kleine Werkzeuge: Hämmer, Sägen, Meißel, Feilen und tausend andere; kleine Handmaschinen, Bohrer, Drehscheiben für Holz und Metall und viele, viele andere Dinge.

Der Dampfer brachte aber nicht nur diese Gegenstände. Zweihundert Männer hatte er auch an Bord, zur Hälfte Dammarbeiter, die übrigen hundert waren Bauleute. Als die Ladung ausgeschifft war, gesellten sich diese zu den Kolonisten und jetzt, da sich vierhundertundfünfzig kräftige Arme an der Arbeit beteiligten, ging sie rasch vonstatten.

In wenigen Tagen war die Straße nach Neudorf fertig. Während ein Teil der Maurer sich mit der Herstellung der Brücke beschäftigte, ging der andere Teil daran, eine zweite Straße in das Innere der Insel zu legen, von der sich zahlreiche Seitenwege zu den einzelnen Niederlassungen abzweigen sollten, um das pulsierende Leben ins Herz der Insel zu tragen; diese Straßen sollten die Arterien und Venen dieses großen, bisher untätigen, gefühllosen Körpers werden.

Die Liberier standen noch nicht am Ende ihrer Überraschungen. Am 30. Januar näherte sich ein zweiter Dampfer der Insel. Er kam von Buenos-Aires und barg in seinem Inneren außer den schon angeführten nützlichen Dingen eine große Sendung, die für den Bazar »Rhodes« bestimmt war. Da war alles vorhanden, was nur erdenkbar war, bis zu den kleinsten Kleinigkeiten: Federn, Spitzen, Bänder, mit denen sich jetzt die Hostelianerinnen schmücken konnten, damit auch die Eitelkeit auf ihre Rechnung käme.

Und auch dieses Schiff hatte zweihundert neue Arbeitskräfte mitgebracht und weitere zweihundert schiffte ein am 15. Februar ankommendes Fahrzeug aus. Von diesem Tage an verfügte man über mehr als achthundert Arme. Der Kaw-djer hielt diese Anzahl für genügend, um den Anfang zu einem großen Projekt zu machen. Westlich der Flußmündung wurden die Grundsteine zu einem Damm gelegt, der in der nächsten Zukunft die Bucht von Neudorf in einen großen, sicheren Hafen verwandeln sollte.

So bauten sich nach und nach, durch die eifrige Betätigung dieser Hunderte von Armen, die von einem Willen gelenkt wurden, die Häuser auf, der Ort vergrößerte sich, belebte sich, vervollkommnete sich in jeder Hinsicht.

So war nach und nach aus dem Nichts eine Stadt geworden.


 << zurück weiter >>