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IV. Das Überwintern

Volle vierzehn Tage lang heulte der Sturm ohne Unterbrechung und der Schnee fiel in dichten Flocken. Während dieser zwei Wochen konnten sich die Emigranten kaum ins Freie wagen und blieben zwischen ihren schützenden Wänden vergraben.

Diese aufgezwungene Absperrung war sehr traurig für alle, besonders aber für diejenigen, welche sich in den Häusern einen Platz erobert hatten und ihn genießen wollten. Diese Häuser waren aber nur ein ineinandergreifendes Gefüge von Holzplatten und entbehrten aller Bequemlichkeit. Trotzdem hatten sich die Emigranten um ihren Besitz gestritten – sie waren durch den oberflächlichen Augenschein, vielleicht auch nur durch den Namen »Haus« irregeführt worden – und jetzt hatte sich ihrer eine große Enttäuschung bemächtigt, denn die Häuser waren eigentlich nur Schlafräume, in denen ein Strohsack neben dem anderen auf den Boden gelegt wurde; Schlafräume, die während der kurzen Tagesstunden sich in gemeinsame Wohnzimmer und Küchen verwandelten. Bei dieser Überhäufung, diesem Zusammenleben mehrerer Familien war eine stete Reibung unausbleiblich und sehr zu beklagen, vom Standpunkte der Hygiene sowohl als auch im Interesse des guten Einverständnisses. Mangel an Beschäftigung und Langeweile bedingen Zank und Streit – und man langweilte sich gründlich in diesen schneeumwehten Wohnungen.

Die Männer fanden noch Beschäftigung für ihre Mußestunden. Sie versorgten die aller Einrichtung baren Räume mit den einfachsten Möbelstücken. Mittels ihrer Beile hieben sie Tische und Stühle zurecht, die des Nachts hinausgestellt wurden, denn dann mußte Raum für die Strohsäcke geschaffen werden. Aber für die Frauen gab es fast nichts zu tun. Sobald sie ihre Kinder betreut hatten und den Küchenbesorgungen nachgegangen waren, die der Gebrauch der Konserven sehr vereinfachte, wußten sie nichts mehr anzufangen und mußten die langen Tagesstunden mit Gesprächen ausfüllen. Und das taten sie nach Herzenslust. An Stelle der Beine machten die Zungen Bewegung und es ist – wie man aus Erfahrung weiß – oft auch der unmäßige Gebrauch der Zunge Ursache von bösen Mißverständnissen geworden. Es war nur zu verwundern, daß es nicht gleich am ersten Tage dazu kam.

Wenn die Zeltbewohner auch weniger gut gegen Wind und Wetter verwahrt waren, so genossen sie in anderer Hinsicht manche Vorteile. Es stand ihnen mehr Raum zur Verfügung und einige Familien (dazu gehörten die Familien Rhodes und Ceroni) hatten ein ganzes Zelt zum alleinigen Gebrauch. Die fünf Japaner, welche fest zusammenhielten, bewohnten auch ein Zelt, wo sie abseits von den anderen ein abgeschlossenes Leben führten.

Zelte und Häuser waren je nach dem Geschmacke der einzelnen da und dort erstanden. Nachdem beim Aufbau ihrer Wohnungen die Leute von niemandem geleitet worden waren, zeigte das ganze Bild des Lagers keinen bestimmten, vorherbedachten Plan. Es bot nicht den Anblick eines Marktfleckens, sondern war eine zufällige Anhäufung von Häusern, und es wäre sehr schwer gefallen, zwischen ihnen eine Straße zu bauen.

Das war übrigens ein ganz unwichtiger Umstand, denn es handelte sich ja nicht um eine bleibende Niederlassung. Im Frühling sollten Zelte und Hütten abgebrochen werden und jeder würde dann sein Vaterland – und sein Elend anderswo finden.

Der Lagerplatz zog sich längs des rechten Ufers des Flusses hin, der, von Westen herkommend, ihn in einem Punkte berührte, einen kurzen Bogen beschrieb, dann sich nach Nordwest drehte und in einer Entfernung von drei Kilometern ins Meer ergoß. Die westlichste aller Behausungen war am Flußufer selbst erbaut. Es war eine der zerlegbaren Hütten, von so geringer Größe, daß nur drei Personen darin Platz gefunden hatten. In aller Ruhe, ohne Auseinandersetzungen, ohne Aufregung und Geschrei, hatte sich einer der Auswanderer, Patterson, aller dazugehörigen Teile bemächtigt und – damit sein Eigentumsrecht ihm nicht streitig gemacht werden konnte – gleich zwei Gefährten die Nutznießung angeboten und damit das Maximum der Einwohnerzahl fixiert. Die Wahl dieser Mitbewohner war nicht bloßes Zufallsspiel. Patterson, welcher von schwächlicher Gestalt war, hatte sich Genossen ausgesucht, welche mit Riesenkräften begabt waren, wahre Herkulesgestalten, die das gemeinsame Heim im Bedarfsfalle gut verteidigen konnten.

Beide waren Amerikaner; der eine hieß Blaker, der andere Long. Der erstere war ein junger Bauer von siebenundzwanzig Jahren, heiteren Charakters, aber er litt an stetem Heißhunger, was sein ganzes Dasein verbitterte. Das elende Leben, das er zu führen gezwungen war, gestattete ihm nicht, den unstillbaren Appetit zufriedenzustellen; er litt seit seiner Geburt fortwährend Hunger, so daß er sich schließlich unter die Auswanderer mengte in der Hoffnung, in der neuen Heimat endlich seinen Hunger stillen zu können. Der zweite war ein Arbeiter, Schmied seines Zeichens, mit kleinem Denkvermögen und dafür um so größeren Muskeln, ein ganz unvernünftiger Mensch, aber stark und unnachgiebig wie das Eisen, das er bearbeitete.

Was Patterson anbelangte, so war er nicht unter die Auswanderer gegangen, weil er vom Unglück verfolgt war, sondern weil er Reichtümer zu erwerben hoffte. Das Geschick hatte sich ihm günstig und feindselig in einem Atem gezeigt. Es hatte ihn allerdings arm, einsam und mittellos auf einer irländischen Straße geboren werden lassen, aber als Entschädigung war er mit einem an das Unglaubliche streifenden Sparsinn, besser gesagt, Geiz, begabt; das heißt mit anderen Worten: es hatte ihm die Mittel in die Hand gegeben, alles erwerben zu können, was ihm seit seinem Erscheinen auf dieser Welt begehrenswert schien. Dank dieser Eigenschaften hatte er sich bereits im Alter von fünfundzwanzig Jahren ein bedeutendes Vermögen erworben. Nichts hatte ihn von der Erreichung dieses Zieles abgeschreckt, weder die angestrengteste Arbeit, noch die Entbehrungen eines Einsiedlers, noch – wenn es die Notwendigkeit erforderte – die rücksichtslose Ausbeutung des lieben Nächsten.

Aber wenn der Bauer nur Spekulationsgeist und kein Kapital als Basis seiner Operationen zur Verfügung hat, so wird er nur langsam, Schritt für Schritt, auf der Bahn des Gelingens weiterschreiten können. Sein Wirkungskreis ist zu beschränkt, um ihm ein rasches Emporsteigen zu ermöglichen.

So brachte es Patterson nur langsam vorwärts trotz seiner unerschütterlichen Ausdauer, trotz der unzähligen Entbehrungen, trotz aller aufgebotenen List und Verschlagenheit – als plötzlich Wundermären an sein Ohr drangen, wie leicht es einem Manne von skrupellosem Gewissen in Amerika werde, sein Glück zu machen. Ganz berauscht von diesen blendenden Berichten, träumte er nur mehr von der Neuen Welt und beschloß, dahin auszuwandern nach dem Beispiel so vieler anderer, um sich dort das Glück zu zwingen, und zwar nicht mit der Absicht, es jenen Milliardären gleich zu tun, welche, wie er, aus den ärmsten Schichten des Volkes stammten, sondern in der Hoffnung, die ja nicht allzu unwahrscheinlich war, dort eher auf einen grünen Zweig zu kommen als im alten Vaterlande. Kaum hatte er amerikanischen Boden betreten, als die glückverheißende Reklame der »Gesellschaft für Kolonisation« ihn für die Teilnahme an der Ansiedlung in der Delagoa-Bai begeisterte. Er vertraute den verführerischen Versprechungen der »Gesellschaft« und sagte sich, daß dort, auf dem noch unberührten, kraftstrotzenden Boden sein kleines Kapital reiche Früchte tragen werde, und bald war er mit den tausend anderen auf dem »Jonathan« eingeschifft.

Die unvorhergesehenen Ereignisse trübten zwar seine Hoffnungen um ein Bedeutendes, aber Patterson gehörte nicht zu denjenigen, die gleich die Flinte ins Korn werfen. Trotzdem die Tatsache des Schiffbruches ihn innerlich tief erschüttert haben mußte, ließ er sich die Enttäuschung nicht anmerken und hielt mit geduldiger Hartnäckigkeit an der Zuversicht auf sein Glück fest. Wenn aus dem gemeinsamen Unglück ein einziger Nutzen ziehen konnte, so war es unstreitig Patterson.

Von Blaker und Long unterstützt, hatte er sein Häuschen in geringer Entfernung von der Küste dicht am Flußufer errichtet, an der einzigen Stelle, wo dieses zugänglich war. Stromaufwärts von hier aus stieg das Ufer plötzlich steil empor und wuchs zu einer fast fünfzehn Meter hohen Felswand an, stromabwärts bildete es eine kleine Ebene vor dem Hause, dicht daneben stürzte der Fluß in einem Wasserfall auf eine tiefer gelegene Terrasse. Zwischen dem Wasserfall und dem Meere breitete sich ein unwegsamer Sumpf aus. Wollten die Emigranten nicht einen Umweg von mehr als einer Stunde nach dem Oberlaufe des Flusses machen, so waren sie gezwungen, an Pattersons Wohnung vorbeizugehen, um ihre Wasserkrüge und -fässer zu füllen.

Die anderen Häuser und Zelte lagen in malerischer Unordnung zerstreut da, vom Meere durch den erwähnten Sumpf getrennt. Der Kaw-djer bewohnte mit Halg und Karroly eine Ajoupa nach feuerländischem Muster, die von den beiden Indianern errichtet worden war. Man konnte sich nichts einfacheres denken, als diese aus Gras und Zweigen erbaute Hütte und man mußte sehr abgehärteter Natur sein, um darin den Winter zu überdauern. Die Ajoupa war am linken Flußufer gelegen, in nächster Nähe der gescheiterten Schaluppe, so daß alle lichten Momente des Tages zu den notwendigen Reparaturen gut ausgenützt werden konnten.

Während der ersten zwei Wochen der gefürchteten Jahreszeit, als die Schneestürme in voller Heftigkeit wüteten, konnte allerdings nichts an der Wel-kiej gearbeitet werden. Aber der Kaw-djer führte deshalb kein abgeschlossenes Einsiedlerleben wie die weniger widerstandsfähigen Auswanderer. Täglich ging er mit Halg über den Fluß ins Lager, auf einer leichten Brücke, die Karroly in achtundvierzig Arbeitsstunden konstruiert hatte.

Dort gab es immer viel zu tun. Mit dem Eintritt der Kälte waren Krankheiten bei den Emigranten aufgetreten, schmerzhafte Entzündungen, meist der Bronchien, die aber alle einen günstigen Verlauf nahmen; man hatte gleich den Kaw-djer zu Hilfe gerufen, welcher sich seit der chirurgischen Behandlung des gestürzten Knaben als Arzt eines sehr guten Rufes erfreute.

Das Kind fühlte sich täglich wohler und alle Anzeichen sprachen dafür, daß die günstige Prophezeiung des Kaw-djer sich buchstäblich erfüllen würde.

Nachdem dieser seine täglichen Krankenbesuche gemacht hatte, trat er in das Zelt der Familie Rhodes und besprach mit Harry eine oder zwei Stunden lang alles, was für die Schiffbrüchigen von Interesse sein konnte. Der Kaw-djer schloß sich immer mehr an diese Familie an. Die einfache Freundlichkeit und Güte der Frau Rhodes und ihrer Tochter Clary taten ihm wohl; beide übten voll Aufopferung das Amt von Krankenpflegerinnen aus, das er ihnen zugewiesen hatte. In Harry Rhodes schätzte er den geraden Sinn und die wohlwollende Gemütsart und bald verbanden die beiden Männer Gefühle wahrer Freundschaft.

»Eigentlich freut es mich herzlich, sagte Harry Rhodes eines Tages zum Kaw-djer, daß diese Schurken versuchten, sich Ihrer Schaluppe zu bemächtigen. Wer weiß? Wenn sie in gutem Stand geblieben wäre, hätten Sie uns jetzt, da wir eingerichtet sind, vielleicht verlassen. Aber nun ist das unmöglich. Sie sind unser Gefangener!

– Und dennoch werde ich fort müssen, sagte der Kaw-djer.

– Nicht vor Eintritt des Frühjahres, erwiderte Harry Rhodes. Sie müssen doch einsehen, daß Sie unentbehrlich sind; wieviele Frauen und Kinder sind hier, welche nur durch Ihre Kunst gesund gemacht werden können! Was würde aus all den Kranken ohne Sie?

– Gut, nicht vor dem Frühjahre, gab der Kaw-djer nach, dann aber – wenn alles abreisen wird – wird sich kein Hindernis mehr in den Weg stellen, daß auch ich das Weite suche.

– Werden Sie auf die Neue Insel zurückkehren?«

Der Kaw-djer antwortete nur durch eine ausweichende Geste. Ja, die Neue Insel war seine Heimat. Lange Jahre hatte er dort gelebt. Aber wieder dahin zurückkehren? Die Gründe, die ihn fortgetrieben hatten, bestanden noch; die Neue Insel, früher ein unabhängiges Land, hatte jetzt der Autorität Chiles zu gehorchen.

»Wollte ich auch früher abreisen, sagte der Kaw-djer, bemüht, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, so wären meine zwei Gefährten damit nicht sehr einverstanden. Halg wenigstens würde von der Insel mit Bedauern scheiden – vielleicht sogar sich energisch weigern, fortzugehen.

– Warum das? fragte Frau Rhodes.

– Aus dem einfachen Grunde, daß Halg – so fürchte ich wenigstens – hier sein Herz verloren hat.

– Nun, das ist kein großes Unglück, meinte Harry Rhodes lächelnd; in seinem Alter ist das natürlich!

– Ich leugne es nicht, pflichtete ihm der Kaw-djer bei, aber der arme Junge wird, wenn es dann zur Trennung kommt, viel Herzeleid durchzumachen haben.

– Warum soll er sich denn von derjenigen, die er liebt, trennen? Die beiden können doch heiraten! sagte Clary, welche, wie alle jungen Mädchen, ein lebhaftes Interesse für anderer Herzensangelegenheiten bekundete.

– Weil es sich um die Tochter eines Emigranten handelt, welche niemals einwilligen würde, ihr Leben auf dem Magalhães-Archipel zu verbringen; anderseits kann ich mir nicht denken, was Halg beginnen würde, wenn man ihn in eure sogenannte zivilisierte Welt verpflanzen wollte. Außerdem, denke ich, würde er uns, seinen Vater und mich, auch nicht leichten Herzens verlassen können!

– Die Tochter eines Emigranten, fragte Harry Rhodes, handelt es sich vielleicht um Graziella Ceroni?

– Ich habe sie einige Male begegnet, mischte sich auch Edward in das Gespräch; sie ist ganz hübsch.

– Halg findet sie wunderschön, sagte der Kaw-djer lächelnd. Und ich finde das ganz begreiflich. Er hat bisher nur Frauen und Mädchen aus dem Feuerland gesehen, und ich muß gestehen, daß diese in bezug auf Schönheit leicht von anderen übertroffen werden können.

– Es handelt sich also wirklich um Graziella Ceroni? fragte Harry Rhodes.

– Ja. Schon an jenem Tage, als wir traurigen Einblick in diese Familienverhältnisse nehmen und die Frau vor dem eigenen Gatten schützen mußten, bemerkte ich den lebhaften Eindruck, den sie auf Halg machte. Sie erschien ihm wie eine Offenbarung. Ihr wißt, welch unglückliches Dasein Mutter und Tochter führen; nun, vom Mitleid zur Liebe ist nur ein kurzer Schritt.

– Ich halte es sogar für den schönsten Anfang einer glücklichen Liebe, bemerkte Frau Rhodes.

– Wie dem auch sei. Sie können mir Glauben schenken, wenn ich heute behaupte, daß seit dem Tage Halg ganz unter dem Einflusse dieser ihm neuen Empfindung steht. Sie ahnen gar nicht, welche Veränderung mit dem jungen Manne vor sich gegangen ist. Ich werde es Ihnen an einem Beispiel zeigen ... Wie Sie sich denken können, sind die Eingebornen des Magalhães-Archipels nicht gerade zur Eitelkeit geneigt. Trotz des strengen Klimas geht ihre Gleichgültigkeit in diesem Punkte so weit, daß sie stets unbekleidet einhergehen. Halg war schon ein wenig beeinflußt durch die Ideen über Zivilisation, die ich – mit Unrecht vielleicht – mit hergebracht habe, er konnte unter seinen Stammesgenossen schon als Stutzer gelten, nachdem er sich seit dem Schiffbruche des »Jonathan« herbeigelassen hat, sich mit Seehunds- oder Guanakofellen zu bekleiden. Aber jetzt hat seine Putzsucht einen noch höheren Grad erreicht. Er hat unter den Emigranten einen Haarkünstler ausfindig gemacht und seine langen Haare schneiden lassen. Wahrscheinlich ist er der erste Feuerländer, welcher der Mode solche Zugeständnisse macht. Aber das ist noch nicht alles! Er hat sich – auf welche Weise, ist mir unbekannt – einen vollständigen Anzug verschafft und verläßt seine Hütte nur in europäischer Kleidung; zum ersten Male in seinem Leben trägt er Schuhe, die ihm gewiß sehr unbequem sind. Karroly weiß nicht, was er davon halten soll. Ich weiß nur zu gut, was es zu bedeuten hat.

– Und Graziella, erkundigte sich Frau Rhodes, bemerkt sie diese Bemühungen, die darauf hinzielen, ihr zu gefallen?

– Ich habe sie natürlich nicht darum gefragt, versetzte der Kaw-djer. Aber wenn ich Halgs glückstrahlendes Gesicht sehe, denke ich, daß seine Angelegenheit unmöglich schlecht stehen kann.

– Das wundert mich nicht, sagte Harry Rhodes, Ihr junger Gefährte ist ein hübscher Mann.

– Er ist körperlich ganz gut geraten, das gebe ich zu, bestätigte der Kaw-djer mit augenscheinlicher Genugtuung, aber moralisch ist er noch mehr wert. Er nennt ein gutes, edles Herz sein eigen, ist treu, aufopfernd, ergeben und klug, was auch nicht zu unterschätzen ist.

– Er ist wohl Ihr Schüler? fragte Frau Rhodes.

– Sie können sagen: mein Sohn! berichtigte sie der Kaw-djer, denn ich liebe ihn wie ein Vater. Deshalb bekümmert es mich, daß er diesen Ideen nachhängt, die ihm schließlich nur herbe Enttäuschungen bringen werden.«

Die Vermutungen des Kaw-djer waren ganz richtig. Eine lebhafte, gegenseitige Sympathie näherte täglich die Herzen des jungen Indianers und Graziellas. Von dem Augenblicke an, da er sie zum ersten Male gesehen, hatte er nur mehr für sie Gedanken und Blicke gehabt und kein Tag war seither verstrichen, an dem er sie nicht gesehen hatte. Nachdem er Zeuge der Szene gewesen, welche die Einmischung des Kaw-djer bedingt hatte, kannte er den wunden Punkt ihres Lebens und mit der den Liebenden eigenen Geschicklichkeit wußte er ohne alle Gewissensbisse daraus Nutzen zu ziehen.

Unter dem Vorwande, über die Sicherheit der beiden Frauen wachen zu müssen, nach ihren Wünschen und Bedürfnissen zu fragen, verweilte er lange Stunden in ihrem Zelte; alle waren der englischen Sprache vollkommen mächtig, wodurch ein Gedankenaustausch ermöglicht wurde.

Halg war auch in diesem wie in so manchem anderen Falle seinen Landsleuten, die sich gegen die Erlernung fremder Sprachen sehr ablehnend verhalten, ganz unähnlich.

Er hatte im Gegenteile mit großer Leichtigkeit englisch und französisch sprechen gelernt und jetzt war er im Begriffe, unter der Leitung Graziellas staunenswerte Fortschritte im Studium der italienischen Sprache zu machen, deren Erlernung ihm wieder einen ausgezeichneten Vorwand bot, die Familie Ceroni regelmäßig zu besuchen.

Für Graziella blieb natürlich die wahre Ursache des großen Eifers nicht lange ein Geheimnis. Zuerst hatte sie die Wirkung ihres persönlichen Einflusses auf Halg mehr belustigt als erfreut. Halg mit seinen langen, straffen Haaren, den schmalen Schläfen, der leicht eingedrückten Nase, der gebräunten Gesichtsfarbe machte ihr den Eindruck eines einer ganz anderen Menschenrasse angehörigen Wesens. Ihrer phantastischen Einteilung nach teilten sich die Bewohner unseres Planeten in zwei Klassen, zwei gänzlich getrennte Rassen: in Menschen und – Wilde.

Halg, welcher ein Eingeborner, Wilder war, konnte infolgedessen nicht zu den eigentlichen Menschen gezählt werden. Der Gedanke kam ihr nie, daß jemals zwischen diesem exotischen Geschöpf, welches notdürftig mit Tierfellen bekleidet war, und ihr, der Italienerin, welche sich höherer Abkunft dünkte, ein gemeinsames Band bestehen könne.

Aber nach und nach gewöhnte sie sich an das Aussehen und die Tracht ihres schüchternen Verehrers und es kam so weit, daß sie ihn mit denselben Augen betrachtete wie die jungen Leute ihrer Rasse. Halg tat seinerseits sein Möglichstes, um diese Ideenwandlung in ihr zu bewerkstelligen.

Eines schönen Tages sah sie ihn mit nach allen Regeln der Kunst geschnittenen Haaren erscheinen, die sich durch eine von geschickter Hand gezogene Mittellinie in zwei Scheitel teilten. Bald darauf zeigte sich Halg zu ihrem noch größeren Staunen in europäischer Kleidung, in Beinkleidern, Rock und Schuhen, nichts fehlte an der Toilette. Natürlich war alles einfach und aus grobem Stoffe, aber nach Halgs Überzeugung war er nach höchster Eleganz gekleidet und er bewunderte sich oft und gerne in einem kleinen Spiegelsplitter, der vom »Jonathan« stammte.

Welchen Scharfsinn hatte er ins Werk setzen müssen, um einen gutwilligen Menschen unter den Emigranten zu entdecken, welcher sich herbeiließ, sein Haupt zu verschönern, und wie schwer war es ihm gefallen, den herrlichen Anzug zusammenzustellen, in dem er sich ganz unwiderstehlich vorkam! Schon lange hatte er nach diesen Kleidungsstücken gefahndet und trotzdem wären alle seine Bemühungen umsonst gewesen, wenn er sich nicht zufällig mit Patterson hätte ins Einvernehmen setzen können. Patterson verkaufte alles Mögliche und der Geizhals hätte niemals die Gelegenheit zu einem wenn auch noch so kleinen Gewinn an sich vorübergehen lassen. Wenn er den verlangten Gegenstand nicht besaß, wußte er ihn sich immer zu verschaffen, eroberte ihn irgendwo, wobei er sich natürlich einen kleinen Gewinn sicherte. Patterson hatte die verlangten Kleidungsstücke beschafft. Aber der Ankauf hatte alle Ersparnisse des jungen Mannes verschlungen.

Er bedauerte dies aber nicht, denn er hatte schon den Lohn seines Opfers empfangen. Das Benehmen Graziellas war ihm gegenüber plötzlich ein ganz anderes geworden. Nach ihrer Einteilung hörte Halg von nun an auf, ein »Wilder« zu sein und war in die Klasse der »Menschen« zu rechnen.

Jetzt ging seine Angelegenheit mit Riesenschritten vorwärts und die gegenseitige Zuneigung erstarkte mit jedem neuen Tag in den beiden jungen Herzen. Harry Rhodes hatte recht. Halg war, wenn man dem eigentümlichen Typus seiner Rasse Rechnung trug, wirklich ein hübscher Junge. Er war groß und kräftig, an das freie Leben in freier Luft gewöhnt und besaß jene natürliche Anmut der Haltung und des Auftretens, die durch die Geschmeidigkeit der durch Übung gestählten Glieder und die harmonische Ruhe der Bewegungen bedingt ist. Außerdem waren seine Geisteskräfte durch die Lehren und Beispiele des Kaw-djer sehr entwickelte und in seinen Augen stand Herzensgüte und ein offener Charakter geschrieben. Das war mehr als genug, um auf das Herz eines jungen, im Unglück groß gewordenen Mädchens tiefen Eindruck zu machen.

Von dem Tage an, seit welchem sich Halg und Graziella, ohne ein Wort über ihre Liebe gesprochen zu haben, als Verbündete erkannten, verliefen die Stunden gar rasch. Was machten ihnen die Winterstürme! Was kümmerte sie die herrschende Kälte! Die Unbilden des Wetters verurteilten sie zu einer willkommenen Abgeschlossenheit und sie fürchteten das Nahen der günstigen Jahreszeit, anstatt sie herbeizuwünschen.

Und doch trat schönes Wetter ein. Die übrigen Auswanderer, welche nicht gleiche Ursache hatten, es zu fürchten, freuten sich des Wechsels und begrüßten die warmen Tage freudig. Wie von einem Zauberstab berührt, belebte sich das Lager. Häuser und Zelte leerten sich. Während die Männer ihren durch die lange Absperrung steifgewordenen Gliedern Bewegung gönnten, eilten die Frauen, ganz glücklich, Freundinnen und Bekannte wieder aufsuchen und begrüßen zu können, von Tür zu Tür, machten Besuche und knüpften neue Freundschaften.

Karroly nahm die schönen Tage wahr, um mit den Ausbesserungsarbeiten an der Wel-kiej zu beginnen, mit Zuhilfenahme der Zimmerleute, welche ihm schon das erste Mal beigestanden waren. Die Bauleute mußten auch alle Vorarbeiten selbst vornehmen: das Fällen der Bäume, das Schneiden der Stämme, das Biegen der Hölzer.

Man berechnete, daß die Reparaturen einen Monat Zeit erfordern würden; mit anderen Worten, daß man – das schlechte Wetter mit eingerechnet, erst in drei Monaten fertig werden konnte.

Während Karroly und seine Genossen mit Hobel und Säge fleißig tätig waren, ging der Kaw-djer, welcher für seine Kranken und sich selbst frisches Fleisch schaffen wollte, mit dem Hunde Zol auf die Jagd.

Wenn auch die ganze Inselwelt im Zeichen des Winters stand, wenn auch der Schnee die ebenen Flächen bedeckte und die Gipfel sich mit Eis überzogen hatten, so war deshalb das tierische Leben nicht ausgestorben. Die Wälder beherbergten immer Wiederkäuer in großer Anzahl, Guanakos und Vikunjas, außerdem den Nandu und Füchse. Über die Prärien flatterten immer Berggänse, kleine Rebhühner, Schnepfen und Wasserhühner. An der Küste wimmelte es von eßbaren Mövenarten. Walfische tauchten in nächster Nähe der Insel auf und Seewölfe lagen oft herdenweise auf dem Strande.

Aber vom Fischfang war um diese Zeit nichts zu hoffen. Die Fische, größtenteils Stockfische und Lampreten, besuchen diese Gewässer nur im Sommer. Im Winter ziehen sie sich mehr nach Norden zurück, in den Beagle-Kanal und in die Magalhães-Straße.

Von seinem Jagdausflug brachte der Kaw-djer außer ansehnlicher Beute Nachrichten von vier Familien mit, welche sich weiter vom Lagerplatz entfernt und ihre Zelte einige Meilen von den anderen im Inneren der Insel aufgeschlagen hatten. Diese Abtrünnigen waren die Familien Rivière, Gimelli, Gordon und Ivanoff; die Oberhäupter der drei letzteren hatten seinerzeit den Kaw-djer und Harry Rhodes auf der kurzen Forschungsreise in das Innere der Insel begleitet, und Rivière war als Abgesandter der Emigranten nach Punta-Arenas gefahren. Bei seiner Rückkehr hatten die vier beschlossen, sich abzusondern; alle gehörten derselben Menschenklasse an; sie waren biedere Ackerbauer, einfache, gesunde, gleichmäßige Leute. Die Arbeit war für sie Lebensbedürfnis, sie übernahmen sie immer gern und freudig, desgleichen ihre Frauen und Kinder, die ebenso wie sie unmöglich ihre Zeit im Nichtstun verbringen konnten und stets nützliche Beschäftigung suchten und fanden.

Gleiche Gründe hatten sie zu der Absonderung veranlaßt. Rivière, welcher beim Fällen der Bäume, die die Ausschiffung der Ladung des »Jonathan« notwendig machte, sich beteiligt hatte, war von dem Reichtum dieser Wälder entzückt, die noch keine Axt berührt hatte.

Die Erinnerung daran verfolgte ihn, als er von Punta-Arenas mit der Gewißheit zurückkam, sechs weitere Monate auf der Insel Hoste verbringen zu müssen und er wollte gleich die Gelegenheit ergreifen, aus den Verhältnissen Nutzen zu ziehen und die Wälder auszubeuten versuchen.

Zu diesem Zwecke verschaffte er sich das zur Errichtung einer einfachen Säge nötige Material und verlud es auf die Schaluppe. Fällen konnte er ja nach Belieben. Die Wälder waren niemandes Eigentum, daher kostete das Holz nichts. Nur der Transport des gefällten Holzes konnte zu Kopfzerbrechen Anlaß geben.

Aber Rivière hoffte, daß sich die diesbezüglichen Schwierigkeiten im entscheidenden Momente auch lösen würden und daß es ihm möglich sein werde, das einmal gefällte Holz auf die eine oder andere Weise in Geld umzusetzen.

Im Begriff zur Ausführung seines Planes zu schreiten, hatte er Gimelli, Gordon und Ivanoff ins Vertrauen gezogen, denen er auf dem »Jonathan« nähergetreten war. Diese hatten dem Franko-Kanadier lebhaft Beifall gezollt und nur bedauert, nicht selbst auf diesen glücklichen Gedanken gekommen zu sein. Nachdem aber eine Idee meist eine ähnliche wachruft, nahmen sie bald ein gleiches Projekt in Aussicht. Während ihrer kurzen Forschungsreise auf der Insel mit dem Kaw-djer hatten sie Gelegenheit gehabt, die Fruchtbarkeit des Bodens anzustaunen. Warum sollten sie nicht auch ihr Glück versuchen? Die einen mit Getreidekulturen, der andere in der Viehzucht? Erwies sich der Versuch im Laufe dieser sechs Monate als ertragbringend, so brauchten sie die Insel gar nicht zu verlassen. Der Magalhães-Archipel oder Afrika! Beide Namen klangen ihnen gleich gut und schlecht! Sobald man außerhalb seines Vaterlandes lebt, ist der Name des Landes von geringer Bedeutung. Erwies sich das Resultat als ein negatives, so war nur die gehabte Mühe und Arbeit verloren, sonst nichts. Aber die Arbeit ist ein unerschöpfliches Lebensmittel, wenn man kräftige Arme und Mut besitzt, und besser war es, sechs Monate umsonst zu arbeiten, als dieselbe Zeit müßig zuzubringen. Von dem unfruchtbarsten Boden würde man zum mindesten die Gesundheit ernten.

Diese vier Familien, welche aus klugen, fleißigen Männern, ernsten Frauen und gesunden, lebenskräftigen Söhnen und Töchtern bestanden, hatten die Möglichkeit für sich, da Erfolg zu erringen, wo andere ihre Kräfte unnütz vertan haben würden.

Ihr Entschluß war gefaßt und sie brachten ihn zur Ausführung; der Zustimmung und des Beistandes des Kaw-djer und Hartlepools waren sie sicher.

Während die übrigen Emigranten ihre Habe nach der Scotchwell-Bai brachten, bereiteten die vier Abtrünnigen alles zu ihrer Abreise vor. Aus den gefällten Bäumen hatten sie einen auf Holzachsen und vollen Rädern ruhenden Karren verfertigt, der allereinfachster Konstruktion, aber geräumig und fest gebaut war. Darauf wurden die Mundvorräte, Samen, Getreide, Acker- und Küchengeräte, Waffen und Munition verladen, mit einem Worte alles, was zur Inangriffnahme ihres Unternehmens nötig schien. Sie verabsäumten auch nicht, vier oder fünf Paar Hühner mitzunehmen, und die Familie Gordon, welche sich besonders mit der Aufzucht von Haustieren abgeben wollte, fügte eine Anzahl Kaninchen hinzu und mehrere männliche und weibliche Vertreter des Rindergeschlechtes, sowie Schafe und Schweine. Mit diesen Elementen ihres zukünftigen Reichtumes ausgerüstet, gingen sie nach Norden auf die Suche nach einer passenden Stelle für ihre Zweigniederlassung.

Sie fanden bald, was sie brauchten; zwölf Kilometer von der Scotchwell-Bai entfernt entdeckten sie ein großes Hochplateau, das im Westen an dichte Wälder grenzte; im Osten lag ein breites Tal, in dessen Sohle sich ein Fluß schlängelte. Dieses Tal war mit einem herrlichen, dichten Grasteppich belegt und bot eine prächtige Weide für das Vieh, mit trefflicher Nahrung im Überfluß, auch für vielköpfige Herden. Das Plateau selbst schien mit einer dichten Schicht fetter Erde bedeckt zu sein, nur mußte die Spitzhacke erst tüchtig arbeiten und den Boden urbar machen, denn er war von einem ganzen Netz verschlungener Wurzeln durchzogen.

Die Kolonisten nahmen alsogleich ihre Arbeit in Angriff. Die erste Sorge galt der Errichtung von vier Blockhäusern, deren Wände sie aus Baumstämmen zimmerten. Es war vorzuziehen, daß jeder sein eigenes Heim besaß; wenn dies auch einen größeren Arbeitsaufwand und Zeitverlust bedingte, so würde man später durch das ungetrübte, gute Einvernehmen belohnt werden.

Das schlechte Wetter, der Schnee und die Kälte hielten das rasch fortschreitende Wachstum der Häuser nicht auf. Als der Kaw-djer sie gelegentlich seiner Jagdexpedition aufsuchte, standen sie schon fertig da. Er kam zurück, von aufrichtiger Bewunderung für diese fleißigen Menschen erfüllt, welche wieder einmal den Beweis geliefert hatten, wieviel ein fester, zielbewußter Wille zu leisten fähig sei. Schon war Rivière damit beschäftigt, ein Schaufelrad aufzustellen, um damit die Wasserkraft einer natürlichen Kaskade des Flusses auszunutzen. Dieses Rad sollte die Kraft auf die Säge überleiten und die eigene Schwere würde das gefüllte Holz ganz automatisch auf das Plateau liefern.

Die Familien Gimelli und Ivanoff hatten mit der Bearbeitung des Bodens begonnen, lockerten die Erde und bereiteten für den Pflug vor, der seinerzeit von jenen Wiederkäuern gezogen werden sollte, für die die Familie Gordon geräumige Umzäunungen herstellte.

Und selbst wenn alle diese Anstrengungen fruchtlos verlaufen würden, so achtete der Kaw-djer diesen Betätigungsdrang, der der Apathie der anderen Emigranten vorzuziehen war. Diese benahmen sich wie große Kinder; freuten sich, so lange die Sonne am heiteren Himmel strahlte und verkrochen sich, sobald das Wetter wieder unfreundlich wurde, tatenlos in ihre Behausungen, wo sie verborgen blieben wie während der ersten Wintertage, bis sich der Himmel lichtete, worauf sie wieder zum Vorschein kamen. So verlief ein Monat, der wenige gute und viele schlechte Tage brachte, und es kam der 21. Juni heran, der Tag der Wintersonnenwende für die südliche Hemisphäre.

Während dieses an der Scotchwell-Bai verbrachten Monates waren schon manche Veränderungen in den Beziehungen der Emigranten vor sich gegangen. Zerwürfnisse und neue Freundschaften waren der Grund zu manchem Wechsel zwischen den Bewohnern der verschiedenen Häuser. Anderseits bildeten sich abgeschlossene kleine Gruppen von solchen, die fest zusammenhielten, eine in der Masse gesonderte Stellung einnahmen, so wie kleine Inseln aus der glatten Wasseroberfläche emporragen.

Eine der Gruppen war vom Kaw-djer, den zwei Feuerlands-Insulanern, Hartlepool und der Familie Rhodes gebildet. Um sie herum scharte sich die Besatzung des »Jonathan« samt Dick und Sand, die wie Satelliten von einem zentralen Anziehungspunkt festgehalten schienen.

Eine zweite Gruppe, die sich gleichfalls aus ruhigen, gesetzten Leuten zusammensetzte, bestand aus den vier von der »Gesellschaft für Kolonisation« angeworbenen Arbeitern Smith, Wright, Lawson und Fock und fünfzehn anderen Handwerkern, welche sich auf eigene Kosten und Gefahr eingeschifft hatten.

Die dritte Gruppe zählte nur fünf Mitglieder: die fünf Japaner, welche ein geheimnisvolles, zurückgezogenes Dasein führten und deren gelbe Gesichter und geschlitzte Augen stets unsichtbar blieben.

Gruppe vier hatte zum Oberhaupte Ferdinand Beauval. In dem magnetischen Bannkreis des Redners bewegten sich ungefähr fünfzig Emigranten, fünfzehn bis zwanzig von ihnen waren Arbeiter, der Rest gehörte der Klasse der Ackerbauer an.

Die fünfte, sehr wenige Köpfe zählende Gruppe bekannte sich zur Farbe Lewis Doricks. Hier hatte der Matrose Kennedy und der Schiffskoch Sirdey gesinnungsverwandte Seelen gefunden und fünf oder sechs fragwürdige Individuen, welche sich für Arbeiter ausgaben; mindestens die Hälfte davon gehörte aber sicher der Zunft berufsmäßiger Verbrecher an. Mehr passive als aktive Mitglieder waren Lazare Ceroni, John Rame und ein Dutzend Alkoholiker, welche die Rolle willenloser Marionetten spielten und von dem anderen, kämpfenden Teil mitgerissen wurden.

Die sechste und letzte Gruppe umfaßte die übrigen Emigranten. Auch diese große Menschenmenge zerfiel wieder in kleinere Abteilungen, wie sie die persönlichen Sympathien und Antipathien mit sich brachten, aber in ihrer Gesamtheit hatten alle diese Teilgruppen einen gemeinsamen Charakter: sie bestanden aus leichtsinnigen, untätigen, willensschwachen Menschen ohne persönliche Meinung, ohne Überzeugungen, welche sich gleichsam im Stadium des indifferenten Gleichgewichtes befanden, bereit, jeden neuen Einfluß auf sich einwirken zu lassen und ihm nachzugeben. Dann blieben noch einige einsame Menschen, die Unabhängigen, wie Fritz Groß, welcher im letzten Stadium der Verblödung angelangt war; die Brüder Moore, welche dank ihres unverträglichen, heftigen Wesens nie länger als höchstens drei aufeinanderfolgende Tage mit denselben Personen verkehren konnten, und Patterson, der ein verstecktes Dasein führte, mit seinen Nebenmenschen nur verkehrte, wenn ihm ein Vorteil daraus erwuchs, und mit seinen Anhängern Blaker und Long einsam blieb.

Aus den gegebenen Verhältnissen wußte den größten Gewinn unanfechtbar die Gruppe Lewis Doricks zu ziehen und der glücklichste der Gruppe war Lewis Dorick selbst.

Er setzte seine gepredigten Grundsätze in die Tat um. Wenn das Wetter es gestattete, liebte er es, von Zelt zu Zelt, von Haus zu Haus zu wandern und nahm überall einen Aufenthalt von kürzerer oder längerer Dauer. Unter dem ihm sehr bequemen Vorwand, daß jeder persönliche Besitz seinem Wesen nach unmoralisch sei, daß alles allen gehöre und der einzelne nichts als sein Eigentum beanspruchen dürfe, nahm er von den besten Plätzen Besitz und war in unerschütterlicher Ruhe darauf bedacht, sich stets alles zu seinem Wohlbehagen Erforderliche rücksichtslos anzueignen. Ein feines Ahnungsvermögen ließ ihn diejenigen erkennen, von denen er einen ernsten Widerstand befürchten konnte. Die ließ er in Ruhe, dafür übervorteilte er die Schwachen, die Wankelmütigen, Unentschiedenen, die Schüchternen und die Dummen gründlich. Diese Unglücklichen ertrugen furchtbebend die unglaubliche Frechheit, fügten sich zitternd seinen Befehlen und ließen sich von diesem unverschämten Menschen nach allen Regeln der Kunst ausbeuten. Wenn Dorick sie mit seinen stahlharten Blicken durchbohrte, erstickte er jeden Versuch einer Widerrede im Keime. Noch niemals im Leben war es dem Ex-Professor so gut ergangen. Diese Insel Hoste war für ihn das »Gelobte Land«.

Aber auch ihm soll Gerechtigkeit widerfahren; darum muß erwähnt werden, daß er, wenn er sich auch am Besitz anderer vergriff, erklärte, seine Theorien auch dann in die Praxis umsetzen zu wollen, wenn man von seinem Eigentum Besitz ergreifen wollte; er fände das natürlich. Welche staunenswerte Großmut, wenn man bedenkt, daß er gar nichts sein eigen nannte. Es war leicht vorherzusagen, daß es so nicht länger fortgehen konnte.

Seine Anhänger ahmten natürlich sein Beispiel nach und wenn sie auch nicht Doricks Meisterschaft erlangten, so handelten sie doch nach bestem Wissen und Willen. Es fehlte nicht mehr viel und die gemeinsamen Reichtümer wären am Ende des Winters gänzlich in den Alleinbesitz dieser heftigen Gegner alles Privatbesitzes übergegangen.

Dem Kaw-djer blieb dieser Mißbrauch der Kraft des Stärkeren nicht lange verborgen und er wunderte sich über diese Nutzanwendung der freiheitlichen Ideen, die denjenigen so nahe verwandt waren, welche er selbst mit so großer Überzeugung und Begeisterung verfocht. Sollte er dieser Tyrannei einen Riegel vorschieben? Wer autorisierte ihn zu dieser Mission? Mit welchem Rechte durfte er einen Konflikt heraufbeschwören, indem er aus eigenem Antrieb sich zum Beschützer von Leuten aufwarf, welche seinen Beistand gar nicht angerufen hatten, wodurch andere Menschen – ihresgleichen – angegriffen wurden.

Überdies beschäftigten ihn zuletzt persönliche Angelegenheiten so gänzlich, daß er füglich die Sorgen der anderen vergessen konnte. Je weiter der Winter vorrückte, desto zahlreicher waren die Erkrankungen. Er genügte nicht mehr als alleiniger Arzt. Am 18. Juni war ein Todesfall auf der Insel zu verzeichnen; ein fünfjähriges Kind war von einer Lungenentzündung dahingerafft worden, die kein Mittel zu bekämpfen imstande war. Es war die dritte Leiche, die die Erde der Insel Hoste seit der Landung der Auswanderer bedeckte.

Die Gemütsverfassung Halgs machte dem Kaw-djer große Sorge. Er las in der offenen Seele des jungen Feuerländers wie in einem Buche und sah die Fortschritte seines Herzenskummers. Wie sollte das enden, wenn einmal die Emigranten die Insel verlassen haben würden? Würde Halg nicht Graziella folgen wollen und in der Fremde in Kummer und Elend ein trauriges Ende finden?

An demselben 18. Juni kam Halg wieder mit ganz umwölkter Stirne von seinem täglichen Besuch bei der Familie Ceroni zurück. Der Kaw-djer brauchte keine Frage zu stellen, um das Motiv kennen zu lernen. Halg vertraute ihm freiwillig an, daß sich Lazare Ceroni am Vorabende, nach des jungen Mannes Fortgehen, abermals betrunken hatte. Wie gewöhnlich hatte das eine schreckliche Szene zur Folge gehabt, jedoch war Ceroni zum Glück weniger gewalttätig geworden als das letzte Mal.

Das gab dem Kaw-djer zu denken. Wenn Ceroni sich betrinken konnte, mußte er Alkohol zur Verfügung gehabt haben. Wurden die Vorräte des »Jonathan« nicht mehr von Leuten der Besatzung bewacht?

Hartlepool, welcher befragt wurde, erklärte, er könne es nicht begreifen und gab die Versicherung, daß die Bewachung genau so strenge durchgeführt werde wie früher. Aber das Faktum war nicht zu leugnen und er versprach, doppelt wachsam zu sein, daß sich der Fall nicht wiederhole.

Am 24. Juni, drei Tage nach dem Wintersolstitium, ereignete sich der erste Zwischenfall von einiger Wichtigkeit, wegen der indirekten Folgen, die er für die Zukunft mit sich brachte. Es war ein herrlicher Tag. Eine leichte Brise aus Süden hatte den Himmel geklärt und die Erde war dank einer trockenen Kälte von fünf bis sechs Grad steifgefroren. Durch die bleichen Sonnenstrahlen verlockt, hatten sich die Emigranten ins Freie gewagt. Dick und Sand, welche auch das schlechteste Wetter nicht ans Haus zu fesseln vermochte, waren natürlich unter den Liebhabern der frischen Luft zu finden. In Gesellschaft Marcel Norelys und zweier anderer Knaben ihres Alters hatten sie ein Steinchenspiel organisiert, das ihre ganze Aufmerksamkeit fesselte. Ganz in ihre Belustigung vertieft, bemerkten die Kinder gar nicht eine zweite Gruppe von Spielern, Erwachsenen, welche sich in nächster Nähe belustigten. Spielen ist ja nicht ein Privilegium der Kinder, auch das reife Alter verschmäht diese Art des Zeitvertreibes nicht. Diese Leute hatten eine Kegelpartie begonnen. Es waren sechs Männer, darunter Fred Moore, welcher schon einmal mit Dick eine kleine Auseinandersetzung gehabt hatte.

Nun trug es sich zu, daß eine der Kugeln in das Feld der Kinder rollte. Im Eifer des Spieles bemerkte Sand die fremde Kugel nicht und schob sie mit dem Fuße fort; sogleich fühlte er sich am Ohre gerissen.

»Willst du wohl achtgeben, du Tagedieb,« sagte gleichzeitig eine barsche Stimme.

Die Finger, die das Ohr des Knaben festhielten, waren nicht zart und der empfindliche Sand begann zu weinen.

Wahrscheinlich wäre die Sache damit abgetan gewesen, wenn sich der kriegerische Dick nicht hätte von seinem Temperament hinreißen lassen und seine Einmischung für nötig erachtet hätte.

Plötzlich mußte Fred Moore – das war der furchtbare Feind, welchen Sand beleidigt hatte – das Ohr seines Gefangenen loslassen, um sich gegen einen Angriff von hinten zu verteidigen. Ein unbekannter Verbündeter des Kindes – jeder kämpft mit den Waffen, die ihm gerade zur Verfügung stehen – hatte den rohen Menschen mit aller Kraft gezwickt. Rasch drehte sich dieser um und sah sich demselben kecken Jungen gegenüber, gegen den er schon einmal den Kürzeren gezogen hatte.

»Wieder du, verdammter Range!« schrie er und hob den Arm, um den winzigen Gegner zu züchtigen.

Aber Dick und Sand waren zwei verschieden veranlagte Persönlichkeiten. Das Ergreifen des einen bot keine Schwierigkeiten, aber Dick ließ sich nicht fangen. Er machte einen gewaltigen Seitensprung und lief davon, Fred Moore verfolgte ihn schimpfend und fluchend.

Die Verfolgung zog sich in die Länge. Jedesmal, wenn Fred Moore seinen kleinen Feind erreicht zu haben glaubte, entkam ihm dieser wieder durch eine geschickte Wendung und der immer mehr erregte Moore griff ins Leere. Aber das Spiel war zu ungleich, als daß es ewig dauern konnte. Die Länge der Beine Fred Moores und der des kleinen Dick ließ keinen Vergleich zu. Trotz der tapferen Haltung des Flüchtlings mußte der Augenblick kommen, wo er zur Ergebung gezwungen war.

Jetzt schien der Augenblick gekommen. Fred Moore, im vollen Lauf begriffen, brauchte bloß die Hand auszustrecken, um sein Opfer zu fassen, da stellte sich seinem Fuße ein Hindernis entgegen, er verlor das Gleichgewicht und stürzte schwer zu Boden, nicht ohne seine Hände und Knie arg zu beschädigen. Dick und Sand benutzten diese Ablenkung, um sich schleunigst aus dem Staube zu machen.

Das Hindernis, das Fred Moore zu Fall gebracht hatte, war ein Stock, und dieser Stock war nichts anderes als Marcel Norelys Krücke. Um seinem Freunde in der Not zu helfen, hatte das Kind getan, was in seiner Macht lag, indem es die Krücke dem dahinrasenden Fred Moore zwischen die Beine warf. Jetzt war der Knabe glücklich über den errungenen Erfolg und lachte froh vor sich hin, ahnungslos, daß er eine heroische Tat vollbracht hatte. Ja, heroisch war die Tat! Denn als der arme Krüppel die ihm unerläßliche Stütze von sich warf, hatte er sich zur Unbeweglichkeit verdammt und mußte die Aufmerksamkeit Fred Moores auf sich lenken, der seine Wut nun an ihm auslassen würde.

Wutschnaubend erhob er sich. Mit einem Sprung stürzte er auf Marcel zu und hob ihn hoch in die Luft. Jetzt begriff das Kind die nackte Wirklichkeit und lachte nicht mehr, dafür stieß es unaufhörlich durchdringende Schreie aus. Aber der andere achtete nicht darauf. Seine schwere Hand hob sich – wieviel furchtbare Schläge wird sie austeilen –.

Aber sie kam nicht zum Niederfallen. Jemand hatte sie von rückwärts ergriffen und hielt sie mit eisernem Griff fest, während eine Stimme vorwurfsvoll sagte:

»Aber, Herr Moore ... Ein Kind!«

Fred Moore drehte sich um. Wer erlaubte sich, ihn zu belehren? Er erkannte den Kaw-djer, welcher, immer noch in tadelndem Tone, hinzufügte:

»Außerdem ein Krüppel!

– Sie haben sich nicht hineinzumischen, schrie Fred Moore; lassen Sie mich augenblicklich los, sonst ...«

Der Kaw-djer machte keine Anstalt, dem Befehl Folge zu leisten. Fred Moore versuchte sich mit Gewalt zu befreien, aber der Griff war wie von Eisen.

Da hob der Wütende die andere Hand, um das Kind zu schlagen. Ohne eine Bewegung zu machen, ohne eine Miene zu verziehen, preßte der Kaw-djer stärker die Hand zwischen seinen Fingern. Der Schmerz mußte unerträglich sein, denn Fred Moore vollführte seine letzte Absicht nicht, seine Knie wankten.

Da löste der Kaw-djer seine Finger von dem gefesselten Handgelenk und gab ihn frei.

Der vor Wut sinnlose Fred Moore fuhr in seinen Gürtel und zog ein breites Bauernmesser. Er sah Blut, wie die Redensart lautet. In seinen Augen war Wahnsinn und Mord zu lesen.

Glücklicherweise warfen sich die anderen Spieler, welche von der ernsten Wendung, die die Sache nahm, erschreckt waren, dazwischen und versuchten den Rasenden zu bändigen, während der Kaw-djer ihn staunend und traurig betrachtete.

Wie war es nur möglich, daß ein durch den Zorn blind gemachter Mensch alle Herrschaft über seine Nerven verlor und ihr Sklave wurde? Und dieses Geschöpf, das wie ein Besessener um sich schlug, vor Wut schäumte und halberstickte Schreie ausstieß – war ein Mensch! Mußte der Kaw-djer vor solch einem traurigen Schauspiel nicht in mancher Ansicht erschüttert werden? Mußte er nicht zugeben, daß ein weiser Zwang der Menschheit helfen soll, in dem ununterbrochenen Kampf gegen die tierischen Leidenschaften, die sie so leicht hinreißen, Sieger zu bleiben?

»Ich werde dich zu finden wissen, Kamerad,« gelang es Fred Moore endlich mühsam zu artikulieren, während vier kräftige Burschen ihn festhielten.

Der Kaw-djer zuckte gleichmütig die Achseln und ging fort, ohne sich einmal umzuwenden. Nach wenigen Schritten hatte er die Erinnerung an die stattgehabte lächerliche und häßliche Szene aus seinem Gedächtnis verbannt. War es klug, dem Vorfall so wenig Bedeutung beizumessen? Die ferne Zukunft sollte ihm den Beweis liefern, daß Fred Moore nicht so leicht vergaß.


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