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Zweiter Teil.

I. Auf sicherem Boden

Selbst in dieser Region, wo die Küstenentwicklung die abenteuerlichsten Formen aufzuweisen hat, fällt die Insel Hoste durch ihre phantastische Gestalt auf. Wenn auch die Nordküste, die eine lange Strecke hindurch den Beagle-Kanal abgrenzt, größtenteils geradlinig verläuft, so ist der übrige Umfang um so zerrissener: eine Unzahl felsiger, spitzer Landzungen springen ins Meer vor und schmale, tiefe Einschnitte zerschneiden die Insel bis ins innerste Mark.

Unter den Eilanden des Magalhães-Archipels nimmt die Insel Hoste bezüglich ihrer Größe eine bevorzugte Stellung ein. Sie wird auf fünfzig Kilometer Breitenausdehnung geschätzt, während sie in der Länge deren mehr als hundert mißt, wobei die Halbinsel Hardy nicht mitgerechnet ist, die sich in der Form eines krummen Säbels acht bis zehn Meilen weit nach Südwesten vorstreckt und deren Spitze den Namen »Falsches Kap Hoorn« trägt.

Im Osten dieser Halbinsel, an einer enormen Granitwand, welche die Orange-Bai von der Scotchwell-Bucht trennt, war der »Jonathan« gescheitert. –

Finstere Klippen tauchten beim Morgengrauen aus den Frühnebeln empor, die aber bald von den letzten Seufzern des ersterbenden Windes vertrieben wurden. Da lag der »Jonathan« am Fuße eines Vorgebirges, dessen Kamin von einer spitzen Erhebung gekrönt wurde, die steil zum Meere abfiel und an deren Fuß sich ein Wirrsal schwarzer Steinblöcke drohend aus den schäumenden Wassern hob. Ein schlammiger Überzug von Meeralgen und Seetang bedeckte die Felsen, zwischen denen stellenweise ein feiner, feuchter Sand sichtbar wurde. Dieser setzt sich aus einer unzählbaren Menge winziger Muscheltiere und Schnecken zusammen, die auf den Geländen des Magalhães-Archipels so häufig vorkommen, wie Tritonshörner, Käfer-, Bohr- und Napfmuscheln, Trompetenschnecken, Schraubenmuscheln, Wirbelspaltschnecken, Kaminmuscheln, die schöne Venus-, die magallanische Miesmuschel und viele andere.

Bei oberflächlicher Betrachtung bot die Insel Hoste jedenfalls keinen sehr gastfreundlichen Anblick.

Kaum konnten die Schiffbrüchigen mit zunehmendem Tageslicht die Umgebung, die Umrisse der Küste erkennen, als sie sich der Mehrzahl nach auf die Klippen niedergleiten ließen, in dem begreiflichen Bestreben, wieder festen Boden unter den Füßen zu fühlen.

Es wäre ein vergebliches Beginnen gewesen, sie zurückhalten zu wollen. Ihre unsinnige Hast, das Festland zu betreten, war nach der Todesangst der letzten Nacht leicht begreiflich. Viele begannen die Spitze zu erklimmen, in der Hoffnung, von der Höhe aus ein ausgedehntes Stück Land zu erblicken; einige aus der Menge der Gestrandeten entfernten sich vom Schiffe, um der Südküste der Landspitze entlang zu wandern, während andere am nördlichen Ufer auf Entdeckungen ausgingen; die meisten aber blieben an der Unglücksstelle zurück, in stummer Betrachtung des gestrandeten »Jonathan« versunken.

Der vernünftigste Teil der Emigranten, welche sich nicht vom ersten Impuls hinreißen ließen, blieb an Bord; ihre Blicke hingen an dem Kaw-djer, als erwarteten sie aus dem Munde dieses Unbekannten, dessem Eingreifen sie ihr Leben zu danken hatten, weitere Befehle.

Da er aber nicht gewillt schien, sein Gespräch mit dem Hochbootsmann zu unterbrechen, löste sich endlich einer der Auswanderer von einer aus vier Personen – zwei davon waren Frauen – gebildeten Gruppe los und trat auf die Sprechenden zu. Er mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen; an seinem Gesichtsausdruck, seinem Gang, seiner Haltung, an tausend Kleinigkeiten und dennoch untrüglichen Anzeichen erkannte man in ihm auf den ersten Blick den gebildeten Mann, welcher unzweifelhaft eine höhere Lebensstellung bekleidet und in anderen Kreisen verkehrt haben mußte, als diejenigen es waren, in welche ihn jetzt eine Laune des Schicksals hineingeweht hatte.

»Mein Herr, sprach er den Kaw-djer an, gestatten Sie mir vor allem, Ihnen meinen Dank auszusprechen. Sie haben uns vor dem sicheren Tode errettet. Ohne Sie und Ihre Gefährten wären wir unvermeidlich verloren gewesen.«

Die Stimme, jede Miene, jede Gebärde dieses Reisenden stellten ihm das Zeugnis aus, ein offener, ehrlicher Charakter zu sein. Mit großer Herzlichkeit drückte der Kaw-djer die Hand, die ihm in so entgegenkommender Weise geboten wurde und sagte in englischer Sprache, von der auch der Fremde Gebrauch gemacht hatte:

»Wir freuen uns aufrichtig, mein Freund Karroly und ich, daß es uns, dank unserer genauen Kenntnis dieser Wasserstraßen, ermöglicht wurde, eine so gräßliche Katastrophe zu verhüten.

– Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle: ich bin Emigrant und heiße Harry Rhodes und dort stehen meine Frau, meine Tochter und mein Sohn, sagte der Reisende und bezeichnete die drei Personen, mit denen er gesprochen hatte, ehe er zu dem Kaw-djer zugetreten war.

– Mein Gefährte, erwiderte der Kaw-djer, seinerseits vorstellend, ist der Lotse Karroly und dies ist sein Sohn Halg; es sind Feuerländer, wie Sie sehen.

– Und Sie? fragte Harry Rhodes.

– Ich bin ein Freund der Indianer, die mir den Namen »Kaw-djer« gegeben haben; einen anderen kenne ich nicht mehr!«

Harry Rhodes blickte mit unverhohlenem Staunen auf den Sprecher, welcher diese Frage mit unbewegter, kalter Miene beantwortet hatte. Ohne die Sache weiter zu verfolgen, erkundigte er sich:

»Was ist Ihre Ansicht über unsere Lage? Was sollen wir tun?

– Wir sprachen gerade davon, Mr. Hartlepool und ich, sagte der Kaw-djer. Alles hängt vom »Jonathan« ab; wir müssen vor allem wissen, in welchem Zustand er sich befindet. Ich gestehe aufrichtig, daß ich nicht viel Hoffnung habe, trotzdem muß er erst sorgfältig untersucht werden, ehe eine Entscheidung getroffen werden kann.

– An welcher Stelle des Magalhães-Archipels sind wir gestrandet? fragte Harry Rhodes.

– An der Südostküste der Insel Hoste.

– Nahe der Magalhães-Straße?

– Nein, die Unglücksstelle ist im Gegenteil sehr weit davon entfernt!

– Teufel!! ... war Harry Rhodes' einzige Antwort.

– Ich wiederhole nochmals, alles hängt von der genauen Untersuchung des »Jonathan« ab, darüber müssen wir uns in erster Linie Gewißheit verschaffen, dann können und werden wir das weitere beschließen.«

Von Meister Hartlepool, Harry Rhodes, Halg und Karroly gefolgt, stieg der Kaw-djer zu den Klippen hinab, wo der »Jonathan« von allen Seiten besichtigt wurde.

Nun wurden die schlimmen Befürchtungen traurige Gewißheit: das Schicksal des amerikanischen Klippers war besiegelt, er war unrettbar verloren. Der Schiffskörper war an fast zwanzig Stellen geborsten. Die ganze Steuerbordseite entlang klaffte ein breiter Riß; der Schaden war unheilbar, um so mehr, als es sich in diesem Falle um eine Eisenkonstruktion handelte. Angesichts dieser sprechenden Tatsachen wäre der leiseste Hoffnungsstrahl Torheit gewesen. Da der »Jonathan« nicht mehr flott zu machen war, blieb nichts anderes zu tun übrig, als ihn seinem Schicksal zu überlassen. Bald würde das Meer seine Beute vollständig verschlungen haben.

»Meiner Meinung nach, sagte endlich der Kaw-djer, wäre das Vernünftigste, die Ladung auszuschiffen und an einer gut geschützten Stelle zu bergen. Während dieser Zeit könnte unsere Schaluppe ausgebessert werden, die im Moment des Anpralles schwere Beschädigungen erlitten hat. Sobald sie wieder seetüchtig ist, soll Karroly einen der Emigranten nach Punta-Arenas führen, denn der Gouverneur muß von dem geschehenen Unglück in Kenntnis gesetzt werden. Dieser wird dann sicher in möglichster Eile die nötigen Schritte tun, Ihnen in Ihre Heimat weiter zu helfen.

– Das ist sehr richtig bemerkt und gedacht, pflichtete ihm Harry Rhodes bei.

– Ich glaube, nahm der Kaw-djer wieder das Wort, daß es gut sein wird, diesen Plan Ihren Gefährten mitzuteilen. Wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben, könnten wir alle am Strand zusammenrufen.«

Man mußte geraume Zeit auf die Rückkehr der verschiedenen Abteilungen warten, welche sich nach allen Richtungen hin zerstreut hatten. Aber noch vor neun Uhr morgens hatte der Hunger alle Passagiere zum gestrandeten Schiffe zurückgeführt. Harry Rhodes, welcher einen etwas erhöhten Felsblock als Rednerbühne benützte, teilte seinen Gefährten den Vorschlag des Kaw-djer mit.

Der Erfolg war nicht durchgreifend, die Rede Harry Rhodes' wurde mit gemischten Gefühlen aufgenommen, einige der Zuhörer machten kein Hehl aus ihrer Unzufriedenheit und äußerten laut ihr Mißfallen.

»Jetzt eine Ladung von dreitausend Tonnen ausschiffen, das fehlte uns gerade noch! murrte der eine.

– Für wen nimmt man uns denn? sagte in beleidigtem Tone ein zweiter.

– Als ob wir nicht schon der Strapazen genug und übergenug erduldet hätten!« brummte ein dritter vor sich hin.

Endlich wurde aus dem Stimmengewirr ein verständlicher Ruf laut.

»Ich bitte um das Wort, sagte jemand in schlechtem Englisch.

Harry Rhodes, welcher weder den Sprecher noch dessen Namen kannte, stieg sogleich von seinem Felsen herab.

Sein Platz wurde augenblicklich von einem Manne eingenommen, welcher in den besten Jahren stand. Sein Gesicht zeigte schöne Züge, blaue, träumerisch blickende Augen und war von einem dichten, dunkelbraunen Vollbart umrahmt.

Der Eigentümer dieses prächtigen Bartes schien darauf nicht wenig eitel zu sein, denn seine Hand, die trotz harter Arbeit ihre schöne Form und weiße Farbe bewahrt hatte, strich fast unausgesetzt, wie liebkosend, über die langen, seidenweichen Haarwellen hin.

»Kameraden, rief er, indem er unruhigen Schrittes auf dem schmalen Felsen hin- und herwanderte wie einst Cicero auf seiner Rednerbühne; es ist sehr begreiflich, daß euch die Überraschung ob des soeben Vernommenen Ausrufe des Unwillens erpreßt hat. Was schlägt man euch denn eigentlich vor? Ihr sollt während einer unabsehbaren, unbestimmbaren Zeit auf dieser ungastlichen, öden Küste verweilen und stumpfsinnig an der Bergung der Schiffsladung arbeiten, die gar nicht unser Eigentum ist. – Warum sollen wir erst auf die Rückkehr der Schaluppe warten? Es ist doch viel einfacher, wenn sie uns gruppenweise nach Punta-Arenas führt!

– Das ist sicher! – Recht hat er! – Das ist das einzig Vernünftige!« – Diese und ähnliche Bemerkungen wurden in der Zuhörerschar laut.

Des Kaw-djer ruhige Stimme drang klar durch das Durcheinander:

»Gewiß steht euch die Wel-kiej zur Verfügung, das bedarf keiner Erwähnung; aber es würde zehn Jahre dauern, ehe alle nach Punta-Arenas gebracht werden könnten.

– Das ist möglich, gab der Redner nach einigem Zögern zu; wir bleiben also hier, um die Rückkehr der Schaluppe abzuwarten; aber ich sehe durchaus keinen Grund, warum wir wie die Lasttiere arbeiten sollen, um die Ladung auszuschiffen! Alles, was unser persönliches Eigentum ist, werden wir selbstverständlich aus dem Schiffsraum herausholen, alles übrige geht uns nichts an! ... Haben wir denn irgendwelche Verpflichtungen gegen die »Gesellschaft«, der alles gehört? Ganz im Gegenteil; sie hat uns schadlos zu halten für alle Unglücksfälle, die uns betroffen haben! Die Katastrophe ist die natürliche Folge ihres Geizes: Hätte man uns ein besser ausgerüstetes und besser geführtes Schiff zur Verfügung gestellt, wäre es nicht so weit gekommen. Das Geschehene ist nun nicht mehr ungeschehen zu machen, eines aber dürfen wir niemals und nirgends vergessen, daß wir jener bedauernswerten, aus unzähligen Köpfen bestehenden Menschenklasse angehören, welche nur dazu geboren scheint, von einer glücklicheren, mächtigeren Klasse ausgenützt zu werden. Und wir sind nicht gutmütig-dumm genug, uns zu Arbeitstieren dieser Blutsauger zu erniedrigen!«

Die Rede fand entschieden Beifall. Bravorufe wurden laut, gefolgt von rohem Gelächter. Durch diese Zustimmung begeistert, fuhr der Redner mit neuem Eifer fort:

»Jawohl, ausgenützt werden wir armen Arbeiter – dabei klopfte er heftig auf die eigene Brust – ausgebeutet werden wir von gewissenlosen Menschen! Es ist uns verwehrt, auf heimatlichem Grund und Boden im Schweiße unseres Angesichtes unser Brot zu verdienen. Aber wir wären wohl mehr als dumm zu nennen, wenn wir uns dazu hergeben wollten, unsere von der Arbeit gebeugten Rücken mit diesem Eisengerümpel zu beladen; zwar haben es fleißige Arbeiter, wie wir es sind, geschaffen, aber nichtsdestoweniger ist es Eigentum eines auf Knechtung aller Menschenwürde und -rechte bedachten Kapitalismus, dessen schrankenlosem Egoismus wir es zu danken haben, daß wir heimatlos geworden sind, daß unsere Kinder kein Vaterland haben!«

Die meisten Auswanderer hatten mit halb erstaunten, halb erschreckten Mienen diesem Wortschwall gelauscht, welcher ihnen in gebrochenem, durch einen stark fremdländischen Akzent gekennzeichnetem Englisch entgegengeschleudert wurde; einige waren entschieden schwankend geworden und nur eine kleine Gruppe, welche sich um die improvisierte Rednertribüne geschart hatte, war ganz einer Meinung mit dem Sprecher und äußerte ihren Beifall in nicht mißzuverstehender Weise.

Und wieder war es der Kaw-djer, welcher Ordnung schaffte.

»Es ist mir unbekannt, wem die Ladung des »Jonathan« gehört, sagte er sehr ruhig, aber meine Erfahrung, meine Kenntnis dieses Landes ermächtigt mich, Ihnen die Versicherung zu geben, daß sie wahrscheinlich noch von größter Wichtigkeit sein wird. Niemand von uns kann sagen, wie die Zukunft sich gestalten wird, welchen Ereignissen wir entgegengehen. Darum meine ich, es ist klüger, die Ladung nicht preiszugeben!«

Der frühere Redner schien keine Lust zu haben, darauf zu antworten, und so bestieg Harry Rhodes abermals den Felsen und ließ über den Vorschlag des Kaw-djer abstimmen. Ohne Widerrede wurde er angenommen mit zum Zeichen der Zustimmung hoch erhobenen Händen.

»Der Kaw-djer erkundigt sich, fügte Harry Rhodes hinzu, indem er eine Frage weitergab, die an ihn selbst gerichtet worden war, ob es nicht Zimmerleute unter euch gibt, welche ihm behilflich sein möchten, die Schaluppe auszubessern.

– Hier! rief ein Mann von ehrlichem Aussehen und erhob seinen Arm hoch über die Köpfe der Umstehenden.

– Hier! meldeten sich fast gleichzeitig zwei andere Auswanderer.

– Der erste, welcher sich bereit erklärt hat, heißt Smith, erklärte Hartlepool dem Kaw-djer. Er ist ein braver Bursche und steht in Diensten der »Gesellschaft«. Die beiden anderen kenne ich nicht. Ich weiß nur, daß der eine Hobard heißt.

– Und wer ist der Redner, kennen Sie den?

– Ich glaube, daß er ein französischer Emigrant ist. Man sagte mir, daß er Beauval heiße, aber mit Bestimmtheit kann ich es nicht behaupten.«

Der Hochbootsmann täuschte sich nicht; so und nicht anders war der Name und die Nationalität des Redners, dessen sehr bewegter Lebenslauf in kurzen Worten gekennzeichnet werden kann.

Ferdinand Beauval war Advokat gewesen und vielleicht hätte er es in dieser Lebensstellung noch weit gebracht, wenn er nicht gleich in der ersten Zeit seiner Tätigkeit von der Tarantel »Politik« derart gestochen worden wäre, daß sein ganzes Sinnen und Trachten davon beeinflußt wurde. Um einen unbesiegbaren, dabei ziemlich unklaren Ehrgeiz zu befriedigen, hatte er sich einer sehr fortschrittlich gesinnten Partei angeschlossen und vernachlässigte von diesem Zeitpunkt an das Justizgebäude, um desto fleißiger an öffentlichen Versammlungen teilzunehmen. Wahrscheinlich wäre er, so gut wie ein anderer, über kurz oder lang zum Abgeordneten gewählt worden, hätte er seine Wahl geduldig abwarten können. Aber seine bescheidenen Mittel waren erschöpft, ehe der Erfolg sein Streben gekrönt hatte. Um sein Leben weiterzufristen, hatte er zu allen sich ihm bietenden Mitteln gegriffen, war in zweifelhafte Geschäfte verwickelt worden und von diesem Tage an war sein moralischer Verfall besiegelt; von Stufe zu Stufe sank er, bis ihn der Mangel, das Elend einer unhaltbaren Existenz zwang, auf dem Boden des freien Amerika sein Glück zu suchen.

Aber auch in der Neuen Welt hatte ihm das Schicksal nur ein finsteres Antlitz gezeigt, auch hier lächelte ihm das Glück nicht. Nachdem er von Stadt zu Stadt gewandert war und sich nach und nach in jedem Erwerbszweig versucht hatte, war er endlich nach San Francisco gekommen. Immer vom Geschick grausam verfolgt, war ihm schließlich nur ein Ausweg geblieben: die abermalige Verbannung.

Es war ihm gelungen, sich das notwendige Minimalkapital zu verschaffen und er hatte sich in die Auswandererliste einschreiben lassen auf die pompöse Ankündigung hin, die den ersten Ansiedlern der Delagoa-Bai das Blaue vom Himmel versprach. Jetzt, nach der Strandung des »Jonathan«, waren seine Hoffnungen wieder vernichtet und er war gleich den anderen Unglücklichen verurteilt, auf der Halbinsel Hardy ein elendes Dasein zu fristen. Gleichwohl hatten diese fortgesetzten Schicksalsschläge nicht vermocht, das Selbstvertrauen Ferdinand Beauvals zu erschüttern. Er baute auf seinen Stern. Alles ihm widerfahrene Mißgeschick schrieb er dem Schuldkonto anderer zu, deren Bosheit, Undankbarkeit, Eifersucht; er war sich seines Wertes wohl bewußt und nichts konnte ihm die Gewißheit rauben, daß es ihm eines Tages bei günstiger Gelegenheit gelingen würde, die gegnerischen Strömungen zu besiegen, über seine Verfolger zu triumphieren und eine Stellung einzunehmen, die ihm angesichts seiner hervorragenden Eigenschaften gebührte.

Deshalb hatte er auch nicht unterlassen, das Rednertalent – das er sich bescheidenerweise zuschrieb – zu üben und spielte sich als leitendes Haupt der Expedition auf. Kaum an Bord des »Jonathan«, begann er zündende Reden zu halten und oft mußte Kapitän Leccar energisch eingreifen, um dem Unfug zu steuern.

Trotz dieses Widerstandes war es Ferdinand Beauval gelungen, seit dem Beginn der Reise, die ein so tragisches Ende fand, einige Anhänger zu finden und kleine Erfolge zu ernten. Manche seiner Reisegefährten – allerdings nur eine unbedeutende Anzahl – hatten den demagogischen Auseinandersetzungen, die das Leitmotiv einer jeden seiner Ansprachen bildeten, stets ein geneigtes Ohr geliehen; diese bildeten jetzt eine dichte Gruppe um den Schauplatz seiner Beredsamkeit.

Die Anzahl seiner Jünger wäre wohl größer gewesen, wenn Beauval – welchen das Mißgeschick bis auf das Schiff verfolgte – nicht an Bord des »Jonathan« einen nicht zu unterschätzenden Konkurrenten gefunden hätte. Dieser Konkurrent war niemand anderer als ein Nordamerikaner, namens Lewis Dorick, ein Mann mit glattrasiertem Gesicht, eisigkalten Mienen, welcher messerscharfe Reden hielt. Dieser Lewis Dorick verfocht dieselben Theorien wie Ferdinand Beauval, aber in noch verschärfterem Maßstabe. Während dieser dem Sozialismus das Wort redete, nach welchem der Staat als Alleinbesitzer aller Wertobjekte einem jeden sein Amt und seinen Anteil zuweisen sollte, vertrat Dorick den reinen Kommunismus, demzufolge alles gleichzeitig Eigentum aller und jedes einzelnen sein sollte.

Außer der Uneinigkeit dieser beiden sozialdemokratischen Führer in bezug auf die Prinzipien, die sie zum Ausgangspunkt ihrer Proselytenmacherei gewählt hatten, trat noch ein anderer charakteristischer Unterschied hervor. Während Beauval sich mit klingenden Worten und leeren Träumen zufriedengab und sonst ziemlich sanftmütiger Natur war, zeigte sich Dorick von wilder, herrschsüchtiger Gemütsart, sein kaltes Herz kannte kein Erbarmen. Und wenn es auch dem einen im Feuer der Begeisterung gelang, seine Zuhörerschaft mit sich fortzureißen, sie derart aufzuregen, daß ihr jeder Gewaltakt als eine Heldentat erschienen wäre, so war er dennoch persönlich ganz unschädlich, während des anderen »Ich« gleichbedeutend mit »Gefahr« war.

Dorick verstand die Gleichheit auf eine Weise, die das schöne Wort hassenswert machte. Er blickte nie nach abwärts, seine Blicke waren stets nach oben gerichtet. Der Gedanke an das elende Dasein, zu welchem die überwiegende Majorität der Menschen verdammt ist, ließ sein versteintes Herz in keiner leisen Regung des Mitleides höher schlagen; aber daß ein kleiner Bruchteil der Menschheit über ihm stand, einer höheren gesellschaftlichen Sphäre angehörte als er, das erfüllte ihn mit unsäglicher Wut.

Ihn beruhigen zu wollen, wäre Wahnsinn gewesen. Durch den schüchternsten Widerspruch machte man sich den ungezügelten Menschen zum unversöhnlichen Feinde, welcher – wenn man ihm freie Hand gelassen hätte – vor keiner Gewalttätigkeit, keinem Morde zurückgeschreckt wäre, um sich zu rächen.

Seiner kranken Seele verdankte Dorick all sein Mißgeschick. Er war Professor für Literatur und Geschichte, konnte aber dem Verlangen nicht widerstehen, von seinem Lehrstuhl aus ganz andere Wissenschaften zu verbreiten. Wo er konnte, streute er seine freisinnigen Grundsätze ein, und zwar nicht in der Form einer rein theoretischen Erörterung, sondern im Gewande einer peremptorischen Behauptung, die seinen Hörern die Pflicht auferlegte, sich seinen Aussprüchen zu beugen.

Die naturgemäßen Folgen eines solchen Vorgehens ließen nicht lange auf sich warten. Der Leiter der Anstalt hatte Dorick für dessen Bemühungen seinen besten Dank ausgesprochen, ihn aber gleichzeitig ersucht, sich um einen anderen Wirkungskreis umzusehen. Nachdem die gleichen Ursachen allemal die gleichen Wirkungen aufweisen, wiederholte sich der eben geschilderte Vorgang, Dorick verlor auch seine zweite Anstellung und so ging es einige Zeit fort, bis sich alle Tore unwiderruflich vor ihm geschlossen hatten. Überall abgewiesen, außerstande, seinen Unterhalt zu verdienen, hatte er auf dem »Jonathan« Zuflucht gesucht und gefunden, aus dem ehemaligen Professor war ein Auswanderer geworden.

Während der Überfahrt hatte sowohl Dorick als auch Beauval Anhänger geworben; dieser durch seine zündende Beredsamkeit, die von keinerlei Gewissensskrupeln gehemmt wurde und keinerlei offene Kritik zu fürchten hatte – jener durch die imponierende Autorität eines Mannes, welcher sich als Wissender fühlt und nur Gesetze unumstößlicher Wahrheit lehren kann. Den bescheidenen Anhängerkreis, welchen jeder der Führer um sich gesammelt hatte, verziehen sie sich gegenseitig nicht. Und wenn sie auch nach außen hin die Formen strikter Höflichkeit wahrten, so war ihr Inneres doch von Haß und Neid erfüllt.

Kaum hatte man auf der Insel Hoste festen Fuß gefaßt, hatte Beauval keinen kostbaren Augenblick verloren und gleich versucht, über seinen Rivalen einen kleinen Sieg zu erringen. Die Gelegenheit war ihm günstig; es ergab sich ein Vorwand, der es ihm ermöglichte, auf den Felsen zu klettern und eine Ansprache zu halten, deren Inhalt wir kennen. Daß seine Rede ganz erfolglos war, das bekümmerte ihn nicht. Die Hauptsache für ihn war, sich in den Vordergrund zu drängen, sich bemerkbar zu machen, und das war ihm gelungen. Die Menge gewöhnt sich an diejenigen, welche sie oft sieht und hört. Wer schließlich zum Führer gewählt werden will, muß nur einige Zeit hindurch die Rolle desselben spielen.

Während der kurzen Unterredung des Kaw-djer mit Hartlepool hatte Harry Rhodes von der Höhe des Felsens aus an seine Gefährten folgendermaßen das Wort gerichtet:

»Nachdem der Vorschlag angenommen ist, muß man einen aus unserer Mitte wählen, welcher die Leitung der Arbeit übernimmt. Es ist keine Kleinigkeit, ein Schiff von dreitausendfünfhundert Tonnen Inhalt zu entladen, dazu gehört unbedingt Methode. Wenn es euch recht ist, soll Mr. Hartlepool, der Hochbootsmann, dieses schwierige Amt übernehmen; er wird am besten verstehen, einem jeden die Arbeit zuzuweisen, die er zu leisten hat, und Ratschläge zu geben, wie alles anzufassen ist, damit die Ausschiffung rasch und gut zu Ende geführt wird. Wer meiner Meinung ist, erhebe die Hand!«

Alle Hände – mit ganz wenigen Ausnahmen – erhoben sich zustimmend.

»Das wäre erledigt! sagte Harry Rhodes, indem er, gegen den Hochbootsmann gewendet, hinzufügte: welches sind Ihre Befehle?

– Das Frühstück zu nehmen! war Hartlepools kurze und bündige Erwiderung. Um arbeiten zu können, muß man die nötigen Kräfte haben.«

In vollständigem Durcheinander begaben sich die Auswanderer an Bord, wo ihnen von der Mannschaft eine aus Konserven bestehende Mahlzeit verabreicht wurde. Während des Essens nahm Hartlepool den Kaw-djer beiseite und sagte mit sorgenvoller Miene:

»Erlauben Sie mir eine Bemerkung; ich wage zu behaupten, daß ich ein tüchtiger Seemann bin, aber – ich habe immer einen Kapitän gehabt.

– Was wollen Sie damit sagen? fragte der Kaw-djer.

– Ich meine, brachte Hartlepool mit immer unschlüssiger werdender Miene hervor, daß ich mir schmeicheln kann, einen erhaltenen Befehl tadellos auszuführen, aber das Kommandieren selbst ist nie meine Sache gewesen. Fest die Hand am Steuer halten, ja, das kann ich, zu des strengsten Befehlshabers Zufriedenheit, aber selbst die einzuhaltende Richtung angeben, das ist etwas anderes!«

Der Kaw-djer betrachtete den Hochbootsmann verstohlen. Es gab also doch brave, starke, ehrliche Menschen, für die eine leitende Kraft, ein Oberhaupt eine Notwendigkeit war?

»Sie wollen also, nahm er das Wort, gerne die Arbeit übernehmen, im einzelnen die nötigen Anordnungen geben, wären aber froh, vorher einige allgemeine Ratschläge zu bekommen?

– Richtig! sagte Hartlepool.

– Nichts leichter als das; wieviel Arme stehen Ihnen zur Verfügung?

– Bei der Abreise von San Francisco bestand die Bemannung des »Jonathan« aus vierunddreißig Köpfen, inklusive den Offizieren, dem Koch und den beiden Schiffsjungen; dazu kamen eintausendeinhundertfünfundneunzig Passagiere. Im ganzen waren wir demnach eintausendzweihundertneunundzwanzig Personen; aber davon sind viele nicht mehr am Leben.

– Wir werden später Abzählung halten; nehmen wir vorläufig die runde Zahl zwölfhundert an. Die Frauen und Kinder abgerechnet, bleiben uns beiläufig siebenhundert Männer zur Verfügung. Diese müssen Sie in zwei Gruppen teilen. Zweihundert Mann haben an Bord zu bleiben und die Ladung aus dem Schiffsraum auf Deck zu schaffen. Ich führe die übrigen in einen ganz naheliegenden Wald, wo wir einige hundert Bäume fällen werden. Wenn wir die Äste von den Stämmen entfernt haben werden, müssen je zwei Bäume übereinandergelegt und fest zusammengeschnürt werden; auf diese Weise erhalten wir eine Serie von Baumbündeln, die, das eine dicht neben das andere gelegt, einen Weg vom Schiffe bis zum Strande geben sollen. Zur Zeit der Flut werden Sie eine schwebende Brücke haben und während der Ebbe wird das Floß auf den Klippen aufliegen und Sie müssen es nur ein wenig stützen, um ihm die Stabilität zu sichern. Bei diesem Vorgehen und von einem so zahlreichen Personal unterstützt, werden wir die Ladung in drei Tagen geborgen haben.«

Hartlepool hielt sich mit großer Geschicklichkeit an diese Instruktionen und wirklich – wie es der Kaw-djer vorausgesagt hatte – war die ganze Ladung des »Jonathan» am Abend des 19. März am Strand aufgestapelt und aus dem Bereiche der beutegierigen Wogen geschafft. Zum Glück erwies sich der Dampfkran bei eingehender Untersuchung als vollkommen tauglich; dieser Umstand hatte die Hebung der schwersten Lasten natürlich bedeutend erleichtert.

Gleichzeitig waren mit Hilfe der drei Zimmerleute Smith, Hobard und Charley die Reparaturen der Schaluppe rasch vorwärtsgeschritten. Am 19. März waren alle Schäden ausgebessert und sie war wieder diensttauglich.

Jetzt mußten die Auswanderer zur Wahl eines Abgesandten schreiten. Wieder bot sich für Ferdinand Beauval die aufs freudigste begrüßte Gelegenheit, die Rednerbühne zu besteigen, um an die Wähler eine Ansprache zu halten. Aber er war entschieden vom Unglück verfolgt! Wenn ihm auch die Genugtuung zuteil wurde, daß sich etwa fünfzig Stimmen zu seinen Gunsten erhoben, während Lewis Dorick – welcher sich übrigens nicht im geringsten angestrengt hatte, die Rolle eines Wahlkandidaten zu spielen – nicht eine Stimme erhielt, so hatte schließlich doch nicht er, sondern ein gewisser Germain Rivière die Majorität der Wähler auf seiner Seite. Er war Landmann, franko-kanadischer Abstammung, Vater eines Mädchens und vier prächtiger Knaben. Von seiner sicheren Rückkehr konnte man aus letzterem Grunde überzeugt sein.

Unter Karrolys Führung, welcher Halg und den Kaw-djer auf der Insel Hoste zurückließ, ging die Wel-kiej am 20. März unter Segel und allsogleich war man darauf bedacht, eine vorläufige Unterkunft zu schaffen. Es handelte sich ja nicht darum, eine dauernde Niederlassung zu begründen; man brauchte bloß eine Art Schutzhütten bis zur Wiederkehr der Wel-kiej, deren Reise in drei Wochen beendet sein konnte. Deshalb nahm man auch Abstand, die zerlegbaren Häuser aufzustellen, die mitgeführt worden waren; man begnügte sich damit, die Zelte aufzuschlagen, die sich im Schiffsraum gefunden hatten. Mit Zuhilfenahme alter Segel, die in einem besonderen Verschlag entdeckt worden waren, konnten alle Reisenden in den Zelten geborgen werden, selbst der gebrechliche, empfindliche Teil der Gerätschaften wurde darinnen untergebracht. Man versäumte auch nicht, mit etwas Flechtwerk einen Hühnerhof zu improvisieren und mittels Pfählen und Stricken eine Umzäunung für die vierbeinigen Tiere herzustellen, die der »Jonathan« transportiert hatte.

Man sieht, diese Menschenmenge befand sich durchaus nicht in der hoffnungslosen Lage von Schiffbrüchigen, welche ohne alle Hilfsmittel auf eine unbekannte, öde Küste geworfen werden. Der Schauplatz der Katastrophe war der Feuerlands-Archipel, der in allen Karten genau eingezeichnet und kaum hundert Meilen von Punta-Arenas entfernt ist. Außerdem waren Lebensmittel im Überfluß vorhanden. Diese Umstände berechtigten daher zu keiner ernstlichen Sorge und die Auswanderer führten hier ein ebenso angenehmes Leben – das etwas rauhere Klima ausgenommen – wie sie es in gleicher Jahreszeit ihres Aufenthaltes auf afrikanischem Boden gehabt hätten.

Bei der Ausschiffung hatten der Kaw-djer und Halg selbstredend tüchtig mit Hand angelegt. Beide hatten ihre beste Kraft eingesetzt, aber die Hilfeleistungen des Kaw-djer erwiesen sich besonders nützlich. Wie groß auch seine Bescheidenheit war, welche Mühe er sich gab, unbemerkt zu bleiben – seine Überlegenheit trat überall so deutlich hervor, daß er von allen Seiten um Rat gefragt wurde. Wenn es sich um die Fortschaffung eines besonders schweren Gewichtes handelte, um die Stauung der Gepäcksstücke, das Aufstellen der Zelte – immer wandte man sich an ihn um Rat. Und nicht Hartlepool allein nahm in zweifelhaften Fällen seine Zuflucht zu ihm, auch die Mehrzahl der übrigen ratlosen Menschen, welchen derartige Arbeiten ungewohnt und unbekannt waren.

Diese notdürftigen Einrichtungen waren, wenn auch nicht beendigt, so doch ziemlich weit gediehen, als sich die unwirtlichen klimatischen Verhältnisse wieder in recht unangenehmer Weise bemerkbar machten. Am 24. März begann ein heftiger Platzregen, der dreimal vierundzwanzig Stunden andauerte und erst von einem starken Winde begleitet wurde, der dann zum heulenden Sturm anwuchs. Als dann das Toben der Atmosphäre ein wenig beruhigt war, hätte man vergeblich den »Jonathan« auf seinem Klippenbett gesucht! Ein paar schwimmende Holzstücke, angeschwemmtes Eisenblech und verbogene Stangen war alles, was von dem stolzen Klipper übrig blieb, dessen Kiel noch wenige Tage vorher so fröhlich die Wogen durchschnitten hatte.

Obwohl alles, was nur von geringstem Werte war, vom Schiffe entfernt worden war, beschlich dennoch ein Gefühl der Wehmut die Emigranten, als sie es für immer verschwunden sahen. Jetzt waren sie ganz vereinsamt, ganz abgeschlossen von dem übrigen Teile der Menschheit, welche – falls der Schaluppe ein Unfall zustoßen sollte – vielleicht niemals vom Verbleib und Ergehen ihrer bedauernswerten Brüder Kenntnis erlangen wird!

Dem Wüten des Orkans folgte eine Periode völliger Windstille. Man benützte sie, um eine Zählung der überlebenden Emigranten und Matrosen vorzunehmen. Mit Hilfe der Passagierliste, die sich an Bord gefunden hatte, nahm Hartlepool die Zählung vor, die als betrübendes Ergebnis die Gewißheit brachte, daß nicht weniger als einunddreißig Menschen in der Unglücksnacht den Tod gefunden hatten. Von diesen Opfern der Katastrophe gehörten fünfzehn der Bemannung an, sechzehn waren Passagiere. Folglich waren noch eintausendeinhundertneunundsiebzig Auswanderer am Leben und neunzehn Mann (von den vierunddreißig auf der Mannschaftsliste genannten) der Besatzung. Rechnete man zu dieser Menschenanzahl die beiden Feuerländer und ihren Gefährten dazu, so erreichte die Kopfzahl der Bevölkerung der Insel Hoste die Ziffer eintausendzweihundertundeins: Männer, Frauen und Kinder.

Der Kaw-djer wollte das schöne Wetter nicht unbenutzt vorübergehen lassen, um die dem Lager zunächst gelegenen Teile der Insel auf ihren Wert hin zu untersuchen; es wurde bestimmt, daß Hartlepool, Harry Rhodes, Halg und drei der Emigranten: Gimelli, Gordon und Ivanoff (der erste italienischer, der zweite amerikanischer und der dritte russischer Abstammung), ihn auf der kurzen Expedition begleiten sollten. Aber im letzten Augenblick tauchten noch zwei Bittsteller auf, welche mitgenommen werden wollten.

Der Kaw-djer begab sich gerade nach dem gemeinsam verabredeten Versammlungsort, als seine Aufmerksamkeit durch zwei Kinder gefesselt wurde, welche augenscheinlich auf ihn zuschritten. Sie mochten zehn Jahre zählen. Das eine derselben hatte eine unternehmende, fast kecke Miene aufgesteckt und kam mit hocherhobenem Kopfe dahermarschiert, das Näschen in der Luft; es bemühte sich, einen recht nachlässigen Gang zur Schau zu tragen, was einen komischen Eindruck machte. Das andere Kind folgte ihm schüchtern in einer Entfernung von fünf Schritten und sah sehr bescheiden aus, was zu der zarten, schmächtigen Gestalt gut paßte.

Das erste, ein Knabe, sprach den Kaw-djer an:

»Exzellenz ...,« begann er.

Diese unvorhergesehene Ansprache belustigte den Kaw-djer; er sah interessiert auf das kleine Bürschchen herab, das die stumme Prüfung tapfer aushielt, ohne die geringste Verwirrung zu zeigen oder die Augen zu Boden zu schlagen.

»Exzellenz? wiederholte der Kaw-djer lächelnd. Warum nennst du mich Exzellenz, mein Junge?«

Der Knabe machte große, verwunderte Augen.

»Ist das nicht die gebräuchliche Anrede für Könige, Minister und Bischöfe? fragte er und es lag wie Angst in der zitternden Stimme, daß er die Regeln der Höflichkeit nicht genügend beobachtet habe.

– Ah! rief der Kaw-djer erstaunt. Und wo hast du denn gesehen, daß man Könige, Minister und Bischöfe mit »Exzellenz« anreden muß!

– In den Zeitungen habe ich's gelesen, antwortete das Kind, ganz stolz auf sein Wissen.

– Du liest die Zeitungen?

– Warum nicht? – Wenn man sie mir gibt!

– Ah! ah! – Wie heißest du?

– Dick.

– Dick – und wie noch?«

Der Knabe schien nicht zu verstehen.

»Nun, welchen Namen hat dein Vater?

– Ich habe keinen Vater.

– Und deine Mutter, wie heißt sie?

– Ich habe weder Vater noch Mutter, Exzellenz!

– Wieder »Exzellenz«, sagte der Kaw-djer, welcher für dieses eigenartige Kind ein stets wachsendes Interesse fühlte; so viel ich weiß, bin ich weder König, noch Minister, noch Bischof!

– Sie sind aber der Gouverneur!« erklärte der Junge mit Nachdruck.

Der Gouverneur! ... Der Kaw-djer stand da, wie aus den Wolken gefallen.

»Woher hast du denn diese Weisheit? fragte er endlich. Die Frage schien den Knaben zu verwirren.

– Nun?« bestand der Kaw-djer auf seiner Frage.

Dick zögerte mit der Antwort und war sehr verlegen.

»Ich weiß nicht, woher ..., sagte er endlich stockend. Weil Sie immer befehlen ... und – alle nennen Sie ja so!

– Ah, wirklich! Dann trat der Kaw-djer einen Schritt auf den Knaben zu und sagte mit ernster Stimme: Du bist im Irrtum, mein liebes Kind! Ich bin nicht mehr und nicht weniger als andere. Hier befiehlt niemand. Hier gibt es keinen Gebieter!«

Dick öffnete seine Augen, so weit er konnte, und starrte den Kaw-djer ganz ungläubig an. War es denn möglich, daß es keine Gebietenden gab in diesem Teile der Welt? Wie konnte er das glauben, er, ein Kind, für den die Erde bisher nur als von Tyrannen bevölkert erschienen war! Existierte wirklich irgendwo ein Wunderland ohne Herren?

»Nein, hier gibt es keinen Gebieter, sagte der Kaw-djer nochmals und erkundigte sich dann nach kurzem Schweigen:

Wo bist du geboren?

– Das weiß ich nicht.

– Wie alt bist du?

– Man sagt mir, daß ich bald elf Jahre alt werde!

– Bist du bestimmt nicht älter?

– Gewiß nicht!

– Und dein kleiner Gefährte, der fünf Schritte hinter dir wie am Boden festgewachsen scheint, wer ist das?

– Das ist Sand.

– Dein Bruder?

– Wie ein Bruder ... Mein Freund.

– Seid ihr vielleicht zusammen erzogen worden?

– Erzogen? Dick schüttelte den Kopf. Wir sind nie erzogen worden, Herr.«

Der Kaw-djer fühlte tiefes Erbarmen. Wie traurig hörten sich die wenigen Worte an, die das Kind mit fast trotziger Stimme hervorstieß, wie ein streitlustiger, junger Kampfhahn! Wie? Es gab also Kinder, welchen niemals der Segen einer Erziehung zuteil geworden ist!

»Wo hast du deinen Freund kennen gelernt?

– In Frisco San Francisco., am Kai.

– Ist das schon lange her?

– Sehr, sehr lange ... Wir waren damals noch ganz klein. Dick suchte seine Erinnerungen zu sammeln. O, das ist wenigstens sechs Monate her!

– Wahrhaftig? Nun, das ist allerdings eine sehr lange Zeit,« gab der Kaw-djer zu, ohne eine Miene zu verziehen.

Er wandte sich an den schweigsamen Kameraden des merkwürdigen Jungen:

»Jetzt komm du einmal her, aber »Exzellenz« darfst du nicht zu mir sagen. Hast du denn deine Zunge in die Tasche gesteckt?

– Nein Herr, stammelte das Kind, indem es eine Matrosenmütze zwischen seinen Händen zerdrückte.

– Warum sprichst du denn gar nichts?

– Er ist ja so schüchtern, Herr, erklärte Dick.

Mit welch wegwerfender Miene er dieses Urteil fällte!

»Ah, sagte der Kaw-djer lachend, also schüchtern ist er! Du bist es wohl nicht!

– Nein, Herr, lautete die einfache Antwort.

– Du hast auch ganz recht ... Aber was macht ihr denn eigentlich hier?

– Wir sind doch die Schiffsjungen, Herr.«

Der Kaw-djer erinnerte sich jetzt, daß Hartlepool in der Tat bei der Aufzählung der Schiffsmannschaft des »Jonathan« zwei Schiffsjungen erwähnt hatte. Bisher waren sie meist mit den Kindern der Emigranten zusammen gewesen und er hatte sie noch nicht gesehen. Nachdem sie ihn heute angesprochen hatten, schienen sie ein Anliegen zu haben.

»Wünscht ihr etwas von mir?« fragte er.

Wie vorauszusehen, nahm Dick wieder das Wort.

»Wir möchten mit Ihnen gehen, wie Mr. Hartlepool und Mr. Rhodes.

– Warum denn?«

Dicks Augen wurden ganz glänzend.

»Um etwas Neues zu sehen!«

Etwas Neues! ... Eine ganze Welt lag in diesen Worten! Das Verlangen nach dem Unbekannten, die wunderbaren, verworrenen Träume der Kindheit! Dicks Gesicht war eine Bitte, seine ganze, zarte Gestalt sprach für die Erfüllung seines Wunsches.

»Und du, wandte sich der Kaw-djer an Sand, möchtest du auch etwas Neues sehen?

– Nein, Herr.

– Was willst du denn?

– Mit Dick gehen, sagte leise das Kind.

– Du hast ihn wohl sehr lieb, deinen Dick?

– O ja, Herr, bestätigte Sand, dessen Stimme eine weit über sein Alter gehende Tiefe des Ausdruckes zeigte.«

Der Kaw-djer fühlte sein Interesse für die beiden kleinen Leute steigen. Er sah sie an! Welch ein einerseits belustigendes, anderseits reizendes und rührendes Zusammenhalten! Endlich entschied er:

»Ihr könnt mit uns kommen!

– Es lebe der Gouverneur, hoch!« riefen entzückt die beiden Kinder, welche einen wahren Freudentanz aufführten und ihre Mützen hoch in die Luft schleuderten.

Durch Hartlepool erfuhr der Kaw-djer die kurze Lebensgeschichte der beiden Freunde, seiner jüngsten Bekanntschaft; das wenige, was der Hochbootsmann berichten konnte, war sicher mehr, als die Kinder selbst wußten.

Es waren von ihren Eltern verlassene, ausgesetzte Kinder, welche man eines Abends an einem Grenzstein gefunden hatte. Daß sie am Leben blieben, war eines der Wunder, die sich häufig genug ereignen und wofür die Vernunft vergebens eine Erklärung sucht! Sie lebten also und hatten vom zartesten Alter an ihr Brot verdienen müssen, was ihnen, dank ihrer minimalen Bedürfnisse, durch kleine Handreichungen, leichte Dienstleistungen auch gelang: Botengänge, Schuhputzen, Türöffnen, der Verkauf von Feldblumen – das waren die wunderbaren Erfindungen der jungen Köpfe, die ihnen wenige Münzen einbrachten; ihre Nahrung fanden sie meistens auf dem Pflaster von San Francisco wie die Sperlinge. Sie wußten nichts voneinander und ihrer traurigen Existenz, bis das Schicksal sie vor etwa sechs Monaten einander gegenüberstellte unter Umständen, die man als »hoch tragisch« bezeichnen würde, wenn die Schauspieler einer anderen Gesellschaftssphäre angehört haben würden.

Dick ging dem Kai entlang, die Hände in den Taschen, die Mütze schief auf dem Kopfe und pfiff ein bekanntes Lied zwischen den Zähnen, als er Sand bemerkte, welcher von einem großen, laut bellenden Hund verfolgt wurde, der drohend sein spitzes Gebiß zeigte. Das furchtbar erschrockene Kind weinte laut und hielt, um das Schreckliche nicht zu sehen, seinen Arm vor die Augen.

Dick sprang hinzu und stellte sich zwischen den zitternden Knaben und dessen fürchterlichen Angreifer, sah dem Hunde fest in die Augen und erwartete furchtlos das Kommende.

Wurde das Tier durch diese herausfordernde Haltung eingeschüchtert? Jedenfalls wich es langsam zurück und lief dann mit eingezogenem Schweife davon. Ohne sich weiter um den Hund zu bekümmern, wandte sich Dick an den Knaben.

»Wie heißest du? fragte er mit der Miene eines Beschützers.

– Sand, schluchzte dieser und suchte seiner Tränen Herr zu werden; und du?

– Dick ... Wenn es dir recht ist, wollen wir Freunde sein.«

Sand antwortete nicht mit Worten; er warf sich an die Brust des Helden und so war die unzerstörbare Freundschaft geschlossen.

Hartlepool hatte von weitem diese Szene mit angesehen. Er hatte die Kinder befragt und so ihre traurige Geschichte erfahren. Er hätte Dick gern geholfen, der unerschrockene Junge gefiel ihm, und hatte ihm angeboten, ihn als Schiffsjungen mit sich auf den »Josuah Brener«, einen Dreimaster, zu nehmen, auf dem er gerade eingeschifft war. Aber beim ersten Wort hatte Dick die Bedingung gestellt, daß Sand mit ihm aufgenommen werden müsse. Hartlepool gab nach und von dieser Zeit an hatte er die beiden Unzertrennlichen nicht aus den Augen verloren; sie waren ihm vom »Josuah Brener« auf den »Jonathan« gefolgt. Der Hochbootsmann war ihr Lehrer gewesen und hatte ihnen Lesen und Schreiben beigebracht, das wenige, was er selbst wußte. Aber er hatte sein Interesse, seine Wohltaten an keine Unwürdigen verschwendet. Er war ihres Lobes voll und die Kinder hingen mit leidenschaftlicher Dankbarkeit an ihm. Natürlich hatte jeder seine Fehler; der eine war zornig, empfindlich, streitlustig, immer bereit, Krieg zu führen, wann und wo und mit wem es auch sei; der andere war schweigsamer, sanfter, bescheidener Natur und etwas schüchtern. Jener war Beschützer, dieser der Beschützte. Aber beide zeigten gleichen Arbeitseifer, gleiches Pflichtbewußtsein und die gleiche Anhänglichkeit an ihren gemeinsamen Freund, den Hochbootsmann Hartlepool.

So waren die beiden neuen Teilnehmer der Expedition beschaffen.

In den ersten Morgenstunden des 28. März wurde aufgebrochen. Man maßte sich nicht an, die ganze Insel Hoste erforschen zu wollen, nur die dem Lagerplatz zunächst liegenden Partien wollte man kennen lernen. Zuerst wurden die Berge überstiegen, welche die Mittelrippe der Halbinsel Hardy bilden, so daß deren Westküste erreicht wurde; entlang dieser wanderte man nach Norden, um auf diese Weise von der entgegengesetzten Uferlinie zum Lager zurückzukehren, wobei natürlich die Südseite der eigentlichen Insel durchquert werden mußte.

Nachdem man eine kurze Strecke weit vorgedrungen war, hatte man bald die Empfindung gewonnen, daß das Land nicht nach dem allerdings abschreckenden Anblick der Unglücksstelle beurteilt werden dürfe, und diese Empfindung verstärkte sich und wurde stets von neuem bestätigt, je weiter man nach Norden wanderte. Wenn die Halbinsel Hardy ihrer ganzen Länge nach bis zu ihrem stachlichten Ausläufer, dem Falschen Kap Hoorn, dem Auge nur unfruchtbare Felsen zeigte, so erschienen dagegen die im Nordwesten des Landes auftauchenden Hügel mit frischem Grün geschmückt.

Zu Füßen dieser bewaldeten Höhen lagerten sich weitgedehnte Prärien, die wieder von Felsenwildnissen abgelöst wurden, deren Oberfläche spärlichen Graswuchs zeigte, während in den tiefen Schluchten das Heidekraut üppig gedieh. Verstreut tauchten auch gelbblütiger Ginster auf und Seeastern mit blauen und violetten Köpfen, über einen Meter hohe Kreuzwurzstauden und eine Unzahl von Zwerggewächsen: rankender Zytisus, Pfriemengras und winzige Pimpinellen in voller Blüte. Über die Ebene aber lag ein samtweicher Rasenteppich gebreitet von dem frischesten Grün, das Tausenden von Wiederkäuern zur Nahrung hätte dienen können.

Die kleine Gesellschaft der Ausflügler hatte sich – je nach Neigung und freier Wahl – in kleinere Gruppen aufgelöst; Dick und Sand hüpften lustig dazwischen herum und verdreifachten sich die Länge des Weges durch ihre Seitensprünge. Die drei Landleute wechselten wenige Worte, während sie erstaunte Blicke ringsumher schweifen ließen; Harry Rhodes und Halg bildeten die Gesellschaft des Kaw-djer. Dieser war verschlossen, in seine gewohnte Schweigsamkeit versunken, was ihn aber nicht hinderte, für die Familie Rhodes die wärmste Sympathie zu empfinden. Dieses Interesse erstreckte sich auf alle Familienmitglieder, alle gefielen ihm: die ernste, aber gütige Mutter, der achtzehnjährige Edward und die fünfzehnjährige Clary mit ihren frischen, offenen Gesichtern und der Vater, dessen aufrichtigem, geradem Charakter und offenem, klarem Sinn man unbedingtes Vertrauen schenken mußte.

Die beiden Männer besprachen in freundschaftlicher Weise die naheliegenden Dinge. Harry Rhodes trachtete Einzelheiten über den Magalhães-Archipel zu erfahren und bereicherte seine Kenntnisse durch die Mitteilungen des Kaw-djer, während er diesem Verschiedenes aus dem Leben der einzelnen Auswanderer berichtete, was den Kaw-djer sehr interessierte.

Zunächst erfuhr er, daß Harry Rhodes durch die Schuld anderer mit fünfzig Jahren sein beträchtliches Vermögen verloren hatte und dem Ruine nahe gebracht worden war, wie er dann nach diesem Unglück, das ihn unverdienterweise betroffen, ohne Zögern beschlossen habe, mit Frau und Kindern auszuwandern, um ihnen auf diese Weise, wenn möglich, eine Zukunft zu sichern.

Aus den Schiffspapieren hatte Harry Rhodes in Erfahrung gebracht, daß nach Abrechnung der Toten die Emigranten nach ihrem jeweiligen Stande in folgende Kategorien zerfielen: siebenhundertfünfzig waren Ackerbauer, darunter fünf Japaner; einhundertundvierzehn dieser Leute waren verheiratet und von ihren einhundertundvierzehn Frauen und Kindern begleitet, deren Zahl sich auf zweihundertzweiundsechzig belief, jedoch waren einige derselben schon erwachsen; außerdem wies die Schiffsliste auf: drei Vertreter der freien Künste, fünf ehemalige Rentenbesitzer und einundvierzig Handwerker. Vier andere Handwerker, ein Maurer, ein Tischler, ein Zimmermann und ein Schlosser waren nicht eigentlich den Emigranten zuzuzählen, da sie von der »Gesellschaft für Kolonisation« aufgenommen worden waren, um den Auswanderern bei der Gründung der neuen Ansiedlung von Nutzen zu sein; also zählte man eintausendeinhundertneunundsiebzig Überlebende, dieselbe Zahl, die sich beim Aufruf der einzelnen ergeben hatte.

Nach der Aufzählung der verschiedenen Gruppen schilderte sie Harry Rhodes auch in kurzen Worten. Über die große Menge der Landleute konnte er nur wenig Einzelheiten berichten, da die Beobachtung so vieler Schwierigkeiten bot. Aber er glaubte bemerkt zu haben, daß die Brüder Moore – einer von ihnen hatte sich während der Ausschiffung der Ladung durch seine Roheit auffallend gemacht – jähzornig und gewalttätig waren und daß die Familien Rivière, Gimelli, Gordon und Ivanoff aus braven Leuten zusammengesetzt schienen, welche ruhig ihren Weg gingen und zuverlässig und fleißig bei der Arbeit waren. Der Rest waren – Durchschnittsmenschen, bei denen sich gute Eigenschaften sowie Laster vorfanden, namentlich die Trägheit und der Hang zur Trunksucht war oft zu beobachten; aber außergewöhnliche Vorkommnisse hatten sich nicht ereignet, somit war man eher auf Vermutungen angewiesen; jede Grundlage zu einem sicheren Urteil fehlte noch.

Viel weitschweifiger konnte Harry Rhodes von den übrigen Gruppen berichten. Die vier von der »Gesellschaft« geworbenen Handwerksleute waren ganz ausgezeichnete Kräfte, jeder äußerst tüchtig in seinem Fach.

Man hatte mit ihnen einen glücklichen Griff getan und aus den Besten die Besten gewählt. Ihre Kollegen unter den Auswanderern waren wohl weit davon entfernt, es ihnen gleich zu tun. Der Mehrzahl nach hatten sie gerade kein vertrauenerweckendes Aussehen und schienen mehr in der Schenke als in der Werkstätte heimisch zu sein. Zwei oder drei hatten sogar die richtige Verbrecherphysiognomie, vom ehrlichen Arbeiter war da wohl nur der Name geborgt.

Zu den fünf ehemals Vermögenden gehörten vier der Familie Rhodes an; der fünfte, John Rame, war ein Ritter trauriger Gestalt. Höchstens fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig Jahre alt, hatte er in einem zügellosen Leben den Becher des Vergnügens geleert, dabei sein Vermögen verloren und war nun, halt- und kraftlos, unnütz zu jeder ernsten Betätigung, unter die Auswanderer gegangen. Und man war wohl berechtigt zu erstaunen, wie dieser Mensch, der so gar nicht gewappnet war für den Kampf mit dem Leben, als letzte Torheit seiner vergeudeten Jugend sich zu den Auswanderern gesellen konnte.

Nun waren noch die drei Künstler, welche ihren Beruf verfehlt hatten. Jeder hatte ein anderes Vaterland: Deutschland der eine, Amerika der andere und Frankreich der dritte. Der Deutsche hieß Fritz Groß. Er war ein unheilbarer Trunkenbold; dem fortgesetzten maßlosen Alkoholgenusse verdankte er ein ekelerregendes Aussehen. Sein ganzer Körper war schwammig aufgedunsen und aus seinem Munde rann unausgesetzt der Speichel herab und beschmutzte seine Kleidung – ein widerlicher Anblick. Das Gesicht war hochrot, der Schädel kahl, die Wangen hingen schlaff herab und seine Zähne waren in denkbar schlechtestem Zustand. Ein fortwährendes Zittern hielt seine Hände mit den häßlichen, dicken Fingern in Bewegung. Selbst unter diesen wenig verwöhnten Menschen hatte er durch sein mehr als vernachlässigtes Äußeres eine traurige Berühmtheit erlangt. Dieses verkommene Individuum war ein Musiker, Geigenkünstler und zeitweise – ein Genie. Seine Geige allein vermochte es, in manchen lichten Augenblicken sein gegen alle edleren Regungen abgestumpftes Gewissen aufzurütteln. In solchen ruhigen Momenten streichelte er seine Geige, liebkoste sie, behandelte sie mit größter Zärtlichkeit – und war nicht imstande, auch nur einen Ton hervorzubringen, wegen des unausgesetzten, krampfhaften Zitterns seiner Hände. Durch die neuerliche Einwirkung des Alkohols fanden dann seine Bewegungen die altgewohnte Sicherheit wieder, dann brach sich ein Lichtstrahl Bahn in sein umnachtetes Gehirn und in dieser Inspiration entlockte er seinem Instrumente Klänge von wundersamer Schönheit. Zweimal war Harry Rhodes Zeuge eines solchen Wunders gewesen.

Der Franzose und der Amerikaner sind dem Leser schon bekannt. Ihre Namen waren: Ferdinand Beauval und Lewis Dorick.

Harry Rhodes unterließ es nicht, den Kaw-djer über ihre auf den Weltumsturz hinzielenden Theorien aufzuklären.

»Glauben Sie nicht, meinte er, als er am Schlusse seiner Erklärungen angelangt war, daß es klug und notwendig wäre, sich durch passende Vorsichtsmaßregeln gegen diese beiden Aufwiegler zu schützen? Schon während der Reise haben sie auf die Leute Einfluß genommen.

– Welche Vorsichtsmaßregeln wollen Sie denn in Anwendung bringen? fragte der Kaw-djer.

– Ich würde sie zuerst energisch verwarnen und sie sodann sorgfältig überwachen lassen. Wenn dies sich als ungenügend erweisen sollte, müßten sie eben außerstande gesetzt werden, weiter zu schaden, indem man sie einsperrt, wenn es nicht anders geht!

– Alle Wetter! rief der Kaw-djer mit leiser Ironie, Sie gehen aber stramm ins Zeug. Und wer darf sich denn das Recht anmaßen, über die Freiheit von Gleichberechtigten nach eigenem Gutdünken zu verfügen?

– Dazu haben alle jene das Recht, welche durch die Umtriebe dieser beiden gefährdet werden.

– Wo sehen Sie – ich sage nicht einmal »Gefahr« – die Möglichkeit einer Gefahr? warf der Kaw-djer ein.

– Wo ich sie sehe? ... In der Aufwiegelung der Leute, dieser armen, ungebildeten Menschen, die ebenso leicht zu täuschen sind wie kleine Kinder und sich hinreißen lassen durch jedes schöne Wort, wenn dieses ihrer augenblicklichen Gedankenrichtung schmeichelt!

– In welcher Absicht werden sie aufgewiegelt?

– Man will sie dazu bringen, sich fremdes Eigentum anzueignen.

– Haben denn andere überhaupt ein »Eigentum?« fragte der Kaw-djer spöttisch, das wußte ich nicht. Aber hier, wo nichts zu nehmen ist, ist diese Furcht wohl überflüssig.

– Ich meine die Ladung des »Jonathan«.

– Diese ist Gemeinbesitz, bedeutet das gemeinsame Wohl; jeder weiß, versteht dies und niemand wird sich daran vergreifen.

– Ich wünsche nur, daß die Zukunft Ihre heutigen Worte nicht Lügen strafen möge, sagte Harry Rhodes, welcher durch diesen unerwarteten Widerspruch etwas erregt war. Übrigens glaube ich nicht, daß es sich bei Leuten vom Schlage Doricks und Beauvals um materielle Interessen handelt. Ihnen genügt, den Funken zu entzünden, der dann zur lodernden Flamme aufschlägt. Ihre Leidenschaft liegt im Beherrschen der Menge; man darf nicht vergessen, es ist ein erhebendes, berauschendes Gefühl, über andere zu gebieten!

– Verflucht sei derjenige, welcher so denkt! rief da der Kaw-djer mit plötzlich ausbrechender Heftigkeit. Jedermann, der dem Ziele zustrebt, andere unter seinen Willen zu zwingen, sie zu beherrschen, sollte von Rechts wegen aus der Welt geschafft werden!«

Harry Rhodes blickte den Sprecher in stummem Staunen an. Welch tiefe Leidenschaftlichkeit mußte in diesem Manne schlummern, welcher sich stets eines so maßvollen, ruhigen Gebarens befleißigte!

»Dann muß Beauval aus der Welt geschafft werden, sagte er endlich mit leiser Ironie; denn unter dem Deckmantel des Strebens nach einer die Grenzen der Möglichkeit übersteigenden »Gleichheit« verfolgt er ein anderes, bestimmtes Ziel: sich als Reformator die Macht zu sichern!

– Das System Beauvals ist reine Kinderei, erwiderte der Kaw-djer mit schneidendem Hohn in der Stimme; eine Art von gesellschaftlicher Organisation, weiter nichts! Welche Organisation man immer betrachten möge, es liegt stets Ungerechtigkeit und Dummheit darinnen!

– Stimmen Sie dann vielleicht den Ideen Lewis Doricks bei? Möchten Sie uns – wie er es predigt – zum wilden Urzustand zurückkehren sehen? Soll es mit der menschlichen Gesellschaft so weit kommen, daß sie zu einem durch Zufälligkeiten geleiteten Zusammenleben verschiedener Individuen ohne alle gegenseitigen Verpflichtungen herabsinkt? Sehen Sie denn nicht, daß alle diese Theorien auf dem bloßen Neide basieren oder durch den Haß eingeflüstert sind?

– Wenn Dorick haßt, ist er ein Narr, sagte der Kaw-djer ernst. Da erscheint ein Mensch auf der Welt, ohne es verlangt zu haben; er entdeckt eine Unzahl von Wesen, welche ihm ähnlich sind, Schmerzen leiden, sich elend fühlen wie er, mit der Zeit verwelken, vergehen – wie er; und nun haßt dieser Mensch die anderen! Er ist eben ein Narr und Narren kommt man nicht mit Vernunftgründen bei. Aber wenn auch der Verfechter einer Theorie geistig unzurechnungsfähig ist, so folgt daraus durchaus nicht, daß die Theorie selbst schlecht sein muß!

– Und doch muß es Gesetze geben, sie sind unerläßlich, behauptete Harry Rhodes, sobald die Menschen, anstatt einsam umherzuirren, sich um ein gemeinsames Interesse zu scharen beginnen. Richten Sie nur Ihr Augenmerk hieher. Die Menge, welche uns umgibt, ist nicht zu diesem Zwecke besonders ausgewählt worden und unterscheidet sich in nichts von irgendeiner Menschenmenge, die der blinde Zufall zusammengeführt hat. Nun gut! Müssen Sie nicht aus meiner Schilderung der Personen ersehen haben, daß es einzelne gibt, die sich unmöglich selbst beherrschen können, sei der Grund wie immer gestaltet; und gewiß gibt es deren noch viele, welche ich nicht kenne. Wieviel Unheil könnten diese Geschöpfe verursachen, wenn die Gesetze ihre bösen Instinkte nicht zügelten!

– Durch die Gesetze sind die bösen Neigungen erst zum Leben erweckt worden, erwiderte der Kaw-djer mit vollster Überzeugung. Gäbe es keine Gesetze, so bliebe die Menschheit in Unkenntnis aller Fehler und Verbrechen und jeder einzelne würde herrlich gedeihen und aufblühen in der Freiheit.

– Hm! ... machte Harry Rhodes mit zweifelhafter Miene.

– Gibt es hier Gesetze? Und geht nicht dennoch alles nach Wunsch?

– Wie können Sie denn die hiesigen Verhältnisse als Beispiel aufstellen? warf Harry Rhodes ein. Hier haben wir nur einen Zwischenakt im Drama des Lebens vor uns. Jedermann weiß, daß die gegenwärtige Situation nur Übergangsstadium ist und nicht so fortbestehen kann.

– Auch wenn sie dauern würde, ginge alles ruhig weiter.

– Ich bezweifle es, sagte Harry Rhodes skeptisch, aber ich gestehe, es wäre mir lieber, wenn ich den Beweis für die Richtigkeit meiner Ansicht nicht erleben würde.«

Da der Kaw-djer keine Antwort darauf gab, wurde schweigend weitergegangen.

Beim Wandern längs der Ostküste mußte man an der Scotchwell-Bai vorüber, deren entzückende Lage trotz der ungenügenden Abendbeleuchtung die Forscher bezauberte. Ihre Bewunderung war ebenso groß wie ihr Staunen. Ein Netz kleiner Wasseradern durchzog die Landschaft, die sich dann in einen Fluß mit klarem Wasser ergossen, der sich von dem Hügel herab ins Tal schlängelte. Üppige Weideplätze zeugten von der Fruchtbarkeit des Bodens. Auch die Baumflora war auf der Höhe des übrigen luxuriösen Schmuckes. Auf weite Strecken breiteten sich die herrlichsten Waldungen aus, Riesenbäume gruben ihre mächtigen Wurzeln tief in den weichen, aber widerstandsfähigen Boden, aus dem kräftiges Unterholz aufsproßte, das mit zweigtragenden, samtigen Moosarten gemeinsam gedieh. Unter dem Schutze dieses grünen Gewölbes ergötzte sich eine muntere Vogelwelt, mindestens sechs Kolibriarten – die einen nicht größer als Kieselsteine, die anderen wie Fasanen – Drosseln, Amseln, und zahlreiche Vertreter der Wasservögel: Gänse, Enten, Seeraben und Möven, während der Nandu, das Guanako und das Vikunja sich in den Prärien ihres Daseins freuten.

Die Südküste dieser Bucht – der Süden entspricht auf dieser Seite des Äquators der Nordküste der anderen Hemisphäre – war mindestens zwei Meilen von der Stelle entfernt, wo der »Jonathan« gestrandet war. Hier mündete ein zwischen schattigen Ufern dahintosender Wasserlauf, der sich durch zahlreiche Nebenflüsse verstärkt hatte und in einer kleinen Bai ins Meer ergoß. An seinen Ufern, die ungefähr hundert Fuß voneinander entfernt sein mochten, wäre es leicht gewesen, den Anfang zu einer ständigen Niederlassung zu gründen. Die kleine Bucht, die eine windgeschützte Lage einnahm, konnte einen passenden Ankerplatz abgeben.

Es herrschte schon vollständige Dunkelheit, als man den Lagerplatz erreichte. Der Kaw-djer, Harry Rhodes, Halg und Hartlepool hatten sich eben von ihren Gefährten empfohlen, als durch das Schweigen der Nacht die Töne einer Geige an ihr Ohr drangen.

»Eine Geige, flüsterte der Kaw-djer Harry Rhodes zu; vielleicht spielt dieser Fritz Groß, von dem Sie mir erzählt haben?

– Dann ist er betrunken,« antwortete Harry Rhodes mit voller Bestimmtheit.

Er täuschte sich nicht. Fritz Groß befand sich wirklich im Stadium vollständiger Trunkenheit.

Als man ihn wenige Minuten später bemerkte, da bestätigte sein starrer Blick, sein gerötetes Gesicht, sein geifernder Mund leicht seinen Zustand. Er war unfähig, sich aufrecht zu halten und lehnte an einem Felsen, um sein Gleichgewicht zu bewahren. Aber der Alkohol hatte seinen Genius entzündet. Der Bogen flog über die Saiten, von denen sich die herrlichsten Melodien loslösten. Hunderte der Auswanderer umdrängten ihn. In diesem Augenblicke vergaßen diese Unglücklichen alles; die Ungerechtigkeit des Schicksals, ihr immerwährendes Elend, ihre augenblicklich so traurige Lage, die Zukunft, die allem Anschein nach sich kaum anders als die Vergangenheit gestalten dürfte, und ließen sich auf Schwingen der Musik dahintragen in eine Welt der Träume.

»Die Kunst ist so notwendig wie das Brot, sagte Harry Rhodes zum Kaw-djer, indem er ihm Fritz Groß und seinen atemlos lauschenden Zuhörerkreis zeigte. Welchen Platz hätte dieser Mann im System Beauvals einzunehmen?

– Lassen wir Beauval in Frieden, antwortete der Kaw-djer unmutig.

– So viele arme Wesen leben in Luftschlössern!« sagte Harry Rhodes.

Sie nahmen ihren Weg wieder auf.

»Ich bin sehr beunruhigt, meinte Harry Rhodes nach einigen in Stillschweigen zurückgelegten Schritten; wie war es Fritz Groß möglich, sich den Alkohol zu verschaffen?«

Auch andere außer Fritz Groß hatten sich den berauschenden Trank verschafft. Die Ausflügler mußten plötzlich vor einem ausgestreckt über dem Weg liegenden Körper haltmachen.

»Das ist Kennedy, sagte Hartlepool, indem er sich über den Schläfer beugte. Ein Tunichtgut, übrigens der einzige der Schiffsmannschaft, der nicht des Strickes wert ist, um gehängt zu werden.«

Kennedy war voll betrunken. Und viele andere der Emigranten fand man in demselben traurigen Zustand auf, bis zur Bewußtlosigkeit trunken auf der Erde hingestreckt.

»Beim Himmel! sagte Harry Rhodes, man hat die Abwesenheit des Gebieters benützt, um die Vorräte zu plündern!

– Wer ist hier Gebieter, fragte der Kaw-djer in barschem Tone.

– Sie, natürlich!

– Ich habe nicht mehr zu befehlen als jeder andere, erwiderte der Kaw-djer ungeduldig.

– Möglich, gab Harry Rhodes zu; das hindert aber nicht, daß jedermann Sie dafür hält.«

Der Kaw-djer wollte eben etwas erwidern, als aus einem der nächstgelegenen Zelte der halberstickte Hilferuf einer Frau an sein Ohr drang.


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