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IV

Und nun dieses Untertauchen, dieses Kämpfen im Röhricht, fast bis zur Vernichtung, dieses Halb-im-Triebsand-Versinken, Halbertrinken im Schlammstrom, im sogenannten schwarzen Elend! Der einzige schwankende Weidenzweig, die einzige von der Vorsehung gesandte Planke, die noch einigermaßen in Greifnähe schwimmt, wird abermals das Spital sein, dank der Krankheit, die sich einkrallt, als zuverlässige, aber langsame Lieferantin des Todes.

Und gehen wir diesen Weg zum dritten und vierten und soundsovielten Male seit dem Aufenthalt in dem Pfahlbau, der von außen ein Schlachthaus und von innen eine Methodistenkapelle ist. Ein anderes Bild. Alte Kerle, dieses Mal »Boulevard-Chroniken«, wie man hier sagt. (»Boulevard-Chroniken«, das heißt beinahe so viel wie »saturniens«.) Gut denn! Es leben die Alten! Sie haben ihr Unangenehmes, besonders in physischer Beziehung, aber man läßt es ihnen hingehen und hält ihnen ihren tüchtigen Kern zugute, der hier in seiner Volkstümlichkeit und Einfalt wenig beschwert ist mit Unterricht und Lesefrüchten und durch seine ursprüngliche, fast noch unberührte Weisheit und seine tatsächlichen Lebenserfahrungen entzückt: Erfahrungen, die schon durch ihre Gebresten selbst bescheinigt werden, von so trauriger Lächerlichkeit auch diese Gebresten manchmal sein mögen, und durch

»das große Elend
des ewigen Juden«,

der du bist, Volk, das man stößt und das man mißbraucht, und das sich auflehnt, doch immer wieder besiegt wird, niedergeworfen von den Kugeln und von den Entbehrungen, wenn seine Kraft erlahmt.

Aber hat der Dichter da nicht soeben Unmöglichkeitssozialismus getrieben? Man bittet die schönen Damen, die dies doch nicht gelesen haben werden, um Verzeihung!

Doktoren und Studenten defilieren förmlich in geschlossener Kolonne. Sämtliche Doktoren, mit ihren kleinen persönlichen Verschiedenheiten, im großen ganzen nett und anständig und mehr als das. Die Studenten sind das nicht alle. Gegenüber einer Mehrzahl, die liebenswürdig, wohlunterrichtet und genügend aufmerksam ist, finden sich da schreckliche, wirklich abscheuliche Poseure und Grobiane, die den Kranken genau wie einen Sträfling behandeln, wie einen Zuchthäusler, von der Höhe ihres Steifkragens herab und ihrer hellen Krawatte mit der falschen Juwelennadel, ganz und gar unmenschlich und »insolent«, wie das reizbare Volk von Paris so treffend sagt. Wehe ihnen am Tag der nächsten Kommune! Selbst in den Provinznestern, in die ihre »Studien« sie führen (sie sind die Sitzenbleiber der Klasse), werden sie nicht sicher sein vor der Rachsucht der Unglücklichen, die von diesen Kurpfuschern fortgesetzt malträtiert und dann auch noch ausgeplündert wurden. Auch der Dichter wird sie wohl ohne Lobrede namhaft machen, in » Invektiven« mehr nach Art des Martial als nach der des Juvenal, diese Schulfüchse, die ihn auf seinem Schmerzens- und Hungerlager verhöhnten. Jener Tag wird schrecklich sein, ein kleiner Dies irae, und so wenig ihre Namen sich zur Verewigung eignen, werden sie doch zu ihrem Erstaunen, zusammen mit vielen andern, auf die Nachwelt kommen! Auch ein Assistenzarzt – freilich nur ein einziger – war gemein und boshaft. Auch sein Name wird erschallen, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Doch, beeilen wir uns, trotz alledem zum Ruhme der bejammernswerten Menschheit zu sagen: Leute dieser Art bilden nur einen verschwindend niedrigen Prozentsatz, »niedrig« in beiden Bedeutungen des Worts.

Man gewöhnt sich an dieses Leben, das so klösterlich ist, nur, ach! ohne das Gebet und ohne die Ordensregel, die um ihrer selbst willen befolgt würde. Das Bett füllt dein ganz Sein aus. Dein ganzes Leben spielt sich darin ab. Man denkt sogar darin. Oft weichlich, bisweilen aber auch männlich und edel. Der Dichter findet darin keinen Schlaf, aber draußen ist es auch nicht anders, außer wenn er unter gewissen Vorbedingungen sein Lager mit tüchtiger Ermüdung teilt. Man sinniert, und man kommt schließlich so weit, dem Leben da draußen nicht mehr nachzutrauern, nicht einmal dem besseren von ehedem, dem man im Sinne der uneingeweihten Leute nachweinen sollte.

Und dann hat es auch bemerkenswerte Ausflüge gegeben in den ungefähr zwei Jahren dieser Art von Gefangenschaft, ganz zu schweigen von den Vorzügen der Stabilität, des Prestige (!) und der Ernsthaftigkeit.

Einesteils nämlich wird da, dank unverhoffter provisorischer Hilfsquellen (o diese Hilfsquellen, o dieses Unverhoffte, o dieses Provisorische!) eine Reise nach einem berühmten Badeort verwirklicht. Eine Kur – wie für irgendeinen reichen Schlemmer – in einem Gebirge, das den höchst respektabeln Fuß der Alpen bildet und von dem neben Villon, Ronsard und Racine größten Dichter Frankreichs gepriesen wird, zusammen mit einem sehr blauen See, den übrigens unser Dichter nicht gesehen hat, mangels Kleingelds für Wagenfahrten, aber dessen Nebelrauch er wahrnahm in halber Höhe eines berühmten Gipfels, wie eine Augenbraue in einem finsteren phantastischen Riesenantlitz. Duschen und Bäder. Eine Table d'hôte, die von Tag zu Tag zusammenschrumpft (die »season« geht zu Ende), bis der Dichter allein zurückbleibt. Ein ausgezeichneter Fisch – neben andern kulinarischen Lokalspezialitäten – der »lavaret« Eine Maränenart genannt wird, und eine sehr gute einheimische Artischockenart, deren Name dem Dichter entfallen ist. Alles in allem: eine schöne Zeit, ein Intermezzo, das unterhaltlicher ausfiel, als man vermuten konnte. Verschiedene Zwischenfälle, wovon einer komisch und just der Armut (ein seltener Vogel, etwas Niedagewesenes, ein Paradoxon!) des »Badegastes« zu danken ist! Dieselbe Armut leistet ihm auch noch andere gute Dienste. (Solche leistet sie immer, wenn man sie nur recht zu nehmen weiß.) Rückkehr in den Schoß des Pfahlbaus, wo, nebenbei gesagt, zuvor zwei Monate an der Seite eines lieben, gleichfalls kranken Freundes verbracht wurden, der um dieselbe Zeit herauskam, und mit dem ein Briefwechsel von und nach dem berühmten Badeort stattfand. Ach, waren das gute Sommermonate! – so wie es später, mit einem andern teuern Freunde, sechs schöne Winterwochen waren. Man geht, so innig verknüpft man schon vorher war, daraus noch inniger verbunden hervor; es ist das mehr wert als eine Verbrüderung, als eine Studentenfreundschaft. Es ist wie eine Verbrüderung, eine Studentenfreundschaft, aufgepfropft auf die schon vorher vorhandene Freundschaft. Und das, glaubt mir, ist etwas ganz Köstliches.

Doch nun zu dem anderen großen Ausflug!

Der vorteilhafte Verkauf – welcher Zufall! – eines Versmanuskripts hat die Pforten des Spitals geöffnet, die das Wohlwollen des Chefarztes, dem ich mit diesen Zeilen von ganzem Herzen danke, immer nur angelehnt gelassen hatte. Einige Wochen, ja zwei oder drei Monate bringen Leben und sogar Vergnügen von normalem Verlauf ... dann wirft die Geldklemme wieder ihre Schatten voraus und folgt selbst in kurzem nach. Und wie der Dichter gerade zu dieser kritischen Zeit an einem Sommerabend auf der Terrasse eines Weinrestaurants in Gesellschaft auf Pump diniert, sieht er in der regenschweren Dämmerung eines losbrechenden Gewitters eine lange, hagere, schüchterne – ach, so lange Gestalt herankommen! Diese Gestalt beugt sich fast geisterhaft über ihn, während eine gebrochene, heisere und, ach, so schwache Stimme flüstert:

»Wie, Sie erkennen mich nicht wieder, den kleinen Sänger von damals?«

»Ach so, mein Lieber – Sie sinds? Nehmen Sie doch Platz! Kellner, ein Gedeck und ein Diner!«

Der arme Junge halte nämlich augenscheinlich seit langer Zeit nichts gegessen. Und er kam, wie er erzählte, aus einem Spital und aus allen möglichen Nachtasylen und irrte nun seit zwei Tagen herum ... und wie zerlumpt!

Als das Diner – o wie das schmeckte! – vorüber war, vertraute der »kleine Sänger« seinem von dieser Stunde und für immer gewonnenen Freunde an, daß er keinen Sou habe, um sich ein Quartier zu verschaffen.

»Ich habe selber keinen Sou mehr, aber mein Zimmer, dessen Miete noch läuft, ist groß, und es ist Platz darin für zwei.«

»Aber ich bin krank, tuberkulös infolge von Erkältungen und Entbehrungen...«

»Na, und alle die Kranken, mit denen ich in den Spitälern in Berührung kam?«

Und am übernächsten Tag, etwas weniger ausgehungert, mit etwas gehobenem Lebensmut, ein bißchen – ach, wie dürftig! – zusammengeflickt, trat dieses ehrliche und reine Kind des Elends, die Waise von greulichen Eltern, die Blüte und Frucht einer zwiefach schuldbeladenen und letzten Endes verbrecherischen Liebe, trat dieser Arme, den alle verlassen hatten außer einem ebenso Armen und dazu Alten, aber gesundheitlich weniger schwer Getroffenen, wieder ein in die Anstalt Louis Philippe und 1848, von neuem krank und elend, in den Barackenbau, wohin ihm der Dichter nach kurzer Frist nachkam. Und das waren wieder relativ und positiv genußreiche Wochen, wenn auch melancholisch überschattet durch die langsame Verschlimmerung im Zustand des jungen Mannes, der bald, sicher allzubald, nach dem napoleonischen Asyl abging, von wo aus er mit dem Dichter korrespondierte. Plötzlich erhielt dieser zu seiner großen Beunruhigung keine Briefe mehr. Er erkundigte sich und erfuhr, daß der »Rekonvaleszent« das Asyl mit einem »bösen Schnupfen« verlassen habe (so geht zuweilen die gute A. P. vor). Und seit dieser Auskunft keine Nachricht mehr. War er vergeßlich oder tot, der Junge, der doch viva voce so hübsch und so rührend seine Dankbarkeit gezeigt hatte?

Wie dem auch sein mochte – und weil selbst in Frankreich nicht alles mit Sang und Klang endet –: diese doppelt schmerzliche Ungewißheit umdüsterte jetzt sehr das diesmal, wie er hofft, abschließende Entweichen des Dichters aus dem Bannkreis des Spitals.

Und ohne andere Versicherung als die, diese Silvio-Pellico-Arbeit nicht etwa eines Tages wiederaufnehmen zu wollen, nimmt er voll melancholischer Gedanken über Vergangenheit und Zukunft Abschied von dem viel zu wohlwollenden Leser, den diese Blätter »zerstreuen« konnten, und von Ihnen, liebe gnädige Frau, die sie, in Ermangelung von etwas Besserem, amüsieren sollten.


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