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II

So, so – sehr schön, Herr von Dichter. Das Leben ist weder so kurz noch so schnell fertig. Es besteht aus Übergängen. Die Geduld spielt darin eine Hauptrolle. Anderseits sind die bestimmenden Ursachen Ihrer Einweihung in die Geheimnisse der Spitäler auch nicht im entferntesten geschwunden. Und endlich war der Wunsch, andere Asyle kennenzulernen, nicht vernünftig und stellte sich vielleicht im vorliegenden Falle als zu ehrgeizig heraus, Sie haben das begriffen und haben sich ins Unvermeidliche gefügt. Neue Eindrücke erwarteten Sie im gleichen Milieu, und ob diesem einigermaßen unfreiwilligen Asketenleben ein anderes Ende beschieden ist als das natürliche, weiß niemand. Immerhin steht fest, daß es da eine bestimmte Entwicklung gibt, von der die paar Fragmente zeugen, die hier in knapper Zusammenfassung folgen sollen.

– Das Wort »Rekonvaleszenz« ist gefallen, und der Dichter befindet sich jetzt in einem Mittelpavillon, einer verkleinerten und vereinfachten Nachbildung des Zentralpavillons der Tuilerien, die aber napoleonisiert ist durch ein gewaltiges Kaiserwappenschild: der Adler auf Blitzstrahlen ruhend, und dahinter der mit Bienen besäte, hermelinverbrämte Mantel, den die Kette aus Miniaturadlern säumt, woran ein riesiges Ehrenkreuz hängt: das Ganze, wohlverstanden, aus Stein. Nebenbei gesagt: herzlich plump und banal und häßlich – bei allem schuldigen Respekt vor dem »verewigten Cäsar«.

Rechts und links je ein Trakt mit Erdgeschoß und hochfenstriger Etage, und dann zwei Seitenflügel aus Stein, Ziegeln und Holz, die ungeheure Nebengebäude, eine endlose Reihe von Stallungen und Remisen ahnen lassen; das Ganze ein bißchen prunkvoll mit vier großen Gartenanlagen um ein ziemlich weites Bassin, und davor ein mächtiger Rasenplatz, hier und da mit Korbbeeten besetzt, deren Blumenschmuck eher einen ärmlichen Eindruck macht – aber ist der Palast nicht eben für die Armen da, und braucht man das zu vergessen?

Die Gebäude senken sich sehr tief in Gestalt von Seitengalerien, die niedrig genug sind, um in zarter Helle die hübschen Bäume eines Volkslustwäldchens der unmittelbaren Umgebung von Paris herüberschauen zu lassen, in dessen Mitte sich übrigens, wie auf einer Lichtung, diese bei alledem ganz gefälligen Baulichkeiten erheben.

Napoleon III., der Wohlintentionierte, wars, der dieses Asyl für die Spitalrekonvaleszenten ins Dasein rief. Selbst die Anlage der Innenarchitektur, selbst der Charakter der Gepflogenheiten des Hauses verkünden überlaut diese Herkunft: langgestreckte Kasernengänge, Stuben zu drei Betten, die an die »petites salles« der Spitäler erinnern, und eine etwas gefängnismäßige Hausordnung; die Speisesäle mit Tischen aus rotem Marmor und mit kleinen gußeisernen, vergnüglich lackierten Säulen versetzen in die Zeit des ersten Auftauchens der Duval-Speisehäuser zurück, dieser Schöpfung der Glanzzeit des zweiten Kaiserreichs; die meist schweizerischen Benennungen der Galerien, Säle und Schlafräume klingen gut in einer Stiftung des Lieblingsschülers des tapfern Generals Dufour; und endlich das Reglement, offensichtlich ein Werk des fourieristisch Charles Fourier, geb. 1837, Begründer eines sozialistischen Systems. gefärbten Philanthropen, des Siegers von Saarbrücken, dieses Reglement, bei jeder Gelegenheit verlesen und wieder verlesen von den Wärtern, fast hätte ich gesagt: Wächtern, die mit ihren grauen Schnurrbärten aussehen wie Exgrenadiere von Magenta, wie Dekorierte des mexikanischen und chinesischen Feldzugs – dieses Reglement duftet sehr nach dem Gefangenen von Ham, nicht ohne ein Rüchlein von altvaterischem Säbelregiment.

Selbst die »circenses«, die neben dem »panis« der Speisesäle geboten werden: die Musik- und Spielsäle (Holzspiele: Schach, Dambrett, Domino oder vielmehr »doches«) suggerieren der dekadenten Auffassungsweise das, was die noch übliche Rhetorik der 5-Centimes-Zeitungen die »unseligen Geschenke einer glücklicherweise unter der nationalen Wiedererhebung zu Staub zermalmten Diktatur« nennen würde.

Von dem Musiksaal wird dann gleich wieder die Rede sein. Der Spielsaal ist – wie übrigens auch der Musiksaal – ein sehr großes Rechteck, ausgestattet mit langen Tischen und Bänken, wo man raucht, während man seine Siege im Dam- oder Dominospiel erkämpft.

Aber am lautesten redet, zwischen den beiden Speisesälen hinter dichten Vorhängen aus dunkelrotem Stoff versteckt, die Kapelle von dem Sohn der Hortense und seiner Regierung, so lebendig werden durch das Weiß und Gold des Altars und Altarblatts, durch die roten Teppiche der Stufen, durch die Gitter und die Lampe von Goldkäferfarbe und durch das Harmoniumspiel, wie es die stille Messe der »dames et messieurs du dehors« begleitete, die Messen der Tuilerien heraufbeschworen, wo die allerschönste Kaiserin die Zauberpracht ihrer Roben entfaltete, wo sich ein Stab Von Kammerherrn und Marschällen blähte, und wo der Kaiser in scheinbarer Aufmerksamkeit einnickte. Nur sind hier die »Gläubigen« jetzt ganz im Gegenteil arme Teufel, voller Staunen, sich hier zu befinden, unter dem halb wohlwollenden Blick von floretseiden behandschuhten und sehr frommen Beamten – heiliger Gott im Himmel!

Klitsch, klatsch – Peitschenknallen! Von der Straße, die vor dem Haupttor vorbeizieht, rasseln die zwei Transportwagen der Verwaltung heran, vollgepfropft mit »Rekonvaleszenten«, welche die Armenpflege, im Volksmund schlechthin »A. P.« genannt, Assistance Publique. in allen Himmelsrichtungen aufgelesen hat; sie biegen in dieses Tor ein und haben auch schon an der Pforte des Aufnahmebureaus etwa 30 Neuankömmlinge abgesetzt, die nach den üblichen Formalitäten – Einschreibung, summarische ärztliche Untersuchung, erste Verlesung der Hausordnung durch den Kapitän (das Oberhaupt des Überwachungspersonals) – sich nach den bezeichneten Stuben verlaufen, unterm Arm die Kleidungsstücke tragend, die jedem zugeteilt wurden, als da sind: ein Paar Socken und Leinenschuhe, ein Hemd, eine Nachtmütze, ein preußischblauer Sackpaletot, ein Tuchkäppchen von gleicher Farbe (wir sind jetzt in den ersten Maitagen, die Sommertracht – leichterer Paletot und Strohhut – beginnt mit dem Fünfzehnten dieses Monats), ein Handtuch und eine Tischserviette. Dann setzt man also, wird der Leser sagen, bei jedem Rekonvaleszenten den Besitz von Beinkleidern voraus? Gott ja.

– »Galerie soundso, Zimmer Nummer soundsoviel!«

Und der Dichter tritt in einen Raum, der viel zu stark gewichst ist für seine »partielle Ankylose Gelenksteifigkeit. des linken Knies, als Folgekrankheit einer rheumatischen Arthritis«. Gelenkentzündung. Drei Betten, die von den Rekonvaleszenten jeden Morgen in Ordnung gebracht werden müssen, nach bestimmten Regeln wie beim Militär, ebenso wie sie auch diesen Fußboden zu kehren und zu wichsen haben, der, ach, so glitschig ist!

Die gegenwärtigen Stubengenossen des Dichters sind ein Aufseher der städtischen Anlagen, ein sehr schweigsamer guter Kerl, und ein blutjunger Mensch von kaum sechzehn Jahren mit dem Blondkopf einer bildhübschen englischen Miß, dessen Schönheit aber eine schon männliche Anmut erhöht. Er bemerkt, wie schwer es dem Dichter wird, seinen linken Hausschuh anzulegen, und stellt sich ihm liebenswürdig zur Verfügung. Doch die Glocke tönt, man geht zu Tische. Langsamer Einzug in den Speisesaal, gutes Mahl, besser als im Spital, sogar ein Nachtisch – welche Freude! Abzug im Gänsemarsch unter dem einigermaßen erschröcklichen Blick des Speisesaalaufsehers, nachdem wieder einmal laut, deutlich und vernehmbar die unausbleibliche Hausordnung verlesen worden ist.

Spaziergang im Garten, ein oder zwei Pfeifen Tabak, dann, wie es der erste Tag voll Ermüdung und verhältnismäßig großer Aufregung verlangt, ein ausgiebiges Schläfchen bis sechs Uhr, bis zur Stunde der Abendsuppe. Einer dermaßen guten Suppe, daß man sich, auf Ehre, in die »Halles« versetzt glaubt!

Der zweite Tag wickelt sich ab zwischen dem Kugelspiel in einem kleinen Gehölz, das von dem größeren durch einen Zaun abgegrenzt ist, und der ziemlich reichhaltigen Bibliothek. Der Dichter beginnt hier, nach dem für jeden Halbtag verordneten Dampfbad, die Lektüre von Lamartines »Geschichte der Restauration«. Das Buch interessiert, obschon und weil es verkannt und unbekannt ist. Das Dampfbad ist amüsant wie alles andere.

Abends: Aufstieg zum Musiksaal. Der erwähnte junge Mensch singt dort Kabarettlieder mit einer vorzüglichen, gut geschulten Stimme. Beim Hinuntersteigen in die gemeinsame Wohn- und Schlafstube wird er vornehmlich von dem Dichter beglückwünscht, dem er ein paar Tage später seine herzbewegliche und stolze Geschichte erzählen wird. Das Schicksal führt beide einige Monate und einige Jahre später wieder zusammen.

So vergehen die Wochen ohne große Ereignisse; und dann der Abschied mit ein paar Louis in der Tasche, hinaus in die »Freiheit« – ob sie die endgültige sein wird??


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