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12. Kapitel. Im wunderschönen Monat Mai.

Ja, goldene Tage voll Sonnenglanz, Waldesduft und Tannenrauschen waren es gewesen, dort zwischen dem Felsengezack an der leisplätschernden Blau. Wenn Doktors Nesthäkchen an jene Zeit zurückdenkt, dann hat es die Erinnerung wie an ein schönes Märchen, das man in längst entschwundenen Kindertagen einmal geträumt. Unwirklich schön war es gewesen an dem märchenhaften Blautopf, jenem leuchtendblauen Waldsee, der wie ein kostbarer Saphir, von uralten, moosbärtigen Buchenriesen bewacht, in tiefster Waldeseinsamkeit verborgen liegt. Die Mühle singt ihr eintöniges Lied, und das alte Kloster spiegelt sich in der sagenumsponnenen, geheimnisvollen Tiefe. Hier hatte Rudolf Hartenstein ihnen Mörikes »Hutzelmännchen«, die am Blautopf spielen, vorgelesen.

Wie lange war das her! Sonnentage entschwinden – Menschen gehen auseinander. Regengraue Herbsttage brachten einförmig graue Arbeit. Nur unterbrochen von fröhlich geselligem Beisammensein mit den Freunden; von anregenden Plauderabenden bei Professor Bergholz; von den Briefen der Lieben. Manchmal, nicht allzu oft, brachte der Postbote einen Brief größeren Formats an Fräulein Annemarie Braun, der nach Lysol duftete und Krankenhaus Westend als Aufdruck zeigte. Der wurde etwas hastiger geöffnet als die übrigen und stets mit einer ganz kleinen Enttäuschung, welche die Leserin nicht einmal sich selbst zugestand, beiseitegelegt, wieder vorgeholt und wieder gelesen. Bis sie fast jedes Wort auswendig konnte.

Lieb und freundschaftlich waren diese Briefe. Sie erzählten von angestrengter Tätigkeit im Krankenhaus Westend, in dem Rudolf Hartenstein durch ihres Vaters Freund, der dort Direktor war, angestellt worden war. Von manch gemütlichem Abend in ihrem Elternhause berichteten sie, von Musik- und Theatergenüssen in Gemeinschaft mit ihrem Bruder Hans. Sie fragten nach allem, was Annemarie betraf, und doch – was war es nur, wonach Annemarie vergebens forschte?

Soviel sie auch zwischen den Zeilen zu lesen versuchte, der warm-innige Herzenston, der sie bei ihrer gemeinsamen Sommerfahrt durchs Schwabenland so selig beklommen gemacht, er wollte nicht wieder erklingen. Tief unter der Erde hatte er zum ersten Male an ihre Seele gerührt, zwischen Himmel und Erde hoch droben auf dem Münster hatte sie ihn selbst verstummen gemacht. Warum war sie denn nicht zufrieden? Sie hatte doch erreicht, was sie wollte.

Weihnachtslichter hatten mit ihrem Strahlenglanz emsige, gleichmäßige Studienarbeit erhellt. Im Dreimäderlhaus blitzte unten das bunte Christbäumle mit Zuckerle, das Vronli und Kaschperle jubelnd umtanzten, droben der lichte Schneebaum, an dem Neumann als Längster die Lichter entzünden mußte. Statt Studentenweisen waren Weihnachtslieder zur Laute in die klare Sternennacht hinausgezogen. Eine urfidele Bescherung, bei der ein jedes einen Scherzgegenstand mit bezüglichen Versen erhielt, hatte das Heimweh, das der Anblick des Lichterbaums bei dieser und jenem auslöste, schnell zerstreut. Da gab es Pflaumen, das Stück zu dreißig Mark, einen kleinen, schwer mit Säcken beladenen Esel, ja, sogar eine Puppe, die verzweifelte Ähnlichkeit mit dem schnauzbärtigen Zollbeamten hatte. Nesthäkchens Schwabenstreiche wurden wieder mal aus der Vergessenheit hervorgezogen.

Das neue Jahr hatte statt mit Eispanzer und Schellengeläut mit linden Frühlingstagen seinen Einzug in den Schwabengau gehalten. Vergeblich hoffte die Jugend auf Schnee, um Rodelschlitten und Schier in Betrieb zu setzen. Erst der März stülpte den alten Giebelhäusern die winterliche Nachtmütze über die Ohren.

Weiße Ostern – für Doktors Nesthäkchen bedeuteten sie den Schlußstein des Tübinger Universitätsjahres. Die Trennung von dem liebvertrauten Gäßle, vom Dreimäderlhaus und sämtlichen Kirchenmäusen war recht schwer gefallen. Vroni und Kaschperle hatten den Hals des Tanteli umstrickt, als ob sie ihr vor lauter Trennungsweh den Garaus machen wollten. Frau Veronika hatte immer wieder versichert: »So a arg liab's Fräuli hab i nimmer nit im Haus' g'habt.« Herr Nepomuk hatte ihretwegen sogar seine ewige Pfeife ausgehen lassen.

Am betrübtesten aber waren die Freunde gewesen, die weiblichen sowohl wie die männlichen. Marlene und Ilse, die Inseparables, sollten auch noch das Sommersemester in Tübingen zubringen. Aber Annemarie war energisch von den Eltern »reklamiert« worden. Doktor Brauns wollten jetzt endlich mal ihre große Tochter im Hause haben.

»Was fangen wir bloß im Dreimäderlhaus ohne dich an, Annemie!« So hatte Marlene geklagt.

»Selbst wenn du uns das Essen anbrennen läßt, und überall deine Sachen herumschmeißt, ich wollte doch, du bliebst bei uns, Annemiechen.« Ilse hatte tatsächlich Tränen in den Augen gehabt.

Auch Neumanns Karpfenaugen hatten dreingeschaut, als ob sie weinen wollten. »Neschthäkche, Neschthäkche – du bischt halt die beschte g'wese.« Das hatten ihm die andern jungen Damen durchaus nicht übelgenommen. Sie waren ja der gleichen Meinung.

Am letzten Abend hatte die Viehmuse noch eine Fackelpolonäse mit Zapfenstreich in Szene gesetzt. Dann wurde bis früh um fünf bei Frau Veronikas Gugelhopf Abschied gefeiert. Um sechs war dann das Zügle abgedampft, das Doktors Nesthäkchen von dem schönsten Jahr seines Lebens, einem Jahr voll harmlos froher, überschäumender Jugendlust davongeführt hatte, wieder heim ins Elternhaus.

Mit schwimmenden Augen hatte Annemarie zurückgeblickt auf die buntwinkenden Tüchlein, auf das malerisch krause Giebelgewirr am Neckar. Mit schwimmenden Augen läßt sie heute noch einmal die letzten Monate im Fluge an ihrem inneren Auge vorübergleiten.

Mai ist's inzwischen geworden, lachender, sonniger, wonniger Mai. Mit tausend Blütenglocken läutet er in die Welt hinein. Der Kastanienbaum vor dem weitgeöffneten Fenster hat wie zu einem Fest all seine Kerzen aufgesteckt. Süße Duftwellen von Flieder versuchen vergeblich den scharfen Karbol- und Lysolgeruch der Krankensäle zu übertäuben. Matte Augen aus bleichen Gesichtern klammern sich an das bißchen Frühling, das der enge Fensterrahmen mitleidig einläßt.

Am Fenster lehnt ein junges Menschenkind, blühend wie der Frühling da draußen. Aber nicht so strahlend und lachend trotz seiner zwanzig Jahre. Den goldblonden Kopf gegen das Fensterkreuz gepreßt, starrt es nachdenklich in die blauen Klematisglocken, die bis zum Fenster emporklettern. Draußen in den Gängen des Gartens werden Rollstühle gefahren, liegen in der Sonne abgezehrte Gestalten. Mühsam an Stöcken oder an dem Arm der Krankenschwester versuchen Genesende die ersten Schritte wieder in das neugeschenkte Leben hinein. Alles freut sich der Maiensonne. Selbst die Kranken fühlen sich in ihrem warmen Licht nicht ganz so elend mehr.

»Fräulein Braun – der Verband drückt.« Von einem Bette erklang es stöhnend.

Das junge Mädchen in der weißen Kittelschürze wandte sich der Rufenden zu. »Wir dürfen ihn nicht lockern, Frau Lehmann, sonst heilt das Bein schlecht zusammen. Sie müssen schon die Beschwerden mit Geduld ertragen.«

Geduld – war es nicht lächerlich, daß sie, die den Begriff Geduld am wenigsten kannte, sie andern predigte? Doktors Nesthäkchen und Geduld! Das war wie Wasser und Feuer, wie Licht und Finsternis. Hatte sie nicht eben erst eine Probe davon geliefert? Ach, hätte sie nur soeben ein wenig mehr Geduld und Sanftmut bewiesen, dann brauchte sie jetzt nicht mit tränenbrennenden Augen in den lachenden Lenztag hineinzuschauen. Er war doch nun mal ihr Vorgesetzter, von dem sie eine gerechtfertigte Mißbilligung hinzunehmen hatte. Wie oft hatte sie sich das schon gesagt. Und trotzdem war ihr Hitzkopf wieder mal mit allen guten Vorsätzen durchgegangen. Wenn es nur irgendein beliebiger Fremder gewesen wäre, der Assistenzarzt, dann hätte eine Äußerung der Unzufriedenheit von ihm nicht so ihren Stolz verletzt. Aber von Rudolf Hartenstein ertrug sie eine Zurechtweisung nicht. Alles in ihr bäumte sich dagegen auf. Und wenn er zehnmal recht hatte. Wäre sie doch niemals darauf eingegangen, am Krankenhaus Westend praktisch zu arbeiten. Wäre sie doch lieber in Vaters Klinik gegangen. Vater hatte gewünscht, daß sie erst zum Winter Kolleg an der Universität hören, und während des kurzen Sommersemesters praktisch tätig sein sollte, trotzdem sie eigentlich noch zu jung dazu war.

Als Rudolf Hartenstein ihr bei ihrer Heimkehr aus Tübingen den Vorschlag gemacht hatte, zu ihm als »Famulus« zu kommen, war Vater gleich dafür gewesen. Das städtische Krankenhaus hatte ein viel reichhaltigeres Material an Fällen als seine Privatklinik. Es war gut, wenn Annemarie beim praktischen Arbeiten möglichst viel zu sehen bekam. Seine Assistentin würde sie später werden, wenn sie schon ein gewisses Maß von Erfahrung gesammelt hatte. Und unter Rudolf Hartensteins Anleitung konnte sie etwas lernen, davon war Dr. Braun überzeugt. Er hielt viel von dem tüchtigen, jungen Kollegen.

Ja, Annemarie lernte was. Dr. Hartenstein nahm sie stramm heran und ließ ihr nichts durchgehen. Anstatt dankbar dafür zu sein, da es doch zu ihrem Besten geschah, lehnte sie sich wie ein trotziges Kind dagegen auf. »Unzuverlässig und unbedacht« hatte er sie heute wieder genannt. Noch dazu vor der Oberschwester! Die Krankenberichte, die sie zu erledigen hatte, waren nicht fertig. Und als sie ihm beim Röntgen assistierte, hätte sie beim Haar eines der so kostbaren Rohre zu weich werden lassen. »Woran sie denn bloß in aller Welt zu denken habe?« hatte er sie ärgerlich angefahren.

Das ließ sie sich nicht gefallen! Nachdem die Bestrahlung fertig war, hatte sie ohne ein Wort der Entschuldigung den Röntgensaal verlassen. Mochte er sehen, wo er jemand zum Assistieren herbekam.

Mit einem zentnerschweren Seufzer begab sich Doktors Nesthäkchen in das kleine neben dem Frauensaal gelegene Zimmer und machte sich an die vernachlässigten Krankenberichte. Woran sie zu denken hatte? An das, woran er scheinbar überhaupt nicht mehr dachte. Wie ganz anders es im vorigen Sommer zwischen ihnen gewesen war. War das wirklich derselbe, der sie vorhin so heruntergemacht hatte, der damals in der Nebelhöhle so liebevolle Worte für sie gehabt? Jede Erinnerung daran schien bei ihm völlig ausgelöscht. Er hatte bei der Arbeit denselben freundlich sachlichen Ton ihr gegenüber wie gegen die Schwestern. An den wenigen freien Abenden, die ihm seine Tätigkeit gönnte, war er meistens mit seiner Schwester Ola zusammen, die seit Weihnachten in Berlin studierte. Sie wohnte bei einer bekannten Familie, hielt aber eifrig Umschau nach einer kleinen Wohnung für sich und den Bruder. Das war recht schwer. Denn die Wohnungsknappheit hatte sich in Berlin zu einer wahren Wohnungsnot gesteigert. Kamen Rudolf und Ola wirklich mal abends zu ihnen, dann gab es medizinische Fachgespräche mit dem Vater, oder es wurde Skat gespielt. Manchmal plauderte man auch von den gemeinsamen schönen Wochen in Blaubeuren. Von der Nebelhöhle sprachen weder Rudolf noch Annemarie.

Ach, Doktors Nesthäkchen hätte gar zu gern gewußt, ob es ihm schwer wurde, ihrem Wunsch, Vergangenes vergangen und vergessen sein zu lassen, zu willfahren. Es sah nicht danach aus. Er schien sich ganz gut darein gefunden zu haben. Annemarie biß sich wütend auf die Lippen. Ein düsterer Tintenklecks zierte den Krankenbericht.

»Fräulein Braun, Herr Doktor läßt bitten zur Visite.« Eine weiße Schwesternhaube erschien in der halbgeöffneten Tür und verschwand wieder.

Annemarie warf die Feder hin, daß neben dem Klecks noch ein paar niedliche Spritzerchen prangten.

Sollte sie seinem Wunsch nicht nachkommen? Sich mit Kopfschmerzen entschuldigen lassen? Nein, das sah feige aus. Dann bildete er sich noch womöglich ein, daß sie sich was aus seiner Unzufriedenheit machte. Pah – nicht soviel! Nesthäkchen schnippte gleichmütig mit den Fingern, während die Tränen, die ihr ärgerlicherweise schon wieder in die Augen schossen, vom Gegenteil erzählten.

Der Assistenzarzt war bereits im Kindersaal, als Annemarie denselben betrat.

»Tante, komm her – zu mir zuerst, Tante Annemarie – hast du auch an das Märchenbuch gedacht? – Tante, morgen darf ich vielleicht aufstehen, sagt Onkel Doktor –«, jubelnd wurde Annemarie von den kleinen Patienten empfangen. Die lustige Tante, die mit den kleinen Kranken scherzte und spielte, hatte sich im Sturm die Kinderherzen erobert.

Heute lachte die Tante Annemarie nicht. Ernst trat sie an das Bett des kleinen Paul, über das Rudolf Hartenstein sich gerade untersuchend neigte.

»Die Schwellung geht zurück – bitte, wenn sich's davon überführen wollen, Fräulein Kollega.« Als ob nicht das geringste vorgefallen wäre, machte er sie auf Einzelheiten der verschiedenen Krankheiten aufmerksam. Von Bett zu Bett – kleine abgemagerte Ärmchen streckten sich Annemarie zärtlich entgegen.

Da nahm die ernste Miene, die eigentlich gar nichts in Annemaries rosigem Gesicht zu suchen hatte, vor all der Freude, die ihr Erscheinen auslöste, Reißaus. Sie vermochte sich wieder mit Karlchen zu necken, dem Urselchen, das so arge Schmerzen hatte, gut zuzureden, bis es dem Onkel Doktor sein »Wehweh« zeigte, und an all den kleinen Freuden und großen Leiden so liebevollen Anteil zu nehmen wie sonst.

»Tante Annemarie soll das Pflaster auflegen, Tante tut nicht weh –,« weinte das kleine Ding.

»Tante Annemarie kann auch weh tun und findet halt nimmer das Pflaster für die Wunde.« Der junge Arzt sprach es leicht scherzend zu dem weinenden Kinde. Er tat, als bemerke er es nicht, daß seine junge Begleiterin blaß und rot wurde. Es war das erstemal seit ihrem Gespräch auf dem Ulmer Münster, daß er mit einem Wort daran rührte.

Der Kindersaal war durchwandert. Weiter zur Frauenstation. Stumm schritten die beiden weißen Kittel nebeneinander her.

»Es muß Ihnen doch Freude machen, daß Ihnen von unsern Mädle und Buben hier halt so viel Liebe entgegengebracht wird«, begann der Assistent, nachdem er sein schweigsames Fräulein Kollega ein paarmal von der Seite angesehen.

Keine Antwort. Doktors Nesthäkchen schien noch zu schmollen.

»Seien's doch nit kindisch, Fräulein Annemarie. Ich mein's halt nimmer bös', wenn ich auch mal aus der Haut fahr'. Zum Kuckuck, Sie sind halt hier, um zu lernen.«

»Aber nicht, um mich wie ein dummes Ding abkanzeln zu lassen«, sprudelte es da von Annemaries Lippen. »Wenn die Kleinen nicht wären mit ihrer Zärtlichkeit, hielt ich es überhaupt hier nicht aus. Mit einem guten Wort kann man alles bei mir erreichen. Aber Zurechtweisungen gegenüber werde ich störrisch – die verbitte ich mir.«

»So–o«, sagte Dr. Hartenstein und suchte vergeblich ein belustigtes Schmunzeln zu verbergen. »Ich hab' halt geglaubt, es tät' Ihnen nimmer was an liebevoller Behandlung liegen.«

»Aber an höflicher!« Doktors Nesthäkchen schoß das Blut ins Gesicht. »Schlimm genug, daß ich Ihnen das erst sagen muß.« Der Mund lief wieder mal mit ihr davon.

»Sie haben mir halt schon so manches gesagt, was Ihnen am End' hinterher leid gewesen ist. Ich will annehmen, daß es mit Ihren letzten Worten das gleiche sein wird.« Das klang wieder ernst zurechtweisend.

Rudolf Hartenstein öffnete die Tür zur Frauenabteilung. Nur noch sachliche Worte fielen. Auch später bei dem gemeinsamen Mittagessen der Ärzte und Ärztinnen sprachen sie nicht miteinander. Als Jüngste hatte Annemarie ihren Platz ganz am Ende des Tisches. Für gewöhnlich nahm sie überhaupt nicht an der Mahlzeit teil, sondern pflegte zu Hannes Ärger daheim nachzuexerzieren. Nur wenn sie »Tagesdienst« hatte, speiste sie mit den andern. Die Assistenzärzte und die Volontäre, männlichen wie weiblichen Geschlechts, mochten die ebenso liebenswürdige wie liebreizende junge Studentin gern. »Unser Nesthäkchen« hatte eine der älteren Ärztinnen sie eines Tages genannt, und die andern hatten die Bezeichnung lachend aufgegriffen. So war Doktors Nesthäkchen der Kindername selbst ins ernste Krankenhaus gefolgt. Nur Rudolf gebrauchte den Scherznamen nicht. Er nannte sie dienstlich Fräulein Kollega, privatim Fräulein Annemarie.

Bei Doktor Brauns saß man abends auf dem in maigrüne Lindenwipfel hinausgehenden Balkon. Vera Burkhard und Margot Thielen waren zu Besuch bei Annemarie. Denn diese hatte jetzt nur noch abends Zeit für die Freundinnen. Die dienstfreien Nachmittage studierte Annemarie medizinische Bücher, um möglichst bald das Physikum machen zu können.

»Na, so 'ne Varricktheit!« Hanne machte ein Gesicht wie eine Bulldogge – »nu haben wa unser Nesthäkchen jlücklich wieder, und es is jrade so, als ob se noch mang de Schwaben wäre.« Hanne hatte keine ganz klare Vorstellung von den Schwaben. Sie mußte immer dabei an die ekligen schwarzen Käfer denken, die des Nachts öfters aus der Wasserleitung hervorgekrochen kamen. »Morjens in aller Herrjottsfriehe jeht se schon heidi ins Klinik, und meistens jeht se abends erst wieder auf wie der Mond. Zeit is doch nu wirklich, daß se ooch mal was Reelles lernen tut. Was de jnädje Frau Jroßmamachen is, die tut janz jenau so denken wie ich. Aber die Herren Eltern wollen ja nu mal keine Vernunft nich annehmen.« So beklagte sich die treue Alte bei jedem, der's hören wollte oder nicht.

Frau Doktor mußte fast täglich Hannes Herzensergüsse über sich ergehen lassen. Sie begegnete denselben mit Humor. Gott, sie hatte sich eigentlich ja auch vorgestellt, daß sie mal mehr von ihrer erwachsenen Tochter haben würde. Sie hätte sie recht gern während der Sommermonate daheim behalten. Aber davon wollte weder ihr Mann, noch Annemarie etwas wissen. Und wenn man im Krankenhaus tätig ist, kann man nicht zu gleicher Zeit hauswirtschaftliche Pflichten erfüllen. Das sah die verständige Frau ein. Ihr Mann fand es erstaunlich, wie strebsam und zielbewußt ihr übermütiges Nesthäkchen geworden war. Er hätte es seiner lustigen Lotte nie zugetraut, daß sie so viel Ernst und Beharrlichkeit für das Studium aufbringen würde. Und wenn es zum Glücke ihres Kindes war, mußte sich Mutterliebe selbstlos bescheiden.

Ja, aber war es denn auch zu ihres Nesthäkchens Glück? War ihre Lotte wirklich frohbefriedigt durch ihre Tätigkeit am Krankenhaus? Mutteraugen sehen mehr als andere Augen. Die bemerken den feinen Schleier, der manchmal über strahlenden Blicken hängt – keinem andern sichtbar. Die sehen durch überschäumende Lustigkeit hindurch öfters etwas Gezwungenes. Auch Nesthäkchens Mund ist nicht mehr der lachende Kindermund von früher. Kaum merkbar sind seine Winkel herabgezogen, als wolle er weinen und dürfe nicht.

Kein anderer sieht das. Vater ist glücklich, wie glänzend seinem Mädel das Jahr in Tübingen körperlich sowohl wie geistig bekommen ist. Sein Blick ruht immer wieder auf seinem anmutigen Nesthäkchen. Annemaries Gesicht ist nicht so regelmäßig schön wie die feinen, blassen Züge von Vera Burkhard. Dafür ist es jugendfrisch und blühend.

»Annemie – Marrgot und ich, wirr brringen dich zwei Neuigkeiten mit – rrate!« begann Vera aufgeregt.

»Ihr habt euch verlobt?« Klaus, der jetzt ebenfalls wieder daheim war, kam seiner Schwester zuvor.

»Wir beide miteinander?« lachte Margot.

»Viel, viel schönerr. Ihrr Männerr denkt immerr, alles drreht sich in die Welt nurr um euerr Wenigkeit. Ich werrde zu Herrbst eine künstlerrische Atelier fürr Kinderrbildnisse erröffnen. Ich haben geschickt auf das Ausstellung fürr künstlerrische Photogrraphie und sein worrden prrämiierrt.« Veras zartes Gesicht strahlte.

»Wie freue ich mich für dich. Verachen, daß du so schöne Erfolge hast«, stimmte Annemarie in die Freude mit ein.

»Unser Mastvieh auf der pommerschen Klitsche wurde auch vorigen Herbst prämiiert.« Der Klaus war doch immer noch solch ein Frechdachs wie früher.

»Als höfliches Kavalierr du würrdest werrden niemals prrämiierrt, Klaus.« Wenn die Freundinnen da waren, gab es Neckereien und Wortgeplänkel wie einst in Kindertagen.

Margot druckste. Sie wollte so gern ihre Neuigkeit ebenfalls los werden.

»Ich – –« begann sie.

»Höfliches Kavalier wird man nicht unter Kühen und Ochsen.« Klaus zuckte gleichmütig die Achseln.

»Na, erlaube mal gefälligst«, legte Nesthäkchen los. »Die Hauptzeit deines Lebens hast du doch wohl nicht unter Kühen und Ochsen verbracht.«

»Dann waren es Gänse.«

»Ich habe ebenfalls – – –«, mit ihrer immer noch bescheidenen Schüchternheit versuchte Margot vergeblich, in dem Lachen sich Gehör zu verschaffen.

»Was hast du ebenfalls, Margot? Dein Leben unter Gänsen zugebracht? Ich habe, soweit es euer Kränzchen betrifft, niemals daran gezweifelt.«

»Der Klaus ist schrecklich verwildert. Der reine Bauer ist er geworden. Das wird viel Mühe kosten, ihn wieder zu kultivieren«, seufzte Annemarie drollig.

»Kinder, nun laßt doch bloß mal Margot ihre Neuigkeit loswerden. Sie erstickt ja sonst«, unterbrach Hans die Übermütigen.

»Richtig! Auch ein prämiiertes Mastvieh?« Klaus entfesselte wieder eine Lachsalve. Denn auf die überschlanke Margot angewandt, wirkte die Bezeichnung besonders komisch.

Margot schwieg beleidigt. Die Empfindlichkeit hatte sie aus ihren Backfischtagen ins Leben mit hinübergenommen.

»Beleimigt?« Klaus schnitt eine Grimasse. »Zimpfere Stadtjungfer! Da – zur Versöhnung!« Er schob ihr ein Praliné zwischen die Lippen.

»Kinder, ihr müßt den Spaß nicht zu weit treiben«, lenkte Frau Braun ein. »Also, Margot, jetzt berichte du uns.«

Margot schluckte ihre Empfindlichkeit mit dem Praliné zugleich hinunter.

»Ich bin an einem Verlage für Entwürfe von Buchschmuck angestellt worden«, berichtete sie jetzt doch wieder freudig stolz.

»Gratuliere, großartig, was ihr schon erreicht habt! Und unsereins krabbelt immer noch auf der untersten Stufe der Wissenschaftsleiter herum. Eigentlich könnte ich euch beneiden.« Annemarie seufzte.

»Dafürr steigen du späterr um so höherr auf das Leiterr herrauf«, tröstete Vera.

»Und Vaters Assistentin zu werden, ist gar nichts – he, du Schlingel?« Dr. Braun hob das Gesicht seiner Jüngsten zu sich empor. »Bist ja so kleinlaut, Lotte. War dein Herr Lehrer heute nicht mit dir zufrieden?«

Annemarie stimmte in das Lachen der andern über Vaters Witz mit ein. Nur die Mutter fühlte, daß hinter dem Lachen ungeweinte Tränen standen. –

Immer blauer, immer goldener wurden die Maientage. Das Blühen und Duften, das Farbenleuchten und Glühen ward von Tag zu Tag berauschender. Unnatürlich heiß war es für Frühlingstemperatur. Jeden Morgen blickte man in den strahlenden Himmel, ob sich denn noch immer nicht das kleinste Wölkchen zeigen wollte.

Da – eines Mittags, ein leiser Schleierdunst über der Kuppel des Charlottenburger Schlosses, das über Baumwipfel hinweg zum Krankenhause herübergrüßte. Bei der Mittagstafel hatte dieser zartweiße Dunst einen so lebhaften Gesprächsstoff ergeben, wie nur je ein interessanter Krankheitsfall. Die einen meinten, es ziehe herauf, die andern, es sei noch gar keine Aussicht auf Abkühlung.

Als Annemarie nach Tisch ihr Krankenjournal erledigt hatte, war der feine Dunst schon zu weißlichen Dampfwölkchen verdichtet. Als man mit der Nachmittagsvisite fertig war, segelten grauschwarze Wolken wie aufgescheuchte Raubvögel um den Schloßturm.

Jetzt stand Annemarie im Portal des Krankenhauses und blickte prüfend in die drohenden Wolkenmassen. Ob sie noch trocken zu Vera kam? Die Freundin erwartete sie, und wenn sie erst heimfuhr, um sich Mantel und Schirm zu holen, wurde es spät. Ach was – das Wetter drohte ja schon seit Stunden. So schnell entlud es sich nicht. Und wenn auch – Annemarie hätte nicht Doktors leichtsinnig unbekümmertes Nesthäkchen sein müssen, um sich von ein paar Wolken ins Bockshorn jagen zu lassen.

Freilich, sie hatte noch ein Stück Weges zu gehen bis zum Schloß. Von dort aus konnte sie dann die elektrische Bahn benutzen. Vorwärts!

Nachdem das junge Mädchen etwa fünf Minuten trotz der Schwüle im Eiltempo gelaufen war, fielen die ersten Tropfen. Schwer und langsam. Umkehren? Ausgeschlossen! Es war ja gar nicht mehr weit bis zum Schloß. Und die himmlische Wäsche konnte ihrem weißen Sommerkleid nicht viel schaden. Annemarie beschleunigte ihr Tempo.

Schneller aber noch als sie war der Gewitterregen. Wolkenbruchartig rauschte er plötzlich wie eine Dusche über Doktors Nesthäkchen herab. Blitze zuckten wie gelbe Schlangen. Donner krachte.

»Fräulein Annemarie – Fräulein Annemarie –!« narrte sie der Gewittersturm oder war das wirklich Rudolf Hartensteins Stimme hinter ihr?

Annemarie jagte weiter, vom Sturm vorwärts getrieben. Nicht einmal den Kopf vermochte sie zu wenden.

»Fräulein Annemarie –!« da hatte er sie erreicht.

Ein schwarzes Regendach wölbte sich über ihre triefenden Blondhaare. Ein Gummimantel hing ihr plötzlich schützend über dem durchweichten Kleid.

»Was laufen's denn gar so arg, Fräulein Kollega, nehmen's mich doch mit«, meinte Rudolf, nachdem er wieder Atem schöpfen konnte. »Sie sind ja gut ausg'waschen. Kommen's nur ein bißle näher, einhaken mögen's ja nit, gelt? 's geht halt auch so!« Er hielt den Schirm schräg über ihr Haupt, ungeachtet dessen, daß er nun selbst naß wurde.

Ihn unterfassen? Nein! Erst heute vormittag hatte er sie wieder geärgert. Sie sei viel zu huschelig, um Ärztin zu werden, hatte er gemeint. Daran dachte er scheinbar nicht mehr. Er hatte wirklich ein kurzes Gedächtnis.

Blitz und Donner zugleich – ohrenbetäubend – als ob die Erde plötzlich auseinanderberste und Feuer spie. Unwillkürlich griff Annemarie schutzsuchend nach dem Arm ihres Begleiters. Der tat, als merke er die kleine, nasse Hand nicht, die sich an seinen Arm klammerte.

»Haben's nur keine Angst, 's geschieht Ihnen nix«, tröstete er.

Was – er hielt sie am Ende gar für feige? Jäh sank Annemaries Hand wieder herab. »Ich kenne keine Gewitterfurcht, nur erschreckt hatte ich mich«, sagte sie möglichst keck.

Er lächelte.

»Wir waren halt schon mal bei so einem arg bösen Wetter beieinand'.«

»Ja, in der Nebelhöhle –« entfuhr es Annemarie.

»Ich meint', halt in Blaubeuren auf dem Rusenschloß. An die Nebelhöhle hab' ich nimmer g'dacht«, behauptete Rudolf.

Doktors Nesthäkchen biß sich auf die Lippen. O Gott, er würde doch nicht etwa annehmen, daß sie ihn an die Nebelhöhle, die seinem Gedächtnis ganz entschwunden war, hatte erinnern wollen? Nur das nicht!

Sie hatten die Rokokohalle, die in den Charlottenburger Schloßgarten führte, erreicht. Hier fanden sie Schutz vor Regen und Sturm. Draußen rauschte es wie ein Gießbach vom Himmel herab. Es heulte in den Baumwipfeln, knackte in den Ästen. Ganz allein waren die beiden. Nur kleine Steinamoretten, Rosengirlanden in den Händen, schauten pausbäckig von der Decke herab.

Still war es zwischen ihnen geworden.

»Fräulein Annemarie – wollen's meinem Gedächtnis nit ein bißle nachhelfen?« In bangforschender Frage hingen Rudolfs Augen an Annemaries jede Regung offenbarenden Zügen.

Es zuckte darin – es kämpfte – Trotz, Stolz, Liebe und Nachgiebigkeit. Immer weicher wurde der Ausdruck ihres Gesichtes, je länger sie Rudolfs guten Blick auf sich fühlte. Da war er wieder, der Herzenston, der so lange verstummt gewesene.

»Haben Sie die Nebelhöhle denn ganz vergessen?« Leise, ganz leise kamen diese Worte von Annemarie zu ihm.

»Darf ich daran denken, Annemarie?« Er griff nach ihren kalten Händen.

»Manchmal – mal ein bißchen – wenn – wenn Sie mich anranzen wollen, wie heute vormittag.« Vergeblich versuchte Annemarie zu scherzen. Wo war all ihre Keckheit hin?

»Nein, Annemarie – das mag ich nimmer. Einschränkungen lass' ich mir nit auferlegen. Alles will ich halt – dich ganz und gar. Gelt, jetzt sperrst dich nimmer, Herzle? Gelt, hast es halt eing'sehen, daß wir beid' zueinander gehören – daß nix uns zu trennen vermag?« Kühn schlang er den Arm um die neben ihm Stehende.

»Nicht anfassen – ich bin naß wie eine Katze!« wehrte Doktors Nesthäkchen, barg aber ungeachtet dieser Worte den nassen Kopf an Rudolfs nicht minder feuchter Brust.

»Annemarie, ich wart' halt auf die Antwort –«, drängte er.

»Die wissen Sie doch selbst. Daß ich Sie lieb hab', trotzdem Sie mich jetzt so oft angesäuselt haben, das wissen Sie seit der Nebelhöhle. Und daß – daß ich Ihre Frau nicht werden kann, das hab' ich Ihnen doch auf dem Ulmer Münster auseinandergesetzt.« Annemarie zitterte vor Erregung. Sie weinte.

»Ruhig, Herzle, ruhig! Was drunten unter der Erde begonnen und droben in den Lüften nimmer zunichte werden könnt', das soll jetzt auf der Erde uns fest miteinander verbinden. Es sind ja Hirngespinste, Annemarie, die du als Trennungsgründe anschaust. Dein Vater ist der letzte, der sich dem Glück seines Kindes in den Weg stellen würde. Und schlimmstenfalls meld' ich mich bei ihm als Ersatzmann. Also ich denk', du fügst dich, mein Lieb – wenn's auch das erstemal in deinem Leben ist.« Er küßte ihr die Tränen von den Augen.

»Und Ola?« warf Annemarie noch pflichtschuldigst ein.

»Ola wird am End' auch einen – Ersatzmann finden«, scherzte Rudolf in seligem Glück. »Hast es nimmer g'merkt, Herzle, daß der Hans und die Ola einander mögen? Dein Bruder und ich, wir haben bereits Schwagerschaft miteinander getrunken.«

»Ohne uns zu fragen?« begehrte Annemarie auf. Und dann plötzlich, die ganze Glücksübermacht erst richtig fassend, schlang sie jubelnd beide Arme um Rudolfs Hals: »Dann darf ich Sie lieb haben!«

»Sie darfst nimmer lieb haben – Du bin ich und Rudi, verstehst?«

»Das werde ich nicht lernen – dazu hab' ich zu viel Respekt vor meinem Herrn Vorgesetzten«, klagte Annemarie mit drolligem Ernst.

»Bis zu unserer Silberhochzeit wirst's halt können, gelt, mein Nesthäkchen, mein lieb's?«

»Halt – Nesthäkchen dürfen Sie mich nicht nennen! Das wär' ja noch schöner, wenn ich als – als – na ja, als Braut auch noch Nesthäkchen genannt werde. Dagegen protestiere ich ganz energisch.« Alle Weichheit war von Annemarie gewichen. Sie war wieder das übermütige Mädel, das es dem jungen Mediziner sofort in Würzburg angetan hatte. Nur ein seliger Glückston schwang bei allem Übermut mit.

»Schön – schließen wir halt einen Vertrag. Sobald du wieder ›Sie‹ zu mir sagst, nenn' ich dich zur Straf' Nesthäkchen.« Ganz fremd erschien der sonst so ruhige Herr Doktor der Annemarie in seiner glückseligen Ausgelassenheit.

Die beiden merkten nicht, daß Donner und Blitz längst ausgetobt hatten, daß der Gießbach da draußen in sanftes Plätschern übergegangen war. Erst als die Sonne plötzlich wieder durchbrach, erwachten sie aus ihrer Glücksversunkenheit.

»Ein Regenbogen – ein wundervoller Regenbogen!« Wie ein Kind jauchzte Annemarie.

Arm in Arm schritt Doktors Nesthäkchen mit Rudolf Hartenstein unter diamantglitzernden Zweigen mitten hinein in den farbenleuchtenden, geradeswegs in den Himmel führenden Regenbogen.

Und die kleinen pausbäckigen Liebesgötter in der Rokokohalle lachten sich ins Fäustchen.


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