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2. Kapitel. Eine Reise mit Hindernissen.

Ein Sonnentag war's – hell und strahlend. Aber die junge Reisende blickte unter dem neuen Reisehütchen gar nicht so strahlend wie sonst in die Welt. Die stand in ihrem Mädchenzimmer mit den hübschen weißen Möbeln und schaute auf jedes Stück, die Zeugen ihrer fröhlichen Kinder- und Backfischzeit, als ob sie sich gar nicht davon trennen könnte. Würde die Minna auch ihre süßen kleinen Kakteenpflänzchen, siebenundvierzig waren es jetzt schon an der Zahl, richtig pflegen? Und die Primelchen alle zwischen den Doppelfenstern? Mätzchen würde gewiß suchend das zitronengelbe Köpfchen nach ihr drehen, wenn eine andere Hand ihm Trink- und Badewasser in das Bauer schob. Und Puck? Als ob das kluge Tier wußte, daß Doktors Nesthäkchen heute dem Vaterhause ade sagen wollte, folgte es ihm auf Schritt und Tritt schwanzwedelnd. Annemarie beugte sich zu dem Gefährten ihrer lustigen Kindheitsspiele zärtlich herab und packte ihn bei den langhaarigen Ohren.

»Geliebte Hundetöle, so schwer wird es dir, mich fortzulassen?« Ein glänzender Tropfen aus blauen Mädchenaugen fiel höchst unnötigerweise auf die schwarze Hundeschnauze.

Sie war doch schon mal ein Jahr in der Fremde gewesen. Vor vielen Jahren, als sie noch ein kleines Mädchen war und nach überstandener Krankheit zur völligen Kräftigung in das Kinderheim an der Nordsee geschickt wurde. Da war ihr die Trennung doch lange nicht so schwer geworden.

»Lotte – es ist Zeit, wir müssen gehen.« Mutters Stimme ertönte mahnend aus dem Nebenzimmer.

»Die Droschke ist da!« meldete Minna und belud sich mit dem Handgepäck des jungen Fräuleins.

Mit einem Blick umfaßte Doktors Nesthäkchen zum letztenmal ihr kleines Reich, den Nähtisch der Mutter drin im Wohnzimmer, schnell durch die Türspalte noch einmal in Vaters Sprechzimmer gelugt, dann wandte Annemarie den Kopf nicht mehr zurück. Vorwärts ging es nun, dem neuen buntwinkenden Studentenleben entgegen.

Unten vor dem Vorgarten, der sich Nesthäkchen zu Ehren mit seinen schönsten Mandelblüten besteckt hatte, standen sie alle abschiedbereit: Piefke, der Portier, der den neuen Geburtstagskoffer soeben aufgeladen. Sein Junge, Maxeken, Nesthäkchens einstiges Pflegekind, mit neugierigem Gesicht. Minna, sich die nassen Augen mit dem Handrücken wischend, und Hanne mit einer so bärbeißigen Miene, als ob sie der ganzen Welt an den Kragen wollte.

»Leben Sie wohl, Hanne, und wenn ich wiederkomme, gehe ich bei Ihnen ins Kolleg!« Nesthäkchen scherzte schon wieder.

»Kollegin brauchste nich von mich zu werden, Annemiechen. Aber das sag' ich dich, mit das Dusagen hat das nu 'n Ende. Wenn de von de Unversität wieda nach Hause kommen tust, denn biste vor mir ›Sie‹ und ›Fräulein‹.« Geradezu wütend sah Hannes breites Gesicht drein.

»Das überleb' ich nicht, Hanne«, lachte Annemarie. Allen Abschiedsschmerz hatte Hannes Drohung verscheucht.

Da zog der Droschkengaul an. – »Auf Wiedersehen! – Auf Wiedersehen!« – – – »Und komm auch nich abends von de Kneipe so anjesäuselt nach Hause, wie das unser Herr Klaus manchmal jemacht hat!« rief Hanne noch vorsorglich hinter Annemarie drein.

Die lachte Tränen. Auf den Balkonen und an den Fenstern aber reckte man die Köpfe hinter der durch die Straße ratternden Droschke her. Nanu – Doktors Nesthäkchen war ja unglaublich fidel, daß es von Hause fortging!

Wenn die lieben Nachbarn allerdings gesehen hätten, wie Annemarie während der Fahrt die Hand der Mutter nicht aus der ihren ließ, wie sie sich auf dem Bahnhof die Augen ausschaute, ob der Vater, der in aller Herrgottsfrühe zu einem Schwerkranken gerufen worden war, es auch noch erreichte, um seiner Lotte den Abschiedskuß zu geben, dann hätten die lieben Nachbarn doch vielleicht gemerkt, daß Doktors Nesthäkchen der Abschied nicht gar so leicht wurde.

Aber sie ließ es sich nicht merken, daß in der Kehle ein Tränenkloß jeden Augenblick wie ein Wasserfall sich zu ergießen drohte. Das Heulen überließ sie Ilse Hermann, die abwechselnd Trost suchte in den Armen der Eltern und der älteren Schwester Lisbeth.

»Ilschen, es gibt hier auf dem Anhalter Bahnhof eine Überschwemmung.« Alle Aufmunterungsversuche Annemaries verfingen nicht. Erst als Hans und Klaus auf der Bildfläche erschienen, schämte sie sich ihres zur Schau getragenen Abschiedsschmerzes.

Marlene biß die Zähne zusammen, damit nur keiner merkte, daß es ihr ebenfalls naheging. Die Annemarie hatte doch ein glückliches Temperament, daß sie selbst jetzt noch scherzen konnte. Nicht mal die Freundinnen merkten, daß Annemaries zur Schau getragene Heiterkeit Galgenhumor war.

Nur die Mutter kannte ihr Nesthäkchen. Die war gar nicht weiter davon überrascht, daß ihre eben noch lachende Lotte, als das Signal zum Einsteigen ertönte, ganz plötzlich in einen Tränenstrom ausbrach.

»Noch kannst du hierbleiben, Lotte!« Doktor Braun hatte es doch nicht gedacht, daß es ihm so schwerfallen würde, sein Nesthäkchen fortzulassen.

»Nein – nein – ich freue mich ja so schrecklich – – –.«

»Daß ich vor lauter Entzücken in Freudentränen ausbreche«, neckte Marianne Davis. Denn die Freundinnen waren natürlich vollzählig als Ehrengeleit erschienen. Vera streichelte fortwährend Annemaries Hand. »Denk an mirr – behalt' mirr in Liebe.« Margot weinte zur Gesellschaft mit den andern mit.

Nun waren alle Abschiedsküsse und Umarmungen erledigt, und die drei Studentinnen in spe standen am Fenster ihres Abteils, das feuchte Tränentüchlein zum letzten Gruß winkbereit.

»Marlene, gib mir bloß auf mein unbedachtes Mädel acht, du bist doch die Vernünftigste. Du glaubst gar nicht, wie unachtsam und leichtsinnig die Annemarie ist – – –.«

»Aber Muzi, mach' mich doch nicht vor allen Leuten hier schlecht«, begehrte Annemarie schon wieder lachend auf.

»Ilse und ich werden unser Nesthäkchen schon gut bewachen, Frau Doktor«, versprach Marlene.

»Erlaube mal, Ilse ist überhaupt jünger als ich – – –.«

»Und nimm dich mit fremden Leuten in acht, Kind, du bist so vertrauensselig. Und daß du nicht kalt trinkst, wenn du erhitzt bist und – – –.« Mutter kam mit ihren vorsorglichen Befürchtungen, von denen sie noch ein ganzes Dutzend auf Lager hatte, nicht weiter, denn der Zug setzte sich in Bewegung.

»Nun lernt in Tübingen fleißig Bierjungen trinken. Wenn wir uns wiedersehen, müßt ihr das Gesicht voller Schmisse haben«, rief Hans, um die Abschiedsstimmung zu heben, den dreien nach.

»Und vergeßt das eine nicht – das allerwichtigste: Rollmops ist gut gegen 'nen Kater!« Das war natürlich der unverbesserliche Klaus.

Wie Sonnenregen ging es da über die drei betrübten Mädchengesichter. Mit wieder lachenden Augen ließen die beiden Blonden und die Schwarze ihr Tüchlein zu ihren Lieben zurückwehen.

»Annemarie, wir sind gleich in Jüterbog.« Marlene, eingedenk ihres Ehrenamtes als Vernünftigste, zog die immer noch aus dem Fenster winkende Annemarie, die behauptete, ihre Mutter noch ganz deutlich erkennen zu können, auf ihren Platz.

»Wem du da zuwinkst, das ist irgendein Gepäckträger –.« »Ach wo, die Signalstange ist es überhaupt?« lachte Ilse.

Ihr glücklichen neunzehn Jahre, wo Abschiedstränen noch so rasch trocknen!

Durch sprießende Saaten, durch blauschwarze Kieferwaldungen, schüchtern mit zartgrünen Birkenbäumchen besäumt, fuhren die im Lenz des Lebens stehenden drei dem erwachenden Frühling entgegen. Je weiter sie nach Süden kamen, um so wonniger wurde das Blühen da draußen. Weimar, die Stadt der Musen, grüßte die drei Musentöchter bereits aus einem Meer von schneeigen Obstblüten.

»Kinder, wollen wir hier nicht aussteigen? In Weimar müßten wir Station machen«, schlug Doktors impulsives Nesthäkchen lebhaft vor. »Es ist doch unerhört, daß man an der Goethestadt vorüberfährt.«

»Ausgeschlossen, Annemarie. Wir haben zu heute abend in Stuttgart im Hotel Monopol Zimmer bestellt«, lehnte Marlene besonnen ab.

»Auf der Rückreise können wir ja in Weimar Aufenthalt nehmen«, tröstete Ilse.

»Menschenskind – auf der Rückreise – was kann in einem Jahr nicht alles sein!« Aber mit der ihr eigenen Liebenswürdigkeit gab Annemarie nach. Denn schließlich hatte Marlene ja recht.

Der Zug stieg bergan. Die Frühlingswelt wurde wieder winterlicher. Rauher wehte die Luft. Man näherte sich dem hochgelegenen, von Berliner Sommer- und Winterfrischlern viel besuchten Oberhof. Auch hier hätte Doktors Nesthäkchen, das alles sehen und genießen wollte, am liebsten Station gemacht. Aber der Zug entführte es weiter, immer weiter, talwärts zu Kirsch- und Fliederblüte.

Es wurde eine höchst fidele Fahrt. Zukunftspläne schmiedend, futternd und Studentenlieder singend, fuhren die drei Freundinnen ihrem Studienjahr entgegen. Annemaries ausgelassene Art steckte selbst die ruhige Marlene an. Das war ein Lachen, Scherzen und Singen zu den Klängen der Zupfgeige, die Nesthäkchen natürlich in die neue Heimat begleitete, daß die Mitreisenden ihre helle Freude an dem frischen, jungen Blut hatten. Bis auf eine etwas griesgrämige alte Dame, die fast während der ganzen Fahrt schlief. Oder vielmehr schlafen wollte, was ihr aber bei dem fidelen Kleeblatt nicht recht gelang.

So kam man in der sechsten Stunde nachmittags nach Würzburg.

»Würzburg soll die schönste Barockstadt sein, ähnlich wie Potsdam«, bemerkte Ilse, das Bauratstöchterlein.

»Müssen wir unbedingt sehen. Fahrtunterbrechung ist gestattet. Wir telephonieren dem Herrn Monopol in Stuttgart einfach ab.« Annemarie wieder Feuer und Flamme für die neue Idee.

»Dann haben wir keinen Tag mehr für Stuttgart. Das Semester beginnt doch schon in zwei Tagen«, widerlegte sie Ilse.

»Und an dem vorgenommenen Reiseprogramm hält man auch fest.« Bei Marlene mußte alles geordnet zugehen.

»Aber aussteigen muß ich, Kinderchen, ich verdurschte. Kein mitleidiger Pikkolo läßt sich mit Bier oder Limonade sehen. Ob ich mal ganz schnell zum Büfett dort drüben hinspringe und uns eine Brauselimonade hole? In zwei Minuten bin ich wieder da.« Annemarie war bereits an der Tür.

Die beiden Cousinen hielten sie ängstlich fest.

»Nicht doch, Annemarie, du könntest den Zug versäumen.«

»Es wird sicher noch jemand mit Getränken kommen.« Alle beide versuchten sie, Annemarie zurückzuhalten.

Aber wenn Doktors Nesthäkchen sich mal was in den Kopf gesetzt hatte, war es schwer, es vom Gegenteil zu überzeugen. Und außerdem quälte der Durst. »Was seid ihr für eine umständliche Gesellschaft – bis ihr mit eurer langatmigen Auseinandersetzung fertig seid, bin ich zehnmal wieder da – auf Wiedersehen – –.« Fort war sie.

»Sie brauchen keine Sorge zu haben, meine Damen, der Zug pflegt hier in Würzburg immer längeren Aufenthalt zu haben«, beruhigte ein Mitreisender die erschreckten Cousinen.

Am Büfett war es voll. Es dauerte lange, bis Annemarie, trotzdem sie ihre Ellenbogen zu brauchen verstand, die gewünschte Limonade erhielt. Für Flasche und Glas waren fünfzig Pfennige Pfand zu lassen. Trotz ihres großen Durstes lief die gutherzige Annemarie, ehe sie selbst trank, zum Zuge zurück, um die Freundinnen zuerst zu erquicken. Nach längerem Suchen fand sie ihr Abteil erst wieder, denn die Nummer desselben hatte sie sich in ihrer Huschligkeit nicht gemerkt.

»Steig' ein, Annemarie, der Zug kann abgehen«, drängte Marlene, sich kaum Zeit zum Trinken nehmend.

»Fällt mir nicht im Traume ein. Die Luft ist herrlich hier draußen. Kommt doch auch noch ein bißchen 'raus.«

»Nein, Annemarie, du weißt nicht, wie lange der Aufenthalt noch dauert. Bitte, steig' doch bloß ein«, versuchte auch Ilse sie zu überreden.

»Was seid ihr für nervöse junge Damen! Immer mit de Ruhe!« lachte Doktors Nesthäkchen ausgelassen und ließ sich die Limonade schmecken.

»Flink, Annemie, sieh nur, die andern Leute steigen alle schon ein.« Ilse war ganz aufgeregt.

Wirklich, der Bahnsteig leerte sich.

»Euer Wunsch ist mir Befehl. Ich will nur noch Flasche und Glas abgeben.«

»Ach, nimm sie doch mit, komm bloß schon!« Auch die ruhigere Marlene wurde durch Ilses Aufgeregtheit angesteckt.

»Ihr seid wohl 'n bißchen hops?« Annemarie tippte mit der Flasche gegen die Stirn. »Fünfzig Pfennige Pfand habe ich darauf zurückzubekommen. Die lasse ich auf keinen Fall schießen.« Allen Einwendungen der beiden ungeachtet, lief Annemarie noch einmal zum Büfett. Wieder eine Verzögerung – die Büfettdame hatte das Geld nicht gleich passend zur Hand. Aber Doktors Nesthäkchen blieb ganz sorglos. Unbekümmert machte es, nachdem es das Geld endlich erhalten, kehrt und – da fuhr der Zug bereits.

»Halt – halt!« schrie Nesthäkchen hinterdrein. »Ich muß ja noch mit!«

»Annemie – – –« ein entsetzter Doppelschrei von irgendeinem Fenster her. Dann sah die hinter dem Zuge Herlaufende nur noch die schwarze Rauchfahne.

Annemarie blieb mit ziemlich verdutztem Gesicht stehen, und dann brach sie plötzlich in helles Lachen aus. Nein, war das komisch! Sie konnte sich gar nicht beruhigen.

Ein Herr, der einen Freund zur Bahn begleitet hatte, wandte sich ihr zu. Er hatte das Intermezzo beobachtet. Aber daß jemand in solchem Falle lachte, anstatt sich darüber zu ärgern, das war ihm doch noch nicht vorgekommen.

»Ein unfreiwilliger Aufenthalt, gnädiges Fräulein«, meinte er lächelnd. »Aber es lohnt sich halt, dem schönen Würzburg einen Besuch abzustatten.«

»Ich fahre gleich mit dem nächsten Zug hinterdrein nach Stuttgart.« Das war wieder ganz Doktors leichtsinniges Nesthäkchen.

»Damit werden's heut' nimmer Glück haben, gnädiges Fräulein. Der nächste Zug nach Stuttgart geht nit vor morgen früh gegen sechs Uhr.«

»Wa–as?« Nun bekam die junge Dame doch einen Schreck. »Aber das ist ja gar nicht möglich. Ich werde mal den Stationsvorsteher fragen.«

»Das haben Sie nit nötig. Ich bin Stuttgarter und fahre die Strecke öfters.«

Trotzdem wandte sich Annemarie, Auskunft erbittend, an den Mann mit der roten Mütze. Es stimmte. Der nächste Zug ging erst am andern Morgen.

»Na, das ist ja eine nette Geschichte!« Die Komik der Situation begann allmählich dem Ernst derselben zu weichen. »Was mache ich denn nun bloß? All meine Sachen sind im Zuge bei meinen Freundinnen.«

»So sind dieselben wenigstens nit verloren. Wenn ich halt irgendwie inzwischen aushelfen kann, gnädiges Fräulein –.« Der fremde Herr griff nach seiner Brieftasche. Das reizende junge Mädchen sah nicht wie eine Hochstaplerin aus. Er hätte ihr jede Summe anvertraut.

»Danke vielmals. Aber mit Geld bin ich genügend versehen.« Sie hatte ja ihr Geldtäschchen zum Glück in der Hand. Und zum Überfluß noch das Lederbeutelchen mit den größeren Geldscheinen an einem Bande unter der Bluse. Gleich darauf biß sich Annemarie auf die Lippen. Mutti hatte recht, sie war wirklich unvorsichtig. Man sagte doch einem fremden Menschen nicht, daß man Geld hatte. Er konnte sie doch bestehlen.

Wie ein Dieb sah der Fremde aber eigentlich nicht aus. Es war ein noch junger, gutgekleideter Herr mit braunem Haar. Seine grauen Augen hinter dem Kneifer blickten vertrauenerweckend. Trotzdem nahm sich Nesthäkchen vor, auf der Hut zu sein.

Der Stationsvorsteher hatte sich bereits entfernt. Auch Annemarie wandte sich mit kurzem Kopfneigen gegen den Fremden zum Gehen. Nun bekam sie doch noch Würzburg zu sehen.

Aber mit einigen Schritten hatte der fremde Herr sie wieder eingeholt.

»Gnädiges Fräulein, wenn ich Ihnen am End' sonst irgendwie hier in der fremden Stadt behilflich sein kann, so steh' ich Ihnen herzlich gern zur Verfügung.« Er hatte eine freie, sympathische Art und sprach den einem norddeutschen Ohr so gemütlich klingenden süddeutschen Dialekt.

Aber Nesthäkchen wollte nicht wieder unbesonnen sein. Nicht umsonst hatte Mutti sie vor fremden Menschen gewarnt.

»Danke – ich kann mir allein helfen.« Das klang ziemlich abweisend unter der gefaßten Vornahme. Gar nicht so liebenswürdig, wie das sonst Annemaries Wesen entsprach.

Der Fremde zog den Hut und schritt davon.

Hatte sie ihn beleidigt? Das war nicht ihre Absicht gewesen, wo er sich ihr gegenüber doch immerhin freundlich gezeigt hatte. Na, deshalb machte sich Nesthäkchen kein unnötiges Kopfzerbrechen. Wahrscheinlich würde es den Betreffenden im ganzen Leben nicht wieder zu sehen bekommen.

Nun mal erst ein Hotelzimmer, daß sie ihr müdes Haupt heute abend betten konnte. Und dann auf den Stadtbummel. Morgen lachte sie Marlene und Ilse aus, daß sie die schöne Barockstadt nun doch zu sehen bekommen hatte.

Vorläufig aber lachte Annemarie nicht. Denn es war nicht so einfach, ein Zimmer in einem der Hotels zu bekommen. Weder auf dem großen Platz hinter dem Bahnhof noch in der Kaiserstraße, die in das Stadtinnere führte. Hotel neben Hotel, Annemarie lief kreuz und quer – überall besetzt. Nirgends ein Zimmer frei. Die erste Frage lautete stets: »Haben Sie Zimmer bestellt?« Und wenn das junge Mädchen dann wahrheitsgemäß verneinte, zuckte der Herr Geschäftsführer die Achsel. Wie konnte man auch in heutiger Zeit annehmen, daß man unangemeldet ein freies Zimmer finden könnte. Ja, mancher sah sie sogar mißtrauisch an, weil sie kein Gepäck bei sich hatte. Wäre es nicht doch vielleicht besser gewesen, die freundliche Hilfsbereitschaft des fremden Herrn, der hier Bescheid wußte, anzunehmen?

Nun war es zu spät dazu. Man mußte anderweitig Rat schaffen. In den Bahnhofsanlagen zu kampieren, dazu waren die Nächte noch zu kühl. Und auch zu unheimlich war's dort. Der Wartesaal erschien ihr auch nicht sehr einladend. Annemarie sehnte sich nach der langen Bahnfahrt danach, die Glieder heute abend in einem Bett auszustrecken. Ob sie es dort drüben an der Ecke noch mal versuchte? Sehr vertrauenerweckend sah der Gasthof zum »Bunten Hahn« nicht aus. Ziemlich schmutzig, eine Unterkunft zweiten, wenn nicht gar dritten Ranges. Aber immerhin besser als gar nichts. Die ebenfalls recht verwahrlost ausschauende Wirtin führte das junge Mädchen über eine verbaute Stiege in ein kleines Zimmer nach dem Hof heraus. Dasselbe war kaum notdürftig möbliert. Die Bettüberzeuge rot und weiß gewürfelt.

Unmöglich – das war Nesthäkchens erster Gedanke. Hier würde nicht mal Hanne schlafen. Aber der zweite Gedanke sagte: Besser als gar nichts. Gegen ihre sonstige Gewohnheit folgte Annemarie nicht sogleich dem ersten Impuls, sondern überlegte. Und das Resultat dieser Überlegung war, daß sie blieb.

Schnell sich mit Wasser und Seife ein bißchen erfrischen – ach Gott, Seife! Die reiste ja mit ihrem Reisenecessaire augenblicklich nach Stuttgart. Na, es gab ja hier genug Geschäfte, wo sie die notwendigsten Toilettengegenstände erstehen konnte. Nur flink, daß sie noch vor Dunkelheit etwas von Würzburg zu sehen bekam. Vor allem das Schloß, das ein besonders schöner Barockbau sein sollte. Sonst hieß es sicher, sie sei in Rom gewesen und habe den Papst nicht gesehen.

Eine halbe Stunde später sah man Doktor Brauns Nesthäkchen frohgemut durch die Straßen von Würzburg schlendern. Annemaries glückliches Naturell hatte sie das kleine Reisemißgeschick schon längst vergessen lassen. Sie war ihrem guten Stern dankbar, der sie in den schönen, alten Schloßgarten mit den verschnörkelten Wegen und all den Barockfiguren, von hellem Frühlingsgrün umsponnen, geführt hatte. Auf einer Steinbank sitzend, schmauste sie abwechselnd Backwerk und Apfelsinen, die sie unterwegs gekauft, lauschte sorglos dem Gezwitscher der Vögel und dachte mit keinem Gedanken daran, daß Marlene und Ilse sich um ihren Verbleib sicher Sorgen machen würden.

Dann ging es zur Universität, denn das war sie ihrer Würde als Studentin doch schuldig. Aus den Hofgärten der alten Häuser zu Würzburg duftete fast überall blühender Flieder. Blau, weiß, rot – ein schier endloses Blühen und Duften. Immer weiter schritt Annemarie in den herrlichen Frühlingsabend hinein. Ihr war so leicht, so frei zumute wie dem Vogel in der Luft. Jetzt stand sie an einem breiten Fluß. Nachen und Flöße zogen auf demselben dahin, lichtgrüne Hügelketten besäumten das jenseitige Ufer. Und über das ganze Bild stülpte sich, durchsichtig wie eine Glasglocke, zartviolett abgetönter Abendhimmel. War das schön!

Ein Gartenrestaurant, ganz versteckt unter Fliederbüschen, von dem aus man den Blick über den Strom hatte, lockte Annemarie. Sie hatte rechtschaffenen Hunger, und in ihrem wenig einladenden »Hotel« mochte sie nicht zu Abend speisen. So stieg sie das Steintreppchen zum »Weißen Lamm« empor.

»Gibt's hier ein Spezialgericht in Würzburg?« fragte sie den Kellner, eingedenk, daß Hans von seiner Studienreise einst erzählt hatte, jede Stadt habe ihre besonderen Gerichte.

»Ja, unsere Spezialität hier ischt Pfannkuche«, lautete die Antwort.

»Na, dann bringen Sie mir mal Pfannkuchen«, bestellte Annemarie, trotzdem sie dieselben eigentlich zum Kaffee oder Silvesterpunsch geeigneter fand als zum Abendessen. Aber wie angenehm war sie enttäuscht, als der Kellner mit einem prächtigen Eierkuchen erschien. Also das nannte man hierzulande Pfannkuchen. Sie wollte es sich merken.

»Was trinkt man denn hier?« Annemarie wollte durchaus stilgerecht in Würzburg speisen.

»Halt a Moscht«, schlug der Kellner vor.

»Moscht – was ist denn das?«

»Moscht ischt halt Moscht«, erklärte der Kellner überzeugungsvoll.

Aber als sie dann das apfelweinsäuerliche Getränk kostete, stieß das Naturkind ein vernehmliches »Pfui, Deixel!« hervor.

Sie begann mit dem Kellner eine Unterhaltung.

»Ist das der Neckar?« fragte sie, auf den Fluß weisend.

»Aber nimmer – das ischt halt unser Main.«

»Bald gras' i am Neckar, bald gras' i am Main«, begann Annemarie unbekümmert zu summen.

»Sie sein halt nit von hier?« Der Mann konnte sich gar nicht beruhigen, daß man das nicht wußte.

»Nee«, machte Nesthäkchen im echten Berliner Dialekt, und begann sich nun doch etwas seiner Unbildung zu schämen. Trotz Abiturientenexamens hatte Geographie niemals zu Annemaries stärkster Seite gehört. Der Kellner würde es ihr wohl nicht weiter verübeln, und der einsame Gast, der dort hinter den Fliederbüschen saß, war in seine Zeitung vertieft.

»Bleiben's hier bei uns in Würzburg?« Der Kellner fühlte sich jetzt verpflichtet, die hübsche junge Dame zu unterhalten.

»Nee, ich fahre morgen nach Stuttgart und dann weiter nach Tübingen.«

»Ach, nach Stuckart wollen's? Da kenn' i mich auch aus. Da hab' i halt auch mal konditschoniert.«

»Wo speist man denn da am besten?« erkundigte sich Annemarie, welcher der Eierkuchen mundete.

»In Stuckart allemal am beschten im ›Elefant‹.«

»Danke vielmals.« Annemarie zog ein kleines Notizbüchlein aus dem Täschchen und schrieb sich den Elefanten auf. Wie würden sich Marlene und Ilse freuen, wenn sie ihnen ein so gutes Lokal empfehlen konnte.

Der Herr hinter der Fliederhecke war schon lange aufmerksam geworden. Nur zum Schein hatte er die Zeitung noch vor dem Gesicht, um umso unauffälliger dem Gespräch lauschen zu können. Jetzt erhob er sich mit plötzlichem Entschluß.

»Gnädiges Fräulein, der Stuttgarter ›Elefant‹ mag ja ganz gut sein, aber für junge Damen ist das sicher nit der geeignete Aufenthaltsort. Ich bin halt aus Stuttgart und weiß dort Bescheid«, mischte er sich plötzlich in die Unterhaltung.

Annemarie blickte überrascht hoch. Es dämmerte bereits; aber – war das nicht ... die braunen Haare, die grauen Augen, das schmale Gesicht ... natürlich, das war ja der fremde Herr vom Bahnhof, den sie hatte abfallen lassen. Nun hatte sie sich schon wieder vor ihm blamiert. Wie peinlich, daß sie den Main mit dem Neckar verwechselt hatte!

»Danke sehr für Ihren Rat«, sagte sie möglichst von oben herab, »ob ich ihn befolgen werde, weiß ich noch nicht.«

»Verzeihung, wenn ich halt zudringlich gewesen bin.« Der Fremde zog sich wieder an seinen Tisch zurück.

Zum zweitenmal abgeblitzt. – Nesthäkchen vermochte sich seines Triumphes nicht zu freuen. Es wurde Annemarie unbehaglich in dem idyllischen Mainlokal. Mußte der Fremde auch gerade wieder ihren Weg kreuzen! Sie zahlte und erhob sich, ohne noch einen Blick durch die Fliederhecke zum Nachbartisch zu werfen.

Am Main war es noch einigermaßen hell. Aber als Annemarie jetzt eine stadtwärts führende Straße einschlug, machte sich die hereinbrechende Nacht doch schon stark bemerkbar. Wie unvorsichtig von ihr, so lange da draußen zu sitzen. Wenn sie sich nun in der fremden Stadt nicht zurechtfand; wenn sie im Dunkeln ihren Gasthof nicht wiedererkannte! Sollte sie zurückgehen und den fremden Herrn bitten, ihr den Weg zu weisen? Er hatte unbedingt etwas Vertrauenerweckendes in seinen Augen, und hatte es ihr doch selbst angeboten, ihr behilflich zu sein. Aber nein – nein – sie hatte sich doch zu abweisend ihm gegenüber benommen. Wie konnte sie sich jetzt mit einer Bitte an ihn wenden!

Schritte hallten hinter ihr her. Doktors sonst so keckes Nesthäkchen beschleunigte den seinigen. Es war ihm recht unbehaglich in der fremden, dunklen Stadt. Es lief in irgendeiner Richtung, ohne jede Überlegung. Ach, wäre es doch jetzt in Stuttgart bei Marlene und Ilse.

Die Häuser hörten auf. Anlagen kamen. Du mein Himmel, sie hatte sich ja gründlich verlaufen! Wie fand sie bloß in die Stadt zurück? Immer noch klangen die Schritte hinter ihr und jagten sie vorwärts. Und jetzt Gesang und Gelächter – es kam ihr entgegen; junge, vergnügte Burschen zogen durch die laue Frühlingsnacht.

Das Lachen und Singen näherte sich. Herzklopfend blieb Annemarie stehen. Sie galt doch sonst für so unverfroren, wo war nur Nesthäkchens kecker Mut hin? Hatten Großmama und Tante Albertinchen nicht recht, daß ein junges Mädchen daheim ins Elternhaus gehörte? Sie hatte diese Ansichten heimlich als altmodisch verspottet.

Wohin wollte sie? Vorwärts oder zurück? Während Annemarie noch überlegte, hatten die Schritte, die den ganzen Weg über hinter ihr gedröhnt, sie eingeholt. Es war bereits zu dunkel, um den Herankommenden zu erkennen. Aber als er zu sprechen begann, wußte Annemarie, daß es der Herr vom Bahnhof und aus dem »Weißen Lamm« war. Das beruhigte sie sehr.

»Ich bitte um Entschuldigung, gnädiges Fräulein, wenn ich trotz der deutlichen Abweisung es wage, Ihnen meine Gesellschaft aufzudrängen. Sie sind fremd hier, ohne Schutz – ich habe halt selbst eine junge Schwester und möcht' sie nit in ähnlicher Lage wissen.« Das klang so echt und menschenfreundlich, daß auch die letzte Scheu und Beklommenheit bei Annemarie schwand. Ein wohliges Gefühl des Geborgenseins kam ihr, während die singenden Burschen an ihnen vorbeizogen.

Sie reichte ihm dankbar die Hand.

»Ich danke Ihnen für Ihre große Freundlichkeit – die ich eigentlich gar nicht verdient habe«, setzte sie ehrlich hinzu. Das war wieder die offene, unbefangene Art, durch die Doktors Nesthäkchen sich allenthalben Freunde errang. Auch der Fremde war angenehm davon berührt.

»Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstell', mein Name ist Hartenstein – Rudolf Hartenstein.«

Mußte sie jetzt auch ihren Namen nennen? In der Tanzstunde hatten sie Anstandslehre gehabt, aber dieser Fall war nicht vorgesehen. Wie meistens handelte Nesthäkchen aus ihrem Gefühl heraus, und das sagte ihr, daß sie diesem geraden, ungezwungenen Entgegenkommen des Fremden in gleicher Weise begegnen müsse. So nannte auch sie ihren Namen und erzählte, daß sie auf dem Wege nach Tübingen sei, um dort Medizin zu studieren.

»Ach, nach Tübingen! Dort studiert meine Schwester ebenfalls.«

»Auch Medizin?« Annemarie rief es in lebhafter Freude. Wie schön, wenn sie dort gleich Anschluß fanden an jemand, der bereits eingebürgert war.

»Nein, meine Schwester studiert halt Chemie und Physik. Ein Mediziner in der Familie ist ausreichend. Ich bin hier in Würzburg, um meinen Doktor zu machen, und freu' mich, eine junge Kollegin in spe kennenzulernen.« Er bot ihr seinen Arm.

»Nee – unterfassen ist nicht!« Bei einem Haar hätte Nesthäkchen »unterklauen« gesagt, wie sie sich den Freundinnen gegenüber auszudrücken pflegte.

Bestürzt trat der junge Mediziner zur Seite. Hatte er wieder irgend etwas versehen? Er pflegte den Freundinnen seiner Schwester, wenn er sie abends nach Haus geleitete, stets ritterlich den Arm zu bieten. Vielleicht war das in Norddeutschland nicht Sitte.

Annemarie biß sich auf die Lippen. Da war sie doch sicher mal wieder zu zufahrend gewesen. Es tat ihr leid, daß Herr Hartenstein jetzt stumm neben ihr in drei Schritt Entfernung hermarschierte. Sie fand seine süddeutsche Sprechweise so nett und hätte ihn gern noch plaudern gehört.

»Das soll keine Kränkung für Sie sein – nicht mal in der Tanzstunde habe ich mich von den Jünglingen unterärmeln lassen – ich kann das nun mal nicht leiden«, lenkte Nesthäkchen wieder ein.

Da lachte Rudolf Hartenstein herzlich, und das Eis war gebrochen. Wie alte, gute Bekannte plaudernd, kamen sie endlich in die Stadt. Denn Annemarie hatte vorher gerade den entgegengesetzten Weg eingeschlagen.

»Zu welchem Hotel darf ich Sie führen, gnädiges Fräulein?«

»Es war ein Hahn«, meinte die vergeßliche Annemarie überlegend.

»Ach, sicher der ›Weiße Hahn‹. Da sind Sie gut aufgehoben.« Aber als sie an dem nett aussehenden Hotel standen, merkte Doktors Nesthäkchen, daß es dort nicht zu Hause war.

»Nee, der ›Weiße Hahn‹ ist es nicht. Haben Sie hier nicht noch mehr Hähne?«

»O freilich, noch eine ganze Menge halt, krähende und andere«, scherzte ihr Begleiter. »Da wäre noch der ›Goldene Hahn‹, der ›Bunte Hahn‹ – na, dort werden Sie nimmer abgestiegen sein. Das ist bloß eine Art Ausspannung.«

»Doch, der ›Bunte Hahn‹ ist's! Dort habe ich ausgespannt! Alle andern Hotels waren überfüllt.« Annemarie war glücklich, daß sie jetzt wieder den Namen wußte.

»Ei«, sagte Rudolf Hartenstein und lächelte, »Sie hätten sich doch lieber gleich heute nachmittag meiner Führung anvertrauen sollen, gnädiges Fräulein. Der ›Bunte Hahn‹ ist nicht viel besser als der Stuttgarter ›Elefant‹.«

»Wenn ich gewußt hätte, daß Sie so nett und so – so ehrlich und zuverlässig sind, hätte ich es auch sicher angenommen«, meinte Doktors Nesthäkchen treuherzig. »Aber Sie hätten doch ebensogut ein Betrüger sein können.«

Da lachte der junge Herr wieder sein von Herzen kommendes Lachen. »Danke sehr für die Ehrenerklärung! Und nun: Grüß Gott, gnädiges Fräulein. Glück auf den neuen Weg! Und falls Sie irgendeinen Rat in Tübingen brauchen, meine Schwester wohnt Parkstraße 3. Sie ist halt ebenso ehrlich und zuverlässig wie ich«, setzte er noch scherzend hinzu. Sie standen vor der verwitterten Front des ›Bunten Hahnes‹.

»Haben Sie recht herzlichen Dank für Ihr Geleit, Herr Hartenstein.« Annemarie schüttelte ihm abschiednehmend die Rechte.

»Ich denk', wir sehen uns schon noch mal wieder in diesem Leben. Die Welt ist ja so klein!« Den Hut lüftend, schritt Nesthäkchens Ritter davon.

Nun war sie oben in ihrem selbst bei Abendbeleuchtung nicht sehr sauberen Zimmer. Annemarie war von ihrem Abenteuer in gehobener Stimmung. Ach was, eine Nacht würde es schon gehen. Wenn man müde ist, schläft man in rotkarierten Betten genau so gut wie in weißen. Und erschöpft war sie jetzt wirklich.

Sie trat zu dem Bett. Da saß auf dem Kopfkissen, mitten in einem roten Viereck, ein schwarzer Punkt. Mißtrauisch betrachtete ihn Annemarie. »Ist der Punkt in fünf Minuten noch da, lege ich mich ruhig ins Bett, dann hat's damit nichts auf sich«, überlegte sie, ihr Blondhaar lösend. »Ist der schwarze Punkt weg, dann gibt's hier Ungeziefer. Keine zehn Pferde kriegen mich dann in das Bett.«

Als Annemarie nach einigen Minuten das Kopfkissen in Augenschein nahm, war der schwarze Punkt verschwunden. Ob davongesprungen oder von dem durch das geöffnete Fenster streichenden Abendwind fortgeweht, ließ sich nicht ergründen.

»Schön«, sagte Annemarie gottergeben und setzte sich auf einen Holzstuhl in die äußerste Zimmerecke. »Diese Nacht wird ja auch mal vergehen.«

Und sie verging – aber langsam. Als der Hausknecht, ihrer Weisung zufolge, morgens um halb fünf gegen die Tür bumberte, um sie zu wecken, war Annemarie auf ihrem harten Holzstuhl so steif geworden, daß sie erst Turnübungen machen mußte, um ihre Glieder wieder zu gebrauchen.

Nachdem sie für das unbequeme Lager einen hohen Preis hatte zahlen müssen – denn in ihrer Unbedachtheit hatte sie vergessen, gleich nach demselben zu fragen – zog Doktors Nesthäkchen ziemlich übernächtigt in den Morgen hinaus.

Eigentlich hatte Annemarie ganz im geheimen gedacht, ob nicht am Ende ihr Kavalier von gestern auf dem Bahnhof erscheinen würde, um ihr noch bei der Abreise Ritterdienste zu erweisen. Aber der dachte gar nicht daran, seinen Morgenschlaf zu opfern.

Der einzige Bekannte, den Nesthäkchen auf dem Bahnhof entdeckte, war der Stationsvorsteher mit der roten Mütze.


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