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7. Kapitel. Rosenfest im Neckartal.

Tübingen stand Kopf. Wenigstens soweit seine medizinische Studentenschaft in Frage kam. Das berühmte alljährliche Rosenfest bei Professor Bergholz fand heute statt. Alles, was zur Medizin gehörte und dort Besuch »geschnitten« hatte, war geladen. Es kam ja in dem ausgedehnten Garten am Neckarufer nicht auf ein paar mehr oder weniger an. Darum bedauerte es Annemarie doppelt, daß Ilse und Marlene nicht teilnehmen sollten. Sie hatte gehofft, bei ihrem Antrittsbesuch erzählen zu können, daß sie mit den Freundinnen gemeinsam in Tübingen studierte, und auch für die Freundinnen eine Aufforderung zu erhalten. Leider war aber die ganze Professorenfamilie gerade an dem Vormittag ausgeflogen. Annemarie konnte nur ihre Karte abwerfen. Von anderen Studenten hatte sie gehört, daß der Professor gemeinsam mit seiner Tochter und seiner Nichte ein sehr gemütliches Leben führe. Seine Frau war schon jahrelang tot. Die Tochter sollte, allen studentischen Traditionen entgegen, daß Professorentöchter meistens alt und häßlich sind, das schönste Mädchen Tübingens sein. Nun war Annemarie natürlich sehr gespannt auf die weiblichen Familienmitglieder. Denn für Professor Bergholz, dem ebenso gelehrten wie liebenswürdigen Manne, hegte sie eine beinahe noch backfischmäßige Schwärmerei und Verehrung. Manche der Studenten und Studentinnen verkehrten intimer in seinem Hause. Die beneidete sie. Sprach er sie mal nach dem Kolleg an, wie er öfters mal mit diesem oder jenem ein scherzhaftes Wort wechselte, errötete sie wie ein kleines Schulmädel.

Das Rosenfest bedeutete ein Ereignis für Annemarie. Ein Biedermeierfest sollte es diesmal sein. Wer nicht in Biedermeiertracht erscheinen wollte, hatte ebenso im Anzug oder Sommerkleid Zutritt. Nur Rosenschmuck im Knopfloch oder Gürtel war Bedingung.

Die Kostümfrage beschäftigte nicht nur Annemarie, sondern auch Marlene und Ilse auf das lebhafteste. In uneigennützigster Weise suchten sie alles hervor, um »ihr Kleines« so schön wie möglich zu machen. Das gelang ihnen auch glänzend. Annemaries hellblaues Organdykleid mit den Rosenknöspchen wurde mittels eines Spitzenfichus von Marlene und einiger schwarzer Samtschleifen in ein ganz allerliebstes Biedermeierkleid verwandelt. Dazu eine große Rosenschute von Ilse. Das Goldhaar frisierte letztere geschickt mit Hängelöckchen über den Ohren. »Wie Tante Albertinchen sehe ich aus, zum Verwechseln ähnlich!« erhob Annemarie lebhaft Einspruch.

Das nützte ihr aber den energischen Freundinnen gegenüber nichts. Und als sie nun fix und fertig war, mit weißen Strümpfen und schwarzen Spangenschuhen, die schönsten dunkelroten Rosen aus Frau Veronikas Garten vorgesteckt, mußte sie es ihrem Spiegelbilde zugestehen, daß es gar nicht so übel als Biedermeierfräulein ausschaute.

Die Freundinnen waren neidlos entzückt. Die Freunde Krabbe und Neumann, die sie nachmittags abholen kamen, in noch erhöhtem Maße.

»Neschthäkche ischt heut zum Anbeiße!« machte die Viehmuse ihrer Begeisterung Lust. Neumann bekam wieder mal elegische Anwandlungen, was das mutwillige Biedermeierdämchen veranlaßte, ihn nur noch mehr aufzuziehen als sonst. Er sah mit Vatermördern, giftgrünem Frack und mausgrauem Zylinder zu seinem semmelblonden Sommersprossengesicht in der Tat herausfordernd komisch aus. Krabbe trug seinen Touristenanzug, rosengeschmückt. In seiner Kasse herrschte wieder mal, wie meistens, Ebbe. Ein Kostüm war für ihn unerschwingbar.

Egerling, Marlene und Ilse, die Nichtgeladenen, verabredeten, als Zaungäste vom Neckar aus dem Feste beizuwohnen. Sie wollten sich ein Boot mieten und den »Rummel« vom Wasser aus mitanschauen.

»Kuche müscht ihr uns 'nüberwerfe«, verlangte Egerling. »Die Kräpfle beim Bergholz sind noch berühmter als sein anatomisches Kolleg. Und auf unser Neschthäkche könne wir dann auch gleich ein Auge habe, daß es keine Dummheite nit macht und nit über die Stränge schlage tut«, meinte er mit väterlicher Miene.

»Dafür wolle wir schon halt sorge!« Krabbe und Neumann fühlten sich als Annemaries Ritter in ihrer Ehre gekränkt.

»Ja, Kinder, sagt mal, seid ihr denn alle zusammen ganz und gar hops?« begehrte das Biedermeierfräulein auf. »Ich werde euch bald zu Hause lassen, wenn ihr solchen großen Mund habt. Ich glaube, meine Aufsicht wird notwendiger sein, damit ihr der Erdbeerbowle nicht zu sehr zusprecht. Und Zaungäste werden fortgejagt, verstanden?« Lachend schritt sie davon.

Im Gärtchen bildeten sämtliche Kirchenmäuse Spalier, um ihr »Fräuli« gebührend zu bewundern.

»Lueg, Kaschperle, wie'sch Tanteli heut' schmuck ausschaue tut!« Vronli war eitel Bewunderung.

»Ich bring' euch was Süßes mit«, versprach Annemarie ihren kleinen Freunden.

»Zuckerle? Gib'sch uns a liaba gleich«, verlangte Kaschperle, der ein Mann der Sicherheit war.

Wirklich, die gutmütige Annemarie lief, trotz des Protestes ihrer Freunde, noch mal nach oben, um ihre letzten »Zuckerle« unter die Kleinen zu verteilen.

»Sie verwöhnen mir'sch Büble und 'sch Mädle arg, Fräuli Annemarie«, schalt Frau Veronika lächelnd. Und setzte dann bewundernd hinzu: »Ausschaue tun's, wie die liabe Engele von unser Herrgöttle drobe.«

»In Biedermeiertracht habe ich mir die eigentlich niemals vorgestellt«, lachte Annemarie.

Auch Herr Nepomuk schob seine Pfeife von dem linken Mundwinkel in den rechten, was er nur bei ganz außergewöhnlichen Gelegenheiten zu tun pflegte, und murmelte beifällig: »Arg schmuck – arg schmuck schaut's halt aus!«

Danach konnte man sich endlich auf den Weg machen. Es war ein ziemliches Spießrutenlaufen vom Burggäßle nach der Parkstraße. Die alten Giebelhäuser schienen heute hundert Augen bekommen zu haben. Aus den kleinen blanken Fenstern spähte es: »Luegt's auch – ah, die ischt mal arg schön!«

Doktors Nesthäkchen machte diese lebhafte Bewunderung ungeheuren Spaß. Es fühlte sich in keiner Weise dadurch irgendwie verlegen. Hatte sie es doch als »blödesten Sinn« bezeichnet, daß Marlene und Ilse ihr zugeredet hatten, den Mantel über das Kostüm zu ziehen, um nicht aufzufallen. Bei dem herrlichen Sommerwetter? Sie war doch nicht total hops. Ganz Tübingen wußte, daß heute bei Professor Bergholz das Rosenfest stattfand. Warum sollte sie den guten Leuten nicht auch ein Schauvergnügen bereiten!

Im Gegenteil, an der einen Seite den semmelblonden Biedermeierherrn untergeärmelt, am andern Arm die rosengeschmückte Viehmuse, so schritt Doktors Nesthäkchen erhobenen Hauptes durch die Straßen, ja, nickte sogar hier oder da leutselig einen Gruß zu einem der Fenster hinauf.

Marlene und Ilse, die ihr das Ehrengeleit gaben, blieben peinlich berührt zurück. Nein, Annemarie benahm sich doch wirklich zu auffallend!

An der Ecke der Parkstraße trennte man sich von den Freunden. »Benimm dir, mein Söhnchen!« Mit diesem wohlgemeinten Ratschlag in echtem Berliner Dialekt ward Annemarie von Ilse entlassen.

»Mach' uns keine Schande, Annemie«, fand auch Marlene noch nötig, hinzuzufügen.

»Hurra – heut' bin ich meine Pensionstunte los!« Grüßen, Nicken und Winken hin und her, als gelte es einen Abschied auf ewig. Dann verschwand das goldhaarige Biedermeierfräulein zwischen Krinolinen und farbigen Leibröcken in dem Bergholzschen Landhaus am Neckar.

Die Gesellschaft war schon ziemlich vollzählig. Wo Annemarie dabei war, kam man nie zu früh. Professor Bergholz empfing seine jungen Gäste im Gartensaal, der mit bunten Papierballons und frischen Rosen, leuchtend in allen Farben, festlich geschmückt war. Ein munteres Völkchen aus Urgroßvaters Zeiten erging sich bereits in den verschnörkelten Gartenwegen. Rosen, wohin man schaute. Rosige Mädchenblüten, wetteifernd an Frische mit den Blumenschwestern.

»Grüß Gott, Fräulein Biedermeier, ich freue mich, nun endlich mal das Vergnügen in meinem Hause zu haben, und Sie auch mit meinen Damen bekannt machen zu können«, begrüßte Professor Bergholz Annemarie, deren Liebreiz ihm bereits in dem nüchternen Hörsaal aufgefallen war. Annemarie versank in einer tiefen Verbeugung aus Großmutters Zeiten.

»Anneli – Ola, – wo steckt ihr denn? Ich will euch mit dem reizendsten Biedermeierfräulein, das von anno Ix wieder auferstanden ist, bekannt machen«, rief er galant. »Fräulein Braun, Herr Krabbe, Herr Neumann – meine Tochter Anneliese – meine Nichte Ola.« Eine entzückende lila Biedermeierdame mit dunklem, weichem Wellenscheitel und großen blauen Augen begrüßte die fremden Gäste herzlich. »Grüß Gott, ich hoff', daß Sie sich in unserm Haus wohl fühle werde!« Der leise, schwäbische Anklang, der diese Worte begleitete, machte dieselben noch anheimelnder.

Das war Anneliese Bergholz, für die alle Studenten Tübingens schwärmten. Auch Neumann machte sogleich elegische Karpfenaugen und ward zweifelhaft, ob sein Herz von seiner blonden Schönen zu der dunkelhaarigen abschwenken sollte.

Inzwischen hatte die mit »Ola« angeredete Nichte, eine zarte Blondine mit lieben Gesichtszügen, die taktvollerweise nur ein rosengeschmücktes Sommerkleid trug, damit sich keine der Damen zurückgesetzt fühlen sollte, Annemaries Hand ergriffen. »Wir haben sehr bedauert, Ihren Besuch neulich verfehlt zu haben, Fräulein Braun. Aber kennen tu' ich Sie trotzdem schon. Nicht allein Ihr helles Lachen, das bei Ihren Neckarfahrten oft vom Boot in unsern Garten herübergeklungen. Ich kenn' Sie halt von Würzburg her.« Fräulein Ola machte ein verschmitztes Gesicht.

»Das muß ein Irrtum sein. In Würzburg habe ich mich nur wider Willen einige Stunden aufgehalten und sicherlich nicht dort Ihre Bekanntschaft gemacht, Fräulein – – –.« Himmel, wie war der Vatersname der jungen Dame?

»Sagen Sie ruhig Fräulein Ola – so werd' ich allgemein gerufen«, meinte diese freundlich, Annemaries Verlegenheit wahrnehmend. »Nein, mich haben Sie dort freilich nit kennen gelernt. Aber den da – – – Rudi, wenn du deiner schönen Cousine genügend den Hof gemacht hast, darfst du hier eine Bekannte begrüßen«, rief sie lustig. Ein Biedermeierherr im kaffeebraunen Leibrock, der ihnen den Rücken kehrte, wandte sich lebhaft um.

Ein schmales Antlitz, feine kluge Züge, warmblickende graue Augen unter braunem Haar – da war es wieder, das Gesicht, das Annemarie so oft inzwischen vor ihrem geistigen Auge geschaut. Nach dem sie überall gespäht, die Züge des Bruders in der Schwester suchend.

»Herr Hartenstein – ist das eine Überraschung!« Lebhaft errötend streckte Annemarie ihm mit der ihr eigenen Herzlichkeit beide Hände entgegen. Sie hatte nicht die Empfindung, daß sie einen ihr ganz Fremden, mit dem sie nur kurze Zeit zusammen gewesen, zu dem sie sich nicht einmal nett benommen hatte, hier wieder traf. Nein, was ihr aus den freudig aufleuchtenden Blicken des vor ihr Stehenden entgegengrüßte, war etwas Heimatswarmes, Langbekanntes, unbewußt Ersehntes.

»Grüß Sie Gott, Fräulein Braun. Also da stecken's? Aus Urmutters Truhe muß man Sie wieder ans Tageslicht herauskramen? Warum haben's meine Schwester nit aufg'sucht? In jedem Brief hab' ich nach Ihnen ang'fragt, gelt, Ola?«

»Das ist Ihre Schwester – Fräulein Ola? Ich glaubte, sie müßte Ihnen ähnlich sein. Jede Studentin habe ich darauf angesehen und den Namen Hartenstein habe ich nirgends auffinden können«, berichtete Annemarie zutraulich.

»Das glaub' ich, weil sie halt schon jahrelang im Haus meines Onkels lebt. Daß ich auch daran nit g'dacht hab'! Aber nun erzählen's, wie ist's Ihnen ergangen? Fühlen Sie sich wohl in Tübingen? Macht Ihnen das Studium Freud'?« Eine Frage jagte die andere, als gelte es, jede Minute der kostbaren Zeit doppelt und dreifach auszunutzen. Es fiel Annemarie auf, wie angenehm sein Dialekt, im Gegensatz zu den Schschlauten ihrer schwäbischen Freunde, die stets ihre Heiterkeit herausforderten, klang.

»Na, und ob ich mich hier in Tübingen wohl fühle!« rief sie begeistert. »In einer urbehaglichen Bude hausen wir mit famosen Wirtschleut'. Und gute Freunde hab' ich auch schon. Ja, wo seid ihr denn?« Erst jetzt dachte Annemarie an ihre Getreuen, die sie während des freudigen Wiedersehens ganz vergessen.

Mit süßsaurem Gesicht standen Krabbe und Neumann da. Annemarie hatte ihnen doch noch nie etwas von dieser Bekanntschaft erzählt.

»Also, da ist erstens mal die Viehmuse, hört auf den Namen Krabbe, besonders gut beim Photographieren zu verwenden«, stellte Annemarie vor. »Und dieser Biedermeieronkel hier ist unser Freund Neumann, ein ganz fideles Huhn, wenn er nicht gerade melancholisch oder beschwipst ist. Gib's Pfötchen, Neumann«, kommandierte sie ausgelassen, als ob sie ihren Puck vor sich hätte, »Herr Rudolf Hartenstein aus Würzburg.«

»Neugebackener Dr. med.«, vollendete Fräulein Ola Hartenstein, die belustigt das Gespräch mit angehört hatte. »Hab's so recht g'macht, gelt, Rudi?«

»Du kriegst deine Straf', wart' nur! Das böse Mädel hat nämlich auf all meine schriftlichen Anfragen behauptet, in Tübingen existier' keine Annemarie Braun. Meine letzte Hoffnung hab' ich heut' auf das Rosenfest gesetzt, zu dem ich mich alljährlich im Hause meines Onkels einfind'. Sonst hätt' ich wirklich geglaubt, Sie hätten mir was weisg'macht. Zuzutrauen wär's Ihnen halt gewesen«, setzte er scherzend hinzu.

Die Viehmuse wurde ungeduldig. Sie begann Annemarie an den mit schwarzen Samtbändern abgebundenen Puffärmeln nachdrücklich zu zupfen.

»Kommscht nit bald, Neschthäkche?« flüsterte er mit ziemlich vernehmlicher Stimme.

»Wie nennt der Herr Sie? Nesthäkchen? Sind Sie das Kleinste aus dem Kreis der Kameraden?« verwunderte sich der Biedermeierherr im kaffeebraunen Frack.

»Der Name verfolgt mich nun mal zu meinem Ärger. Daheim hieß ich so, solange ich denken kann. Und jetzt haben sie den kindischen Namen hier auch aufgebracht«, beklagte sich Annemarie.

»Ich find' ihn gar nit so arg«, lachte Dr. Hartenstein. »Im Gegenteil, ganz passend für die Trägerin.«

»Na, erlauben Sie mal gefälligst!« Für kindisch wollte Annemarie denn doch nicht gelten, am wenigsten vor Rudolf Hartenstein.

»Also kommscht oder kommscht nit?« Neumann wurde die Sache jetzt zu bunt. Der Fremde tat ja, als ob die Annemarie Braun nur für ihn da sei. Andere Leute hatten ältere Freundschaftsrechte.

»Bitte die Damen, die Herren zum Kaffee zu engagieren. Bei uns regiert das schöne Geschlecht«, erklang die Stimme des Hausherrn. »Jede der Damen gebe dem Auserwählten eine Rose zum Zeichen seiner Ritterschaft.«

Einen Augenblick zauderte Doktors Nesthäkchen. Die Viehmuse machte ein erwartungsvolles Gesicht, Neumann setzte sich mit elegischem Augenausschlag in Positur.

Da griff Annemarie nach der schönsten der dunkelroten Rosen, die sie an der Brust trug, und reichte sie Rudolf Hartenstein.

Ja, war denn Annemarie ganz und gar besessen, ihre alten Freunde so abfallen zu lassen? Krabbe machte ein Gesicht, als ob er den Fremden am liebsten sofort auf Säbelmensur gefordert hätte. Neumann schlug die Augen gen Himmel wie ein melancholischer Karpfen. Sie hatten die Verantwortung für Nesthäkchen übernommen, ihnen war sie von den Freundinnen anvertraut worden.

Inzwischen hatte Rudolf Hartenstein mit frohem Aufstrahlen seiner grauen Augen Annemaries Rose an seinen kaffeebraunen Leibrock befestigt. Jetzt reichte er ihr mit einem scherzhaften Kratzfuß aus den Tagen der Vatermörder und des Reifrocks den Arm, sie an einen der kleinen Tische zu führen, die allenthalben in Lauben und Gartennischen der Pärchen harrten.

»Ach, richtig, unterfassen mögen's ja nit«, erinnerte er sich plötzlich lachend.

»Nee«, machte Nesthäkchen im Brustton der Überzeugung. Ganz ehrlich aber war's ihr damit nicht. Sie wäre heute recht gern am Arm von Rudolf Hartenstein geschritten. Ärmelten sie die drei Schwaben doch auch häufig genug unter.

»Ihr könnt ruhig mitkommen«, wandte sie sich gnädig an die Freunde, denn die Armen taten ihr leid.

»'sch gibt mehr Mädle hier«, meinte die Viehmuse erbost.

Neumann gab überhaupt keine Antwort. Der verdrehte bloß die Augen.

Recht war's ihnen, wenn sie sich mopsten, warum benahmen sie sich derartig dämlich. Annemarie würdigte sie keines Blickes mehr.

Da drängte es sich plötzlich zwischen ihren kaffeebraunen Kavalier und sie – lila, mit dunklem Wellenscheitel.

»Rudi, du Ungetreuer, wirst wohl deine zuerst Erkorene nit sitze lasse?« scherzte Anneliese Bergholz unbefangen. »Da geht er mit einer anderen durch, und erst war er selig, daß ich ihn zu meinem Ritter erwählt hab'. Wart' du – –!« Sie krümmte drollig die rosigen Fingernägel, als ob sie ihm ins Gesicht fahren wollte.

»Das hab' ich in der Tat ganz vergessen.« Der Vetter machte ein zerknirschtes Gesicht. »Aber wir können ja alle beieinand' sitzen, 's gibt ja auch Tische zu vieren.«

»Danke sehr, ich möchte nicht stören«, das blonde Biedermeierfräulein neigte steif den Kopf mit den wippenden Löckchen. Da hatte es auch schon den nichts von seinem Glücke ahnenden elegischen Neumann beim Wickel. Ihren Arm in den seinen legend, schritt es stolz in entgegengesetzter Richtung von dannen.

»Was hat denn das Mädle? Ich hab's doch nit etwa gekränkt, Rudi? Weißt', an deiner Gesellschaft liegt mir ja weiter nix, nur daß wir zwei beid' doch das Menuett mit Gesang nachher aufführe wolle. Aber wenn's so fad bist, da such ich mir halt einen, der mehr Schneid hat.« Sie zog den noch immer hinter den Fortschreitenden herstarrenden Vetter zu einem der Tische.

Rudolf Hartenstein scheuchte die Wolke, die ihm seine heitere Feststimmung verderben wollte, mit Gewalt von der Stirn. Ach was, sie würde schon wieder gut werden, die Annemarie Braun. Warum war sie denn gleich beleidigt, sie hätten doch ganz gut alle zusammen einen fidelen Tisch bilden können. Daß sie den Studenten Neumann unterfaßte und seinen eigenen Arm verschmähte, war überhaupt eine Beleidigung für ihn. Und das dumme Geduze, das ja zwischen Studenten und Studentinnen öfter Sitte war, brauchte sie auch nicht gerade mitzumachen. Eine Unverschämtheit von den Studenten, sie »Nesthäkchen« zu nennen! Rudolf Hartenstein runzelte die dunklen Augenbrauen und sah wütend auf Annemaries Rose, die er im Knopfloch trug. So süß duftete die, so lieb – der Blick des jungen Doktors wurde milder.

»Schläfst?« Anneliese Bergholz versetzte dem Vetter einen freundschaftlichen Rippenstoß. »Die Herre solle die Dame mit Schokolad' und Kuche versorge. Aber bei dir kann man halt verhungern. Herr Pfitzner, haben's ka Dam' nit? Da komme's und erlöse's mich vom Übel, gelt? Bei meinem Herrn Vetter sterb' ich Hungerstod und vor langer Weil'«, rief sie lachend einem nach Platz suchenden Studenten zu. Der ließ sich mit freudigem Stolz am Tisch der allgemein verehrten Haustochter nieder.

Auch Rudolf Hartenstein besann sich jetzt endlich seiner Kavalierpflichten und sprang auf. »Befehle's Eisschokolad', eine warme Schokolad', Eiskaffee, Mokka, Tee oder Vanilleeis? Kräpfle, Topfkuche oder Quarkstrudel?« Er hatte die Serviette wie ein Kellner unter den Arm geklemmt und leierte im Kellnerton seine Speisekarte herunter.

»Eisschokolad' und Kräpfle, Rudi. Herr Pfitzner, ich bitt' schön, versorge sich's auch. Im Gartensaal ist das Büfett aufg'stellt.« Fräulein Bergholz wandte sich verschiedenen anderen Tischen ihrer Nachbarschaft zu, um ihren Haustochterpflichten nachzukommen. Aber da hatte sie nicht viel aufzufordern. Überall schleppten die Herren Studenten Berge von Kuchen heran. Das schmauste, lachte und ulkte, warf sich mit Rosen und Konfetti, als sei bereits die Fidelitas erreicht. Nein, für gute Laune brauchte das Haustöchterchen wirklich nicht Sorge zu tragen.

Nur an einem Tisch ging es recht einsilbig zu, gerade dort, wo sonst wohl die ausgelassenste Stimmung in Tübingen zu herrschen pflegte. Die Viehmuse hatte zuerst, als Annemarie auch seinen Arm zu packen bekam, wütend geknurrt: »Laß aus, zum Lückebüßer bin i halt zu guet.« Aber dann hatte er sich doch dazu herabgelassen, an ihrem Tisch Platz zu nehmen. Dem Neumann das Nesthäkchen allein zu überlassen, ja das war' so was! Damit der sich ins Fäustchen lachte.

Aber bestraft mußte Annemarie werden. Krabbe maulte. Keinen einzigen Witz machte er heute, was ihm gar nicht leicht fiel. Er beschränkte sich darauf, ein Kräpfle nach dem anderen zu vertilgen, was ihm schon weniger schwer wurde.

Um so mehr redete Neumann, ohne Punkt und ohne Komma. Wie ein aufgezogener Wasserfall ergossen sich die Schleusen seiner Beredsamkeit über seine blonde Nachbarin. Er merkte es gar nicht, wie stumm und einsilbig dieselbe neben ihm saß. Daß sie allenfalls mal ein höfliches Lächeln, ein Kopfnicken oder auch wohl ein geistesabwesendes »O ja« auf seine Redeflut hatte, daß sie die Eisschokolade kaum berührte, und an den guten Kräpfle würgte, als seien sie zäh und ledern wie eine Kriegssemmel.

Die Viehmuse beobachtete diese ungewöhnliche Schweigsamkeit Annemaries ungefähr so, wie er galvanische Zuckungen an einem Frosch experimentierte. Aha – also machte es doch Eindruck auf sie, daß er sie so links liegen ließ. Ein wenig zappeln lassen mußte er Nesthäkchen noch, wenn es ihm auch leid tat, daß sie sich seinen Zorn so zu Herzen nahm. Strafe muß sein! Und um so netter war sie nachher dann zu ihm.

Das blonde Biedermeierfräulein, das so manchen bewundernden Blick der jungen Musensöhne auf sich zog, merkte weder was von den huldigenden Augen der Nachbarschaft, noch von dem Strafgericht der Viehmuse. Stumm starrte es an dem großen Busch gelber Teerosen, der ihren Tisch schmückte, vorüber, durch das Blätter- und Blütengewirr der purpurnen Kletterrosen, welche die Laubengänge überwucherten, hindurch. Es sah nicht das entzückende Bild, das all die Biedermeierdamen und -herren, all die rosengeschmückten jungen Menschen in ihrer heiteren und ausgelassenen Stimmung zwischen dem Blühen und Glühen von Blüten und Farben boten. Annemarie, die sonst ein so offenes Auge für alle Naturschönheiten hatte, merkte es nicht einmal, daß der Bergholzsche Garten dem Stil des Festes getreulich entsprach. Daß er selbst ein Überbleibsel aus Großvaters Zeiten mit seinen buchsbaumeingerahmten Wegen, den altmodischen Blumenbeeten und den vielen verschwiegenen Lauben und Plätzchen zu sein schien.

Ja, was hatte denn Doktors Nesthäkchen eigentlich, das sonst so übersprudelnd von Ausgelassenheit war, das mit seinem hellen Lachen eine ganze Gesellschaft anstecken konnte?

Durch die purpurnen Rosenzweige schimmerte es kaffeebraun und lila. Dort drüben saß Rudolf Hartenstein neben seiner Cousine, die das schönste Mädchen in Tübingen sein sollte. Sie hatten recht, ganz entzückend war Anneliese Bergholz mit ihrem dunklen Madonnenscheitel und den tiefblauen Augen. Annemarie konnte es eigentlich Rudolf Hartenstein gar nicht verdenken, daß er das reizende Bäschen ihr vorgezogen hatte. Besonders heute, wo sie die gräßlichen Pudellöckchen trug und wie Tante Albertine aussah.

Recht vergnügt schien es dort drüben an dem Tisch zuzugehen. Konfettischlangen flogen hin und her. Jetzt befestigte der kaffeebraune Leibrock dem lila Biedermeierdämchen gar eine rote Rose in dem dunklen Haar. War es etwa die, welche sie ihm geschenkt?

Annemarie gab sich einen Ruck. Sie riß all ihren Stolz zusammen. Pah, das wäre ja noch besser, wenn sie sich das schöne Fest durch irgendeinen, der gar nicht mehr zu wissen schien, daß sie überhaupt da war, verderben würde. Nun gerade lustig sein, nun gerade!

»Krabbe sitz' nicht da wie ne olle Tante, die im Nebenzimmer übelnimmt. Schaust aus, als ob du statt Eisschokolade Rhizinus schlucken mußt. Neumann, Menschenskind, hör' auf mit deinem Gejabber. Das geht ja wie'n Wasserfall! Da – das ist die Strafe, daß ihr so unausstehlich seid!« Ein bunter Regen von Papierschnitzeln ergoß sich plötzlich über die beiden. Das war wieder Doktors lustiges Nesthäkchen, das mit lachenden Augen in die Konfettischlacht eingriff. Die Studenten der Nachbarschaft beteiligten sich an den Wurfgeschossen. Der Tisch des bildhübschen, goldhaarigen Biedermeierfräuleins wurde im Nu der Mittelpunkt der hin und her geschleuderten Scherzworte und zerplatzenden Seidenpapierbälle.

Da gerade lugte Rudolf Hartenstein herüber. Ei, das blonde Mädel schien sich ja seine unbeabsichtigte Kränkung nicht weiter zu Herzen zu nehmen. Die Übermütigste von der ganzen Gesellschaft da drüben war Annemarie. Na, ihm konnte es ja nur recht sein, wenn sie ihm jene Zurücksetzung gegen seinen Willen nicht nachtrug. Aber so ganz recht war es dem kaffeebraunen Biedermeierherrn doch nicht.

An Annemaries Tisch hatte sich jetzt Ola niedergelassen, um auch teilzuhaben an der übersprudelnden Lustigkeit in dieser Ecke. Rudolf ertappte sich darauf, daß er der Schwester den Platz nicht gönnte. Anneliese mußte ihn zweimal anstoßen, ehe er recht begriffen hatte, daß jetzt das Menuett aus Urgroßvaters Tagen mit den Sangversen, bei denen das Publikum den Refrain zu wiederholen hatte, steigen sollte.

Die Hauskapelle saß am Klavier, und das reizend aussehende Paar begann gravitätisch seine Schritte und Knickse auf dem großen Rasenrondell vor dem rieselnden Pilzbrünnle.

Annemarie durchzuckte es freudig. War es darum, daß Rudolf Hartenstein neben seiner Cousine sitzen mußte? Aber nein, die Aufführung wäre auch möglich gewesen, wenn sie an verschiedenen Tischen Platz genommen hätten. Er hatte sie eben gern. Das war ja auch kein Wunder. Denn Anneliese Bergholz sah wie die verkörperte Anmut beim Tanzen und Singen aus. Begeistert fielen die Musentöchter und Musensöhne sämtlich in den in schwäbischer Mundart gehaltenen Refrain ein:

»Gar schön i'scht die Rose, i liab sie halt sehr,
Doch's Mädle, das ros'ge, das liab i halt noch mehr.«

Neumann begann wieder elegische Karpfenaugen zu machen, die Viehmuse mit Bierstimme laut mitzubrüllen. Beim zweiten Versrefrain ordneten sich die Paare; überall auf dem kleinsten, engsten Rasen tanzte man die Menuettschritte mit.

Annemarie fuhr sogar zweispännig. Weder Neumann noch Krabbe mochten zurückstehen. Keiner gönnte sie dem anderen.

Und da man nun gerade beim Tanzen war, wurde auch nach Beendigung der allerliebsten kleinen Aufführung, die den beiden dankbaren Beifall eintrug, trotz des warmen Sommernachmittags weiter getanzt. Im Gartensaal, auf dem Rasen, drunten am Neckar, wo man gerade ging und stand, begann man sich zu drehen. Mit jener ungezwungenen Fröhlichkeit, wie sie beim Rosenfest im Bergholzschen Garten stadtbekannt war.

Rudolf Hartenstein wandte sich, nachdem er seinem schönen Cousinchen die letzte Verbeugung gemacht, sofort suchend nach Annemarie. Der nächste Tanz gehörte ihr. Er mußte sein Vergehen gleich gutmachen.

Aber merkwürdig – an die blonde Schöne war nicht heranzukommen. Bald wirbelte sie mit diesem davon, bald mit jenem. Immer gerade in dem Augenblick, in dem Rudolf sich vor ihr verneigen wollte. Und dabei sah die Annemarie so mutwillig und durchtrieben aus, als hätte sie ihre helle Freude daran, ihn abzublitzen. Als läge ihr gar nichts daran, sich von seinem Arm umschlungen im Tanze zu wiegen. Man tanzte Onestep und Boston, man foxtrottete und wiegte sich dazwischen wieder in einem alten ehrlichen Walzer aus der guten alten Zeit. Wangen glühten, Löckchen lösten sich. Man promenierte zu zweien in den Laubengängen. Man schwelgte in Erdbeeren mit Schlagsahne. Die Stimmung war famos. Professor Bergholz hatte seine helle Freude an all den jungen frohen Menschen, mit denen er sich sonst nur durch gemeinsame Arbeit verbunden fühlte. Er neckte die Schönen, und besonders auf Annemarie Braun, die in übermütiger Keckheit jeden scherzhaften Hieb parierte, hatte er es abgesehen. Seine Nichte Ola, die mit der Cousine Anneliese zusammen als guter häuslicher Geist über dem Ganzen schwebte, fühlte sich ebenfalls zu dem munteren blonden Mädel hingezogen. Auch Annemarie empfand besondere Sympathien für Rudolf Hartensteins Schwester. Vor der Tochter des Hauses, der allgemein gefeierten, aber hegte sie eine merkwürdige Scheu.

Die Sonne neigte sich. Purpurrosen erblühten jetzt auch am lichtgrünen Abendhimmel. Da ließ der Festredner, ein älteres Semester, die Fanfare erklingen. Er verkündete, daß man jetzt den Tanz unterbrechen und zur Abkühlung eine kleine Neckarfahrt machen wolle. Boote lägen bereit.

Die Pärchen fanden sich. Neumann und Krabbe hatten sich wie Polizisten neben Nesthäkchen postiert.

»Kommt, wir fahre alle drei z'samme«, sagte Neumann schließlich, als er einsah, daß keiner dem andern weichen würde.

Da verneigte sich ein kaffeebrauner Leibrock vor Annemarie.

»Darf ich um die Ehre bitten, gnädiges Fräulein?«

»Wir g'höre scho' z'samme«, wies ihn die Viehmuse deutlich ab.

Annemarie durchzuckte es. Jetzt den Arm von Neumann und Krabbe nehmen und an ihm vorüberschreiten. Dann hatte sie ihre Revanche. Sie hob das Auge mit spöttischem Blick. Da begegnete es einem so bittenden der grauen Augen, daß der Spott plötzlich in den blauen Mädchenaugen erlosch. Ihr Blick wurde weich, und ohne sich von ihrem Tun Rechenschaft zu geben, tat sie gerade das Gegenteil von dem, was sie soeben noch beabsichtigt hatte. Sie, die ungern den Arm eines Kavaliers annahm, legte jetzt von selbst den ihrigen in den kaffeebraunen des jungen Mediziners und ließ sich von ihm zur Bootsstelle hinabführen. Kein Gedanke an die zurückgebliebenen Freunde, die ihr empört folgten.

Schifflein auf Schifflein, rosenumkränzt, singende, lachende, sich übermütig bespritzende und kreischende Jugend darin. Annemarie sah nicht das unter hängendem Ufergebüsch versteckte Boot ihrer nicht geladenen Freunde, die sich ihr vergeblich bemerkbar zu machen suchten. Sie sah nicht, daß Krabbe und Neumann, die mit ihrem Nachen Nesthäkchens Entführer folgen wollten, erst heimlich eingesteckte Kräpfle und Tortenstücke in das Boot der Zaungäste verstauen mußten. Als sie damit fertig waren, war das Schifflein mit dem Biedermeierpärchen bereits ihren Blicken entschwunden. Mit ein paar kräftigen Ruderschlägen hatte Dr. Hartenstein sein Boot aus dem Gewühl herausbugsiert und war in einen weidenumbuschten Seitenarm des Neckars eingebogen.

Still wurde es um die zwei. Nur die Ruder plätscherten leis in den goldiggrünen Wassern. Keiner sprach. Annemarie war es zumute, als ob Rudolf Hartenstein mit ihr geradeswegs in die goldene Sonnenflut fahre.

Da zog er die Ruder ein und ließ den Nachen von der Strömung langsam weitertreiben. Seine Hand griff nach der schmalen Mädchenhand, die lässig auf dem Bootrande ruhte. Er neigte sich und drückte die Lippen darauf.

»Ich danke Ihnen, daß Sie mit mir gefahren sind, Fräulein Annemarie«, sagte er warm.

Kein Wort der Erwiderung fand des Doktors sonst so keckes Nesthäkchen. Stumm blickte es auf die Hand, die heute zum erstenmal im Leben geküßt worden war.

Nur der graue Haspelturm, der durch die Silberweiden lugte, hatte den Handkuß mit angesehen. Und der erzählte es nicht weiter.


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