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Bis zur Decke reicht der große Weihnachtsbaum. Ei – blitzt das und funkelt das! Hunderttausend Lichter brennen daran. Auf jedem Zweiglein hopst eins. Ach, und die vielen blanken Kugeln und die goldenen Ketten! Das Allerschönste aber liegt unter dem Weihnachtsbaum. Suschen weiß gar nicht, wonach sie zuerst greifen soll.
Die große Lockenpuppe ist fast so groß wie Suschen selbst. Da die feine Puppenstube hat eine richtige kleine Tür, und die Kochmaschine blitzblanke Töpfchen. Aber dahinter – nanu – was ist denn das? Eine Rute – eine Rute mit blauen und roten Fähnchen – nein, die mag Suschen nicht sehen.
»Suschen will die alte Rute nicht«, ruft die Kleine und stößt die Rute fort.
Aber Mutti lacht.
»Das ist keine alte Rute, Suschen, das ist ja eine Weihnachtsrute. Eine Weihnachtsrute haut nicht gleich, die nickt erst dreimal mit dem Kopf hinter dem Spiegel hervor und sagt: ›Sei artig, kleines Mädchen, damit ich nicht hauen muß‹.«
»Suschen ist artig,« sagt die Kleine, »und Suschens Püppchen ist auch artig.«
Ja, Weihnachten sind alle Kinderchen und alle Püppchen artig. Aber nachher vergessen sie das Bravsein auch manchmal.
Nun ist es schon lange her, daß der Weihnachtsbaum gebrannt hat. Suschens Püppchen sieht gar nicht mehr so schön neu aus, und die Puppenstube hat keine kleine Tür mehr. Die ist längst entzwei.
Heute ist Suschen recht unartig. Sie ist eigensinnig und will abends ihre Spielsachen nicht fortkramen. Denke nur mal, das ungezogene Mädchen trampelt mit den Füßchen und schreit: »Suschen will nicht – Suschen will aber nicht!«
»Suschen muß alles schön forträumen, sonst ist Mutti traurig«, sagt die Mutti.
Aber Suschen schreit und trampelt weiter.
»Suschen, es gibt Haue«, droht Mama.
Die Kleine schaut erschreckt zum Spiegel. Da wohnt die Weihnachtsrute und jetzt – Suschen reißt die verweinten Guckaugen auf – jetzt steckt die Weihnachtsrute die roten und blauen Fähnchen hervor und nickt dreimal ernst mit dem Kopf.
Da hört Suschen gleich auf zu trampeln und räumt artig die Spielsachen fort. Die Weihnachtsrute aber geht wieder in ihr Haus hinter dem Kinderstubenspiegel.
Als es Sommer wird, bringt Mutti schöne Kirschen mit vom Markt. Sie legt sie auf den Kinderstubentisch.
»Wenn mein Töchterchen bis zum Abendbrot recht brav ist, kriegt es süße Kirschen«, sagt Mutti und trägt ihren Hut fort.
Suschen ist allein in der Kinderstube. Sie steht vor der großen Tüte mit Kirschen. Das Fingerchen kratzt am Papier. Ach, wie rot sie sind. Bis zum Abendbrot ist noch schrecklich lange. Nur ein einziges Kirschlein möchte Suschen in den Mund stecken, es sind ja noch so viele da! Schon hält sie eine feine Ohrringkirsche im Händchen. Aber ehe Suschen sie in den Mund schiebt, guckt sie noch ganz geschwind nach dem Spiegel.
Da nickt jemand mit dem Kopf, die Weihnachtsrute schaut wieder aus ihrem Haus heraus.
»Artige Kinder dürfen nur essen, was Mutti ihnen gibt; Kinder, die naschen, haue ich!« Hat das wirklich eben die Weihnachtsrute gesagt?
Suschens Händchen läßt schnell die Kirsche wieder in die Tüte fallen. Artig spielt sie bis zum Abendbrot. Da schmecken die Kirschen, die Mutti gibt, nochmal so gut.
Jedesmal, wenn Suschen unartig sein will, steckt die Weihnachtsrute ihren Kopf hervor. Dann ist Suschen gleich artig. Und als der Weihnachtsbaum wieder brennt, da ist Suschen das ganze lange Jahr immer brav gewesen und hat keine Haue bekommen. Ja, daran ist nur die Weihnachtsrute schuld!