Hermann Ungar
Die Verstümmelten
Hermann Ungar

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12

Als Polzer einige Tage später abends aus der Bank kam, saß Dora mit Frau Porges in seinem Zimmer. Dora weinte.

Man hatte Karl ins Sanatorium geschafft. Er hatte Dora, die bei ihm hatte bleiben wollen, schroff fortgewiesen.

»Er ist kein böser Mensch,« sagte Dora schluchzend, »nein, nein, ich kenne ihn. – – Nun werden sie ihm auch den Arm abnehmen! O Gott, was bleibt noch von ihm! Wenn Sie wüßten, Frau Porges, wie schön er war! Wer weiß, ob er es übersteht.«

»Man soll die Hoffnung nicht aufgeben,« sagte Franz Polzer.

»Er ist so von Kräften,« sagte Dora. »Wenn er eine halbe Stunde im Lehnstuhl sitzt, steht ihm der Schweiß auf der Stirn.«

»Sonntag sagt, er habe schon ärgere Fälle gehabt und sie haben viele Jahre gelebt,« sagte Frau Porges. »Sonntag ist ein guter Wärter. Ein zuverlässiger Mensch. Das ist ein großer Vorteil, Frau Fanta. Wenn Porges einen Wärter gehabt hätte, wäre alles leichter gewesen. Was habe ich gelitten in seinen letzten Wochen, Frau Fanta! Nein, nein, das möchte ich nicht noch einmal erleben!«

Sie führte das Taschentuch an die Augen.

»Morgen soll er operiert werden,« sagte weinend Dora Fanta.

»Wenn er es bloß überlebt! Glauben Sie mir, er ist ein guter Mensch!«

»Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben,« sagte Franz Polzer.

Polzer konnte sich nicht vorstellen, wie Karl ohne den linken Arm aussehen werde. Daß nun von dem dicken Rumpf nur der schlaffe rechte Arm herabhängen sollte, war ihm unfaßbar. Zugleich beschäftigte ihn der Gedanke an den abgenommenen linken Arm Karls. Es schien ihm unbedingt notwendig zu erfahren, was damit geschehen werde. Sonntag mußte es wissen. Ihm würde der Arm in der Hand bleiben, wenn der Arzt ihn vom Rumpf getrennt haben würde. Es beunruhigte Polzer, daß Sonntag den Arm wegwerfen könnte, wie die Metzger die stinkenden Eingeweide der geschlagenen Rinder in eine Grube werfen.

»Was wird Sonntag mit dem abgenommenen Arm tun?« fragte er.

Da schluchzte Dora laut auf.

»Oh Gott, Herr Polzer!« sagte sie.

Polzer war bestürzt. Dora wollte sich nicht beruhigen. Er sah ein, daß er eine unpassende Frage gestellt habe.

»Was sprichst du, Polzer,« sagte Frau Porges. »Weinen Sie nicht, Frau Fanta! Ich werde Tee bringen. Tee beruhigt, glauben Sie mir!«

»Nein, nein,« sagte Dora. »Ich muß gehen. Franz wartet zu Hause. Nein, nein, keinen Tee! Es ist so entsetzlich,« sie barg ihr Gesicht in den Händen, »so unerträglich, oh Gott, was wird Sonntag mit dem Arm tun? Wohin wird er ihn werfen, nein, nein!...« Sie weinte laut und haltlos.

Frau Porges versuchte sie aufzurichten.

»Was sind das für Einfälle,« sagte sie. »Wer wird daran denken? Der Arm ist bedeckt mit Geschwüren, Frau Fanta. Was sollte Sonntag mit ihm tun? Wir werden ihn fragen, Frau Fanta, morgen, was er mit dem Arm getan hat.«

Dora erhob sich. Sie ordnete ihr Haar. Sie nickte Polzer und Frau Porges stumm zu und ging.

Am Abend des nächsten Tages eilte Polzer aus der Bank geradewegs in das Sanatorium. Auf dem Flur standen Frau Porges und Dora. Es roch nach Medikamenten. Polzer reichte den Frauen wortlos die Hand.

Dora weinte nicht. Ihre Augen waren glanzlos, die Lider gerötet. Das Gesicht war starr und bleich. Sie stand unbeweglich. Wärter und Wärterinnen gingen in Filzschuhen geräuschlos vorüber. Frau Porges las die Aufschriften an den Türen ringsum. Endlich kam Sonntag. Er hatte eine weiße Schürze umgebunden. Dora ließ ihn herankommen. Sie bewegte sich nicht.

»Der Patient befindet sich verhältnismäßig wohl,« sagte Sonntag.

Frau Porges fragte, ob sie mit Dora zu Herrn Fanta dürfe.

»Der Arzt hat Besuche für die ersten Tage verboten,« sagte der Pfleger.

Dora öffnete den Mund. Sie sprach stockend, als ob das Sprechen ihr Schmerz bereite, laut und mit schwerer Zunge.

»Was ist mit dem Arm geschehen?«

Der Pfleger sah sie an.

»Gliedmaßen werden im Hof vergraben,« sagte er.

Dora sank zu Boden. Der Wärter hob sie und trug sie in ein leeres Krankenzimmer. Er legte sie auf ein Bett und öffnete ihre Bluse. Frau Porges hatte Wasser gebracht. Der Pfleger feuchtete Dora die Stirn. Dann schob er das Hemd zurück und näßte ihre linke Brust. Er hatte kurze, dicke Finger. Polzer verließ das Zimmer und schloß leise die Tür hinter sich.

Die ganze Zeit über, die er im Sanatorium verbrachte, weigerte sich Karl, Besuch zu empfangen. Frau Porges, Dora, Kamilla und Polzer kamen täglich. Immer erschien der Pfleger Sonntag, verneigte sich und sagte, er bedauere sehr, die Herrschaften nicht weiterführen zu dürfen. Das Befinden des Patienten sei zufriedenstellend, doch wolle Herr Fanta niemanden sehen. Frau Porges und Kamilla baten den Pfleger, Grüße zu bestellen. Dora sprach nichts. Sie stand halb abgewendet, ihr Blick suchte unruhig am Boden, die Wangen bedeckten sich mit Röte. Polzer glaubte, daß sie die Abweisung durch Karl schwer trage und sich beschämt fühle. Er wollte ihr sagen, daß Karl gewiß seine Einarmigkeit noch zu grauenvoll empfinde, als daß er sie andere sehen lassen wolle. Ihm selbst war die Vorstellung des aufgequollenen Rumpfes mit dem einsam hervorragenden dürren erstarrten Arm noch immer unfaßbar. Erst jetzt wurde ihm die Verstümmelung Karls ganz bewußt und gerade dadurch, daß nur dieses eine vertrocknete Ende allein aus der fetten Masse ragte.

Auf dem Heimweg ging er neben Dora. Dora war unruhig.

»Ich muß mit Ihnen sprechen, Polzer,« sagte sie. »Nein, ich schäme mich nicht. Glauben Sie mir, ich ertrage es nicht mehr. Dieser Mensch ist so widerwärtig. Wie rund sein kahlgeschorener Schädel ist! Haben Sie seine winzige Nase und seine kleinen Augen gesehen? Er blickt mich fortwährend an, Polzer. Ich kann diesen niederträchtigen Blick nicht ertragen. Er sieht mir nicht ins Gesicht, immer hierher, auf die Brust. Ich fürchte mich. Ich ertrage das nicht mehr!«

»Der Wärter?« fragte Polzer.

»Er tut, als ob er sehr gut mit mir bekannt sei. Seit damals, als er in meiner Ohnmacht ... Oh Gott, das war doch nicht nötig, damals, die Bluse zu öffnen und das Hemd ... Wozu hat er das getan? Wie konnten Sie es zulassen, Herr Polzer!«

Polzer schwieg.

»Er sieht mir immerfort hierher. Als sähe er unter das Kleid. Verbieten Sie es ihm! Als ich erwachte, lächelte Frau Porges. Sonntag schob mir noch das Hemd über die Brust. Ich fühle noch seine Finger an meiner Haut. Ich wagte vor Schreck nicht, mich zu bewegen.«

Sie machte eine Pause und sah Polzer an.

»Oh Gott, wie spreche ich mit Ihnen, Herr Polzer! Aber ich muß es jemandem sagen. Sie müssen Karl sagen, daß der Pfleger fort muß. Mag ein anderer kommen! Er blickt immer nach meiner Brust, ich ertrage das nicht mehr. Warum haben Sie es damals zugelassen? Karl muß es verstehen. Sagen Sie ihm alles! Ich ertrage es nicht, daß dieser Mensch mich gesehen hat und mit seinen Fingern ... er hat nicht bloß das Notwendigste getan, ja, ja, mit seinen Fingern gespielt, sagen Sie es ihm nur so!«

Polzer sagte es Karl am zweitnächsten Tag. Der Pfleger kam und bestellte, daß Karl Polzer zu sprechen wünsche.

Karl hatte die Decke bis an das Kinn gezogen. Die Decke wölbte sich vom Hals an über den Rumpf. Dann fiel sie leer aufs Bett. Polzer wandte das Gesicht ab. Er hatte Karl noch nicht im Bett gesehen. Ihm graute vor der plötzlichen Sichtbarkeit des abgehackten Endes dieses verstümmelten Körpers unter der leer gewordenen Decke.

Karls Gesicht war bleich. Aber die Augen blickten lebhaft durch die Brillengläser.

»Gewöhne dich zuerst an den Anblick!« sagte er.

Der Pfleger, in weißer Jacke und weißer Schürze, wollte sich entfernen.

»Sie können bleiben, Herr Sonntag,« sagte Karl. »Vor ihnen kann ich kein Geheimnis haben.«

»Ich weiß nicht, ob Herrn Polzer meine Gegenwart erwünscht ist.«

Der Pfleger sprach langsam und eintönig. Polzer erwiderte nicht. Der Pfleger verneigte sich und ging.

»Er gefällt dir wohl nicht, mein Sonntag,« sagte Karl. »Es sollte nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn diese Abneigung nicht auf Dora zurückginge. Hetzt sie gegen ihn, dieser Engel? Ja, ja, ich glaube schon, daß sie nicht mit ihm zufrieden ist. Nun ist sie ausgeschaltet, siehst du, ich brauche sie nicht mehr! Wie lange habe ich sie nicht gesehen? Was kann inzwischen alles geschehen sein! Ich zweifle nicht, daß sie ehestens beginnen wird, gegen den armen Sonntag zu hetzen. Aus Liebe zu mir natürlich. Weil er nicht der Richtige ist. Dich hat sie natürlich schon gewonnen.«

»Darüber wollte ich mit dir sprechen,« sagte Polzer.

»Worüber?«

»Über den Pfleger.«

»Über den Pfleger? Was denn über den Pfleger? Fängt der Tanz an?«

»Karl,« sagte Polzer, »du mußt den Pfleger entlassen. Einen neuen Pfleger nehmen.«

»Warum denn?« fragte Karl. »Gefällt dir seine Nase nicht? Seine kurze rundliche Figur? Er ist ein Prachtmensch, sage ich dir. Bescheiden, spricht bloß, wenn er gefragt ist, und dann mit einem gewissen edlen Anstand. Ha, ha, man würde nicht glauben, daß er Metzger gewesen ist. Ich lasse mir oft von diesem Beruf erzählen. Er erzählt ruhig und sachlich, wie ein Kalb abgestochen und zerlegt wird. Was hast du gegen ihn? Er ist fromm und geht oft in die Kirche. Das sollte ihn dir angenehm machen, Polzer. Oder hat Dora keinen Spaß an ihm?«

»Dora bittet dich darum.«

»Also doch. Wußt ich's doch, Polzer, wußt ich's doch. Sie dachte nicht, daß sie so überflüssig werden könne, so ausgeschaltet. Ich brauche sie nicht mehr. Nein, nein, Polzer, nun gerade! Hat sie dich beauftragt, es mir zu sagen, ja oder nein? Sie wird kein Glück haben, die Süße, bestell es ihr, Polzer, bestell es ihr!«

»Das ist es nicht, Karl,« sagte Polzer.

»Was ist es? Was hat sie dir für eine Lektion aufgegeben? Sag sie auf, mein Junge.«

Polzer sah zu Boden.

»Als du operiert wurdest, an dem Tag, fiel Dora in Ohnmacht. Der Pfleger...«

»Nun, nun, was stockst Du? Sonntag hat es mir erzählt. Er trug sie in ein Zimmer, legte sie hin, öffnete ihre Bluse, entfernte das Hemd und netzte sie mit Wasser. Ich sagte zu ihm: ›Da haben Sie die Brust meiner Frau gesehen, Herr Sonntag. Nun, wie gefällt sie Ihnen?‹ Was, glaubst du, erwiderte er mir? Das errätst du nicht! ›Ich weiß‹, sagte er, ›daß mir ein Urteil über die Brust der gnädigen Frau nicht zustehen kann.‹ Ha, ha, ha! Was sagst du nun? Kann ich diesen Menschen entlassen?«

»Er netzte sie nicht bloß. Seine Finger spielten …«

»Mit ihren Brüstchen? Diese Finger, diese kurzen, roten Finger! Polzer, ich sage dir, dieser Mann gefällt mir. Sieht er nicht aus wie ein Wildschwein? Eine Mischung von Heiligem und Wildschwein? Dorachen ist gewiß glücklich gewesen, daß sie Anklang findet. Was will sie? Nun könnte sie alles im Hause haben!«

»Er sieht sie nun merkwürdig an. Sie sagt, sie ertrage diesen Blick nicht.«

»Sie gefällt ihm. Jeder hat seinen Geschmack. Mir gefällt deine Witwe Porges. Was will Dorachen? Darf es bloß ein Tenor sein? Sag ihr, daß sie nichts versteht. Sie soll sich Sonntag genauer ansehen, sag ihr. Was ist das für ein Mann, ihr Tenor! Ich glaube, er fürchtet bei jedem Furz, sich im Luftzug zu erkälten. Wie ist sie doch zart besaitet! Sie erträgt ihn nicht, gerade Sonntag nicht, und hat doch gewiß Übung im Ertragen! Nein, nein, sag es ihr, Polzer, sag es ihr, daß Sonntag bleibt. Sie kann ihm ja aus dem Wege gehen, wenn er ihr nicht gefällt. Sie muß nicht zu mir kommen, wirklich nicht, ich verlange nicht danach und habe nie danach verlangt.«

»Wenn sie mit ihm unter einem Dache wohnt, Karl?«

»Das, Polzer, das wird sie eben nicht. Darum wollte ich mit dir sprechen. Oder dachtest du, daß ich Sehnsucht nach dir hatte? Gewiß, du bist ein Mann, der gewandt zu unterhalten vermag. Aber ich habe jetzt kein Bedürfnis nach weltmännischer Unterhaltung. Sie wird mit ihm nicht unter einem Dache wohnen. Ich gehe von hier nicht nach Hause, sondern zu dir. Sprich mit deiner Klara darüber! Und Dora sage, daß ich auf der Straße zu schreien beginne, wenn man mich in ihre Wohnung schaffen will. Die Leute werden meine Partei ergreifen, wenn sie meine Stümpfe sehen. Ich werde schreien, daß man mich quält und mich umbringen will, wie man darüber auch nur zu sprechen beginnt. Merk es dir, Polzer, und sage es ihr!«

»Willst du es ihr antun?«

»Ich will es ihr antun!« Er ahmte wieder Polzers Stimme nach. »Und mehr, mehr! Hat sie mir nichts angetan, wie, die Heilige? Soll ich dir wieder erzählen? Die Wunde heilt gut, bestelle es ihr, es wird sie freuen. Sie zittert um mein geliebtes Leben, ich weiß es. Aber ich sterbe noch nicht. Ich liege da wie ein Faß mit Jauche und stinke. Aber ich sterbe noch nicht. Ich tue ihr noch manches an, bis zum nächsten Arm, sag es ihr! Das hat wieder ein Weilchen Zeit. Sie muß Geduld lernen, die Gute! – –«

Frau Porges machte das Zimmer, in dem die weiß überzogenen Möbel standen, für Karl und den Wärter zurecht. Als Polzer sie fragte, ob sie gegen die Aufnahme Karls in die Wohnung nichts einzuwenden habe, erwiderte sie:

»Man muß mit allem rechnen, was sich bietet, in diesen Zeiten.«

Polzer legte sich in diesen Nächten die Worte zurecht, mit denen er Dora den Entschluß Karls mitteilen wollte. Er traf Dora täglich gegen Abend im Sanatorium. Er verschob die Mitteilung, die Dora fassungslos machen mußte, von Tag zu Tag. Er selbst fürchtete von der Übersiedlung Karls die großen Veränderungen, die sie mit sich bringen würde. Die Anwesenheit Karls, der immer sprach, immer Wünsche hatte, mußte die hergebrachte Ordnung in Frau Porges' Wohnung umstürzen. Dazu kam, daß Karl nicht allein einzog. Mit ihm kam der Pfleger. Der Pfleger war ein Fremder. Niemand kannte ihn. Vielleicht würde er, wenn Polzer in der Bank war, durch die Zimmer gehen und die Gelegenheit benützen, sich zu bereichern. Polzer begann nachts ein genaues Inventar aller seiner Sachen aufzunehmen. Er vermerkte alles, was er besaß, auf einem Bogen, um gesichert zu sein. Seine Unruhe wurde vergrößert durch die Ungewißheit, wie Dora das Ereignis tragen würde. Es war nicht ausgeschlossen, daß es in der Wohnung zu großen Auseinandersetzungen zwischen Dora, Karl und Frau Porges kommen würde, Dora, in ihrer Erregung, war zu Dingen fähig, an die Polzer nur mit Entsetzen denken konnte. Er wußte sich keinen Rat. Frau Porges schien den Ernst der Situation nicht zu verstehen. Als er sie fragte, wie sie über die Entwicklung der Dinge denke, sagte sie achselzuckend:

»Man wird ja sehen.«

Polzer wollte ihr erklären, daß es zu spät zu Entschlüssen sei, wenn man erst sehe. Er unterließ es, weil Frau Porges auf seine Andeutungen nicht eingehen wollte. Er hatte das Gefühl von Gefahren, die man nicht fassen konnte und auch nicht mehr verhindern.

Franz Polzer fuhr im Bette hoch. Ihm war, als habe er aus dem unbewohnten Nebenzimmer grauenhaft stöhnen gehört. Er schlief kaum, und auch am Tage war er von unruhiger Erregung erfüllt. Er hätte gern den Doktor getroffen. Doch der Doktor schien ihn zu meiden. Seit dem Tage, da sie gemeinsam die Einkäufe besorgt hatten, hatte er den Doktor nicht mehr gesehen.

Polzer hoffte, daß ein Zusammentreffen mit dem Doktor ihn beruhigen würde. Der Doktor hatte Leiden über ihn gebracht, neben denen die Befürchtungen wegen Karls Übersiedlung verblaßten. Der Doktor konnte ihm vielleicht helfen. Vielleicht, wenn Polzer ihm alles zurückgab, den Anzug, die Wäsche, den Hut, die Krawatten, die Schuhe, würde alles besser werden. Polzer betrat nur angstvoll morgens sein Zimmer in der Bank. Wenn ein Lächeln auf Wodaks Gesicht war, durchfuhr Franz Polzer der Schreck, daß er entlarvt, daß seine Lüge durchschaut sei. Bei jedem Geräusch, bei jedem Schritt, der sich auf den Gängen näherte, stockte seine Feder. Man konnte hereinstürzen, auf ihn zu, ihm ins Gesicht schleudern, daß er ein Lügner sei, ein Bettler, der geschenkte Kleider trage und sich für einen reichen Mann ausgebe, ihn von seinem Stuhl reißen, verhöhnen und verlachen. Herr Fogl konnte diese Schmach nicht auf sich sitzen lassen. Er hatte die Rede gehalten, von der man tagelang in allen Abteilungen gesprochen hatte. Vielleicht würde Herr Fogl ihn schlagen. Franz Polzer wußte, daß er es tragen müsse, weil er der Schuldige sei. Er würde seinen Hut nehmen und durch ein Spalier von Lachenden den Ausgang suchen. Sie würden hinter ihm herrufen über die Treppe und sich aus dem Fenster beugen, um ihn noch auf die Straße zu verfolgen. Franz Polzer sah Wodak an, der lächelnd seinen Blick erwiderte. Er dachte daran, aufzuspringen, dem siebzehnjährigen Wodak zu Füßen zu fallen, ihn um Gnade zu bitten. Er wollte ihm sagen, daß er nicht geerbt habe, daß er ärmer sei als alle in der Bank. Daß er kein Heim habe, in dem er Ruhe finde, Atem, daß er auch dort zu leiden habe, jetzt, gerade jetzt, wo sich so vieles vorbereite; daß er sein Vater sein könne, Wodaks Vater, und doch vor ihm zu Boden gefallen sei – – er sage dies nicht aus Stolz, denn gerne sei er zu Boden gefallen. – – Man möge ihm verzeihen! Sie sollten ihn nicht quälen, sie sollten ablassen, ihn zu ängstigen, sie wüßten es doch schon, sie wüßten es, daß er ein Bettler sei, warum spielten sie noch mit ihm? Auf welchen Augenblick warteten sie? Er sehe ja, wie sie lächelten, auch er, oh Wodak, sein grausamer Sohn, er lächelte, warum wartete er? Wenn er es verlange, er, Wodak, Polzer würde fortgehen und nicht mehr in die Bank zurückkehren, so schwer es sei, in diesen Jahren Brot zu finden, er würde gehen, wenn er es verlange, der siebzehnjährige, daß Wodak seine Reue sehe, trotzdem er selbst wisse, daß er unfähig sei, anderes als die Arbeit zu tun, die er in diesen siebzehn Jahren täglich getan habe, ohne einen Tag zu verlieren. In diesen siebzehn Jahren, in denen Wodak gewachsen sei, die Schule besucht habe, gespielt, gelacht, mit Knaben sich geprügelt habe, Mädchen abends in den Parks nachgestellt habe, immer dieselbe Arbeit! Er wollte es tun, es auf sich nehmen, wenn sie ihm verziehen und die Qual beendeten ...

Franz Polzer hörte Lachen aus dem Nebenzimmer. Er atmete nicht. Seine Hand lag schwer auf dem Papier. – –

Dora erfuhr von Karls Plan zwei Tage, bevor er aus dem Sanatorium entlassen wurde. Sie saß abends in Franz Polzers Zimmer, als der Pfleger kam. Er trug einen schweren Korb.

Dora sah Frau Porges an.

»Ja, ja,« sagte Frau Porges. »Ich habe Herrn Fanta das dritte Zimmer zurecht gemacht.«

»Frau Porges,« sagte Polzer, »Sie können es rückgängig machen. Sagen Sie, daß der Raum zu eng ist, daß Sie die Mühe nicht auf sich ...«

»Man muß nehmen, was sich bietet,« sagte Frau Porges scharf. Dora hatte sich erhoben. Der Pfleger stand an der Tür. Als Polzers Blick auf ihn fiel, sagte er:

»Es ist gut, Kranken ihren Willen zu erfüllen.«

Er sah Polzer an, als antworte er ihm auf eine Frage. Polzer fühlte einen Widerwillen gegen diese ölige Stimme und die eintönige Art, wie der Pfleger sprach. Dora war an die Tür geeilt. Das Blut war aus ihrem Gesicht gewichen.

»Ich werde mit Ihnen gehen,« sagte Polzer.

Dora schüttelte ablehnend den Kopf.

»Für mich ist es ein geringer Umweg,« hörte Polzer Sonntags Stimme sagen, »und es ist nicht geraten, einen Menschen in solcher Erregung allein zu lassen.«

Er folgte Dora, die schon die Treppe hinabging.

Am folgenden Sonntag, vormittags, trug man Karl aus seinem Zimmer. An der Treppe standen Polzer, Dora, Frau Porges und Franz Fanta. Karl wurde von zwei Männern getragen. Der Pfleger folgte mit einem Koffer. Dora hatte Karl, seit er ins Sanatorium gebracht worden war, nicht mehr gesehen.

Karl, dicht in Decken gehüllt, wandte sich ihr zu:

»Du wirst mich doch besuchen, mein Täubchen, manchmal, wie? Siehst du, nun hast du die Wohnung für dich allein.«

Dora schluchzte auf.

»Nun, seht sie an,« sagte Karl, »nun fängt sie an zu weinen! Tu ich's denn nicht dir zuliebe? Glaube mir, nur darum, dich nicht zu stören, Dorachen! Du bist jung und schön, trotz allem noch schön, gewiß! Du solltest dir keine Schranken auferlegen, mein Herzchen.«

»Karl,« sagte Polzer und wies auf Franz. Dora drückte Franzens Kopf an sich.

»Nun ja, nun ja, Polzer, du bist ein sehr ein feinfühliger Mensch.«


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