Hermann Ungar
Die Verstümmelten
Hermann Ungar

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9

Mittags war Polzer mit dem Doktor beim Schneider gewesen. Man hatte ihm einen braunen Rock mit runden Schößen angemessen. Polzer hatte es so gewünscht.

Als er abends aus der Bank nach Hause kam, hörte er aus der Küche Kamillas Stimme. Er ging in sein Zimmer. Es geschah oft, daß Kamilla abends zu Frau Porges kam. An solchen Abenden hörte Franz Polzer nachts lange das Lachen und Sprechen der Frauen aus der Küche.

Das Geräusch der bekannten Stimmen aus der Küche machte die Finsternis erträglicher. Die Dielen knarrten nicht von heimlichen Schritten. Polzer tastete nach dem Heiligenbild. Er hörte noch Kamillas tiefes Lachen und schloß beruhigt die Augen. In dieser Nacht war es Polzer plötzlich, als würde neben dem Bett gesprochen. Erst ferner und leise, dann lauter und ganz nahe. Polzer schlief nicht, aber seine Augen waren fest verschlossen, er konnte die Lider nicht heben, weil zwei Daumen darauf drückten. Es war sonderbar, wie klar Polzer trotzdem alles sah. Er hatte eine braune Jacke mit runden Schößen an und stand ruhig mitten unter den Leuten. Er wußte bestimmt, daß seine Hose fest verschlossen sei, und ging, würdevoll sprechend, in den großen Zimmern auf und ab. Karl saß in einer Ecke und machte Aufgaben. Es fiel Polzer auf, daß Karl unbekleidet sei und daß er, Polzer, sich nicht darüber wundere. Plötzlich fühlte Polzer, daß jemand an seinen Hosen nestle, und er erschrak sehr. Er wand sich, drückte sich in die Nische des dunklen Treppenhauses, stieß die Hände vor sich, griff in Fleisch, das nachgab, tastete nach dem Heiligenbild. Er hörte Lachen und wußte, daß man ihn sehe, wollte um Hilfe schreien, aber seine Stimme versagte, er mühte sich sehr, einen Ton im Halse zu bilden, nicht bloß heiser den Atem auszustoßen. Am matten Leuchten der weißen Mittellinie erkannte er den Scheitel. Er wußte, daß Frau Porges alles erzählt hatte, ihn auszuliefern, ihn zu quälen. Warum hatte sie es gesagt? Warum haßte sie ihn? Er wollte sprechen. »Ich bin das Opfer,« wollte er sagen, aber sein Hals war trocken, er konnte den Speichel nicht schlucken, so sehr er sich mühte. Da fiel der Scheitel auf die Treppe, mit dem Kopf, sprang die Treppe hinab und rollte vor den Christus. Man hatte plötzlich den Kopf abgeschlagen, wer, wollte er schreien, wer, er schlug sich auf die Brust, alles hob drohend die Finger und wies auf ihn. Er stand da, hilflos und ausgeliefert. Es war keine Rettung. Nun mußte er ziehen, die Sachen zählen, die Wäsche nahm kein Ende, unendliche Wäsche war da. Er mußte sie auf den Rücken laden, sie fiel von den Schultern, da er sie nicht halten konnte; denn in den Händen hielt er das Bild des Heiligen. Nun kam er nach Zizkov in ein dunkles Zimmer, da lag seine Schwester, sie war nackt, ihre Brüste waren flach an den Seiten des Körpers, die Füße auseinandergebreitet. Ihr Leib war feucht und schimmerte. Er wußte, daß ihr Fleisch weich und dunkel sei, und wollte fliehen, denn ein furchtbarer Gedanke lag in seinem Kopf, ein Gedanke, den er nicht ertragen konnte. Es knarrte unter seinen Schritten und aus einer Tür trat ein Mann heraus mit offenem Hemd, und der Mann atmete schwer und hob seine Fäuste, Polzer zu schlagen. Es roch entsetzlich wie von frischen Semmeln. Das Heiligenbild war verschwunden, aber neben sich hörte Polzer Lachen, und die Wärme eines fetten Körpers schlug seinen Atem zurück, daß er fürchtete zu ersticken.

Polzer fuhr auf. Er bebte. Er strich sich mit der Hand über die Stirn. Im Zimmer war Licht. Vor seinem Bett standen Ka- milla und Klara Porges.

»Wie spät ist es?« fragte Franz Polzer erschrocken.

»Zwölf Uhr,« sagte Klara Porges. »Du hast fest geschlafen. Kamilla wollte dich fragen, wie es dir gestern gefallen hat. Warum bist du so heimlich in dein Zimmer geschlichen?«

Polzer saß aufrecht im Bett. Er sah die Frauen starr an. »Was wollen Sie?« fragte er tonlos.

Kamilla trat nahe an ihn heran.

»Herr Polzer, wir kennen einander so lange. Warum blicken Sie mich so erschrocken an ?«

Sie setzte sich auf das Bett.

Polzer streckte die Hände abwehrend von sich.

»Frau Porges,« sagte er, »oh Gott, was wollen Sie mit mir?«

»Schweig!« sagte Klara Porges und verließ das Zimmer.

»Was werden Sie von mir denken?« sagte Kamilla und beugte sich über ihn. Er fühlte ihren Busen an seiner Brust. »Denken Sie nicht böse von mir! Ich will nichts von Ihnen. Klara hat mir alles erzählt. Warum wollen Sie Klara nicht? Klara ist eine schöne Frau. Sie sagt, Sie wollen sie nicht. Ich bin Klaras Freundin, Herr Polzer, sagen Sie es mir!«

Polzer schwieg. Er sah im Ausschnitt ihrer Bluse den runden Ansatz des Busens. Er schloß die Augen und schwieg. Auch Kamilla sprach nicht. Er spürte ihren Atem warm an seiner Wange. Die Uhr tickte laut.

Plötzlich fühlte er, daß ihre Hand langsam die Decke beiseite schob. Sein Mund öffnete sich, aber er schrie nicht. Er hörte Kamillas keuchenden Atem.

»Er ist gehorsam,« sagte Kamilla leise und zärtlich, »er rührt sich nicht.«

»Warum hat sie es erzählt?« dachte er, »oh Gott, warum hat sie es erzählt!«

»Er ... rührt sich ... nicht!«

Die Schritte von Klara Porges näherten sich im Flur. Kamilla sprang auf. Frau Porges brachte ein Gläschen Schnaps für Kamilla. Kamilla bot es Polzer an. Polzer wies es stumm zurück.

»Mehr ist nicht in der Flasche,« sagte Frau Porges und lachte. Polzer hörte, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Klara Porges brachte Kamilla aus dem Haus. Er hörte die Schritte der Zurückkehrenden. Bald darauf knarrte im Nebenzimmer das Bett. Dann wurde es ruhig.

Polzer dachte daran, aufzustehen, an Frau Porges' Tür zu klopfen und sie zu fragen, warum sie es getan habe. Heute hatte sie es Kamilla gesagt, morgen würde sie es dem Prokuristen sagen, dem Studenten, dem Doktor, Karl. Er konnte nicht mehr unter Leute gehen, er durfte das Haus nicht verlassen, nicht mehr in die Bank, nicht an den Kai, nicht ins Café mehr, nicht am Dienstag, morgen, zu Karl. Karl würde lachen. Er durfte sie nicht mitbringen zu Karl. Karl durfte es nicht erfahren. Karl verspottete ihn. Karl hatte ihm Gutes getan, aber er verspottete ihn. Karl würde sich nicht fassen können vor Lachen. Karl durfte Klara Porges nicht sehen. Wie soll nun alles enden, dachte Polzer. Wie soll es enden? Sollte er es dem Doktor sagen, Vertrauen zu ihm haben und fliehen? Niemand würde das alles begreifen, auch der Doktor würde es nicht begreifen. Polzer mußte Frau Porges um Gnade bitten, um Erbarmen anflehen. Was hatte er getan? Sie konnte diese Qualen nicht wollen! Er wollte an ihre Tür klopfen: Ein Ende! Ein Ende! Sie würde ihm entgegenkommen im fallenden Hemd mit gelöstem Haar, ihn an der Hand fassen, ihn ins Bett ziehen, an ihren nackten Körper drücken – nein, nein! Das war dieses weiche dunkle Fleisch, das war die grauenhafte unbegreifliche Erinnerung. Nein. Besser fort, in ein fremdes Zimmer, das man nicht kennt, ganz allein. Man weiß nicht, wer im Nebenzimmer schläft. Man hört den Atem. Über den Flur gehen Schritte. Man kann nicht alle Leute kennen, die in dem fremden Hause wohnen, in dem man allein ist. Vielleicht haben sie Schlüssel zur Wohnung, Schlüssel zu den Kästen. Vielleicht stehen sie an der Tür. Sie lauschen und warten, bis sie den Atem des Schlafenden hören. Man hat armen Leuten nach dem Leben getrachtet, weil man Schätze bei ihnen vermutete, oder aus grundlosem Haß.

Es war ganz still in Polzers Zimmer und auch die Dielen knarrten nicht. Polzer wagte nicht, sich zu regen. »Etwas bereitet sich vor,« dachte Polzer.

Im Dunkel stand etwas und wartete. All das mußte enden. In der Ecke war etwas und wartete. Vielleicht ein Mörder mit einem Beil. Man kann das Haus nicht kennen, in dem man wohnt.

Polzer lauschte. Rauschte es nicht? Er hörte Frau Porges nicht atmen. Was war mit Frau Porges ? Warum atmete Frau Porges nicht! Es war so still. Was lauerte? Etwas bereitete sich vor.


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