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Willi

 

I

Willi hatte das Pensionat mit Auszeichnung verlassen. Er kehrte aus Verro nach Hause zurück, streifte im Park umher, las Schiller und schwieg rätselhaft. Ustinja Jakowlewna beobachtete, wie er sich oft beim Lesen der Verse umwandte, und wenn niemand zu sehen war, das Taschentuch an die Augen drückte. Ohne es selber zu merken, legte ihm dann Ustinja Jakowlewna ein besseres Stück auf den Teller. Willi war schon ein großer Junge, bald vierzehn, und Ustinja Jakowlewna fühlte, daß irgend etwas mit ihm unternommen werden müsse. Es wurde ein Familienrat zusammengerufen. Aus Pawlowsk kam der junge Cousin Albrecht, eingezwängt in die enge Gardehose; es kam die Tante Breitkopf, und der Freund des seligen Karl Iwanowitsch Küchelbecker, Baron Nikolai, ein kleines, weißhaariges Männchen, wurde auch mit eingeladen. Dieses ganz alte Männchen roch in einem fort an einem Fläschchen mit Riechsalz; außerdem war es ein Naschmaul und stärkte sich ununterbrochen mit Lutschbonbons aus einer antiken Bonbonniere. Das lenkte den Alten derart ab, daß er nur mit Mühe bei der Sache bleiben konnte. Im übrigen benahm er sich würdevoll und verwechselte nur ab und zu die Namen und Ereignisse.

»In was für eine Anstalt soll Willi nun kommen?« Ustinja Jakowlewna sah mit einer gewissen Furcht die Teilnehmer des Familienrats an.

»Willi?« fragte das Männchen sehr höflich. »Wo Willi hin soll?« Er roch an seinem Fläschchen.

»Ja, Willi,« sagte Ustinja Jakowlewna gedrückt.

Man schwieg.

»Ins Kadettenkorps. Zum Militär,« meinte plötzlich der Baron mit überraschender Entschiedenheit. »Nur zum Militär.«

Albrecht kniff ein wenig die Augen zusammen und bemerkte:

»Willi scheint aber keine Neigung dazu zu haben.«

Ustinja Jakowlewna war es, als ob der Cousin mit einiger Herablassung spräche.

»Für junge Menschen bedeutet der Militärdienst alles,« sagte der Baron gewichtig. »Obwohl ich selbst nie Militär war … Er muß ins Kadettenkorps.« Er nahm die Bonbonniere und lutschte ein Bonbon.

»Sie überschätzen die Vorzüge des Militärdienstes,« lächelte Albrecht.

In diesem Augenblick rannte Klein-Ustinjka zu Willi (Mutter und Tochter hatten den gleichen Namen. Tante Breitkopf nannte die Mutter Justine und die Tochter Klein-Ustinjka).

»Willi,« sagte sie erblassend, »geh, hör zu, es wird von dir gesprochen.«

Willi sah sie zerstreut an. Seit zwei Tagen flüsterte er in dunklen Ecken mit Senjka herum, einem Jungen aus dem Hofgesinde. Dazwischen schrieb er viel in ein Heft, war schweigsam und voller Geheimnisse.

»Von mir?«

»Ja!« flüsterte Ustinjka mit weit aufgerissenen Augen. »Sie wollen dich in den Krieg schicken oder ins Kadettenkorps.«

Willi sprang auf.

»Weißt du das sicher?« flüsterte er.

»Ich hab eben gehört, wie der Baron sagte, man soll dich zum Militär, ins Kadettenkorps schicken.«

»Schwöre!«

»Ich schwöre,« sagte Ustinjka unsicher.

»Schön!« Willi war blaß und entschlossen. »Du kannst gehn.«

Er setzte sich wieder an sein Heft und beachtete Ustinjka nicht mehr.

Der Familienrat war noch nicht zu Ende.

»Willi hat seltene Fähigkeiten,« sprach Ustinja Jakowlewna aufgeregt. »Er interessiert sich für Verse, und überhaupt, glaube ich, das Militär ist nichts für ihn.«

»Ah, Verse,« sagte der Baron. »Ja, Verse, das ist eine ganz andere Sache.«

Er schwieg eine Zeitlang und fügte dann hinzu, indem er Tante Breitkopf betrachtete:

»Verse, das ist Literatur.«

Tante Breitkopf sagte langsam, jedes Wort betonend:

»Willi muß auf das Lyzeum.«

»Aber das ist doch wohl in Frankreich – ein Lycée,« meinte der Baron zerstreut.

»Nein, Baron, es ist in Rußland,« versetzte die Tante entrüstet. »In Rußland, in Zarskoje Selo, eine halbe Stunde zu Fuß von hier. Eine vornehme Anstalt. Justine weiß sicher davon. Dort sollen doch,« die Tante machte eine triumphierende Bewegung nach dem Baron hin, »die Großfürsten erzogen werden.«

»Ausgezeichnet!« entschied der Baron. »Er kommt in das Lycée!«

Ustinja Jakowlewna sann nach.

»Ach, was für ein herrlicher Gedanke! Das ist so nah. Allerdings,« fiel ihr ein, »werden die Großfürsten doch nicht dort erzogen. Man hat es sich anders überlegt.«

»Um so besser!« sagte plötzlich der Baron. »Um so besser! Sei's drum. Willi kommt in das Lycée.«

»Ich werde die Barklays bitten.« Ustinja Jakowlewna sah Tante Breitkopf an. (Die Frau von Barklay de Tolly war deren Kusine.) »Man darf Ihre Majestät nicht allzu oft belästigen. Die Barklays werden mich nicht abweisen.«

»Wenn du mit den Barklays gesprochen hast,« fügte die Tante hinzu, »werden wir den Baron bitten, Willi hinzubringen.«

Der Baron geriet in Verwirrung.

»Hinbringen? Wohin?« fragte er verständnislos. »Das Lycée ist doch nicht in Frankreich. Es ist doch in Zarskoje Selo. Wozu hinbringen?«

»Großer Gott!« Die Tante wurde ungeduldig. »Die Kinder werden hingebracht, um dem Minister, dem Grafen Alexej Kirillowitsch vorgestellt zu werden. Baron, Sie sind ein alter Freund. Wir hoffen auf Sie. Für Sie ist es bequemer, zum Minister zu fahren.«

»Ich werde alles tun, alles,« erwiderte der Baron. »Ich fahre selber mit ihm in das Lycée.«

»Ich danke Ihnen, teurer Joannikij Fjodorowitsch!« Ustinja Jakowlewna drückte das Tuch an die Augen.

Der Baron bekam Tränen und wurde sehr aufgeregt.

»Man muß ihn in das Lycée bringen. Macht alles fertig. Ich bring ihn dann hin.«

Das Wort Lycée hatte ihn behext.

»Lieber Baron,« sagte die Tante, »er muß zuerst dem Minister vorgestellt werden. Ich werde selber Willi zu Ihnen bringen, und Sie fahren dann zusammen mit ihm hin.«

Der Baron erschien ihr wie ein Pensionatsmädchen. (Tante Breitkopf war maman des Katharinenpensionats für junge Mädchen.)

Der Baron erhob sich, sah melancholisch die Tante an und verneigte sich:

»Ich werde Sie, glauben Sie mir, mit großer Ungeduld erwarten.«

»Lieber Baron, Sie übernachten heut bei uns,« sagte Ustinja Jakowlewna, und ihre Stimme zitterte.

Die Tante öffnete die Tür und rief:

»Willi!«

Willi trat ein und sah alle mit sonderbarem Blick an.

»Gib nun recht acht, Willi,« begann Tante Breitkopf feierlich. »Wir haben soeben beschlossen, daß du ins Lyzeum eintreten sollst. Dieses Lyzeum wird ganz in der Nähe eröffnet, in Zarskoje Selo. Dort wird man dich in allem unterrichten, auch im Dichten. Du wirst dort gute Kameraden haben.«

Willi stand wie angewurzelt.

»Der Baron Joannikij Fjodorowitsch hat sich gütigst bereit erklärt, persönlich mit dir zum Minister zu gehn.«

Der Baron hörte auf, sein Bonbon zu lutschen, und betrachtete mit Interesse die Tante.

Da verließ Willi ohne ein Wort der Erwiderung das Zimmer.

»Was hat er denn?« fragte die Tante.

»Er ist wohl aufgeregt, der arme Junge,« seufzte Ustinja Jakowlewna.

Willi war nicht aufgeregt. Er hatte ganz einfach für diese Nacht mit Senjka die Flucht nach der Stadt Verro verabredet. Dort erwartete ihn Minchen, die Tochter seines dortigen ehrwürdigen Lehrers. Sie war nur zwölf Jahre alt. Vor seiner Abreise hatte Willi ihr versprochen, sie aus dem elterlichen Hause zu entführen und sich heimlich mit ihr trauen zu lassen. Senjka wollte ihn begleiten. Wenn dann Willi und Minchen verheiratet waren, wollten sie zu dritt in irgendeiner Hütte, in irgendeiner Art Schweizerhäuschen leben, jeden Tag Blumen und Walderdbeeren suchen und glücklich sein. Senjka war mit allem einverstanden.

In der Nacht klopfte Senjka leise an Willis Fenster. Alles war fertig. Willi nahm sein Heft, steckte drei Zwiebacke in die Tasche und zog sich an. Das Fenster war am Abend absichtlich nicht geschlossen worden. Er schlich vorsichtig am Bett seines Brüderchens Mischa vorbei und kletterte aus dem Fenster. Im Garten war es unheimlich, obwohl die Nacht hell war. Sie bogen leise um die Ecke und wollten über den Zaun klettern. Bevor er aber sein Elternhaus verließ, kniete Willi nieder und küßte die Erde. Davon hatte er irgendwo bei Karamsin gelesen. Er wurde betrübt und schluckte eine Träne hinunter. Senjka wartete geduldig. Sie machten noch zwei Schritte und stießen plötzlich auf ein offenes Fenster. Da saß der Baron in Schlafrock und Nachtmütze und sah gleichgültig herunter auf Willi.

Willi erstarrte zu einer Säule. Senjka verschwand hinter einem Baum.

»Bon soir, Willi,« meinte der Baron freundlich, ohne besonderes Interesse.

»Bon soir, monsieur,« erwiderte Willi mit stockendem Atem.

»Prächtiges Wetter. So richtig Venedig,« sagte der Baron und seufzte. Dann roch er an seinem Fläschchen. »Solches Maiwetter gibt es nur in Schaltjahren.«

Er betrachtete Willi und sagte nachdenklich:

»Obwohl dieses Jahr kein Schaltjahr ist.«

»Wie geht es mit dem Lernen?« fragte er neugierig.

»Danke,« antwortete Willi. »Im Deutschen gut, im Französischen auch.«

»Wirklich?« wunderte sich der Baron.

»In Latein auch,« sagte Willi, dem allmählich der Boden unter den Füßen wankte.

»So, das ist eine andere Sache,« beruhigte sich der Baron.

Nebenan ging ein Fenster auf, und Ustinja Jakowlewna erschien in einer Nachthaube.

»Bon soir, Ustinja Jakowlewna!« sagte der Baron höflich. »Was für ein prächtiges Wetter! Sie haben hier wahrhaftig Venezia la Bella. Ich genieße geradezu diese Luft!«

»Ja.« Ustinja Jakowlewna war ganz überrascht. »Wie kommt denn Willi hierher? Was macht er nachts im Garten?«

»Willi?« wiederholte der Baron erstaunt. »Ach so, Willi! Willi genießt auch die Luft.«

Willi näherte sich zitternd.

»Was machst du hier, mein Junge?«

Ängstlich betrachtete sie den Sohn, streckte die dürre Hand aus und streichelte sein sprödes Haar.

»Komm zu mir,« sagte sie und sah ihn voller Unruhe an. »Klettere durchs Fenster zu mir herein.«

Willi senkte den Kopf und kletterte durchs Fenster zur Mutter. In Ustinja Jakowlewnas Augen standen Tränen. Willi bemerkte das, schluchzte auf und erzählte ihr alles, alles. Ustinja Jakowlewna lachte und weinte und streichelte den Kopf des Sohnes.

Der Baron saß noch lange am Fenster und roch an seinem Fläschchen. Er dachte an eine italienische Schauspielerin, die vor vierzig Jahren gestorben war, und bildete sich fast ein, in Venezia la Bella zu sein.

 

II

Der Baron zieht die altmodische Uniform mit den Orden an, streift die Handschuhe über, stützt sich auf den Stock und faßt Willi unter. Sie fahren zum Grafen Alexej Kirillowitsch Rasumowski, dem Minister.

Sie betreten einen großen Säulensaal. Die Wände hängen voll von großen Porträts. Ein Dutzend Männer sind im Saal, und jeder hat einen Jungen bei sich. Wilhelm geht an einem winzigen Jüngelchen vorbei, das neben einem gelangweilt dreinblickenden Mann in Beamtenuniform steht. Der Baron läßt sich auf einen Sessel nieder. Willi hält Umschau. Neben ihm steht ein schwarzer Junge, beweglich wie ein Affe. Ein ähnlicher Affe, aber mit schwarzem Frack, einem Orden im Knopfloch und erwachsen, hält ihn an der Hand.

»Michel, seien Sie doch bitte ruhig,« sagt der erwachsene Affe auf französisch, während der kleine Affe zu Willi hinüber Grimassen schneidet.

Es ist der französische Gouverneur des Moskauer Universitätspensionats, der Mischa Jakowlew anmelden will.

Nicht weit von ihnen sitzt ein kleiner, alter Mann in der Galauniform eines Admirals. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen; er stützt sich auf ein Stöckchen genau wie der Baron. Er ist böse und sieht niemand an. Neben ihm steht ein Junge, rotwangig, dick, mit hellen Augen und blonden Haaren.

Beim Anblick des Barons erhellt sich das Gesicht des Admirals.

»Joannikij Fjodorowitsch?« sagt er mit tiefer, heiserer Stimme.

Der Baron unterbricht das Lutschen und schaut den Admiral an. Dann geht er auf ihn zu und drückt ihm die Hand.

»Iwan Petrowitsch, cher amiral!«

»Pjotr Iwanowitsch,« brummt der Admiral. »Pjotr Iwanowitsch, du hältst die Namen schon nicht mehr auseinander, Väterchen!«

Aber ohne jede Verlegenheit beginnt der Baron ein Gespräch. Das ist sein alter Freund – der Baron hat viele alte Freunde –, der Admiral Puschtschin. Der Admiral ist verstimmt. Er wartet schon über eine halbe Stunde auf den Minister. Es vergehen weitere fünf Minuten. Willi betrachtet den rotwangigen Jungen, und dieser schaut Willi mit einigem Staunen an.

»Wanja,« sagt der Admiral. »Geht ein wenig durch den Saal.«

Verlegen gehn die Jungen durch den Saal und schauen sich hartnäckig an. Als sie an Mischa Jakowlew vorbeikommen, zeigt der ihnen schnell die Zunge. Wanja sagt zu Willi:

»Dieser Affe!«

Willi erwidert:

»Ein richtiger Paillasse.«

Der Admiral beginnt sich zu ärgern. Er klopft mit dem Stock. Gleichzeitig klopft auch der Baron mit dem Stock. Der Admiral ruft den Beamten du jour und sagt:

»Hat Seine Exzellenz die Absicht, uns heute zu empfangen?«

»Verzeihung, Euer Exzellenz,« antwortet der Beamte. »Seine Exzellenz beenden gerade die Toilette.«

»Aber ich brauche Alexej Kirillowitsch und nicht seine Toilette,« sagt der Admiral. Er ist bereits außer sich.

»Ich melde sofort.« Mit leichter Verbeugung gleitet der Beamte in den Nachbarsaal.

Eine Minute später werden alle in die inneren Räume gerufen. Der Empfang beginnt. Ein Geck in schwarzem Frack, mit auffallend weißem Vatermörder, stark parfümiert und korsettiert, geht auf den Admiral zu. Er hat lebhafte, leicht schielende Augen, eine Vogelnase und trotz der starken Korsettierung ein ziemliches Bäuchlein.

»Pjotr Iwanowitsch,« sagt er mit ungewöhnlich angenehmer Stimme und überschüttet den Admiral mit französischen Sätzen.

Der Admiral kann weder Gecken noch französelnde Menschen ausstehn. Er betrachtet den Mann vor sich und denkt: Du Tagedieb, du! (Als Tagediebe bezeichnet er alle Gecken.) Aber der Admiral schätzt es, wenn man ihm Achtung und Ehrerbietung entgegenbringt.

»Wen haben Sie denn mitgebracht, Wassilij Lwowitsch?« fragt er wohlwollend.

»Meinen Neffen. Den Sohn von Sergej Lwowitsch. – Sascha!« ruft er.

Sascha kommt. Er ist ein Junge mit krausem Haar und unruhigen Augen; er schaut trotzig in die Welt und hat einen schwerfälligen Gang. Als er Wilhelm bemerkt, lacht er mit den Augen und beobachtet ihn leise.

In diesem Augenblick tritt ein Beamter von hoher Gestalt aus dem Zimmer des Ministers; er hält ein Blatt in der Hand und ruft die Namen auf.

»Baron Delwig, Anton Antonowitsch!«

Ein blasser, gedunsener Junge mit schläfrigem Gesicht tritt zögernd und unsicher vor.

»Komowski!«

Ein winziger Knabe trippelt pedantisch mit kleinen Schritten heran.

»Jakowlew!«

Der kleine Affe folgt fast laufend dem Ruf.

Der Beamte ruft Puschtschin, Puschkin, Willi auf.

Ein wenig unheimlich ist es im Zimmer des Ministers. An dem mit goldbefranstem, blauem Tuch bedeckten Tisch sitzen vornehm aussehende Herren. Der Minister selbst, mit einem Band, das über die Schulter läuft, ist dick, hat ein blasses Gesicht, gebranntes, wohlpomadisiertes Haar und lächelt säuerlich. Er scherzt lässig mit einem hochaufgeschossenen Mann in Beamtenuniform, der halb an einen Seminaristen, halb an einen Engländer erinnert. Dieser prüft die Jungen. Es ist Malinowski, der neu ernannte Lyzeumsdirektor. Er stellt seine Fragen so, als klopfe er mit einem kleinen Hammer, und wartet auf die Antworten mit seitwärts geneigtem Kopf. Die Prüfung dauert lange. Dann fährt alles nach Hause. Zum Abschied schneidet Jakowlew eine solche Grimasse, daß Puschkin die weißen Zähne entblößt und Puschtschin heimlich einen Rippenstoß gibt.

 

III

Am 19. Oktober legte Willi die Galauniform an. Das war eine umständliche Sache. Zuerst kam die weiße Hose, dann der blaue Frack, dessen Kragen viel zu hoch war; dann band er sich die weiße Krawatte um, zupfte die weiße Weste zurecht und zog die Stiefel an. Als er damit fertig war, betrachtete er sich im Spiegel. Darin war ein magerer, hochaufgeschossener Junge zu sehen, mit vorstehenden Augen, eine richtige Vogelscheuche.

Als man im Korridor des Lyzeums sich aufzustellen begann, sah Puschkin Willi an und zeigte seine Zähne. Willi wurde rot und wand seinen Hals hin und her, als störe ihn der Kragen. Sie wurden in den Saal geführt. Voll aufgeregter Geschäftigkeit ließen der Inspektor und die Gouverneure die Jungen drei Reihen bilden und stellten sich davor, wie die Majore bei einer militärischen Parade.

Zwischen den Säulen des Lyzeumssaales stand ein endlos langer Tisch, dessen rotes Tuch mit den goldenen Fransen bis zur Erde herabhing. Willi mußte die Augen zusammenkneifen, so viel Gold gleißte auf den Uniformen. Der blasse, gedunsene Minister mit dem gebrannten Lockenkopf saß in einem Sessel und unterhielt sich mit einem alten Mann, den niemand kannte. Sein fahler Blick überflog das Ganze; er flüsterte dem blassen Direktor etwas ins Ohr, worauf dieser noch blasser wurde, und ging hinaus.

Stille.

Die Tür öffnete sich, und der Zar trat ein. Seine blauen, kleinen Augen lächelten nach allen Seiten. Der elegante Rock saß mit undefinierbarer Nachlässigkeit. Mit seiner weißen Hand gab er dem Minister ein Zeichen und wies auf den Platz neben sich. An der Seite des Zaren ragte die ungeschickte, lange Gestalt des Großfürsten Konstantin. Seine Unterlippe hing herab; er sah schläfrig aus, hielt sich schlecht, und die Uniform hing ihm um den Körper wie ein Sack. An der anderen Seite des Zaren bewegte sich weißer Spitzenschaum, die Kaiserin Elisabeth. Seidenröcke rauschten durch den ganzen Saal: die alte Kaiserin.

Man nahm die Plätze ein. Eine Papierrolle in der Hand, zitternd vor Aufregung und die Beine mit Mühe bewegend, trat der Direktor vor und begann, stockend und mit dumpfer Stimme, irgend etwas von treuen Untertanengefühlen zu sprechen, die man irgendwo pflanzen, pflegen und hegen müsse. Die Papierrolle tanzte in seiner Hand. Wie verzaubert schaute er in die kleinen, blauen Augen des Zaren, der mit hochgezogenen Augenbrauen sich die Lippen biß und gar nicht zuhörte. Admiral Puschtschin begann auf einmal laut zu husten. Wassilij Lwowitsch Puschkin nieste plötzlich über den ganzen Saal und wurde rot vor Verlegenheit. Nur der Baron Nikolai betrachtete den Direktor wohlwollend und roch an seinem Fläschchen.

»Seine Majestät«, hörte man durch das Gemurmel hindurch, dann wieder: »Seine Majestät«, und Gemurmel. Endlich setzte sich der Direktor hin, und der Admiral konnte wieder Atem holen. Nach dem Direktor trat ein junger Mann auf, blaß, in gerader Haltung. Er hatte kein Papier in der Hand. Im Gegensatz zum Direktor schaute er nicht den Zaren an, sondern die Jungen. Das war Kunizyn, Professor der politischen Wissenschaften. Gleich beim Klang der ersten Worte wurde der Zar aufmerksam.

»Die Wissenschaft des Gemeinschaftswesens«, sagte Kunizyn in einem Ton, als ob er jemandem eine Rüge erteile, »strebt nicht die Kunst an, durch äußere Eigenschaften zu glänzen, die nicht selten eine schöne Maske für grobe Unwissenheit sind, sondern wahre Herzens- und Geistesbildung.«

Er wies mit ausgestreckter Hand auf die Jungen und sagte fast düster: »Es wird die Zeit kommen, wo das Vaterland euch die heilige Pflicht auferlegt, über das Wohl der Gemeinschaft zu wachen.«

Was soll das? Den Zaren erwähnt er überhaupt nicht! Als habe er seine Anwesenheit vergessen! Doch nein, jetzt macht er eine halbe Wendung zu ihm:

»Niemals verschließt sich ein wahrer Staatsmann dem Schrei des Volkes, denn Volkes Stimme ist Gottes Stimme.«

Jetzt sieht er wieder nur die Jungen an, und wieder klingt Tadel in seiner Stimme, und die Bewegungen sind fast zornig:

»Was nützt es, auf Titel stolz zu sein, die ohne Verdienst erworben wurden, wenn man in jedem Blick Tadel oder Verachtung, Verurteilung oder Verunglimpfung, Haß oder Fluch lesen kann? Strebt man dazu nach Auszeichnungen, um, wenn man sie errungen hat, die Ruhmlosigkeit fürchten zu müssen?«

Wilhelm kann sich von Kunizyns Gesicht nicht losreißen. Dieses unbewegliche Gesicht ist blaß.

Der Zar hört aufmerksam zu. Seine Wangen haben sich rosig gefärbt. Gespannt sieht er auf den Redner. Der Minister beobachtet Kunizyn mit saurem Gesichtsausdruck und wirft ab und zu einen verstohlenen Blick nach dem Zaren. Er möchte wissen, welchen Eindruck die sonderbare Rede auf Seine Majestät macht. Doch die kleinen Augen des Zaren sind ohne Ausdruck, seine Stirn finster zusammengezogen, die Lippen lächeln.

Plötzlich schaut Kunizyn flüchtig und wie unbeabsichtigt nach dem Minister hin:

»Stellen Sie sich auf einem hohen Posten einen Mann ohne Wissen vor, der die Staatsämter nur dem Namen nach kennt. Sie werden sofort bemerken, wie bitter seine Lage ist. Ohne die Grundursachen des Glücks und des Untergangs der Staaten zu kennen, ist er nicht imstande, den öffentlichen Angelegenheiten eine bestimmte Richtung zu geben, irrt sich auf Schritt und Tritt und ändert seine Ansicht bei jeder neuen Maßnahme. Während er einen Fehler gutmacht, begeht er schon einen zweiten; statt wichtiger Vorteile strebt er nebensächliche an.«

Die blassen, gedunsenen Wangen des Ministers werden flammend rot; er beißt sich auf die Lippen und schaut den Redner nicht mehr an. Mitten unter dem Publikum riecht Baron Nikolai energisch an seinem Fläschchen. Wassilij Lwowitsch Puschkin sitzt da mit halb geöffnetem Mund. Sein Gesicht wirkt unglaublich dumm. Kunizyns spröde Stimme tönt indessen weiter; er schaut nicht mehr die Jungen an; er sieht fast unverwandt auf den Minister und den Zaren:

»Ermattet durch die vergeblichen Mühen, gepeinigt von seinem Gewissen, gehetzt durch die allgemeine Entrüstung, läßt sich ein solcher Staatsmann von der Willkür des Zufalls treiben oder wird zum Sklaven fremder Vorurteile. Wie ein toll gewordener Schwimmer strebt er Felsen zu, die mit den traurigen Trümmern zerschellter Schiffe umkränzt sind. Statt sich die gewitterschweren Stürme dienstbar zu machen, überläßt er sich ihrem Rasen und sucht beim Anblick der vor ihm aufklaffenden Abgründe dort Zuflucht, wo das Meer keine Grenzen hat.«

Ruhig, in gerader Haltung setzt sich der Professor hin. Der Minister wirft einen schrägen Blick zum Zaren hinüber. Der rötliche Kopf nickt plötzlich zustimmend. Der Zar erinnert sich, daß er der erste Liberale seines Landes ist, und entscheidet sich, großmütig zu sein. Die Rede des Professors auf sich zu beziehen, wäre unter allen Umständen verkehrt. Er beugt sich nachlässig zum Minister und flüstert ihm zu:

»Schlagen Sie ihn zur Auszeichnung vor.«

Das Gesicht des Ministers verrät gar nichts. Er neigt den Kopf. Wieder steht der Direktor mit einer Liste da, und wieder zittert die Hand. Die Jungen werden aufgerufen:

»Küchelbecker, Wilhelm!«

Willis Körper beugt sich nach vorne. Seine Beine verwirren sich. Er geht an den unheimlichen Tisch heran. Er vergißt das Zeremoniell und verneigt sich blöd, so daß der Zar auf ihn aufmerksam wird. Aber das dauert nur einen Augenblick. Der rötliche Kopf nickt geduldig.

Der Baron sagt geheimnisvoll zum Admiral:

»Das ist Willi. Er soll auf das Lycée.«

Dann werden die Jungen in den Eßraum geführt. Die Kaiserin-Mutter probiert die Suppe, geht dann von hinten auf Willi zu und fragt wohlwollend in gebrochenem Russisch:

»Gute Suppe?«

Vor Überraschung verschluckt sich Willi an der Pastete, versucht aufzustehn und antwortet zu seinem Schreck mit fremder Stimme:

»Oui, monsieur!«

Puschtschin, der neben ihm sitzt, schluckt die heiße Suppe hinunter und macht ein verzweifeltes Gesicht. Puschkin zieht den Kopf ein und entblößt die Zähne. Großfürst Konstantin, der mit seiner Schwester am Fenster steht und sich die Zeit damit vertreibt, sie zu kneifen und zu kitzeln, hört die Antwort und bricht in Lachen aus. Er hat ein bellendes, hölzernes Lachen, das sich wie das Klappern einer Rechenmaschine anhört.

Die Kaiserin fühlt sich plötzlich gekränkt und schwebt hoheitsvoll an den Lyzeumszöglingen vorbei. Da geht Konstantin an den Tisch heran und betrachtet Willi, die herabhängende Lippe noch tiefer nach unten ziehend. Willi gefällt ihm ausgezeichnet. Willi ist dem Weinen nahe. Aber er nimmt sich zusammen. Sein Gesicht mit den vorstehenden Augen wird puterrot.

Doch schließlich läuft alles noch gut ab. Seine Hoheit begibt sich wieder zum Fenster, um Ihre Hoheit zu kitzeln.

Der 19. Oktober 1811 geht seinem Ende zu.

Willi ist Lyzeumszögling.


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