Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Bechelkückeriade

 

I

»Wißt ihr, was Bechelkückerien ist?

» Bechelkückerien ist ein langer Landstreifen, ein Staat, der mit den miserabelsten Versen schwungvollen Handel treibt; er hat eine Provinz, das »Taube Ohr«, und hat neuerdings der Nachbarmacht » Eselien-Dojassomew« eine große Schlacht geliefert; diese nämlich, bestrebt, jene Monarchie zu erniedrigen, überfiel mit großem Geschrei das »Taube Ohr«, die bechelkückerische Provinz; doch die betroffene Macht nahm Rache auf entsetzliche Weise …«

Weiter las Wilhelm nicht. Er wußte, daß seine Schlägerei mit Mjassojedow nicht ohne Folgen bleiben, daß der »Lyzeumsweise« sie in den buntesten Farben ausmalen und man sich die Blätter den ganzen Tag mit Freudengeheul aus der Hand reißen werde, um die »Bechelkückeriade« zu lesen. Der geriebene Fuchs Komowski, der bei Küchel die Kameraden und bei den Kameraden Küchel schlecht machte und jeden Abend alles dem Gouverneur vertraulich hinterbrachte, dieser kleine, pedantische Petzer sah Willi mit gierigem Interesse an.

»Illitschewski sagt«, flüsterte er, »es wird noch ganz anders kommen. Man will etwas über dich schreiben …«

Wilhelm hörte nicht zu Ende. Er rannte nach oben in sein Zimmer und schloß sich ein. Er setzte sich an den Tisch und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Man verfolgte ihn im Lyzeum. Seine Schwerhörigkeit, ein jähzorniges Wesen, seine sonderbaren Bewegungen, sein Stottern, seine lange, gebeugte Gestalt, all dies reizte unwiderstehlich zum Lachen. Diese Woche aber hatte man ihm ganz besonders zugesetzt. Ein Epigramm jagte das andere, eine Karikatur die andere. »Wurm!« »Küchel!« »Hänsel!« … Er sprang auf, langaufgeschossen und mager, machte eine blöde Bewegung und beruhigte sich mit einem Male wieder. Die Verse, das Dichten, das blieb ihm immer noch. Er brauchte keine Menschen. Bei diesem Gedanken empfand er Mitleid mit sich selber. Er fühlte plötzlich, wie dringend er einen Freund brauchte. Er seufzte, holte die Ballade von »Almanzor und Sulma« hervor, an der er seit Wochen schrieb, herumkorrigierte und wieder schrieb, und begann zu arbeiten. Er überlegte. Sollte er die Ballade Puschkin zeigen? Nein! Der Franzose würde totsicher ein Epigramm darauf machen. Das hatte er satt.

Sonderbar! Küchel konnte im Ernst auf Puschkin nicht böse sein. Was er auch anstellen mochte, Küchel verzieh ihm alles. Wenn der »Franzose« manchmal ganz plötzlich in einer Saalecke stehen blieb, mit brennenden Augen, die aufgeworfenen Lippen noch dicker aufgeblasen, den stieren Blick düster auf einen Punkt gerichtet, dann schlich Wilhelm scheu und zärtlich an ihm vorbei; dann wußte er: der »Franzose« dichtete. Und er fühlte sich unwiderstehlich hingezogen zu ihm. Aber gewöhnlich hob dann der »Franzose« seine braunen, lebhaften Augen zu ihm auf und begann, laut zu lachen und allen möglichen Unsinn anzustellen. Nicht darauf war er stolz, gute Verse machen zu können, sondern darauf, flinker als die anderen zu laufen und geschickter als die anderen über Stühle zu springen. Allgemein schätzte man im Lyzeum an Puschkins Versen genau dasselbe wie an den Versen Illitschewskis: ihre Glätte. Küchel dagegen gefiel an ihnen etwas ganz anderes. Von Illitschewskis Versen sagte er: »Das ist vielleicht gut, aber das sind keine Verse.«

»Was sind denn Verse?« fragte Delwig ihn nachdenklich.

»Du mußt es doch wissen!« Puschtschin zwinkerte ihn spöttisch an. »Du machst es doch natürlich besser.«

Küchel wußte genau, daß er es schlechter machte, aber so schreiben »wie alle« wollte er nicht. Wenn seine Verse auch schlechter waren, was schadete das? Er schrieb immer weiter an seinen Balladen und Volksliedern.

Seine Verse hießen im Lyzeum »Klopstockverse«. »Klopstock«, das war fast genau so ein lächerliches Wort wie »Küchelbecker«. Das war etwas Dickes, Klopfendes, Klotziges, Ungeschicktes. Eigentlich war Delwig der einzige, der Küchel verstand. Der träge, schläfrige Junge konnte Küchel stundenlang zuhören, wenn er mit merkwürdiger, wilder Stimme Schiller vorlas. Dann verschwand hinter Delwigs Brille jenes spöttische Lächeln, das Küchel fürchtete wie Feuer.

Wilhelm ging nun wieder an seine Ballade. Da klopfte es an der Tür. Es war Komowski. Er hielt noch immer das Heft des »Lyzeumsweisen« in der Hand. Der Fuchs seufzte, betrachtete aber zugleich Küchel mit gierigem Interesse – im geheimen machte es ihm die größte Freude, Küchel wüten und rasen zu sehen – und sagte mit der teilnahmvollsten Stimme der Welt:

»Wilhelm, du hast noch nicht alles gelesen, da ist noch was.«

Wilhelm schlug die Zeitschrift auf. Die Ballade, an der er bald vierzehn Tage im geheimen arbeitete, stand fast vollständig abgedruckt da! Darunter in einer Schrift, die wie gestochen aussah, eine vernichtende Kritik jedes einzelnen Wortes.

Wilhelm sprang wütend vom Stuhl auf.

»Wer hat die Ballade von meinem Tisch gestohlen?« keuchte er. »Wer hat es gewagt, das Gedicht von meinem Tisch zu stehlen?«

Nur Komowski und Delwig wußten von der Ballade.

Der Fuchs zog die Schultern ein, sah aber Küchel frohlockend an:

»Ich glaube, Delwig,« sagte er mit einem Seufzer.

»Delwig?« Küchel rollte wild die Augen.

Das war der gemeinste Verrat! Wenn es Jakowlew, Broglio getan hätte, jeder andere, aber Delwig!

Ohne Komowski anzusehn und ohne auf ihn zu hören, raste Küchel in den Korridor. Er stürmte in Delwigs Zimmer. Der lag auf seinem Bett und starrte zur Decke hinauf. So pflegte er ganze Tage dazuliegen. Von seiner Faulheit erzählte man sich im Lyzeum wahre Märchen.

»Willi?«

»Ich muß mit dir sprechen.« Küchel erstickte fast.

»Was hast du?« fragte Delwig ruhig. »Bist du verliebt, Wilhelm, oder hast du ein neues Volkslied gedichtet?«

»Du wagst es noch, so mit mir zu sprechen?« sagte Küchel und trat wütend auf ihn zu.

»Warum denn nicht?« Delwig gähnte. »Hör mal,« sagte er und streckte sich. »Weißt du was? Mach heute keinen Besuch beim Direktor. Puschkin möchte mit uns spazieren gehn.«

Er sah Wilhelm an und stutzte plötzlich:

»Ja, was hast du denn, Willi? Hast du zu viel gegessen? Hast du Bauchschmerzen?«

Wilhelm zitterte:

»Du bist ein ehrloser Mensch, ein Schuft! Ich bin nicht mehr dein Freund. Wenn du nicht Delwig wärst, hätte ich dich verprügelt. Und ich werde dich auch noch verprügeln!«

»Ich versteh gar nicht,« sagte Delwig, starr vor Verwunderung.

»Du hast dich als mein Freund aufgespielt,« – Wilhelm schlug sich an die Brust – »um mir die Ballade zu stehlen und mich zu verhöhnen. Das ist eine Gemeinheit. Du bist ein Intrigant.«

»Du bist verrückt,« sagte Delwig ruhig und stand endlich vom Bett auf. »Ich seh nur eines: du hast den Verstand verloren. Drollig!«

Wenn ihn etwas besonders verletzte oder wenn er traurig wurde, pflegte er »drollig« zu sagen.

Ohne anzuklopfen, stürmte Puschkin ins Zimmer, Komowski mitziehend.

Er war wütend und lustig zugleich. Komowski suchte sich mit Händen und Füßen loszureißen.

»Der Petzer hat wieder mal an der Tür gelauscht,« sagte Puschkin und gab Komowski einen Klaps auf den Hinterkopf. »Wenn du jetzt gleich zum Gouverneur gehst, um zu petzen,« sagte er zu Komowski und lächelte mit den weißen Zähnen, »dann kriegst du zu Mittag vielleicht eine Doppelportion.«

Als er Wilhelm sah, der mit geballten Fäusten dastand, ging Puschkin auf ihn zu und stieß ihm zwischen die Rippen. Wilhelm brüllte auf wie ein Löwe.

»Oho!« lachte Puschkin.

Delwig versperrte plötzlich den Ausgang.

»Sag mal, Fuchs, komm her. Wer hat Wilhelm erzählt, ich hätte ihm die Ballade gestohlen?«

Komowskis Augen begannen hin und her zu laufen.

Puschkin wurde aufmerksam.

»Verstehst du,« sagte Delwig zu ihm, und seine Stimme zitterte, »der verrückte Mensch behauptet, ich hätte die Ballade für den ›Weisen‹ gestohlen und dazu unsere Freundschaft mißbraucht. Drollig!«

Puschkin wurde ernst.

»Wir wollen die Sache gleich untersuchen. Ich hol den Drucker her. Haltet den Kerl so lange fest!«

Der Drucker war D'Ansas. Er schrieb die ganze Zeitschrift ins Reine. Eine Minute später war Puschkin wieder zurück und hatte den kräftigen D'Ansas bei sich. Wilhelm stand da, ohne etwas zu begreifen.

»Hör mal, Affentiger,« sagte Komowski schmeichlerisch zu Puschkin. »Ich hab was zu erledigen. Ich komme gleich wieder.

Puschkin lachte kurz. Er hieß im Lyzeum »Franzose« und »Affentiger«. Der zweite Name war ehrenvoller.

»Nein, nein, die Sache muß jetzt gleich aufgeklärt werden! Nun, D'Ansas?«

D'Ansas sah allen Anwesenden in die Augen und erzählte, daß der Fuchs ihm vor drei Tagen Küchels Ballade übergeben habe.

Komowski zog den Kopf zwischen die Schultern.

Küchel stand ganz verwirrt da. Er vergaß, auf Komowski böse zu werden. Der schlich kleinlaut aus dem Zimmer.

Dann faßte Puschkin Küchel und Delwig um die Hüften, stieß sie aufeinander zu und sagte befehlend:

»Friede!«

 

II

Ach, dieser Friede war kurz. Dieser Tag war ein Unglückstag für Küchel.

Vor dem Mittagessen machte Jakowlew den »Paillasse«. Jakowlew war der Lieblingsclown im Lyzeum. Es gab ihrer mehrere, lebhafte, bewegliche Jungen, die Witze machten, Grimassen schnitten und die Lyzeumsnarren waren. Doch Mischa Jakowlew hatte die Narrheit zu einem hohen und raffinierten Beruf ausgebildet. Er war der »Clown der 200 Nummern«. Er konnte zweihundert verschiedene Menschen imitieren. Das war sein Stolz. Das war sein Amt im Lyzeum.

Schwarz, lebendig, beweglich, mit einem schlauen, spitzen Kinn, verwandelte er sich vor aller Augen, wenn er seine »Vorstellung« gab; bald wurde er größer, bald kleiner, bald dicker, bald dünner, und mit offenem Mund sahen die Lyzeisten bald Kunizyn, bald den Lyzeumsdiakon, bald Delwig vor sich. Er verstand es so gut, Blasmusik zu imitieren, daß der Gouverneur einmal eine hochnotpeinliche Untersuchung darüber anstellte, wer von den Lyzeisten Blasinstrumente in die Anstalt geschmuggelt habe. Ebensogut konnte er die Flöte imitieren.

Einmal spielte er mit den Lippen mehr als die Hälfte eines Nokturnos von Field. Er war ein guter Musiker. Im übrigen konnte er naturgetreu das Schweinegrunzen und den Schrei eines brünstigen Hahnes nachahmen. Heute war seine Benefizvorstellung. Er hatte eine neue Nummer vorbereitet. Alle drängten sich zu einem Haufen zusammen, und Jakowlew begann. Um in Stimmung zu kommen, wollte er zuerst einige seiner alten Nummern zum besten geben. Er stand da und sah die Anwesenden an. Er wartete auf Bestellungen.

»Jessakow!«

Jessakow war ein stiller Junge mit roten Wangen und von auffallendem Gang; er wackelte beim Gehen, und sein Kopf kam dabei in schüttelnde Bewegung …

Jakowlew schrumpfte zusammen, hüstelte, wurde kleiner, begann demütig mit dem Kopf zu wackeln, und nun bekamen alle den besonderen, linkisch schamhaften Gang zu sehen, wie ihn nur Jessakow hatte. Jessakow lächelte.

»Broglio!«

Diese Nummer war schnell gemacht. Jakowlew kniff schielend das rechte Auge zusammen, warf den Kopf zurück und spielte mit den Fingern am Knopfloch; er schien dort einen Orden zu suchen. (Broglio hatte vor kurzem irgendeinen französischen Orden bekommen; er war der Nachkomme eines Legitimisten.)

»Boudry!«

Jakowlew streckte den Bauch vor, blies die Backen auf, ließ sie schlaff herabhängen und begann, gleichmäßig den Kopf schüttelnd, leise zu heulen. David Iwanowitsch de Boudry, Lehrer der französischen Sprache und Liebhaber der Deklamation, stand leibhaftig vor den Lyzeisten.

»Den Popen! Den Popen!«

»Den Diakon mit den Trillern!«

Jakowlew streckte den Hals vor. Seine Augen wurden trüb und liefen dabei trotzdem diebisch hin und her. Dann zog er die Wangen ein, und ein Diakon, sehr ähnlich dem des Lyzeums, begann seine Triller:

»Herr, erbarme dich unser! Herr, erbarme dich unser …«

»Den Affen!«

Das war die leichteste Nummer für Jakowlew. Dem Affen kam sein Äußeres besonders nahe. Er setzte sich mit gespreizten Beinen auf den Fußboden und begann sich unmenschlich flink unter den Achselhöhlen zu kratzen. Dabei huschten seine Augen umher mit dem sinnlos ruhigen Ausdruck, wie er ihn bei dem Affen eines umherziehenden Italieners, der ins Lyzeum gekommen war, gesehen hatte.

Jetzt die neue Nummer!

»Die neue Nummer,« rief Jakowlew, »ist: Minchen und Küchel.«

Wilhelm war außer sich. Dieses Geheimnis, seinen alten Roman mit Minchen, hatte er nur Delwig anvertraut. Er sah Jakowlew an.

Jakowlew wurde größer. Der Hals streckte sich. Der Mund öffnete sich halb. Die Augen traten vor. Sein Kinn wackelte unruhig. Er machte zwei Schritte, schlug wie ein Pferd mit dem Bein aus und blieb stehen. Das war eine treffende und böse Kopie von Küchel. Die Lyzeisten kugelten sich vor Freude. Puschkin lachte ein abgebrochenes, bellendes Lachen. Delwig stöhnte vor Begeisterung mit dünner Stimme.

Jakowlew tat, als ob er sich auf eine Bank setze. Er machte ein herziges Mündchen, hob die Augen zum Himmel, neigte den Kopf zur Seite. Seine Finger spielten mit dem imaginären Zopf, der über die Brust herabhing. »Küchel« streckte den Hals wie eine Giraffe, spitzte die Lippen, rollte wild die Augen und schmatzte in die Luft, worauf er wieder mit dem Bein ausschlug und zur Seite zurückprallte, als hätte er sich verbrannt. »Minchen« streckte die Lippen gefühlvoll in die Luft, zuckte mit dem Köpfchen und bedeckte das Gesichtchen mit den Händen.

Jubelgeheul erschütterte den Raum. Wilhelm wurde puterrot und machte eine Bewegung auf Jakowlew zu. Doch darauf war man schon gefaßt. Man packte ihn schnell unter den Armen, stieß ihn in seine Kammer und sperrte die Tür zu. Er kreischte, drückte mit dem ganzen Körper gegen die Tür, schrie: »Schufte!« und warf sich dann zu Boden.

Hinter der Türe sang man zweistimmig:

Elend fühl ich mich und krank.
Was ich seh, ist mir ein Dreck.
Halt's nicht aus in meiner Bank.
Küchelbecker, er ist weg!
Küchelbecker, er ist weg!
Fahl dünkt mich der Sonnenschein.
Tische, Bänke, jeder Fleck
Kündet mir: Du bist allein.

Der wohlgeübte Chor fiel ein:

Ach, ich fühl mich gar nicht krank.
Herrlich find ich jeden Dreck.
Sitz vergnügt in meiner Bank.
Küchelbecker, er ist weg!

Küchelbecker, er ist weg!
Tische, Bänke, jeder Fleck
Ruft mir zu: Es ist famos,
Du bist Küchelbecker los!

Wilhelm weinte nicht. Er wußte, was er zu tun hatte.

 

III

Es läutet zum Mittagessen. Alles läuft in die zweite Etage, in den Speiseraum. Wilhelm wartet. Er guckt zur Tür hinaus und lauscht. Von unten kommt undeutliches Stimmengewirr. Jetzt nehmen sie die Plätze ein. Seine Abwesenheit hat niemand bemerkt. Er hat noch zwei, drei Minuten Zeit. Er rennt die Treppe hinunter, läuft am Speiseraum vorbei, und eine Sekunde später rast er durch den Garten. Aus dem Fenster des Speiseraums hat der Gouverneur ihn bemerkt. Wilhelm sieht sein verwundertes Gesicht. Er hat keine Zeit zu verlieren. Da ist schon »der Pilz«, die Laube, in der er noch gestern seine Verse geschrieben hat. Endlich! Wilhelm stürzt sich in den Teich. Dicker, schmutziger Schlamm klebt an seinem Gesicht. Das Wasser reicht ihm nur bis zum Hals. Der Teich ist nicht tief. Während des Sommers ist er noch flacher geworden. Aus dem Garten dringt das Geräusch hastiger Schritte, Rufe, Geschrei. Wilhelm taucht unter. Die Sonne, das Grün schließen sich über seinem Kopf. Er sieht regenbogenfarbene Kreise. Plötzlich ein Ruderschlag neben seinem Kopf, schreiende Stimmen. Das Letzte, was er sieht, sind die bunten Kreise, die sich schließen. Das Letzte, was er hört, ist ein verzweifelter Ruf; er erkennt die Stimme des Gouverneurs:

»Hier! Hier! Die Stange her!«

Wilhelm öffnet die Augen. Er liegt auf dem Rasen am Teich. Über ihn beugt sich ein altes, bebrilltes Gesicht. Wilhelm erkennt es. Es ist der Doktor Peschel. Der hält ihm irgendeinen stark riechenden Spiritus direkt ans Gesicht. Wilhelm zittert und versucht, etwas zu sagen.

»Schweigen Sie!« ruft der Doktor streng.

Doch Wilhelm hat sich schon aufgerichtet. Er sieht die erschrockenen Gesichter der Kameraden. Neben ihm steht Kunizyn zusammen mit dem Franzosen de Boudry. Kunizyn spricht halblaut mit Boudry, und dieser schüttelt mißbilligend den Kopf. Engelhardt, der Direktor, hat sich verzweifelt die Hände auf den Bauch gelegt und sieht Küchel an mit stierem Blick.

Küchel wird ins Lyzeum geführt und im Krankenzimmer hingelegt.

Nachts schleichen Puschkin, Puschtschin und Jessakow in sein Zimmer.

Jessakow, verlegen, rotwangig, lächelt wie immer. Puschkin ist düster und unruhig.

»Wilhelm, was hast du angestellt?« fragt Jessakow leise. »Das geht doch nicht, Bruder!«

Wilhelm schweigt.

»Überleg dir nur,« sagt Puschtschin vernünftig, »wenn jeder wegen eines Scherzes von Jakowlew ins Wasser geht, dann reicht der Teich gar nicht!«

Wilhelm schweigt.

Puschkin nimmt plötzlich Wilhelms Hand und drückt sie unsicher.

Da springt Wilhelm vom Bett auf, umarmt ihn und murmelt:

»Ich konnte nicht, Puschkin, ich konnte nicht mehr!«

»Ausgezeichnet,« sagt Jessakow ruhig und sicher. »Genug jetzt! Im Grunde lieben sie dich doch alle. Und wenn sie lachen, laß sie doch lachen.«

 

IV

Sonst ging das Leben im Lyzeum den gewohnten Gang.

Kränkungen wurden vergessen. Die Lyzeisten wurden älter. Nach der Geschichte mit dem Teich wurde Küchel nur noch von Illitschewski so verhöhnt wie früher. Küchel fand sogar Verehrer: Modja Korff, ein ordentlicher, hübscher deutscher Junge, behauptete, daß Küchels Gedichte, wenn sie auch sonderbar wären, doch ihre Vorzüge hätten und nicht schlechter wären als die von Delwig.

Küchel lernte gut. Etwas Neues kam in sein Wesen: Er wurde ehrgeizig. Beim Einschlafen sah er sich in der Phantasie als großen Mann. Er hielt Reden vor einer Volksmenge, die hingerissen von Begeisterung schrie. Manchmal war er ein großer Dichter. Derschawin küßte ihn aufs Haupt und sagte, zur Menge – oder waren es die Lyzeisten? – gewandt, daß er ihm, Wilhelm Küchelbecker, seine Leier übergebe.

Küchel hatte einen harten Schädel. Wenn er irgendeiner Sache sicher war, dann konnte ihn niemand davon abbringen. Der Mathematiker Karzow schrieb in sein Notenbuch, daß Küchel »gründlich« sei, aber »wegen seiner Selbstsicherheit sich des öfteren irre«. Nur drei Lehrer verstanden ihn: der französische Lehrer, David Iwanowitsch Boudry, der Professor der Moralwissenschaften, Kunizyn, und der Direktor Engelhardt.

Kunizyn bemerkte, wie blaß Küchel in seinen Stunden wurde, wenn er von den beiden Gracchen oder von Thrasybuls Kampf um die Freiheit sprach. Trotz seiner Zügellosigkeit hatte dieser Junge einen klaren Kopf, und seine Hartnäckigkeit gefiel Kunizyn sogar.

Direktor Engelhardt, Jegor Antonowitsch, war ein ordentlicher Mensch; wenn er von »unserem lieben Lyzeum« sprach, bekam sein Gesicht einen fast frommen Ausdruck. Er konnte alles verstehen und erklären, und wenn er irgendeiner unorganisierten Erscheinung begegnete, laborierte er lange an ihr, um sie zu »bestimmen«; gelang ihm dies, bekam der betreffende Mensch irgendeine Etikette, dann beruhigte er sich. Alles war in Ordnung, in bester Ordnung: die ganze Welt war wohlgeordnet. Ungetrübte Gutmütigkeit war die Grundlage der ganzen Welt. Puschkin haßte Engelhardt. Er wußte selber nicht, warum. Wenn er mit ihm sprach, senkte er die Augen. Er lachte brutal, wenn Engelhardt Unannehmlichkeiten hatte. Dieser unorganisierten Erscheinung stand Engelhardt fassungslos gegenüber. Auch er haßte Puschkin in seinem tiefsten Inneren. Ja noch mehr, er fürchtete ihn. Das Herz dieses jungen Mannes war leer; kein Funke von echter Güte ließ sich an ihm bemerken; windige Zerfahrenheit und irgendwelche Klänge im Kopf; dabei dieser Mangel an Eifer, dieser Leichtsinn und leider auch diese Sittenlosigkeit. Für diesen Zögling konnte Jegor Antonowitsch in keinem Fall einstehn; für ihn konnte er keine bestimmte Etikette finden. Doch Küchel, den unorganisierten Küchel, der auch allerlei extremen Neigungen und allerlei leichtsinnigen Anwandlungen zugänglich war, den verstand Jegor Antonowitsch. Ja, ja, Jegor Antonowitsch verstand diesen tollen jungen Mann aus guter deutscher Familie. Das war ein Don-Quijote, ein ungezügelter Mensch, doch ein echter, gutmütiger Kopf. Jegor Antonowitsch wußte genau, daß Küchel ein unorganisierter Kopf war, der im Leben viele Unannehmlichkeiten haben würde, aber es war ein gutmütiger Kopf. Und das genügte ihm. Küchel gefährdete nicht die Güte, die der ganzen Welt zugrunde lag. Vor Puschkin fürchtete sich Engelhardt, denn er verstand ihn nicht; Küchelbecker liebte er, denn er verstand ihn, obwohl beide unorganisierte Geschöpfe waren.

David Iwanowitsch de Boudry war ein kleiner, dicker Greis mit einer fettigen, leicht gepuderten Perücke und scharfen, schwarzen Augen, streng, manchmal sogar grundlos streng. Flink und munter warf er seine Worte hin und machte giftige Witze, über die die ganze Klasse lachte. Doch sein höchster Genuß war, Verse vorzutragen. Wenn er mit halb geschlossenen Augen und in singendem Tonfall den Cid vortrug, saßen die Lyzeisten wie festgenagelt auf ihren Plätzen, was sie aber später nicht hinderte, laut zu lachen, wenn Jakowlew ihn imitierte. Küchel brachte ihm ganz besondere Gefühle entgegen. Kunizyn hatte ihm als großes Geheimnis anvertraut, daß David Iwanowitsch ein leiblicher Bruder Marats sei; man habe ihn nur gezwungen, seinen Namen zu ändern. Der kleine Alte erinnerte mit keinem Zug an den furchtbaren, für Küchel aber faszinierenden Marat, dessen Bild er in einem Buch gesehen hatte.

Eines Tages faßte er Mut und trat vorsichtig an David Iwanowitsch heran:

»David Iwanowitsch,« sagte er leise, »bitte, erzählen Sie mir etwas von Ihrem Bruder!«

De Boudry wandte sich um und sah ihn durchdringend an:

»Mein Bruder,« sagte er ruhig, »war ein großer Mann und außerdem ein ausgezeichneter Arzt.« – Boudry wurde nachdenklich und lächelte: »Einmal, um mich vor den Zerstreuungen der Jugend zu bewahren – Sie verstehen? – führte er mich in ein Hospital und zeigte mir dort die Geschwüre der Menschheit.« Er bewegte die Lippen und machte ein strenges Gesicht. »Man schreibt über meinen Bruder sehr viel Falsches,« fügte er schnell hinzu, ohne Wilhelm anzusehn. Dann warf er einen Blick auf ihn und sagte unerwartet:

»Sie sehnen sich nach Ruhm, mein Freund. Sie sind ehrgeizig. Das wird Ihnen nichts Gutes bringen im Leben.«

 

V

Bald bot sich für Wilhelms Ehrgeiz eine günstige Gelegenheit. Es war im Dezember 1814. Die Versetzungsprüfungen standen bevor. Das war im Lyzeum stets ein großes Ereignis. Hochgestellte Persönlichkeiten kamen aus der Stadt. Die Lyzeumsleitung wurde regelmäßig vor den Prüfungen von einem ehrgeizigen Fieber erfaßt, mit der Anstalt so viel wie möglich zu glänzen. Dieses Mal verbreitete sich im Lyzeum die Nachricht, daß Derschawin in eigener Person kommen werde.

Die Nachricht bestätigte sich bald. Galitsch, der Lehrer des Russischen, ein gutmütiger Trunkenbold, erklärte während einer Stunde höchst feierlich:

»Meine Herren, ich gebe Ihnen bekannt: bei der Versetzungsprüfung wird unser berühmter Lyriker, Gawriil Romanowitsch Derschawin, anwesend sein.«

Er hüstelte und sah dabei besonders ausdrucksvoll zu Puschkin hinüber:

»Ihnen, Puschkin, rate ich, diese Gelegenheit wahrzunehmen und Derschawin mit einem dichterischen Geschenk zu empfangen.«

Puschkin schwatzte gerade mit Jakowlew. Als er Galitschs Worte hörte, erblaßte er und biß sich auf die Lippe.

Küchel dagegen wurde ganz rot.

Nach der Stunde war Puschkin finster und wortkarg. Wenn man ihn irgend etwas fragte, antwortete er widerwillig, fast grob. Küchel faßte ihn geheimnisvoll unter.

»Puschkin, was hältst du davon, wenn auch ich Derschawin ein Gedicht verehre?«

Puschkin wurde rot und entriß ihm seine Hand. Seine Augen wurden plötzlich blutunterlaufen. Er antwortete nicht. Wilhelm stand da mit offenem Mund und ging dann in sein Zimmer. Am nächsten Tag wußten alle, daß Puschkin ein Gedicht für Derschawin verfaßte. An Wilhelm dachte niemand.

Der Tag der Prüfung kam. Puschkin war schon am frühen Morgen schweigsam und grob. Er bewegte sich faul wie im Halbschlaf, merkte nicht, was um ihn geschah, und stieß rechts und links an die Gegenstände. Träge ging er mit den anderen zusammen in den Prüfungssaal. In den Sesseln saßen Uniformen, schwarze Fräcke. Der Vatermörder Wassilij Lwowitsch Puschkins fiel durch seine Weiße und Üppigkeit auf; der »Geck« besuchte regelmäßig alle Prüfungen und interessierte sich für Sascha mehr als sein Bruder Sergej Lwowitsch.

Delwig stand auf der Treppe und erwartete Derschawin. Er hätte schon längst oben sein müssen, aber er stand da und wartete. Der Dichter der »Ode auf Meschtscherskis Tod«! Einmal ihn sehen, ihm die Hand küssen!

Die Tür ging auf. Am Eingang erschien ein hoher, gebeugter Greis, der sich fröstelnd in den weiten Pelzmantel hüllte. Er sah sich um. Das Gesicht war blau vor Kälte. Die Augen farblos hell, trüb, als sähen sie nichts. Die Gesichtszüge grob. Die Lippen zitterten. Er war alt.

Der Schweizer stürzte Derschawin entgegen. Mit stockendem Herzen wartete Delwig, bis er die Treppe heraufkäme. Die Begegnung machte ihm sonderbarerweise keine Freude. Er fürchtete sich geradezu vor ihm. Aber dennoch wollte er die Hand küssen, welche die »Ode auf Meschtscherskis Tod« geschrieben hatte.

Derschawin warf seinen Mantel dem Schweizer zu. Er hatte eine Uniform und hohe, warme Plüschstiefel an. Er wandte sich an den Schweizer, den er mit demselben leeren Ausdruck der Augen betrachtete und fragte:

»Brüderchen, wo ist hier der Abort?«

Delwig war wie vom Blitz getroffen. Schon erschollen Schritte auf der Treppe. Der Direktor eilte herbei, um Derschawin zu empfangen. Delwig ging leise die Treppe hinauf und trat in den Saal.

Man setzte Derschawin an den Tisch. Die Prüfung begann. Kunizyn examinierte in Moralwissenschaften. Derschawin hörte nicht zu. Sein Kopf zitterte. Die trüben Augen starrten die Sesselreihen an. Der Vatermörder Wassilij Lwowitschs fesselte besonders seine Aufmerksamkeit. Wassilij Lwowitsch begann im Sessel hin und her zu rücken und verneigte sich tief vor dem Dichter. Derschawin merkte es gar nicht. Halb schlafend und den Oberkörper wiegend, den Kopf in die Hand gestützt, losgelöst von allem, saß er da und betrachtete zerstreut den weißen Vatermörder. Seine Lippen hingen herab. Mit unbegreiflichem Schaudern betrachtete Küchel den Dichter. Dieses furchtbare, greisenhafte Gesicht mit der blauroten Nase erinnerte ihn, er wußte nicht, weshalb, an den verschlammten Teich, in dem er sich hatte ertränken wollen. Die Prüfung im Russischen begann.

Galitsch sagte stockend:

»Jakowlew, tragen Sie die ›Ode auf den Tod des Fürsten Meschtscherski‹ vor, das Werk von Gawriil Romanowitsch Derschawin!«

Derschawin nahm die Hand vom Tisch. Seine Lippen schlössen sich. Seine farblosen Augen starrten den Lyzeisten an.

Jakowlew las gut. De Boudrys Stunden waren nicht nutzlos für ihn gewesen. Er las ein wenig getragen, ohne den Sinn zu beachten. Die klangvollen Reime aber hob er hervor:

Stimme der Zeit, Klang des Metalls,
Wie furchtgebietend ist dein Ruf!

Derschawin schloß die Augen und lauschte:

Heut oder morgen müssen wir sterben,
Perfiljew mein, auf jeden Fall.

Derschawin hob den Kopf und nickte leicht, halb zustimmend, halb sich selber auf irgendeine Erinnerung Antwort gebend.

Küchelbecker trat an den Tisch, mehr tot als lebendig.

»Was wissen Sie über das Wesen der Odendichtung?«

Wilhelm antwortete nach dem Lehrbuch von Koschanski. Derschawin unterbrach ihn mit einer Handbewegung.

»Sagen Sie,« fragte er mit zitternder Stimme, »was ist für die Ode wichtiger, dichterische Begeisterung oder Glätte des Versbaus?«

»Die Begeisterung,« sagte Wilhelm enthusiastisch, »die dichterische Begeisterung, die die Mängel und Schwächen des Verses verschwinden und die Seele dem Hohen entgegenschwingen läßt.«

Zufrieden sah ihn Derschawin an.

»Verzeihen Sie,« sagte Wilhelm mit ganz fremder Stimme, »erlauben Sie mir, ein Gawriil Romanowitsch gewidmetes Gedicht vorzutragen.«

Galitsch wurde verlegen. Küchelbecker hatte ihm vorher nichts davon gesagt. Das konnte gefährlich werden. Wer weiß, was der zusammengedichtet hatte.

»Die erste Strophe, wenn Gawriil Romanowitsch es erlaubt.«

Derschawin machte mit der Hand eine überraschend vornehme, breite Geste. Wilhelm las, und seine Stimme bebte:

Die Himmelskuppel donnernd gellt.
Aus Wolken, zackig, bricht ein Feuer.
Der Sturm braust auf, der Kahn zerschellt.
  Das Meer springt hoch, ein rasend Ungeheuer,
  Und spuckt aus wildem Gischt und Schaum
  Den Schiffer an ein fremdes Ufer.

Durch schwarzes Dunkel ohne Sterne
Irrt er verloren wie im Traum
Und ruft um Hilfe wie ein Kind
  Und lauscht und schaudert: In der Ferne
  Der Löwe heult und stöhnt der Wind.

Er war fertig und sah verloren vor sich hin.

»Hat Klang. Bewegung,« sagte Derschawin. »Könnte etwas mehr Feuer haben. Man sieht, Sie haben Derschawin gelesen,« fügte er hinzu und lächelte blaß.

Jetzt lächelte auch Galitsch. Er sah, daß alles gut abgelaufen war.

Gesenkten Kopfes kehrte Küchel auf seinen Platz zurück.

»Puschkin.«

Bleich und entschlossen ging Puschkin zum Tisch.

Galisch wußte von Puschkins Gedicht auf Derschawin. Das ganze Lyzeum konnte es bereits auswendig.

Gleich bei der ersten Zeile kam Derschawin in Aufregung. Er verschlang den Jungen mit den Augen, in deren Farblosigkeit unter den zusammengezogenen Augenbrauen dunkle Funken aufblitzten. Seine großen Nüstern blähten sich. Die Lippen bewegten sich sichtbar, als sprächen sie die Reime nach. Im Saal herrschte Stille. Puschkin hörte selbst seine weittragende, angestrengte Stimme und gehorchte ihr. Er verstand gar nicht die Worte, die er las; nur der Laut seiner Stimme leitete ihn:

Derschawin und Petrow entlockten ihrer Leier
Zum Ruhm der Helden tönende Gesänge.

Die Stimme klang wie eine gespannte Saite. Jeden Augenblick konnte sie reißen.

Derschawin hatte sich in den Sessel zurückgelehnt und die Augen geschlossen. So hörte er zu bis zum Schluß. Stille. Puschkin wandte sich um und rannte davon.

Hastig stand Derschawin auf und verließ den Tisch. Tränen standen ihm in den Augen. Er suchte Puschkin.

Puschkin stürmte die Treppe hinauf. In seinem Zimmer warf er sich weinend und lachend aufs Bett. Einige Minuten später kam Wilhelm hereingerannt. Er war blaß wie die Wand. Er stürzte auf Puschkin zu, umarmte ihn, drückte ihn an seine Brust und murmelte:

»Alexander! Alexander! Ich bin stolz auf dich. Ich beglückwünsche dich. Dir übergibt Derschawin seine Leier.«

 

VI

Aljoscha Illitschewski, mit dem Lyzeumsnamen Olossinjka, war ein kluger Junge; er lernte gut, pflegte mit niemandem besondere Freundschaft und hatte es faustdick hinter den Ohren. Im Lyzeum galt er als großer Dichter. Tatsächlich »beherrschte er den Vers gut«, wenigstens nach Ansicht Koschanskis, des Lehrers für Rhetorik. Seine Verse waren glatt, stießen nirgends an. Die Schrift war klein, schräg, schön geschnörkelt. Er schrieb Fabeln; diese Art Poesie schien ihm die vernünftigste. Illitschewskis Fabeln waren sehr lehrreich. Er hatte sich auch ein recht giftiges Pseudonym beigelegt: die Superlativendung: …ster. Über Küchel machte er sich lustig. Delwig protegierte er. Puschkin betrachtete er als seinesgleichen, beneidete ihn aber insgeheim. Er war vorsichtig, berechnend, ließ sich nie in kameradschaftliche Verschwörungen ein. Kurz, Ollossinjka war Primus. Als Küchel sich im Teich hatte ertränken wollen, zeichnete Ollossinjka eine treffliche Karikatur für den »Lyzeumsweisen«. Da sah man, wie Küchel hintenüberhängenden Kopfes (Küchels Nase war riesengroß auf dem Bild) mit einer Stange aus dem Wasser gezogen wird. Küchel hatte die Karikatur gesehen, sich aber merkwürdigerweise nicht darüber geärgert: Illitschewski war ihm zu abstoßend; sein feines, blasses Gesicht erinnerte ihn an einen Toten.

Illitschewski wußte das und konnte deshalb Küchel nicht leiden. Er machte auf ihn ein ziemlich böses Epigramm, das er nicht ohne anmutige Tücke »Widerlegung« betitelte:

Genug mit euren ewigen Beschwerden,
Es gäbe nichts Vollkommenes auf Erden!
  Schluß, Philosophen ihr, mit eurer List!
Erscheine, Willichen, und zeige ihnen dreist,
Daß du sowohl an Körper wie an Geist
  Ein ganz vollkommener Krüppel bist!

Seltsamerweise zog jedoch der »vollkommene Krüppel« mit seinen krüppelhaften Gedichten Puschkin und Delwig mehr an als der glatte Olossinjka mit all seiner Anmut. Eines Tages konnte der Krüppel einen Sieg über ihn feiern. Mit Schaum vor dem Munde fiel er über Illitschewski her:

»Ich kann mir einen Lehrer für Schönschreiben nehmen,« schrie er und rückte Illitschewski immer näher auf den Leib, »dann kann ich in drei Stunden so schreiben wie du.«

»Ich bezweifle das,« sagte Olossinjka mit schiefem Lächeln.

»Du irrst dich niemals. Du bist ohne Makel. Du schreibst ohne Fehler. Ist das so was Großes? Ist das denn nach Batjuschkow so schwer, sauber zu schreiben?«

»Du bist doch selber ein Beweis dafür, daß es schwer ist,« stichelte Olossinjka und sah sich um, als wolle er die anderen einladen, mitzulachen.

Aber niemand lachte.

»Tausendmal besser ist es, mangelhaft zu schreiben, als so ein lauwarmes Zeug von sich zu geben wie das deinige,« schrie Küchel. »Ich schäme mich meiner Mängel nicht. Zum Teufel mit dieser leichenhaften Regelmäßigkeit! – Puschkin,« ganz unerwartet und herausfordernd wandte er sich an diesen, »wenn du Illitschewskis Weg einschlägst, dann sag ich mich los von dir!«

Alle sahen Puschkin an.

Der stand ernst und düster da.

»Beruhige dich, Willichen,« sagte er, »warum tobst du denn? Jeder geht seinen Weg. Ich meinen, du deinen und Alexej Damianowitsch,« dabei sah er mit zusammengezogenen Augenbrauen Illitschewski an, »seinen besonderen Weg.«

Illitschewski wurde ganz grün und verließ die Gesellschaft, ohne ein Wort zu sagen.

»Beleidigt?« rief ihm Küchel nach und atmete schwer. »Soll er beleidigt sein. Ich kann nicht anders.«

 

VII

Immer mehr machte sich ein neuer Geist im Lyzeum bemerkbar. Sei es, weil die Lyzeisten älter wurden, sei es, weil ringsum sich etwas änderte: Der freiheitliche Geist zog ins Lyzeum ein.

Abends sprach man davon, wer wohl jetzt Rußland regiere: Der Zar, Araktschejew oder die Geliebte Araktschejews, seine Leibeigene Nastaßja Minkina? Die Epigramme, die die Lyzeisten machten, galten nicht mehr bloß Willi und dem Lyzeumskoch.

Vom Kriege 1812 war das einzige, woran die Lyzeisten sich hinterdrein erinnerten: Wie bärtige und düstere Soldaten Zarskoje Selo passierten und müde auf die Zurufe der Schüler antworteten. Seitdem war alles anders geworden. Bald betete der Zar und ließ sich von der Krüdener, von der die Damen sich flüsternd allerlei Geschichten erzählten, die Karten legen, bald exerzierte er zusammen mit Araktschejew, von dem die Männer nur mit Furcht sprachen, Soldaten ein. Was besser, was schlimmer war, wußte niemand. Es begann ein dumpfer Kampf, eine Jagd nach Posten, Geld und Einfluß; überall wiederholte man Araktschejews Worte, die er am hellichten Tag, vor versammeltem Publikum zu General Jermolow gesagt hatte, den er fürchtete und haßte: »Sie, Alexej Petrowitsch, und ich, wir werden uns gegenseitig die Gurgel nicht abschneiden

Das zog in Wellen und Kreisen durch das ganze Land, und diese Wellen erreichten auch das Lyzeum.

Das Lyzeum war eine bevorzugte Anstalt; ganz von selbst kam es, daß dort weder gepeitscht noch exerziert wurde.

»Les Lycenciés sont lys en cieux,« meinte Michail. Der Witz war nicht von ihm.

Doch bald bekam man im Lyzeum am eigenen Leib zu spüren, was alle Welt spürte.

Eines Tages ließ der Zar Engelhardt zu sich rufen und fragte ihn nicht ungnädig:

»Haben Sie unter den Lyzeisten welche, die zum Militär wollen?«

Engelhardt überlegte. Kaum. Eigentlich gar nicht. Doch die Antwort war nicht leicht. Man konnte dem Zaren, der sich von morgens bis abends mit Regimentsexerzieren und tiefgründigen Überlegungen über diese oder jene Änderung der Uniform abgab, nicht einfach und geradeheraus antworten.

Engelhardt zog nachdenklich die Stirn in Falten und sagte:

»Majestät, etwa zehn werden diese Absicht haben.«

Der Zar nickte würdevoll.

»Ausgezeichnet. Sie sollen also den Kommiß kennen lernen.«

Engelhardt erstarrte. Kommiß … Kaserne … Araktschejew … Unser Lyzeum ist verloren, schoß es ihm durch den Kopf. Schluß mit unserem lieben, guten Lyzeum. Er verneigte sich stumm und ging hinaus.

In der Lehrerkonferenz, von der die Lyzeisten wußten, weshalb sie tagelang auf den Zehenspitzen schlichen, gab es eine lange Beratung.

De Boudry kniff die Augen zusammen:

»Also – also die Anstalt wird militarisiert?«

Blaß und entschlossen sagte Kunizyn:

»Wenn Exerzieren und Drill eingeführt wird, dann bedanke ich mich und geh.«

Engelhardt beschloß, durch einen Scherz die Lage zu retten. Manchmal glückte das. Seit Paul I., der ein witziges Wort mit Ämtern belohnte, waren bei Hofe Witze geschätzt. Der Großfürst Michail gab sich die größte Mühe, als Witzbold zu gelten. Engelhardt ging zum Zaren und sagte:

»Majestät, erlauben Sie mir, das Lyzeum zu verlassen, wenn dort Gewehre eingeführt werden.«

Der Zar machte ein strenges Gesicht:

»Warum?«

»Weil ich, Majestät, niemals eine andere Waffe getragen habe als die, die jetzt in meiner Tasche ist.«

»Was ist das für eine Waffe?« fragte der Zar.

Engelhardt zog ein Gartenmesser hervor und zeigte es dem Zaren.

Der Witz wirkte nicht. Der Zar hatte sich schon ganz in die Vorstellung eingelebt, wie er von seinem Zimmer aus dem Lyzeumsdrill zusehen werde. Das war für ihn eine kleine Erholung, ein sommerlicher Zeitvertreib. Das Soldatenspiel zog ihn an, wie seinerzeit die Spielzeugsoldaten seinen Großvater Peter III. Die Verhandlung dauerte lange. Endlich erklärte sich der Zar mit saurem Lächeln bereit, im Lyzeum eine fakultative Klasse für Militärwissenschaften einzurichten.

Im Sommer ließ der Zar Engelhardt kommen und teilte ihm trocken mit, daß von nun an die Lyzeisten bei der Zarin Elisabeth Alexejewna Pagendienste zu leisten hätten. (Elisabeth Alexejewna lebte damals in Zarskoje Selo.)

Engelhardt schwieg.

»Dieser Dienst,« meinte Alexander, ohne ihn anzusehn, »wird eine gute Schule für ungezwungenen Verkehr sein.«

Da er fühlte, daß das etwas ungeschickt ausgedrückt war, fügte er hastig und ärgerlich hinzu:

»Überhaupt wird es für die jungen Leute nützlich sein.«

Die Nachricht rief im Lyzeum Aufregung hervor. Die Lyzeisten spalteten sich in zwei Lager. Sascha Gortschakow, der Fürst, ein kurzsichtiger, rotwangiger Junge mit hüpfendem Gang und jener besonderen Zerstreutheit und Lässigkeit in den Bewegungen, die er für das unumgängliche Attribut jedes Aristokraten hielt, war begeistert.

»Das ist ein guter Gedanke,« sagte er herablassend, als wolle er den Zaren oder Engelhardt loben.

Korff, der hübsche deutsche Junge, der sich Gortschakow zum Vorbild genommen hatte, und der Fuchs Komowski erklärten entschieden, die neue Aufgabe gefalle ihnen.

»Ich habe nie Lakaiendienste getan und werde niemals welche tun,« sagte Puschtschin ruhig, obwohl sein Gesicht flammte.

»Es handelt sich nicht um Lakaien, sondern um Kammerpagen,« erwiderte Korff trocken.

»Ein Kammerpage ist ein Zarenlakai,« sagte Puschtschin.

»Nur ein Schuft kann Lakai des Zaren werden,« platzte Küchel heraus und wurde glühend rot.

Da brüllte Korff:

»Wer nicht will, braucht nicht mitzumachen, braucht aber auch nicht mit gemeinen Redensarten um sich zu werfen.«

»Geh, geh nur, Korff,« lächelte Jessakow, »dort bekommst du doppelte Portionen.« (Korff war sehr verfressen.)

»Wenn man uns gewandte Manieren beibringen will,« erklärte Puschkin, »dann soll man uns lieber mit Pferden umgehn lassen. Reiten wirkt viel besser als jeder Pagendienst.«

Gortschakow hielt es für überflüssig, sich in den Streit einzumischen. Mochte Korff zanken, so viel er wollte. Ihm kam das alles nur lächerlich vor, ridicule. Er warf kurzsichtige Blicke auf die streitenden Kameraden und lächelte überlegen.

Beide Parteien begaben sich zu Engelhardt.

Als dieser sah, daß es im Lyzeum Zwiespalt gab, ging er zum Zaren, um wieder mit ihm zu verhandeln. Der Zar war diesmal zerstreut und hörte kaum zu.

»Majestät,« sagte Engelhardt, »nach unserer alleruntertänigsten Ansicht wird der Hofdienst die Lyzeisten vom Unterricht ablenken.«

Ohne zuzuhören, sah der Zar ihn an und nickte nur mit dem Kopf. Engelhardt wartete eine Zeitlang, verneigte sich und verließ das Zimmer.

Die Lyzeisten wurden vergessen. Man ließ sie in Ruhe.

Aber Jakowlew, der Clown, stellte nicht mehr bloß den Diakon mit den Trillern dar. Eines Tages zeigte er ein »rätselhaftes Bild«. Er kämmte die Haare an den Schläfen hoch, spreizte die Beine, ließ seine Uniform irgendwie besonders sackig sitzen, warf einen verschleierten Blick auf die Lyzeisten, und alles war starr: Alexander I. stand vor ihnen wie eine Strohpuppe.

Ein anderes Mal stellte er mit Hilfe eines Nachtgeschirrs ein ziemlich anstößiges Bild: Modest Korff bedient die Kaiserin. Im Lyzeum gab es einen Instruktor Sernow mit den Vornamen Alexander Pawlowitsch. Eigentlich war er, nach der Lyzeumsrangliste, kein Instruktor, sondern »Gehilfe des Gouverneurs«, ein ausnehmend häßlicher Mann, lahm, mit rotem Gesicht, roten Borsten auf dem Kinn und gebrochener Nase. Im Lyzeum zirkulierte das Epigramm:

An die zwei Alexander Pawlowitsche.

Die Ähnlichkeit, sie ist kein Schein!
Schaut nur: Der Zar und dieser Tropf!
Sernow, der hat ein lahmes Bein,
Der Zar hat einen lahmen Kopf.

Wie schließe bloß ich den Vergleich,
Damit er boshaft bleibt und spitz?
Sernow brach sich im Küchenreich
Die Nas', der Zar bei Austerlitz.

Bald gab es im Lyzeum zwei politische Ereignisse: das eine mit Wilhelm, das andere mit einem jungen Bären.

 

VIII

Der junge Bär war schon ziemlich ausgewachsen. Er sah klug aus, hatte eine schwarze Schnauze und lebte im Wachthäuschen auf dem Lyzeumshof. Er gehörte dem General Sacharschewski, der die Paläste von Zarskoje Selo und die Palastgärten verwaltete. Die Lyzeisten konnten jeden Morgen beobachten, wie der General, bevor er seinen Rundgang antrat, den Kopf des jungen Bären kraute, und wie dieser an der Kette zerrte, um sich zu befreien und dem Mann zu folgen. Puschkin hatte das Tier besonders gern und kam oft, um es zu liebkosen. Der Bär reichte ihm die dicke Pfote, sah ihm mit klugem Blick gerade ins Gesicht und bettelte um Zucker. Aber eines schönen Tages ereignete sich in Gegenwart aller Lyzeisten etwas, was den jungen Bären in die politische Geschichte des Lyzeums brachte.

Er lief davon.

Als General Sacharschewski am Bärenhäuschen vorbeiging, stellte er entsetzt fest, daß es leer war. Der Bär hatte die Kette zerrissen. Man begann zu suchen. Alles umsonst. Man fand ihn weder im Hof noch im Garten. Der General wurde ganz kopflos: zwei Schritte weiter lag der Palastgarten, und wenn … allzu deutlich konnte er sich nicht vorstellen, was dann geschehen würde, aber er regte sich auf.

Tatsächlich war Grund genug zur Aufregung.

Der Zar promenierte im Garten. Den Uniformrock aufgeknöpft, eine Hand im Westenausschnitt, ging er langsam durch den Garten; die Lyzeisten wußten, wohin; er wollte die »liebe Veillot« besuchen, die junge Baronesse, mit der er regelmäßige Rendezvous im Alexandergarten des Babolowski-Palastes hatte. Es war gegen Abend. Regimentsmusik spielte vor der Hofhauptwache. Die Lyzeisten standen im Palastkorridor und hörten zu. Plötzlich blieb der Zar stehen. Der krause Charlot, der stets mit ihm spazieren ging, begann verzweifelt, durchdringend zu bellen. Etwas Struppiges sprang auf den Gartenweg. Der Zar prallte zurück und schrie auf vor Überraschung. Vor ihm stand ein junger Bär. Das Tier stellte sich auf die Hinterbeine. Winselnd sprang Charlot darauf zu und wich wieder zurück. Ohne ein Wort zu sagen, machte der Zar kehrt und trabte mit kleinen Schritten zum Palast zurück. Der Bär watschelte gemächlich hinterdrein. Die Lyzeisten beobachteten die Szene mit offenem Munde. Jakowlew ließ sich vor Begeisterung auf den Boden fallen. Das Bild des stumm auf dem Gartenweg dahintrabenden Zaren nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Während er den Zaren beobachtete, riß er den Mund auf und wiegte den Oberkörper automatisch hin und her. Der Zar verschwand. Plötzlich kamen lärmend und schreiend die Wächter von allen Seiten gelaufen; es waren Unteroffiziere; ihnen voran mit einer Pistole in der Hand der entsetzte General.

Ein Schuß – der junge Bär brüllte dumpf auf und lag ausgestreckt auf dem Boden.

Puschkin wandte sich zu den Kameraden:

»Ein einziger fand sich, aber der war ein Bär.«

Abends gab Jakowlew im Lyzeum dramatische Bilder zum besten: »Der verbrecherische Anschlag auf das Leben Seiner Majestät«. Er mimte den Bären auf den Hinterpfoten, den Zaren, wie er auf dem Gartenweg dahin trabte, und den rettenden General.

Das war das politische Ereignis mit dem jungen Bären. –

Das Ereignis, dessen Held Wilhelm wurde, war in gewisser Hinsicht ähnlicher Art.

Eines Tages ging Wilhelm im Garten spazieren; er dachte an Pawlowsk, an Ustinjka, an die Augen seiner Mutter, an ihre kleinen, mageren Hände, und er sehnte sich nach Hause. Ihm entgegen kam ein junger Offizier in elegantem Rock.

»Onkel Pawel Petrowitsch, Onkel Paul,« rief Wilhelm, der den Cousin seiner Mutter, Albrecht, zu erkennen glaubte, denselben, der am Familienrat teilgenommen hatte, damals, als Willis Eintritt ins Lyzeum beschlossen wurde. »Teurer Onkel, welche Überraschung, Sie hier zu treffen!«

Er umarmte ihn.

Der Offizier schob ihn kalt zur Seite. In seiner Aufregung merkte Willi es nicht.

»Sind Sie lange hier?«

»Nnn–ja,« brummte der Offizier.

»Waren Sie schon lange nicht mehr in Pawlowsk?«

»Nnn–ja,« brummte der Offizier wieder mit zusammengebissenen Zähnen.

»Haben Sie meine Mutter inzwischen wieder gesehen?«

»Nein,« sagte der Offizier und betrachtete Wilhelm wütend.

Onkel Pawel Petrowitsch ließ sich kaum zu einer Antwort herab. Wilhelm war beleidigt. Er verbeugte sich gezwungen und voller Würde. Der Offizier nickte kurz, sah dem weggehenden Küchel nach, zuckte die Achseln und ging seiner Wege.

»Was ist denn mit dir los, Wilhelm?« fragte Puschkin. »Du hältst Großfürsten an und umarmst sie!«

»Großfürsten?«

»Du hast doch eben mit Michail Pawlowitsch gesprochen und ihn am Ärmel gefaßt.«

»Das ist Pawel Petrowitsch Albrecht,« murmelte Wilhelm, »das ist mein Onkel. Das war nicht Michail Pawlowitsch.«

»Doch,« lachte Puschkin. »Pawel Petrowitsch war der Papa, und das war sein Söhnchen Michail Pawlowitsch.«

Das war das politische Ereignis mit Wilhelm.

Der junge Bär hatte den Zaren überfallen, und Wilhelm hatte den Großfürsten umarmt.

 

IX

Eines Tages sagte Puschkin zu Wilhelm:

»Warum hockst du den ganzen Tag im Zimmer? Komm heut mit mir zu den Husaren. Sie haben von dir gehört und wollen dich kennen lernen.«

Küchel willigte ein, nicht ohne einige Angst.

Am Abend steckten sie dem aufsichtführenden Instruktor ein Trinkgeld zu und gingen zu Kawerin. Dessen Fenster waren geöffnet; man hörte Gitarrenspiel und Lachen. Ein hoher Tenor sang: »Der traurige Klang des Klaviers.«

Puschkin und Küchel wurden herzlich begrüßt.

Den aufgeknöpften Dolman über dem schneeweißen Hemd, saß Kawerin im Sessel, auf seinem Schoß die Gitarre, die Augen blaßblau, die flachsblonden Haare an den Schläfen gekräuselt. Vor Kawerin stand ein großer, schwarzer Husar, der ihn düster und regungslos anstarrte und mit hoher Stimme eine Romanze sang. Er war etwas betrunken. Am Tisch ging es geräuschvoll zu, trunken und lustig.

Ein untersetzter Husar mit breitem Brustkasten sprang sporenklirrend vom Tisch auf, stürzte auf Puschkin zu und hob ihn in die Höhe. Wie ein Affe kletterte Puschkin ihm auf die Schultern, und dann rannte der Husar um den Tisch herum, ohne den Jungen festzuhalten.

»Du läßt ihn noch fallen,« schrie man am Tisch.

In diesem Augenblick sprang Puschkin mitten auf den Tisch zwischen die Flaschen. Die Husaren klatschten Beifall.

»Puschkin, lies dein neuestes Noël!«

Mitten auf dem Tisch stehend, begann Puschkin zu lesen:

Erfahre, Volk der Reußen,
Das weiß die ganze Welt:
Den Östreicher- und Preußen-
Rock hab ich mir bestellt.
Volk, freu dich! Ich bin gut genährt.
Ich eß und trink ganz unbeschwert.
Die Arbeitsplage kenn ich nicht.
Mich lobt der Zeitungsmann, der schlaue Wicht.

Der schwarze Husar, der eben gesungen hatte, lachte schrill auf. Puschkin sprang geschickt vom Tisch. Wein wurde ihm eingeschenkt.

Man stieß an. Küchel als Neuling bekam einen Riesenbecher voll Punsch vorgesetzt. Kawerin rief ihm zu:

»Auf die Freiheit, Küchelbecker! Austrinken!«

Wilhelm leerte den Becher. Alles begann sich um ihn zu drehen. Alles kam ihm herrlich vor. Zu seiner eigenen Überraschung zog er Kawerin an sich und umarmte ihn. Kawerin küßte ihn innig. Alles lachte.

»Er ist verliebt«, sagte der kleine Husar und zwinkerte listig. »Daran erkennt man den Verliebten: kaum hat er getrunken, da fängt er an zu küssen.«

Der schwarze Husar fragte Puschkin:

»Hast du das Bonmot gemacht, daß in Rußland sich ein einziger fand, aber nur ein Bär, – das Bonmot mit dem jungen Bären?«

»Jawohl!« Puschkin nickte selbstzufrieden.

»Vielleicht findet sich auch mal ein Mensch,« sagte der schwarze Husar halblaut.

Puschkin hob das Glas:

»Auf dich und den jungen Bären!«

Der Husar machte ein düsteres Gesicht.

Puschkin lachte lustig, sprang um ihn herum, kitzelte und schüttelte ihn. So war er immer, wenn er leicht verlegen war.

»Pierre!« rief er Kawerin zu. »Pierre, du bist mein Sekundant. Es gibt gleich ein Duell. Wir schlagen uns auf Weingläser.«

Kawerin lächelte. Dann machte er »Donner und Blitz«: Er verzog das Gesicht und öffnete den Mund. »Donner und Blitz« war sein Lieblingskunststück.

Er stand vom Tisch auf. Wenn er betrunken war, hielt er sich besonders fest auf den Beinen, nur wurde seine Haltung übertrieben aufrecht. Ein schwaches Lächeln entblößte seine weißen Zähne. Leicht und tänzelnd ging er einmal durch das Zimmer. Dann blieb er stehen und fing zu singen an, traurig, lustig und frech:

»Ach, wie wäre mir jetzt wohl,
Hätt' ich nicht gepflanzt den Kohl!«

Er hockte sich hin und begann, die Beine hoch aufwerfend, zu tanzen.

Der schwarze Husar beachtete Puschkin nicht mehr und streckte Kawerin die Hände entgegen:

»Ach Pierre, Pierre! Du meine Göttinger Seele!« Kawerin ging auf ihn zu und schlug ihm auf die Schulter:

»Trink, Bruder, trink, der Chambertin ist gut.«

Küchel war berauscht. Es wurde ihm ungewöhnlich traurig zumute. Er fühlte, daß er bald weinen werde.

»Verliebt! Verliebt!« sagte der kleine, untersetzte Husar und betrachtete ihn aufmerksam. »Er kriegt gleich das Heulen!«

Unbemerkt goß er ihm immer wieder Wein nach.

Küchel weinte, sagte, daß er auf den gemeinen Materialismus des Lebens endgültig verzichten wolle, klagte, daß ihn niemand liebe. Der kleine Husar winkte den Kameraden spöttisch zu. Küchel sah dies und schämte sich ein wenig. Das Licht der Kerzen wurde gelb. Die Morgendämmerung brach an. Die Husaren am Tisch wurden still.

Puschkin lachte nicht mehr. Er saß in einer Ecke und unterhielt sich leise mit einem großen, blassen Husaren. Dieser verzog giftig die dünnen Lippen zu einem spöttischen Lächeln und suchte Puschkin irgend etwas auszureden. Puschkin war ernst, biß sich auf die Unterlippe, sah hin und wieder den Husaren an und zuckte mit den Schultern. Küchel hatte den Husaren bis dahin nicht bemerkt. Es war Tschaadajew, der Husarenphilosoph. Küchel wollte an ihn herantreten, um mit ihm zu sprechen, aber die Beine versagten ihm den Dienst. Sein Kopf brummte. Es war Zeit zum Aufbruch. Kawerin schenkte zum letzten Mal ein. »Auf Küchelbeckers Wohl! Wir nehmen ihn auf in unsere Bande! Hoch die gemeinsame Sache, die res publica!«

Er trank, zog dann den Degen und warf ihn an die Wand. Zitternd blieb der Stahl im Holz stecken. Kawerin lachte glücklich.

Draußen war es kühl und feucht. Die Bäume der Alleen glänzten in der Morgenfrische. Der Rausch ging ziemlich schnell vorbei. Es war Morgen. Schwingende Leere im Kopf und Müdigkeit. Puschkin fragte Küchel:

»War's nett?«

»Zu schlimm die Sauferei!« sagte Küchel düster. »Das sind Zyniker.«

Wieder fiel ihm das spöttische Augenzwinkern des kleinen Husaren ein. Er wurde traurig. Ärgerlich blieb Puschkin stehen. Er sah das blasse, langgezogene Gesicht des Freundes und sagte wütend, mit der Hand auf der Brust:

»Bruder Küchel, du hast einen schwierigen Charakter.«

Küchel sah ihn vorwurfsvoll an. Puschkin fügte hinzu mit gedämpfter Stimme:

»Ich liebe dich wie einen Bruder, Küchel. Denk aber an meine Worte, wenn ich nicht mehr da bin: Keine Freundin, keinen Freund wirst du je im Leben haben. Du hast einen schwierigen Charakter.«

Wilhelm wandte sich ab und lief weg. Verdutzt sah Puschkin ihm nach und zuckte die Achseln.

Küchel ging nicht mehr zu den Husaren.

 

X

Im letzten Monat vor dem Verlassen des Lyzeums fühlten sich alle ganz anders. Man eilte der Zeit in Gedanken um einen Monat voraus. Es trat sogar eine gewisse Entfremdung ein. Fürst Gortschakow war von auserlesener Liebenswürdigkeit zu seinen Kameraden. Er sah sich schon in einem hocharistokratischen Salon. Die Augen zusammengekniffen, warf er mit Bonmots um sich, als ob er sich für den bevorstehenden Eintritt in die große Welt üben wolle. Puschkin war voller Unruhe, Korff trocken und sachlich, und nur der kleine Affe Jakowlew blieb immer der gleiche, trieb immer die gleichen Harlekinaden und sang Romanzen.

Abends im Garten sprach man von der Zukunft, von der künftigen Laufbahn.

»Füchschen, was hast du vor?« fragte Korff gönnerhaft. Er pflegte sich um Gortschakow herumzuschlängeln und hatte von diesem den gönnerhaften Ton übernommen.

»Ich will ins Volksbildungsdepartement,« sagte Komowski mit dünnem Stimmchen. »Man hat mir bereits einen Posten versprochen als Bürovorsteher.«

»Ich will zur Justiz,« sagte Korff. »In der Justiz macht man am leichtesten Karriere.«

»Besonders, wenn man bei gegebener Gelegenheit lügt,« warf Jakowlew ein. Gortschakow schwieg. Alle im Lyzeum wußten, daß er die diplomatische Laufbahn einschlagen wollte. Er hatte sehr hohe Beziehungen.

»Ihr Büroseelen!« rief Puschkin. »Ich will Husar werden. Ich hab keine Lust, am Schreibtisch zu verschimmeln. Wollen wir wetten, daß Illitschewski ins Finanzministerium geht?!«

Alle lachten. Illitschewski war geizig. Ganz grün vor Ärger, meinte er:

»Husar kann nicht jeder werden. Irgend jemand muß auch arbeiten.«

Nur Puschtschin und Küchel schwiegen.

»Und du, Puschtschin?« fragte Korff in der gleichen gönnerhaften Weise.

»Ich will Polizeikommissar werden.«

Die Lyzeisten lachten.

»Nein, im Ernst,« setzte Korff ihm zu, »was willst du anfangen?«

»Ich spreche ganz ernst,« antwortete Puschtschin ruhig. »Ich werde Polizeikommissar.«

Alle schwiegen. Wilhelm sah ihn erstaunt an.

»Jedes Amt im Staate,« sagte Puschtschin langsam und streifte die Kameraden mit seinem Blick, »verdient Achtung. Es gibt kein verächtliches Amt. Man muß durch sein Beispiel zeigen, daß nicht Rang oder Geld die Hauptsache ist.«

Korff sah Puschtschin ratlos an, ohne das Geringste zu begreifen. Gortschakow aber kniff die Augen zusammen und sagte:

»Dann verdient auch ein Lakai Achtung. Trotzdem möchten Sie doch nicht Lakai sein?!«

»Es gibt allerlei Lakaien,« antwortete Puschtschin trocken. »Merkwürdigerweise gilt es nicht als verächtlich, Zarenlakei zu sein.«

Gortschakow lächelte, sagte jedoch nichts weiter.

»Und Sie?« wandte er sich ironisch an Wilhelm. »Was haben Sie vor?«

Wilhelm sah unsicher Gortschakow, Puschkin, Komowski an und zuckte die Achseln:

»Ich weiß nicht.«

 

XI

8. Juni 1817. Nacht. Niemand kann schlafen. Morgen wird Abschied genommen vom Lyzeum, von den Kameraden, dann … Niemand weiß, was dann kommt. Dort, hinter den Mauern des Lyzeums ist die Luft dunkel. Ein feiner, rosiger Sonnenaufgang flammt. Dort locken Geräusche, etwas Süßes und Unheimliches. Ein Frauengesicht schimmert unbestimmt.

Auch Küchel kann nicht schlafen. Er ist allein in seinem Zimmer. Aufgeregt schlägt sein Herz. Seine Augen sind trocken. Eine unbestimmte Angst wühlt in ihm.

Es klopft an der Tür. Puschkin tritt herein. Er lacht nicht wie sonst. Seine Augen sind halb geschlossen.

»Ich hab etwas für dich geschrieben, Wilhelm,« sagt er leise. »Einen ›Abschied‹, zur Erinnerung.« Seine Stimme klingt nicht wie sonst. Sie ist dumpf und zittert.

»Lies vor, Alexander.« Küchel wendet sich ihm zu und sieht ihn unfaßbar traurig an.

Alexander liest leise und unsicher:

In unserer Penaten stiller Einsamkeit
Zum letzten Male meine Verse klingen.
Die letzten Augenblicke der Gemeinsamkeit
  Möcht ich mit dir, mein Freund, verbringen.
  Zu Ende ist der Weg, den wir zusammen gingen,
  Und des Lyzeums jugendfrohe Jahre,
Sie sind vorbei. Da hilft uns keine Reue.
Leb wohl, mein Freund, leb wohl! Bewahre
Dem Phöbus und der Freiheit Treue.

Der Liebe leichte, farbentrunkne Schwingen,
Die Hoffnung und das glühende Entzücken,
Sie mögen dich dem Alltag stets entrücken.
  Und möge stets dir lächeln das Gelingen
  Bei allem Lebenskampf, bei allem Ringen …
  Wo ich auch bin: Im heimatlichen Land
Oder im wüsten Schlachtenfeuer,
Stets bleibt mir unsre Freundschaft teuer
Und unsrer Liebe brüderliches Band.

Den Schluß sprach er mit dumpfer Stimme und brach dann jäh ab. Küchel schloß die Augen. Er weinte, sprang hastig auf und drückte Puschkin, den er um zwei Köpfe überragte, an sein Herz. So standen sie lange, ohne etwas zu sagen, in völliger Verwirrung.

Die Lyzeumszeit war zu Ende.


 << zurück weiter >>