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Ende

 

I

Aus der Peterpaulsfestung nach Schlüsselburg, von Schlüsselburg nach Dünaburg, von Dünaburg nach der Zitadelle von Reval, von da nach der Zitadelle von Sveaborg.

Der Gefangene wird immer grauer. Sein Rücken krümmt sich. Seine Augen werden schwach. Die Gesundheit läßt ihn im Stich. Und dennoch ist er jung. Die Zeit steht für ihn still. Er liest alte Zeitschriften. Er schreibt Aufsätze, in denen er gegen längst vergessene Schriftsteller polemisiert, und lobt einen beginnenden Dichter, der längst erledigt ist. Die Zeit steht für ihn still. Er kann an einer Krankheit sterben, er kann erblinden, aber er würde jung sterben. Die Freunde sieht er vor sich, jung und kräftig. Delwig steht vor seinen Augen, träge und ironisch. Der ausgelassen lachende Puschkin. Dunja, heiter, leicht und rein wie Seeluft.

Er weiß nicht, daß Delwig alt geworden und verkommen ist; daß er sich für ganze Wochen in seinem Arbeitszimmer einschließt, dort ungekämmt und unrasiert im Sessel hockt und sinnlos vor sich hin lächelt; daß in dem Augenblick, wo er den sorglosen Dichter vor sich sieht, dieser ächzend vom Sessel aufsteht, sich zum Schränkchen schleppt, eine Weinflasche hervorholt, mit zittrigen Händen das Glas füllt und dabei sein altes Wörtchen sagt:

»Drollig!«

Und erst, als die kurze Nachricht eintrifft, daß Delwig gestorben ist, weint der Gefangene und beginnt zu verstehen, daß jenseits der Festungsmauern die Zeit dahinläuft und die Jugend vorbei ist. Aber in seinen Gedanken ist es der junge Delwig, den er begräbt, nicht der gealterte, blasse Dichter, wie er in Wirklichkeit gestorben ist.

Und immer noch sehnt der Gefangene sich nach Freiheit und fürchtet sich nicht davor, daß jenseits der Festungsmauern die Zeit unaufhaltsam dahinläuft, und daß in dem Augenblick, wo er aus dem Tor der Festung tritt, alles anders aussehen wird. –

Endlich kommt dieser Tag, und der Gefangene ist frei, ist frei, in Sibirien zu leben.

Wieder beginnen Küchelbeckers Reisen: Bargusin, Akscha, Kurgan, Tobolsk.

Als er in Bargusin ankam, wirbelten noch Mauern vor ihm, das Guckloch der Tür, der Gefängnishof, auf dem er spazierengegangen war, Fetzen von Gesichtern und Stimmen. Angestrengt betrachtete er die Blockhäuschen des Ortes. Mit knirschendem Schritt kam eine rotwangige Bäuerin über den Schnee daher, gebeugt unter der Last der Wäsche, die sie zum Flusse trug. Ein dickwanstiger Krämer stand an der Schwelle seines Ladens, schützte die Augen mit der Hand gegen die Sonne und sah Wilhelm nach. Ein Beamter, der Uniform nach wohl der Postmeister, fuhr in einem Schlitten vorbei, und der Bauer, der ihm entgegenkam, verneigte sich tief. Eine merkwürdige Stadt, klein, ausgedehnt, vierschrötig, als ob sie nicht aus Häusern, nur aus lauter grauem Spielzeug bestände.

Wilhelm freute sich. Keine Mauern mehr, das war die Hauptsache. Seine Füße waren schwach von Gefangenschaft und Reise. Aber das ging vorbei. Eingehüllt in den Pelz, konnte er es kaum abwarten, daß der Kutscher mit dem vereisten Bart ihn vor das Haus des Bruders brachte. Mischa wohnte als Verbannter in Bargusin. Die Verbannten durften sich innerhalb der Stadt nicht ansiedeln. Sie wohnten weit draußen. Der Kutscher hielt vor einem kleinen Bauernhaus. Aus dem Schornstein stieg eine Rauchsäule in den Frost.

Vor dem Hause schaufelte ein Mann im Bauernpelzrock den Schnee. Sein Gesicht war abgezehrt, streng und der schwarze Bart mit grauen Haaren durchsetzt. Feindlich sah er hinter der Metallbrille hervor Wilhelm an, ließ dann plötzlich den Spaten fallen und rief fassungslos:

»Wilhelm?!«

Es war Mischa.

»Was hast du für einen grauen Bart?« sagte er, und seine bösen Augen standen voller Tränen. Er führte den Bruder ins Haus.

»Setz dich. Wollen Tee trinken. Gottseidank, daß du gekommen bist! Meine Frau ist gleich da.«

Mischa fragte den Bruder nichts und sah ihn nur lange an. Eine Frau in Kopftuch und dunklem Kleid kam herein. Schlichtes, häßliches Gesicht und gütige Augen.

»Frau,« sagte Mischa, »das ist mein Bruder.«

Mischas Frau machte eine verlegene Verbeugung, und Wilhelm umarmte sie, ebenfalls verlegen.

»Wo sind die Mädchen?« fragte Mischa.

»Bei den Nachbarn, Michail Karlowitsch,« sagte die Frau mit singender Stimme, nahm hastig den Samowar vom Wandbrett und trug ihn in den Vorraum.

»Ein gutes Weib,« meinte Mischa und fügte hinzu: »In unserer Lage ist es dumm, zu heiraten. Ich habe nette Töchter.«

Wilhelm hatte ein sonderbares Gefühl. Der Bruder war ihm fremd. Streng, sachlich, wortkarg. Die Begegnung war ganz anders, als er sie geträumt hatte.

»Du wirst dich bei mir erholen,« sagte Mischa mit zärtlichem Blick auf den Bruder. »Wir bleiben zusammen. Du wirst dich dann umsehn. Wir bauen ein Häuschen für dich. Ich hab schon den Platz ausgesucht.«

Irgendein Ansiedler trat ein.

»Euer Wohlgeboren, Michail Karlowitsch,« sagte er und knüllte die Mütze in der Hand, »ich hab große Achtung vor Ihnen. Ich möchte Sie sprechen.«

»In welcher Angelegenheit?« fragte Mischa, ohne den Mann zum Sitzen aufzufordern.

»Ich bin sehr krank.«

»Dann geh doch ins Krankenhaus,« antwortete Mischa trocken. »Wenn du zurück bist, dann sprechen wir uns.«

Verlegen blieb der Mann stehen.

»Wenn Euer Gnaden mir eine Kleinigkeit borgen könnten …«

»Nein. Ich hab kein Geld.«

Wilhelm zog sein Portemonnaie und reichte dem Mann einen Schein.

Der griff verwundert danach, dankte, murmelte etwas und lief hinaus.

Mischa machte dem Bruder Vorwürfe:

»So etwas darfst du dir nicht angewöhnen, sonst rennen sie dir jeden Tag die Tür ein.«

 

II

Im Frühling fing Wilhelm an, sich aus Balken ein Haus zu bauen. Seltsames ging in ihm vor. Er hatte früher davon geträumt, wie er den Bruder, wie er Puschkin wiedersehn wollte, wie Dunja zu ihm käme. Das war ihm das Wichtigste in seinem künftigen Leben gewesen. Es zeigte sich aber, daß nun ganz andere Dinge das Wichtigste waren: der Kramladen, wo man Gefahr lief, den Kredit gesperrt zu bekommen, die Tanzabende beim Postmeister, das Kartenspiel mit kleinem Einsatz, die stinkigen sibirischen Lachsfische. An Dunja dachte er nicht mehr. Mit Entsetzen stellte er fest, daß an ihrer Stelle dunkle Leere entstanden war, die er sich nicht erklären konnte. In der Festung war ihr Bild deutlich und klar gewesen. Hier begann es sich aufzulösen. Warum? – Wilhelm war trostlos. Er wußte selber nicht, wie er das erklären sollte.

Das Leben ging dahin, das wohlfeile Bargusiner Leben. Zu den Abenden beim Postmeister Artenow kamen die Honoratioren: der Krämer Malych, der Kaufmann Lischkin, der Heilgehilfe Goltz. Auch ihre Frauen kamen. Es war lustig, als altersgrauer Mann Polka zu tanzen zu den brüchigen Klängen des Klaviers aus dem vorigen Jahrhundert, das auf unbekannte Weise hierher verschlagen war. Es war lustig, sich mit der Tochter des Postmeisters, der dicken Dronjuschka, im Kreis zu drehen. Sie war von kalmückischem Typ. Sie kreischte. Sie war lustig und hatte rote Wangen. Sie kam Wilhelm sehr amüsant vor. –

Brief von Dunja:

 

Mein teurer Freund.

Lassen Sie uns ruhig und (verzeihen Sie mir) mit einiger Trauer von all den Dingen sprechen, die für uns beide jetzt wichtig sind. Etwas an Ihrem letzten Briefe ist mir sehr nahegegangen, teurer, armer Willi. Ich bitte Sie von Herzen um Verzeihung, aber ich finde Sie nicht mehr in Ihren Briefen. Ihre Festungsbriefe waren ganz anders. Ich errate. Man darf sich nichts vormachen. Ich, der Gedanke an mich ist Ihnen fremd geworden. Was ist da zu machen? Die Jugend ist vorbei. Ihr jetziges Leben, die kleinlichen Sorgen sind für Sie, teurer Freund, wahrscheinlich nicht leichter als das Festungsleben. Ich trage es Ihnen nicht nach. Ich will Ihnen offen sagen, mein lieber, armer Freund, daß ich entschlossen bin, nicht zu Ihnen zu fahren. Das Herz wird alt. Ich küsse Ihre Briefe von früher. Ich liebe die Erinnerung an Sie und Ihr Bild, auf dem Sie jung sind und lächeln. Wir sind ja beide schon über vierzig. Ich küsse Sie zum letzten Mal, teurer Freund, innig, innig. Doch ich werde Ihnen nicht mehr schreiben. Wozu?

E.

 

Wilhelm wurde merkwürdig zerstreut und vergeßlich. Die geringsten Dinge versetzten ihn in Begeisterung.

Im Januar 1887 gab es beim Postmeister Artenow ein Fest, einen Ball. Die Kavaliere, schwitzend, rot, angeheitert, tanzten und stampften mit den Stiefelabsätzen. Der Postmeister hatte sogar eine nagelneue Uniform an und den Schnurrbart schwarz gefärbt. Dronjuschka hatte einen Bräutigam gefunden: Wilhelm Karlowitsch Küchelbecker.

Wilhelm war betrunken und strahlte. Man gratulierte ihm. Zwei Schreiber versuchten, ihn auf den Händen zu schaukeln. In einer Ecke blinkte Mischas metallische Brille.

Wilhelm ging auf den Bruder zu und sah ihn einen Augenblick lang wortlos an:

»Nun, Mischa, Bruder?«

Mischa sagte einfach:

»Na, macht nichts. Wir werden schon weiterleben.«

Einen Monat nach seiner Hochzeit erfuhr Wilhelm, daß Puschkin im Duell mit einem Gardeoffizier gefallen war.

Keine Freunde mehr. Rylejew im Grab. Gribojedow im Grab. Delwig und Puschkin im Grab.

Die Zeit, die auf dem Peterplatz vorwärtsgestürmt war, in der Festung stillgestanden hatte, sie rannte jetzt dahin mit winzig kleinen Schritten.

 

III

Wilhelm wurde unruhig.

Die gleiche Unruhe, die Gribojedow nach Persien, ihn selber nach Europa und dem Kaukasus getrieben hatte, bekam wieder Gewalt über ihn.

Er bat um die Erlaubnis, nach Akscha überzusiedeln, einer winzigen Festungsstadt an der chinesischen Grenze. Dort wohnten Chinesen, russische Händler. Armseliges Leben in den Fansas, den kleinen Häuschen. Das Klima streng. Nertschinski-Gebiet.

Wilhelm hatte bereits Familie, kreischende, lärmende, fremde Menschen. Die Frau vernachlässigte sich. Die Kinder wuchsen heran.

In Akscha blieben sie nicht lange.

Böse betrachtete seine Frau Drossida Iwanowna sein blasses Gesicht:

»Wir haben keinen Pfennig Geld. Mein Gott, es ist zum Aufhängen! Mit Chinesen leben, Lumpen tragen! Bitte doch, daß man dich anderswohin versetzt. Das hier ist kein Leben.«

Wilhelm bat um Versetzung nach Kurgan, Gouvernement Tobolsk. Nach Kurgan selber durfte er nicht. Bloß im Smolinski-Vorort außerhalb der Stadt durfte er sich niederlassen. Unterwegs besuchte er Puschtschin in Jalutorowsk. Jeannot hatte einen Hängeschnurrbart, buschige, abstehende Augenbrauen. Beim Wiedersehen weinten und lachten sie, aber nach einem Tage schon merkten beide, daß sie sich nichts mehr zu sagen hatten und sich fremd geworden waren. Wilhelm blieb drei Tage. Nach seiner Abreise schrieb Puschtschin an den greisen Anton Jegorowitsch Engelhardt, der fast alle seine Zöglinge, einen nach dem anderen, überlebt hatte:

21.März.

Drei Tage war Wilhelm bei mir zu Besuch. Mit seiner Drossida Iwanowna, zwei kreischenden Göhren und einer Kiste literarischer Erzeugnisse reist er nach Kurgan. Voller Lyzeumsgefühle umarmte ich ihn. Das Wiedersehn hat mich lebhaft an die Vergangenheit erinnert. Er ist der gleiche Sonderling geblieben, nur hat er jetzt graues Haar. Er las mich fast zu Tode mit seinen Versen. Aus Gastfreundschaft mußte ich zuhören und jede Kritik unterdrücken, um seinen Autorenstolz, der sich mit der Zeit prächtig entwickelt hat, zu schonen. Ich kann nicht behaupten, daß sein Familienleben darnach angetan war, mich von den Annehmlichkeiten der Ehe zu überzeugen. Ich glaube, es muß für die Vorsehung sehr schwer gewesen sein, zwei Wesen glücklich zu machen, die ohne jede Voraussetzung für irdisches Wohlergehn sich vereinigt haben. Ich gestehe, ich wurde jedes Mal nachdenklich, wenn ich die beiden betrachtete, wenn ich gleichzeitig die Verse hörte, die schreiende Stimme der bäuerischen Dronjuschka, wie ihr Männchen sie nennt, und das unaufhörliche Gekreisch der Kinder. Die Wahl der Gattin verrät den ganzen Geschmack und die ganze Geschicklichkeit unseres Sonderlings. Selbst in Bargusin hätte man etwas wenigstens für die Augen Angenehmeres finden können. Sie hat einen sehr schwierigen Charakter. Zwischen beiden besteht nicht die geringste Sympathie. Komisch, daß er bei diesem dicken Weib eine unterwühlte Gesundheit, sogar nervöse Störungen vermutet, stets Angst hat, ihr zu widersprechen, und fortwährend Vermittlung sucht. Während das Weib nach Herzenslust rast und tobt, wiederholt er in einem fort: »Du siehst, sie ist gereizt.« Das alles gehört zu ihrer Lebensordnung. Schade. Aber zu helfen ist ihm nicht. Ich bin ihm dankbar für seine guten Gefühle. Er hängt wirklich an mir. Aber damit kann man nichts anfangen. In den einfachsten Dingen sieht er Komplikationen, fragt immer um Rat und macht immer das Gegenteil. Wenn ich Ihnen alle seine Streiche am Tage des Ereignisses und des Urteilsspruches erzählen wollte, Sie würden umkommen vor Lachen, trotzdem er damals auf einer ziemlich tragischen und ziemlich ernsten Bühne einer der Akteure war. Vielleicht haben Sie von anderer Seite Anekdoten darüber gehört. Er wollte Ihnen von seinem neuen Aufenthaltsort aus schreiben. Ich habe ihm einige Ihrer Briefe vorgelesen. Er war ganz entzückt. Der Ärmste ist nicht verwöhnt durch Freundschaft und Aufmerksamkeit. Er hat schwere Festungsjahre und Sibirien hinter sich. Ich weiß nicht, wie es ihm in Kurgan ergehen wird.

 

IV

Jahre in Kurgan.

Nichts Besonderes. Das Ende nahte.

Sein rechtes Auge wurde halb vom Star zerstört. Er sah nur wie durch einen Nebel, konnte nur die Farben unterscheiden. Das rechte Lid wurde immer schwerer und senkte sich immer mehr. Wenn er genauer sehen wollte, mußte er es mit dem Finger hochziehn. Kein Mensch schrieb mehr aus Petersburg. Die Mutter war tot. Er war vergessen.

Klare Sache: Das Leben ging zu Ende … Nur aus Anstand gegen sich selber ging er noch in den Gemüsegarten, auf den er so viel mühsame Arbeit verschwendet hatte. Der Rücken tat ihm weh, und die Schultern neigten sich zur Erde. Bald gab er auch den Gemüsegarten auf. Drossida Iwanowna machte sich im Haushalt zu schaffen, schrie die Kinder an, schwatzte und klatschte mit den Nachbarinnen. Auch das berührte ihn nicht mehr. Klare Sache: Die ganze Heirat war nichts wert gewesen. Diese fremde Frau, die den ganzen Tag im Morgenrock herumging, abends gähnte und den Mund mit der Hand bekreuzigte, war überflüssig in seinem Leben. Überflüssig war die Erde und der Gemüsegarten, mit dem er nicht fertig werden konnte. Wichtig waren allein seine Verse, sein Drama, das auch dem europäischen Theater zur Ehre gereicht hätte, seine Übersetzungen aus Shakespeare und Goethe, die er vor einem Vierteljahrhundert in die russische Literatur eingeführt hatte. Wer aber sollte das alles lesen: Der Sohn des Diakons etwa, der scheue Jüngling, der mit Ehrfurcht zu ihm hinaufsah und offenbar wenig davon verstand? Oder sollte er Besuche machen beim Krämer Rasgildjajew und Karten spielen mit Schtschepin-Rostowski, der damals die Moskauer auf den Peterplatz geführt hatte und jetzt ein schwammiger, verkommener Säufer war?

Nein, genug!

Eines Tages sichtete er wieder einmal, das Lid mit dem Finger hochhebend, die Manuskripte in der Kiste und las zum hundertsten Male sein Drama, das ihn in die gleiche Reihe mit den europäischen Dichtern, mit Byron und Goethe stellte. Plötzlich durchfuhr es ihn wie ein Stich: Das Drama erschien ihm schwerfällig, die Verse ohne Leben, die Gestalten gekünstelt. Entsetzt sprang er auf. Sein Letztes brach ihm zusammen. Sollte er tatsächlich der Tredjakowski Dichter des 18. Jhdts., Nachahmer der französischen Pseudoklassiker. Anm. d. Übers. der Neuzeit sein? Sollten die Literaturbonzen tatsächlich recht behalten, die sich, wenn sie von ihm sprachen, vor Lachen kugelten?

Von diesem Tag an begannen die wirklichen Qualen. Am frühen Morgen schon schlich er zur Kiste, wühlte darin, ordnete die Hefte und die Blätter und las, las, bis er statt der Buchstaben tanzende Punkte sah. Dann saß er lange da, bar jedes Gedankens. Unermüdlich fragte ihn Drossida Iwanowna:

»Was soll das, Väterchen? Willst dich wohl ganz zugrunde richten?«

Sie war sehr besorgt um ihn. Ihre Stimme aber kreischte, und Wilhelm wehrte bloß ab mit der Hand.

»Das kannst du dir sparen,« meinte Drossida Iwanowna halb beleidigt, halb drohend.

Dann ging er wortlos aus dem Haus, ging entweder zu Schtschepin oder einfach aus dem Städtchen hinaus.

Bald ließ Drossida Iwanowna ihn in Ruh.

Mit einem Mal verlor er jedes Interesse an den Manuskripten. Er verschloß die Kiste und sah sie nicht mehr an.

Eines Tages blieb er lange bei Schtschepin. Sie dachten an ihre Jugend. Schtschepin sprach von Sascha, von Alexander und Mischa Bestuschew. Wilhelm erzählte von Puschkin. Sie sprachen lange, ohne Zusammenhang, tranken Wein in Erinnerung an die Kameraden und umarmten sich. Als Wilhelm auf die Straße kam, wehte ein kühler Wind. Er erschauerte. Er fühlte sofort das Herz klopfen und einen ziehenden Schmerz in den Beinen.

»Großvater,« rief ihm ein Junge zu, der in einem Wagen vorbeifuhr. Wilhelm sah ihn an und sagte nichts.

»Steig ein, Großvater. Ich bring dich nach Haus. Ich heiße Panfilow.«

Der alte Panfilow war sein Nachbar.

Wilhelm stieg ein. Er schloß die Augen. Fieber schüttelte ihn. Großvater, dachte er und lächelte. Der Junge brachte ihn bis vor das Haus. Wilhelm fühlte, daß sein Ende kam. Lang, gebeugt, mit spitzem, grauem Bart, schritt er im Zimmer auf und ab, wie ein Tier in seiner Höhle. Irgendeine Entscheidung war noch zu treffen, irgendeine Rechnung noch zu begleichen: Vielleicht die Kinder, die untergebracht werden mußten? Er wußte es selber nicht genau. Aber irgend etwas mußte noch beglichen werden. Er überlegte und machte sonderbare Gesten mit den Händen. Dann blieb er stehn und lehnte sich an den eisernen Ofen. Die Beine wollten nicht mehr. Ach ja, Briefe! Er mußte Briefe schreiben. Sofort. Er setzte sich hin und schrieb an Ustinjka. Mit großer Anstrengung, den Kopf tief über den Tisch gebeugt, Tinte verspritzend und mit der Feder knirschend, schrieb er ihr, daß er sie segne … Mehr wollte er nicht schreiben. Er unterzeichnete den Brief. Dann fühlte er, daß er eigentlich gar keine Lust hatte, Briefe zu schreiben, und stellte verwundert fest, daß es auch niemanden gab, dem er schreiben konnte.

Am nächsten Tage wollte er aufstehn und konnte nicht. Unruhig sah Drossida Iwanowna ihn an und lief zu Schtschepin. Dieser kam, rot, schwammig, schrie Wilhelm an, warum er sich denn nicht bemühe, nach Tobolsk versetzt zu werden, sagte ihm, daß der Gouverneur in den nächsten Tagen nach Kurgan komme, und setzte sich hin, um ein Gesuch zu schreiben. Gleichgültig schrieb Wilhelm seinen Namen hin.

Nach zwei Tagen kam der Gouverneur. Er sandte dem Generalgouverneur einen schriftlichen Bericht über den Verbannten Küchelbecker. Der Generalgouverneur vermerkte auf dem Schriftstück, daß er nichts gegen die Überführung des Kranken nach Tobolsk einzuwenden habe, und legte es dem Grafen Orlow vor. Graf Orlow hielt es nicht für angängig, ohne vorherige ärztliche Untersuchung dem Verbannten den Aufenthalt in Tobolsk zu gestatten. Er ersuchte den Generalgouverneur, eine ärztliche Untersuchung zu veranlassen und ihm dann wieder zu berichten.

Gleichgültig erwartete Wilhelm die Entscheidung. Er lag im Bett und unterhielt sich mit den Freunden. Oft rief er die Kinder zu sich, sprach mit ihnen, streichelte sie. Er wurde zusehends schwächer.

Am 13. März 1846 bekam er die Erlaubnis, nach Tobolsk zu reisen, und am nächsten Tag traf Puschtschin in Kurgan ein. Als er Wilhelm sah, verzog er das Gesicht, zog die Augenbrauen zusammen, zwinkerte mit den Augen und sagte streng, mit bebenden Lippen:

»Alter Freund, was machst du für Geschichten?«

Wilhelm hob das kranke Lid mit dem Finger in die Höhe, sah ihn aufmerksam an und lächelte:

»Du bist alt geworden, Jeannot. Komm heut abend zu mir. Ich muß mit dir sprechen.«

Abends schickte Wilhelm Drossida Iwanowna und die Kinder aus dem Zimmer und bat Puschtschin, die Tür zu schließen. Mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme diktierte er ihm sein Testament. Dann sagte er:

»Komm näher.«

Der alte Mann beugte sich über den anderen alten Mann.

»Laß meine Kinder nicht im Stich,« sagte Wilhelm streng.

»Was fällt dir ein, Bruder?« erwiderte Puschtschin und zog die Stirn in Falten. »In Tobolsk wirst du bald wieder gesund.«

Wilhelm fragte ruhig:

»Soll ich Grüße ausrichten?«

»Wem?« wunderte sich Puschtschin.

Wilhelm schwieg.

Er ist entkräftet vom Diktieren, dachte Puschtschin. Wie bringt man ihn bloß in diesem Zustand nach Tobolsk?

Dann aber sagte Wilhelm fest:

»Rylejew, Delwig, Sascha.«

 

V

Die Reise überstand er gut. Er schien sich sogar etwas zu erholen. Begegneten ihm Bettler, dann bestand er hartnäckig darauf, daß der Wagen hielt, und gab ihnen zum Entsetzen Drossida Iwanownas einige Kupferstücke. Dicht vor Tobolsk kam ihnen wieder ein Haufe Bettler entgegen. An der Spitze wirbelte wie ein Kreisel ein betrunkener, zerlumpter Mensch. Er machte allerlei Kunststücke mit den Füßen und schrie heiser:

»Schurjan Kamerad, selber Prokurat, trach, tararach – – tararach.«

Als er den Wagen sah, lief er heran, zog die verknüllte Mütze vom Kopf und sagte heiser:

»Geben Sie bitte dem Kleinbürger Fürsten Obolenski ein Stück Brot. Wegen einer gerechten Sache haben mich Lakaien und Tyrannen ruiniert.«

Wilhelm reichte ihm eine Kupfermünze. Als sie fünf Werst weitergefahren waren, wurde er plötzlich nachdenklich. Er erinnerte sich an ein rosiges Gesicht, an ein kleines Husarenschnurrbärtchen und wurde unruhig.

»Zurück!« rief er dem Kutscher zu.

Verdutzt sah Drossida Iwanowna ihn an:

»Was hast du, Väterchen? Du bist wohl verrückt? – Fahr, fahr nur weiter,« befahl sie hastig dem Kutscher. »Hat man so was schon erlebt?!«

Zum ersten Mal seit seiner Krankheit weinte Wilhelm.

In Tobolsk erholte er sich. Etwas lockerte sich in der Brust. Sogar die Augen schienen besser zu werden. Bald bekam er einen frohen Brief von Ustinjka: Sie bemühte sich um die Erlaubnis, ihn zu besuchen.

Im Herbst hoffte sie abzureisen.

Die Erholung hielt nicht an. Im Sommer verschlimmerte sich sein Zustand.

 

VI

Einmal machte er einen kleinen Spaziergang und kam müde, ganz entkräftet nach Haus. Er legte sich auf eine Bank und schloß die Augen. Schwäche und heimliche Zufriedenheit erfaßten ihn. Er hatte nichts weiter zu tun. Alles war getan. Nur noch zu liegen hatte er. Es war schön, zu liegen. Doch das Herz störte ihn. Es stürzte fortwährend nach unten. Drossida Iwanowna schnarchte selig in der Nebenkammer. Dann hatte er einen Traum:

Gribojedow saß da im grünen Tscherkessenrock, unter dem die feine Wäsche sichtbar war, und schaute ihn hartnäckig und durchdringend an. Gribojedow sagte etwas, anscheinend etwas ganz Belangloses. Dann aber quollen ihm die Tränen unter der Brille hervor. Verlegen wandte er den Kopf zur Seite, nahm die Brille ab und wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch.

»Was hast du, Bruder?« sagte Wilhelm gönnerhaft und in froher Laune. »Warum denn, Alexander, mein Lieber?«

Dann fühlte er einen Schmerz und wachte auf. Der Körper war leer. Eine kalte Hand umklammerte das Herz und ließ es ganz langsam, Finger für Finger wieder frei. Daher der Schmerz. Er stöhnte, aber irgendwie unsicher. Drossida Iwanowna schlief fest und hörte ihn nicht.

... Der blonde Kutscher hat ihn dicht vor der Blauen Brücke mitsamt dem Wagen in den Schnee geworfen. Er muß nachsehn, ob Schnee in den Pistolenlauf gedrungen ist. Doch die Hand will sich nicht bewegen. Sein Mund ist voller Schnee. Er kann kaum atmen. »Es ist verboten, laut zu sprechen,« sagt der Oberst mit dem Hängeschnurrbart … »Weinen ist auch verboten.« »Wirklich?« wundert sich Wilhelm demütig. »Auch weinen ist verboten? Dann wein ich nicht.«

Er verlor das Bewußtsein.

So lag er die ganze Nacht und den nächsten Morgen bis zum Mittag. Lange schon bemühte sich um ihn der Arzt, zu dem Drossida Iwanowna am frühen Morgen gerannt war, und lange schon saß Puschtschin an seinem Bett und biß sich den Schnurrbart. Wilhelm erwachte, sah mit schwachen Augen Puschtschin und den Arzt an und fragte:

»Der wievielte ist heute?«

»Der elfte,« sagte Drossida Iwanowna schnell. »Geht's dir ein wenig besser, Väterchen?«

Sie sah verweint aus, hatte das Sonntagskleid an.

Wilhelm bewegte die Lippen und schloß die Augen wieder. Der Arzt flößte ihm Kampfer ein. Eine Sekunde lang hatte er eine unangenehme Empfindung im Mund, dann verlor er wieder das Bewußtsein. Einmal schrak er von einem Kältegefühl auf. Man hatte ihm eine kalte Kompresse auf die Stirn gelegt. Endlich wachte er völlig auf. Er sah sich um. Das Fenster schillerte kupferrot in der untergehenden Sonne. Er sah seine Hand an. Eine dünne Wachskerze steckte darin.

Er ließ sie fallen und verstand.

Am Fußende standen die Kinder und betrachteten ihn neugierig aus weitgeöffneten Augen. Wie blaß, wie mager waren sie! Er gab Drossida Iwanowna einen Wink. Sie schneuzte sich hastig, wischte die Augen und beugte sich zu ihm nieder.

»Dronjuschka,« sagte er mit Anstrengung und wußte, daß er sich beeilen mußte, sonst war es zu spät. »Fahr nach Petersburg.« Er bewegte die Lippen, streckte den Finger nach der Manuskriptkiste aus und fügte leise hinzu: »Du verkaufst das. Man wird dir helfen. Die Kinder müssen untergebracht werden.«

Drossida Iwanowna nickte. Wilhelm winkte die Kinder heran und legte seine riesige Hand auf ihre Köpfe.

Er sagte nichts mehr.

Er hörte irgendeinen Ton, eine Nachtigall, einen Bach. Der Ton floß dahin wie Wasser. Er lag am Bach unter einem Zweig. Dicht über ihm ein kraushaariger Kopf. Er lachte, ließ die weißen Zähne sehn, scherzte und kitzelte Wilhelms Augen mit seinen rötlichen Locken. Die Locken waren fein und kühl.

»Du mußt dich beeilen,« mahnt Puschkin.

»Ich beeil mich ja,« sagt Wilhelm schuldbewußt. »Du siehst ja. Es ist Zeit. Ich mach mich fertig. Man kommt nie so richtig dazu.«

Durch das Gespräch hindurch hört er eine Frau weinen.

»Wer ist das? – Ach ja, Dunja!« erinnert er sich.

Puschkin küßt ihn auf die Lippen. Leichter Kampferduft.

»Bruder,« sagt er freudig zu Puschkin, »Bruder, ich geb' mir Mühe.«

Rings um das Bett standen die Nachbarn, Puschtschin, Drossida Iwanowna, die Kinder.

Wilhelm streckte sich. Sein Gesicht wurde abstoßend gelb. Der Kopf fiel zurück.

Er lag da, gerade, mit hochstehendem, grauem Bart, spitzer Nase und aufwärts gedrehten, gebrochenen Augen.


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