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Festung

 

I

Auf die verschiedenste Art war Küchel in seinem Leben gereist.

In einer Kutsche, per Schiff, per Gondel, im holpernden Bauernwagen.

Er war von Petersburg nach Berlin, Weimar, Lyon, Marseille, Paris und Nizza gereist und von da zurück nach Petersburg. Er war von Petersburg nach Uswjaty, Witebsk, Orscha, Minsk, Slonim, Wengrow, Liwo und Warschau gereist, und jetzt reiste er wieder zurück nach Petersburg. Aber diese Rückreise machte er nicht allein. Dicht an ihn gedrängt saßen Begleitsoldaten im Wagen. Und wenn die Reise mit Semjon unbequem war, diese hier war es hundertmal mehr. Die Hand– und Fußfesseln waren entsetzlich schwer, rissen die Haut in Fetzen, bissen sich ins Fleisch und klirrten bei jedem Schritt.

Dann kamen die weiteren Reisen: Peterpaulsfestung, Schlüsselburg, Festung Dünaburg, Festung Reval, Sveaborg. Das waren die erfreulichsten Reisen.

Wenn einer aus freien Stücken reist, dann kann er, hat er Geld und Lust, ein Schiff oder eine Kutsche oder eine Gondel besteigen und nach Berlin oder Weimar oder Lyon fahren. Wenn einer aber nicht aus eigenem Willen reist, sondern nur, um einem fremden Willen zu entrinnen, dann denkt er bloß an dieses eine Ziel.

Dann sieht er weder Himmel noch Sonne noch Wolken noch die vorbeieilenden Meilensteine noch die verstaubten Blätter der Chausseebäume, oder er sieht sie nur ganz flüchtig. Er strebt bloß immer weiter. Er strebt nur danach, eben diese Wolken, diese Chausseebäume und vorbeieilenden Meilensteine weit hinter sich zu lassen.

Wenn er aber als Nummer 19 und in einer Zelle von drei Schritt Breite und fünfeinhalb Schritt Länge sitzt, mit der Aussicht, zwanzig weitere Jahre so zu sitzen, und wenn das Fenster klein und trübe und hoch über der Erde angebracht ist, dann wird jede Reise an sich schon zu einem erfreulichen Ereignis.

Ist es denn tatsächlich nicht gleichgültig, wohin die Reise geht, ob man in einen etwas besseren oder schlechteren, etwas feuchteren oder trockeneren Sarg kommt? Hauptsache, man hat gar kein Ziel vor sich, man erwartet gar nichts und kann sich deshalb unterwegs ganz seiner Freude hingeben. Man betrachtet den Himmel, die Wolken, die Sonne, die verstaubten Blätter der Chausseebäume, wünscht nichts weiter und freut sich darüber.

Und wenn einer mehrere Monate hintereinander immer bloß die gleichen zwei, drei menschlichen Gesichter sieht, und auch die bloß durch das kleine Guckloch in der Tür, und wenn es immer bloß die spähenden Gesichter der Wache oder des Aufsehers sind, dann gewinnt man zu den Bäumen, den Wolken und Meilensteinen ein Verhältnis wie zu den Menschen; jeder Baum hat seine eigene, einmalige Physiognomie, in der man manchmal sogar Mitleid lesen kann. Man trinkt mit voller Brust die Luft, wenn es auch nicht immer die belebende Luft der Felder ist, sondern meistens die Luft, die der polternde Wagen mit Staub durchwirbelt. Aber die Luft der Zelle ist noch schlimmer.

Und wenn weder eine Straße noch Bäume da sind, noch der mit Reisestaub vermengte schwache Geruch von Dünger, wenn man in der rhythmisch schaukelnden, schwülen und dunklen Kajüte eines Gefängnisschiffes sitzt, die sich wenig von einem einfachen Brettersarg unterscheidet, dann ist man dennoch voller Freude. Denn es ist ein schwimmender Sarg, und man hört von oben die Kommandorufe. Groß ist diese Freude, wenn man aus der Peterpaulsfestung weggebracht wird, ganz besonders groß, wenn man, es sind erst zwölf Tage her, mit eigenen Augen hat zusehen müssen, wie zwei Freunde und drei Gesinnungsgenossen gehängt worden sind.

Man kann die Augen schließen. Man kann sich der Bewegung des Schiffes hingeben, die einen beruhigt, denn sie stimmt stets mit der Bewegung des eigenen Blutes überein. Man kann sich Mühe geben und einschlummern und wenigstens für eine halbe Stunde, für zehn Minuten nicht mehr sehen, wie der blutende, noch halb lebende Leichnam vom Galgen herunterfällt Bei der Hinrichtung der Dekabristen rissen die Stricke einiger Galgen. Die Verurteilten wurden dann zum zweiten Mal gehängt. Anm. d. Übers. und mit der Stimme des Freundes, des hohen Dichters und Freundes, mit der Stimme desjenigen, der einem einst die Haare gestreichelt hat, schreit:

»General, Sie sind wohl hergekommen, um unsern qualvollen Tod zu sehn!«

Und man kann für eine halbe Stunde oder zehn Minuten das grobe Kommando vergessen:

»Hängt sie wieder auf! Schnell!«

Das alles kann der Gefangene vergessen bei den dumpfen, wie unterirdischen Stößen des unaufhörlich sich bewegenden Schiffes.

Und wenn es ihm gelingt einzuschlafen, dann kann er das Gesicht der Braut, der Mutter, der Freunde vergessen; er muß einschlafen, er muß vergessen, denn er war zum Tode verurteilt und ist jetzt zum Leben verurteilt, denn er hat Jahrzehnte Einzelhaft vor sich, die ihm gewährt worden sind aus Gnade.

Die Kajüte ist doch besser als die drei Schritt breite und fünfeinhalb Schritt lange Zelle, wenn man ihn auch aus dem Schlaf geweckt, ihm die Augen verbunden und ihn so in den dunklen, schwimmenden Sarg gelegt hat, wenn er auch nicht weiß, wohin die Fahrt geht, wenn er auch wüßte, daß er nach Schlüsselburg gebracht wird. Denn unter ihm ist Bewegung, schwaches Plätschern des Wassers, das an den Schiffsplanken zerschellt und unaufhörlich fließt, Bewegung, die mit der Bewegung des in den Adern kreisenden Blutes zusammenklingt.

 

II

In Sakup, immer noch in dem gleichen Gutsbesitzerhause, wohnten zwei Witwen: Ustinja Jakowlewna und Ustinjka. Letztere war seit zwei Jahren Witwe. Ustinja Jakowlewna war schon alt, aber immer noch rüstig. Ustinjka war ebenfalls merklich gealtert.

Die Kinder wuchsen heran. Mitjenjka war ein fähiger Junge und glich in seinem Wesen dem Onkel Willi. Wenigstens schien es Ustinja Jakowlewna so. Sie sprach mit Ustinjka nie darüber, aber im geheimen verwöhnte sie den Jungen.

Im Dorf war alles beim alten. Nur Iwan Letoschnikow, Wilhelms alter Freund, war gestorben, in der Trunkenheit auf der Straße erfroren.

Manchmal, an Feiertagen, kam Semjon, der jetzt als Freigelassener in der Stadt wohnte. Er war noch immer der alte, lustige Spaßvogel, der die Mädchen in der Gesindestube zum Kichern brachte; aber er hinkte ein wenig; sein linkes Fußgelenk hatte unter den Fesseln gelitten, als er zwei Jahre in der Festung Grodno saß. Mit ihm unterhielt sich Ustinja Jakowlewna ganze Tage: Willi war nicht da und ihr Jüngster, Michail, auch nicht. Semjon erzählte ihr von beiden. Ustinja Jakowlewna schüttelte ihr altes Gesicht, hörte den Erzählungen von Willis Streichen zu und lächelte. Dann entließ sie Semjon und setzte sich hin, um den »Jungen« zu schreiben. Das wurden immer ellenlange, mit winzigen, schmalen Buchstaben vollbeschriebene Briefe.

Ein- oder zweimal im Jahr trafen Briefe von den »Jungen« ein, von Willi und Mischa. Mischa war im Katorgazuchthaus in Sibirien. Von Willi wußten weder Mutter noch Schwester, wo er war. In seinen Briefen war jedes Mal die Ortsangabe sorgfältig durchgestrichen und der Stempel auf der Adresse mit dicker Farbe überschmiert.

An solchen Tagen schlossen sich die beiden Witwen für den ganzen Tag ein. Die Kinder liefen, sprangen, spielten. Mitjenjka stand lange vor der Tür und suchte irgend etwas davon zu erlauschen, was Großmutter und Mutter besprachen. Aber sie flüsterten leise, und schließlich hatte Mitjenjka es satt, vor der Tür zu stehn.

Wo war Willi?

Kein Mensch wußte es. Von allen anderen war bekannt, wo sie waren und was mit ihnen los war. Nur von Willi und noch einem, Batjenkow, wußte kein Mensch etwas.

Seine Briefe kamen wie vom Meeresgrund herauf.

Die Kaiserin Maria Fjodorowna hatte persönlich Ustinja Jakowlewna empfangen. Von Willi jedoch wollte sie nicht sprechen. Als Ustinja Jakowlewna die Rede auf ihn brachte, schwieg sie. Nur zum Schluß der Audienz sagte sie kühl:

»Ich bedaure Sie tief, ma chère Justine, daß Sie einen solchen Sohn haben.«

Ustinja Jakowlewna ging nicht mehr zu Maria Fjodorowna.

Auch Ustinjka reiste nach Petersburg, um etwas für den Bruder zu tun.

In den Tagen ihrer Abwesenheit war Ustinja Jakowlewna besonders ruhig und freundlich. Sie zankte die Kinder nie aus und las manchmal ein Buch. Sie wußte: Wenn Ustinjka etwas wollte, dann setzte sie es durch; sie war von unermüdlicher Energie, und für den Bruder fiel ihr kein Gang zu schwer.

Ustinjka blieb einen Monat in Petersburg, und während dieser ganzen Zeit war Ustinja Jakowlewna von ausgeglichener Ruhe. Dann kam sie zurück. Die Mutter sah ihr Gesicht, fragte nichts weiter und ging auf ihr Zimmer. Dort blieb sie bis zur Dämmerung sitzen, kam dann wieder und besprach mit ihr allerlei Geschäftliches, als ob sie nie weg gewesen wäre.

Die Mutter wußte, daß die Freunde Willi nicht im Stich ließen. Sascha Gribojedow, der einen sehr hohen Posten im Orient verwaltete, betrieb schon seit langem die Verbannung Willis nach dem Kaukasus, Sascha Puschkin, der Dichter, der jetzt am Hofe war, wollte mit dem Zaren sprechen und wartete bloß auf eine günstige Gelegenheit. Gläubig nahm sie jedes Gerücht auf, das eine Mal, daß Willi nach dem Kaukasus, das andere Mal, daß er hierher aufs Land verbannt werden solle.

Eines Tages fing sie sogar an, das Zimmer in Ordnung zu bringen, in dem Willi früher gewohnt hatte. Sie stellte die Möbel um, ordnete die Bücher.

Doch zu der Tochter sagte sie nichts, und diese fragte sie auch nicht.

Einmal kam Dunja nach Sakup.

Mutter und Tochter wußten, daß Dunja Wilhelm liebte. Sie war nicht mehr das fröhliche, junge Mädchen von früher; nur ihr sicherer und schneller Gang war derselbe geblieben. Ebenso sicher und schnell war sie in ihren Entschlüssen. In ihrer Gegenwart wurde alles ungewöhnlich einfach und klar.

Sie blieb zwei Tage lang in Sakup, und am zweiten unterhielten sich Mutter und Tochter mit ihr, leise und abseits von den Kindern. Die Kinder wußten, wenn Mutter und Großmutter leise miteinander sprachen, dann handelte es sich um die zwei Onkels.

Schließlich küßte Dunja die Kinder zärtlich und fuhr weg, und die beiden Witwen begannen zu warten.

Dunja reiste zum Zaren. Sie wollte ihn um die Erlaubnis bitten, Wilhelms Schicksal zu teilen und ihn heiraten zu dürfen. Sie hatte hohe Beziehungen, und Benkendorff selber versprach, daß der Zar sie empfangen werde. Der Zar empfing sie auch.

Dunja machte einen tiefen Knix vor ihm.

Nikolaus erhob sich höflich vom Sessel und forderte sie mit einer Handbewegung auf, Platz zu nehmen.

»Ich stehe zu Ihren Diensten,« sagte er, während seine kalten Augen über ihr Gesicht, ihre Brust, ihre Hände, ihre ganze Gestalt glitten.

Dunja errötete, sagte aber ruhig:

»Majestät, ich habe eine Bitte an Sie, durch deren Erfüllung Sie mich für mein ganzes Leben glücklich machen würden. Ihre Ablehnung würde mich unglücklich machen.«

»Dem Glück schöner Frauen zu dienen, ist eine ebenso schmeichelhafte wie undankbare Pflicht.« Nikolais Lippen lächelten, und seine Augen glitten mit der gleichen Kälte über die Gestalt des Mädchens.

»Majestät, ich habe einen Bräutigam,« sagte Dunja leise. »Von Ihnen hängt es ab, ob ich mich mit ihm verheiraten werde oder nicht.«

»Obwohl die Erfüllung Ihres Wunsches einen gewissen Grad von Selbstaufopferung bedeutet,« dabei sah er Dunja in die Augen, »will ich Sie doch anhören. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Mein Bräutigam heißt Wilhelm Küchelbecker,« sagte Dunja und sah ihn standhaft an.

Nikolais Lippen verzogen sich verächtlich. Er lehnte sich in den Sessel zurück und lächelte:

»Ich bedaure Sie, mademoiselle.«

»Majestät,« flehte Dunja, »ich bin bereit, meinem Bräutigam überallhin zu folgen, wohin es auch sein sollte.«

»Das ist unmöglich,« sagte Nikolaus kalt, ohne den Blick von ihr abzuwenden.

»Majestät, ich bin bereit, ihm in die Katorga, nach Sibirien, überallhin zu folgen,« wiederholte Dunja.

»Was erwarten Sie denn dort? Wäre es denn nicht besser, auf einen solchen Bräutigam zu verzichten?«

Dunja faltete die Hände.

»Ich würde Sie als meinen Retter betrachten, wenn Sie meine Bitte erfüllen würden.«

Nikolaus erhob sich. Dunja beeilte sich aufzustehn. Er lächelte leicht: »Das ist unmöglich.«

»Warum, Majestät?«

Nikolaus war peinlich berührt.

»Wenn ich sage, daß es unmöglich ist, ist es überflüssig, nach den Gründen zu fragen, mademoiselle. Wenn Sie. aber die Gründe wissen wollen,« fügte er mit ironischem Lächeln hinzu, »bitte: Ihr Bräutigam ist in einer Festung. Wenn man in Einzelhaft sitzt, kann man schlecht heiraten.«

 

III

Wilhelm schrieb der Mutter, daß er gesund und ruhig sei.

Das stimmte, wenigstens zur Hälfte. Ruhig war er inzwischen geworden. Der Oberst hatte selber die Tür hinter ihm verschlossen. Mit einem großen, schweren Schlüssel, ähnlich dem, mit dem der Wächter in Sakup das Tor für die Nacht schloß.

Gretsch hatte seine Druckerei, Bulgarin seine Zeitschrift, Ustinjka ihr Haus und ihren Hof und der Oberst seine Schlüssel.

Nur Wilhelm hatte nie etwas gehabt.

Gretsch hatte ihm Korrekturen zu lesen gegeben, Bulgarin hatte ihm Geld gezahlt und der alte, schnurrbärtige Oberst ihn mit dem Schlüssel eingesperrt.

Das waren alles Ordnungsmenschen. Wilhelm hatte diese Menschen nie verstanden. Hinter den einfachsten Dingen vermutete er Wunder und die komplizierteste Mechanik. Er zerbrach sich den Kopf darüber, wie ein Mensch es fertig bringen könne, Geld zu zahlen oder Macht oder ein Haus zu besitzen. Er hatte nie ein Haus, nie Geld, nie Macht besessen. Er hatte nur sein Handwerk, das Handwerk eines Schriftstellers gehabt, das ihm Spott, Zank, Schulden einbrachte. Er hatte immer geahnt, daß einmal ein Tag kommen werde, an dem die Ordnungsmenschen ihn aufs Korn nehmen und ihn regulieren würden, an dem sie ihm irgendeinen Platz anweisen würden.

Eigentlich hatten seine sämtlichen Freunde sich stets darum bemüht, irgendeinen Platz für ihn zu finden. Aber alles war mißlungen. Überall wurde er hinausgestoßen. Und manche Sache, die schon nahe am Gelingen war, scheiterte noch im letzten Augenblick. Auch der Schuß war mißlungen.

Jetzt hatten die Ordnungsmenschen einen Platz für ihn gefunden, und es war ein ruhiger Platz. Damit er noch ruhiger werde, gab man ihm in den ersten Jahren weder Tinte noch Feder noch Papier. Wilhelm ging in der Zelle auf und ab, machte Verse und lernte sie auswendig. Das Gedächtnis begann zu versagen. Nach einigen Monaten versanken die Verse ins Unbekannte.

Vor Zeiten hatte er bei Gretsch gelebt und für Bulgarin gearbeitet.

Damals war er sich wie Gulliver bei den Liliputleuten vorgekommen. Jetzt war er selber ein Liliput geworden und die Dinge um ihn herum lauter Gullivers. Das winzige, eng vergitterte Fenster oben unter der Decke war ein reiches Beobachtungsfeld. Verirrte sich ein Märzkater an dieses Fenster, war es ein Fest.

Wenn er nur miauen wollte! Wenn er nur einen Buckel machen wollte!

Wilhelm studierte nur in Etappen die Topographie seiner Zelle, um sie ja nicht zu schnell zu erschöpfen. Heute wurde die eine Mauer besichtigt, zollweise natürlich, morgen die nächste.

Die Mauern waren vollgekritzelt mit Inschriften, Zeichnungen, meist Darstellungen weiblicher Körper, und Versen.

»Bruder, ich habe mich zum Selbstmord entschlossen. Lebt wohl, meine Lieben alle.« (Das war mit einem Nagel gekritzelt. Die ungleichmäßigen, tief eingeritzten Buchstaben waren der Abkratzung entgangen.)

»Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. F. Stern« (Sehr gleichmäßig und ordentlich, offenbar auch mit einem Nagel eingeritzte Schrift.)

»Ich habe noch acht Jahre zehn Monate. Bin krank.« (Breite Schrift, wahrscheinlich mit dem Nagelkopf eingegraben.)

Eine Inschrift erfüllte ihn mit Schrecken:

»Peiniger, daß eure Seele gekreuzigt werde! Napoleon, Kaiser von Rußland.« Hier war jemand irrsinnig geworden.

Wilhelm ging sparsam mit seinen Erinnerungen um. Man durfte sie nicht verschwenden, wenn man in einer Festung saß. Das war ja alles, was einem geblieben war. Und er war doch erst dreißig Jahre alt.

Beim Einschlafen teilte er sich die Erinnerungen für den nächsten Tag zu: Lyzeum, Puschkin, Delwig, Alexander (Gribojedow). Mutter und Schwester. Paris. Der Bruder. Nur manchmal: Dunja.

Nur manchmal. Denn wenn der Gefangene Nr. 16 schon gleich am Morgen an Dunja zu denken beginnt, dann werden seine Schritte hastiger. Dann schaut durch das viereckige Fensterchen in der Tür ein menschliches Auge herein, und eine Stimme sagt:

»Es ist verboten, in der Zelle zu rennen.«

Zwei Stunden vergehen. Wieder das Auge. Wieder die Stimme:

»Es ist verboten, zu sprechen.«

Zweimal bekam Wilhelm sonderbare Verbote zu hören:

»Es ist verboten, mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen.«

»Wirklich verboten?« fragte er zerstreut.

Fast gutmütig fügte die Stimme hinzu:

»Auch laut weinen ist verboten.«

»Wirklich?« wunderte sich Wilhelm und erschrak über seine dünne, knarrende Stimme. »Dann tu ich es nicht.«

Deshalb teilte sich Wilhelm nur selten die Erinnerung an Dunja zu.

Und genau so, wie er einmal unter die Menschen Ordnung gebracht hatte, um sie in den Nahkampf gegen Kartätschen zu führen, genau so brachte er Ordnung in seine Erinnerungen. Er gewann Macht über sich. Er spaltete sich in zwei Teile. Der eine, Küchel, war ein armer, armer Mann. Nie war ihm restlos etwas gelungen. Jetzt sprang dieser arme Mann in einem Käfig herum, zählte die Jahre, die er noch darin zubringen mußte, und wußte nicht einmal genau, zu wieviel Jahren er eigentlich verurteilt war. Er hatte damals zwanzig Jahre Katorga bekommen, saß aber im Gefängnis in Einzelhaft. Der andere Teil, der ältere Mensch, hatte von morgens bis abends die Führung, ging durch die Zelle, dichtete und wies Willi die tägliche Ration Erinnerungen und die Feiertage zu.

Willi hatte auch Feiertage: die Namenstage der Freunde, die Lyzeums Jahrestage.

Besonders den 30. August, den Alexandertag, den Namenstag Puschkins, Gribojedows, Odojewskis. Mit ihnen unterhielt sich Küchel den ganzen Tag.

»Na also, Alexander,« sagte er zu Gribojedow, »du siehst: Ich lebe. Trotz allem. Lieber, was schreibst du jetzt? Du stellst ja das ganze russische Theater auf den Kopf. Du holst dir die russische Sprache von der Straße, nicht aus den Salons. Du und Krylow. Wie geht es Alexej Petrowitsch? Liegt ihr euch noch immer in den Haaren? Was macht dein Herz? Ist es noch immer eine glühende Kohle? Sag doch, Lieber!«

An die Stimme konnte sich Wilhelm nicht mehr erinnern, aber die Gesten kannte er noch. Gribojedow zuckte mit den Schultern, schüttelte langsam den Kopf und hob auf die Frage: »Was macht dein Herz?« ratlos die feinen Finger in die Höhe.

»Ich gratuliere, Sascha.« Wilhelm drückte sich mit der Wange an Puschkin. »Du mein liebes Herz. Du meine Freude. Schick mir alles, alles, was du geschrieben hast. Denke dir! Ich kenne die ›Zigeuner‹ auswendig von Anfang bis zu Ende. Wie herrlich hast du das ausgedrückt, Sascha! Wenn ich auch meinen eigenen Weg in der Poesie gehe und Derschawin für den größten Dichter halte, so finde ich doch auch in deinen Versen mein Herz.«

Puschkin entblößte die Zähne und schüttelte Wilhelm vor Verlegenheit.

So verging der Tag.

Viele Male wurde an diesem Tag die Türklappe an der Zelle Nr. 16 hochgehoben, und eine unruhige Stimme sagte:

»Es ist verboten, in der Zelle zu sprechen.«

Aber nachts verschwand dieser zweite, ältere Mensch, und der Gefangene Nr. 16 blieb in der Zelle allein. Er verstand es nicht, mit seinen Träumen hauszuhalten. Er erwachte von Klopfhalluzinationen (in der Peterpaulsfestung war er, wie die anderen Gefangenen, jede Nacht mehrere Male durch scharfes Klopfen geweckt worden, damit er nicht schlafen konnte) und fuhr mit dem ganzen Körper zusammen. Wieder wurde er mit Jeannot Puschtschin konfrontiert. Wieder stand er dem alten Freund gegenüber und schwor weinend, daß Puschtschin zu ihm gesagt habe:

»Hol Michail herunter.«

Und wieder betrachtete Puschtschin mitleidig Küchels irrsinniges Gesicht und schüttelte verneinend den Kopf.

Und wieder schrieb er, schrieb er sinnlos, endlos, gar nicht mit seiner eigenen, sondern mit einer fantastischen, fremden Schrift seine Aussagen nieder und fühlte mit Entsetzen, daß er gar nicht schrieb, was er wollte, und schrieb, schrieb immer weiter.

Und einmal, nur ein einziges Mal träumte er von dem Morgen der Exekution, und es war ein Glück, daß er nie mehr davon träumte:

Poltern einer Tür und dann irgendwo in der Nähe Kettengeklirr. Er hört Rylejews gedehnte Stimme: »Lebt wohl, lebt wohl, liebe Brüder!« Gleichmäßigen Schritts, kettenklirrend, geht Rylejew an der Zelle vorüber. Wilhelm kann aber weder Hand noch Lippen bewegen, um Abschied zu nehmen.

Kettengeklirr.

Auch Musik, wie es scheint. Süß und rhythmisch. Auf dem Kronwerk der Peterpaulsfestung spielt Militärmusik. In der dünnen Morgenluft haben die Trompeten einen abgerundeten, vollen Ton: wunderbare, ruhige Musik.

Türengeknarr. Schlüsselgerassel.

Er wird hinausgeführt und in ein Menschenkarree gestoßen.

Er umarmt Puschtschin, Sascha Odojewski.

Die Brust atmet leicht.

»Ruhe!« (Jemand scheint zu kommandieren.)

Tatsächlich! Wie hat er es bloß bis jetzt nicht bemerkt! Fünf Gerüste stehen dort. Schaukeln. Schmal. Neu.

Ah, sie werden zum Schaukeln geführt!

Zu fünft.

Fünf Männer.

Ihre Hände sind mit Riemen gefesselt. Die Füße auch. Sie machen ganz winzige Schritte. Rylejew.

Das Gesicht! Das Gesicht!

Ganz ruhig!

Er nickt Wilhelm zu. Er bewegt den Kopf und schaut ihn an.

Das Gesicht!

Sie werden zum Schaukeln geführt. Musik. Kinderschaukeln.

Plötzlich wird er selber irgendwohin geschleppt. Es wird ihm schlecht.

Man reißt ihm den Frack vom Leib und wirft ihn ins Feuer.

Dicker Qualm würgt ihm die Kehle.

Ein Knacken über seinem Kopf. Sie haben den Säbel über ihm zerbrochen.

Das Gesicht!

Vor ihm eine Vogelscheuche: Riesenhut mit riesiger, schmutziger Feder, große Stiefel, halbnackt. Unter dem gestreiften Sträflingsrock schauen die nackten Waden hervor.

Wilhelm versteht plötzlich, daß es Jakubowitsch ist, den man so hergerichtet hat, und er lacht kreischend und dünn.

Das Gesicht!

Wilhelm lacht.

Von dem hohen, weißen Pferd herab schaut General Benkendorff mit klaren Augen Wilhelm an wie ein ekles Geschöpf.

Und er lacht, er lacht, immer dünner und kreischender.

Das Gesicht!

Ein Geheul dringt aus der Zelle Nr. 16, ein ersticktes, irrsinniges Heulen und Bellen.

 

IV

Ein Freund, der stumm den Freund umarmt,
Eh dieser in Verbannung zieht.

Kleine Station zwischen Noworschew und Luga-Borowitschi. Jeder, der hierherkam und wartete, bis der Stationsvorsteher ihn aufmerksam gemustert hatte, um seinen Rang und Stand festzustellen, und ihm Pferde für die Weiterreise zuwies, ging unbedingt von Wand zu Wand und sah sich die alten Bilder und Portraits an. Teils waren es bekannte Bilder, die dicke Anna Johannowna, der stumpfnasige Paul, teils unbekannte, lauter Generäle mit bösen Augen. Auch die Geschichte des verlorenen Sohnes hing natürlich da.

War draußen Herbst und Landregen, dann wurde das Warten besonders lästig.

Der Reisende, der am 14. Oktober 1827 auf der Station Borowitschi stecken geblieben war, erwachte gegen zehn Uhr morgens. Verschlafen betrachtete er den bunten Bettvorhang, die Balsaminentöpfe, den am Tisch sitzenden Stationsvorsteher, erinnerte sich dann, wo er war, überlegte, daß er viel Zeit hatte, und blieb liegen. Sporenklirrend kam ein Husar herein und warf seine Reisepapiere auf den Tisch. Der Vorsteher erhob sich und sagte stockend:

»Sie müssen zwei Stunden warten.«

Der Husar regte sich auf und schimpfte, doch der Vorsteher zuckte gleichgültig die Schultern und schwor, daß keine Pferde da seien. Der Husar bekam den Streit bald satt. Er warf den Mantel ab und schaute sich in der Stube um.

Der Reisende, ein grauhaariger, dicker Mann, sah ihn freundlich und gutmütig an.

Der Husar verbeugte sich stumm.

Dann wurde er ungeduldig. Er rief den Vorsteher und verlangte Tee. Der Dicke desgleichen. Beim Tee kamen sie ins Gespräch.

Der Dicke stellte sich als Gutsbesitzer aus Porchow vor, der in Geschäften nach Petersburg reise. Nach einer Viertelstunde machte man ein Spielchen. Der Dicke lag dabei im Bett und warf bei jedem neuen Spiel den schweren Körper hastig herum. Er spielte, verlor und ächzte.

Der Husar fing Feuer. Er schob das Häufchen Gold zu sich heran, fügte ein ungefähr gleiches Häufchen hinzu und setzte alles auf eine Karte. Der Dicke schlug sie.

In diesem Augenblick trat wieder ein Reisender in die Stube, ein kleiner, lebhafter Mensch. Er war schlecht gelaunt, schimpfte und machte dem Vorsteher einen derartigen Krach, daß dieser versprach, in einer Stunde die Pferde für ihn fertig zu machen. Dann setzte er sich in einen Sessel, kaute an den Fingernägeln und bestellte ein Mittagessen. Er begrüßte die Spieler kurz, sah zum Fenster hinaus, pfiff etwas und begann dann interessiert dem Spiel zuzuschauen.

Man brachte ihm Essen und eine Flasche Rum.

Er trank langsam und sah den Spielern zu.

Als er fertig war, rief er den Stationsvorsteher und zahlte.

Dieser sah das Geld an und sagte schüchtern:

»Noch fünf Rubel, Euer Gnaden. Für den Rum.«

Der Reisende hatte kein kleines Geld.

Er nahm dem Stationsvorsteher ein Fünfrubelstück aus der Hand, ging auf die Spieler zu und fragte lächelnd:

»Sie erlauben?«

Er setzte auf die Karte.

Der Dicke schlug sie.

Lebhaft griff der andere in die Tasche, zog ein Goldstück hervor, setzte und verlor.

Er verfinsterte sich, rückte einen Sessel heran und fing nun richtig an zu spielen.

Nach zwei Stunden wurde angespannt. Er befahl, zu warten.

Nach einer weiteren Stunde stand er vom Tisch auf, bezahlte dem Dicken vierzehnhundert Rubel und schrieb auf einen Zettel: »Ich verpflichte mich hiermit, an den Inhaber dieses Scheines jederzeit 200 Rubel auszuzahlen. Alexander Puschkin«. Er trat aus dem Haus, wütend auf den Regen und sich selber, wickelte sich in den Mantel und sprach kein Wort bis zur nächsten Station.

Die nächste Station war Salasy.

»Ein richtiges Salasy!« deutsch: Loch, Bärenwinkel. Anm. d. Übers. brummte er, ging ins Stationsgebäude und wartete ungeduldig auf die Pferde. Er kam mit der Wirtin ins Gespräch. Sie war noch jung, aber infolge ihres unbeweglichen Lebens dick und schwerfällig.

»Ist es nicht langweilig, so immer auf demselben Fleck zu hocken?« fragte er und lächelte.

»Nein. Weshalb soll man sich langweilen? Man hat bald da, bald dort zu tun und merkt gar nicht, wie der Tag vergeht.«

Und kommst doch nicht vom Fleck! dachte Puschkin.

»Sind Sie schon lange hier?«

»Bald zehn Jahre.«

Zehn Jahre auf dieser Station! Da kann man ja umkommen vor Langeweile. Himmel, es sind doch erst zehn Jahre her, seit wir das Lyzeum verließen! In vier Tagen feiern wir das in Petersburg. Jakowlew bereitet sicher schon alles vor.

Zehn Jahre. Welche Veränderung!

Delwig ist verkommen, säuft, wird von den Frauen betrogen. Korff ist ein vornehmer Mann geworden (der Speichellecker!). Wilhelm und Puschtschin sind so gut wie tot.

Und auch mit seinem eigenen Leben will es nicht klappen.

Traurig, bei Gott, traurig!

Auf dem Tisch lag ein Bändchen. Er sah hinein und staunte.

»Geisterseher« von Schiller. Er blätterte darin und vertiefte sich in das Buch.

Nein, Wilhelm hat nicht recht. Unreife durfte er Schiller nicht vorwerfen.

Schellengeklirr. Vier Wagen, jeder mit drei Pferden bespannt, hielten gleichzeitig vor dem Haus.

Im vordersten saß ein Regierungskurier.

Er sprang heraus, trat ins Zimmer und warf die Papiere auf den Tisch.

»Sicher Polen,« meinte Puschkin leise zur Wirtin.

»Wahrscheinlich,« sagte sie. »Die werden heute abtransportiert.«

Der Kurier schielte zu ihnen hinüber, sagte aber nichts.

Puschkin ging hinaus, um die Gefangenen zu sehen.

An der verwitterten Säule des Stationshauses lehnte ein Gefangener in einem Filzmantel, lang, grauhaarig, mit gebeugtem Rücken, trübem Blick. Für einen Augenblick hob er die müden Augen zu Puschkin, senkte sie dann und betrachtete seine Hand und die Nägel.

In einiger Entfernung die drei Wagen. Gendarmen und Gefangene waren noch dabei, herauszusteigen.

Ein kleiner, dicker Gefangener mit üppigem Schnurrbart, ein Pole, holte aus dem Wagen sein Bündel.

Puschkin sah ihm mit Interesse zu. Er öffnete ein Bündel, holte ein Stück Brot hervor, brach vorsichtig ein Stück ab, schüttete Salz darauf, setzte sich auf einen Stein und begann zu kauen. Seine bedächtigen, sachlichen Bewegungen fesselten Puschkins Aufmerksamkeit.

An den lang aufgeschossenen Mann neben der Säule trat ein ebenso langer und gebeugter, aber junger Gefangener heran, ebenfalls im Filzmantel und mit einer unsinnig hohen Bärenfellmütze.

Puschkin hatte ein unangenehmes Gefühl, als er ihn sah. Der Gefangene war schwarz, hager, hatte einen langen, schwarzen Vollbart.

An wen erinnert er bloß? dachte Puschkin.

Aha, an Vogel! Pfui Teufel!

Vogel war der Hauptspitzel unter dem verstorbenen Miloradowitsch gewesen und spionierte auch heute noch in Petersburg herum. Die ganze Stadt kannte ihn.

Ein Spion, dachte Puschkin. Der wird wohl für irgendeine Denunziation oder ein Verhör gebraucht. Vor Ekel verzog er das Gesicht und wandte sich wieder dem Polen mit dem Schnurrbart zu.

Da warf der Spion einen lebhaften Blick zu ihm herüber. Puschkin fühlte den Blick und drehte sich ärgerlich nach ihm um.

So betrachteten sie sich gegenseitig.

»Alexander!« rief der Spion dumpf.

Puschkin erstarrte. Der Spion warf sich ihm an die Brust, küßte ihn und weinte:

»Erkennst du mich denn nicht, mein Lieber, Teurer?«

Puschkin zuckte zusammen:

»Wilhelm! Bruder! Du bist's? Mein Freund, wohin wollen sie mit dir?«

Hastig sprach er weiter:

»Bist du gesund? Deiner Familie geht es gut. Ich hab sie neulich gesehen. Alle denken an dich. Wir unternehmen Schritte für dich. Vielleicht gelingt uns was. Was für Bücher soll man dir schicken? Bücher sind dir doch erlaubt?«

Zwei kräftige Gendarmen packten Wilhelm an den Schultern und schleppten ihn weg.

Ein dritter faßte Puschkin an der Brust, um ihn zurückzustoßen. Die Gefangenen drängten sich dicht zusammen und schauten stockenden Atems zu.

»Hände weg!« sagte Puschkin leise und sah den Gendarmen an mit rasendem Blick.

»Es ist verboten, mit Gefangenen zu sprechen, Herr,« erwiderte dieser, zog aber die Hand zurück.

Der Kurier kam aus dem Haus gelaufen.

Er packte Puschkin an der Hand und schrie:

»Sie erlauben sich, die Vorschriften zu verletzen? Sie werden dafür bestraft!«

Er hielt die Hand fest und gab den Gendarmen einen Wink.

Puschkin beachtete ihn gar nicht und fühlte gar nicht, daß er seine Hand festhielt.

Er sah nur Wilhelm.

Wilhelm wurde zum Wagen gezerrt. Halb ohnmächtig. Blaß. Die Augen verdreht. Der Kopf hing über die Brust. Man setzte ihn in den Wagen. Ein Gendarm schöpfte Wasser in einen Blechbecher und reichte es ihm. Er machte einen Schluck, sah Puschkin an und stöhnte kaum hörbar:

»Alexander!«

Puschkin riß die Hand los und lief zu ihm. Er wollte Abschied nehmen. Aber der Kurier schrie:

»Keine Gespräche zulassen!«

Wortlos stieß ihn der Gendarm zurück.

Puschkin lief zu dem Kurier und flehte ihn an:

»Hören Sie, das ist mein Freund! Lassen Sie uns doch Abschied nehmen. Hier hab' ich zweihundert Rubel. Erlauben Sie, daß ich sie ihm gebe.«

Ohne ihn anzusehn, brüllte der Kurier:

»Verbrecher dürfen kein Geld haben!«

Er ging auf Wilhelm zu und fragte streng:

»Wie kommst du dazu, mit dem zu sprechen? Wer ist das?«

»Das ist Puschkin. Kennen Sie ihn denn nicht? Den Dichter!«

»Ich weiß nichts,« sagte der Kurier finster. »Mach keine Geschichten.«

Dann schrie er:

»Los! Wartet auf mich einen Kilometer weiter!«

Der Wagen setzte sich in Bewegung. Wilhelm drehte stumm das Gesicht zurück und sah über die Schulter eines Gendarmen zu Puschkin hinüber. Zwei Gendarmen hielten ihm die Hände fest. Polternd und Kot nach allen Seiten spritzend, raste der Wagen davon.

Puschkin sprang auf den Kurier zu:

»Sie ließen mich nicht Abschied nehmen von meinem Freund und ihm Geld geben! Ihren Namen, bitte! Ich werde mich in Petersburg über Sie beschweren!«

Der Kurier bekam es mit der Angst und schwieg.

»Ihren Namen! Ihren Namen!« Dunkle Röte flog über Puschkins Gesicht.

»Podgorny,« antwortete der Kurier unsicher.

»Ausgezeichnet!« Puschkin keuchte vor Wut.

»Ein Festungsgefangener darf kein Geld haben.« Finster sah der Kurier ihn an.

»Ich spucke auf deine Festung!« brüllte Puschkin. »Ich spucke auf dich und deine Festung! Ich bin selber in Verbannung gewesen und bin trotzdem freigekommen. Warum hast du mich an der Hand gepackt? Du frecher Mensch, du!«

Der Kurier wich zurück, sah Puschkin an, sagte kein Wort und ging ins Stationsgebäude, um die Reisepapiere fertig zu machen. Puschkin ihm nach. Seine Lippen zitterten. Unterwegs fragte er schnell den Alten an der Säule:

»Wohin bringen sie euch?«

Der zuckte die Achseln:

»Wissen wir nicht.«

Die Gefangenen schwiegen.

Der schnurrbärtige Pole folgte Puschkin und dem Kurier mit den Augen und setzte dann sein Frühstück fort.

Am 16. Oktober 1827 wurde Wilhelm in die Festung Dünaburg eingeliefert.

 

V

Der Gefangene Nr. 25 der Festung Dünaburg bekam für sein musterhaft ruhiges Verhalten Tinte, Feder, Papier und Bücher.

Er bekam eine sonderbare Auswahl von Büchern: Den »Europäischen Boten«, Jahrgang 1805, Kurganows »Briefsteller«, den »Wohlgesinnten« mit seinen eigenen alten Versen. – Und wie in alten Zeiten wurde er wieder Journalist. Genau wie damals, als er bei Gretsch und Bulgarin arbeitete und selber einen Almanach herausgab, setzte er sich schon frühmorgens hin, um Aufsätze, Betrachtungen und Kritiken zu schreiben. Er schrieb über den »Europäischen Boten« von 1805 und über Kurganows »Briefsteller«, und seine jetzige journalistische Tätigkeit unterschied sich von der früheren bloß dadurch, daß keine Zeitschrift da war, die ihn druckte, und daß er keine Korrekturen zu lesen brauchte. Letzteres war ihm sogar angenehm. Korrekturenlesen konnte er nicht ausstehn. Die Manuskripte, Komödien, Verse, Dramen, Aufsätze häuften sich bergeweise, und am Ende jedes Monats kam der Kommandant, Oberst Christofowitsch, und trug alles weg.

»Diesmal ist es viel geworden!« sagte er und schüttelte staunend den Kopf. Er heftete die Blätter zusammen, drückte auf die letzte, saubere Seite ein Siegel und schrieb mit seiner altmodischen Schrift: »In diesem Heft sind … numerierte Seiten. Festung Dünaburg, den … im Jahre … Kommandant Genieoberst Jegor Christofowitsch …«

Der Oberst war ein alter Haudegen mit einer roten, fleischigen Nase und kurzgeschnittenem Haar.

Seine Tochter, eine Dame von etwa dreißig Jahren, die sich hinter den Balsaminentöpfen des Kommandantenhäuschens langweilte und Fett ansetzte, wurde eines Tages auf den lang aufgeschossenen Gefangenen aufmerksam, den man eben durch den Hof führte (Wilhelm war krank; man führte ihn ins Krankenhaus). Vom Fenster aus konnte man den Gefängnishof übersehen. Die Tochter erkundigte sich beim Vater und erklärte, ein Mensch mit solchen Augen könne kein schädlicher Verbrecher sein.

»Du weißt viel,« brummte der Oberst, »er ist ein gefährlicher politischer Mörder.«

»Gefährlich vielleicht, aber nicht schädlich,« erwiderte die Tochter träumerisch.

Auf den Oberst machte diese Äußerung Eindruck. Unbewußt machte er sie sich zu eigen: gefährlich, aber unschädlich.

Er begann dem Gefangenen Bücher zu geben. (Das erste war Kurganows »Briefsteller«, ein Buch, das er für besonders unterhaltsam und in diesem Fall für besonders angebracht hielt.)

Einmal kam er in die Zelle und sagte kurz:

»Spazierengehn!«

Von da an ging Wilhelm jeden Tag auf dem Gefängnishof spazieren. Der Hof war gepflastert, kahl. Ein Schilderhäuschen, Blick auf vergitterte Fenster. Trotzdem fiel Wilhelm vor Freude und Schwäche um, als er die erste Runde durch den Hof gemacht hatte.

Ab und zu, ganz selten kamen Briefe von Mutter und Schwester. Andere wurden nicht durchgelassen. Bald fand er eine Möglichkeit, selbst gelegentlich Briefe zu schicken.

Ein Wachtposten schaute auffallend oft durch die Öffnung in der Tür. Das reizte Wilhelm. Doch der Soldat hatte lebhafte, braune, fröhliche Augen. Wilhelm fragte ihn einmal:

»Wie ist das Wetter?«

Die übliche Antwort war: »Weiß ich nicht«,oder »Unterhaltungen sind verboten«. Der Wachtposten aber sagte nach kurzer Überlegung leise:

»Es ist warm.«

Jetzt fing Wilhelm an, sich manchmal, natürlich ganz kurz, mit ihm zu unterhalten, und bat ihn schließlich, an eine bestimmte Adresse einen Zettel zu übermitteln. Der Wachtposten überlegte und willigte ein. Wilhelm schrieb an Puschkin und Gribojedow:

 

Meine lieben Freunde und Brüder,

Dichter Alexander!

Ich schreibe Euch gemeinsam, um eine Verbindung zwischen Euch zu schaffen. Ich bin gesund und dank dem Geschenk der Mutter Natur, meinem Leichtsinn, nicht unglücklich. Unser Wiedersehen, Puschkin, werde ich nie vergessen.

Lebt wohl! Ich küsse Euch.

W. Küchelbecker.

Dünaburg, 10. Juli 1828.

 

Zwei Monate später erschien bei Puschkin ein kleiner, bescheidener Beamter, der sich dauernd ängstlich umsah und nur im Flüsterton sprach. Er gab ihm Küchelbeckers Brief. Puschkin drückte lange seine Hand, begleitete ihn bis zur Tür, saß dann lange in seinem Zimmer vor dem gelblichen Fetzen Papier, las ihn immer wieder, kaute an den Fingernägeln, zog die Stirn kraus und seufzte.

 

VI

Wilhelm bekam einen sehr interessanten Nachbar. Die Zelle neben ihm war bisher leer gewesen. Aber eines Tages hörte Wilhelm an der Nachbartür Schlüsselklirren und Schritte. Dann wurde jemand eingeschlossen.

Gleich darauf fing eine männliche Stimme laut zu singen an.

Den Text konnte Wilhelm nicht verstehen, aber an der Melodie erkannte er die Romanze »Der schwarze Schal«:

»Ich schau wie ein Irrer auf den schwarzen Schal, Und so kühl auch das Herz, es erschauert vor Qual.«

Wilhelm lächelte unwillkürlich über diesen ungewöhnlichen Anfang einer Gefängnisexistenz. Bald darauf hörte er das ärgerliche Brummen des Postens, und die Romanze brach ab.

Wilhelm war neugierig auf den neuen Gefangenen.

Am nächsten Morgen klopfte er leise an die Wand, um ein Klopfgespräch zu beginnen. Das Resultat war überraschend. Rasendes Klopfen antwortete. Der Nachbar hämmerte mit Händen und Füßen. Wilhelm war ganz entsetzt und gab den Versuch auf, sich auf diesem Wege mit ihm zu verständigen. Er mußte es anders machen.

Wilhelm bat »seinen«, d. h. den guten Soldaten, einen Zettel hinüberzuschmuggeln. Der Soldat war dazu bereit. Wilhelm fragte den Gefangenen, wer er sei, weshalb er im Gefängnis sitze und für wie lange. Die Antwort kam schnell, noch am gleichen Abend. Sie war ausführlich und mit einem Stückchen Kohle auf die Rückseite von Wilhelms Zettel gekritzelt. (Der Gefangene bekam also weder Tinte noch Papier noch Feder.)

Der Gefangene schrieb:

»Liber Nachbar heisen tu ich Fürst Sergej Obolenski bin Stapsrittmeister bei den Husaren sitz hier weiß der Teufel weshalb angeblich wegen Kartenspiel und rulette hauptsache aber hab den Kommandeur verdroschen und dem Divisionskommandeur Baron Budberg ofiziel mitgeteilt das er ein Zarenknecht ist. Bin schon ein ganzes Jar in Sveaborg gesesen wie lang man mich noch in diesem Loch halten wird weis Gott allein.«

Der Nachbar schien ein lustiger Mann zu sein. Bald sahen sie sich im Hof. Husar Sergej Obolenski war fast noch ein Junge: Mädchenhaft rosiges Gesicht, schwarze Augen, kleiner Schnurrbart. In seinem Äußeren nichts von einem Skandalmacher. Beim Spaziergang winkte er Wilhelm verstohlen zu, gleichzeitig aber so ausgelassen und keck, daß dieser ihn sofort liebgewann und dachte:

Der geht sicher zugrunde.

Der Wachtposten trug nun oft Zettel hin und her. Die merkwürdige Sprache der Briefe machte Wilhelm Freude. Sie erinnerte ihn an die Kindheit und ans Lyzeum. Es stellte sich heraus, daß der Fürst zudem noch ein Verwandter Eugen Obolenskis war, mit dem Wilhelm damals auf dem Peterplatz zusammentraf. Immer wieder versuchte Wilhelm, ihm das Klopfalphabet beizubringen, das er bereits in der Peterpaulsfestung von Mischa Bestuschew gelernt hatte, doch der Fürst war nicht der Mann dazu. Zu Beginn nahm er sich immer sehr in acht, aber gleich beim dritten Buchstaben trommelte er so laut an die Wand, daß der Wachtposten Ruhe gebot. Obolenski war wegen eines offiziellen Schreibens an den Divisionskommandeur Baron Budberg zu anderthalb Jahren verurteilt. Sechs Monate brachte er in der Festung Dünaburg zu.

Im April 1829 wurde er entlassen und dem Nischninowgoroder Dragonerregiment im Kaukasus überwiesen. Der Abschied war zärtlich.

Er schrieb an Wilhelm:

 

»Mein teurer Freund. Ni wert ich dich vergessen knechte und Tiranen werd ich stets verachten weil sie ein solches Gemüt wie dich lieber Freund im Loch halten. Was den Freunden und Verwandten zu bestellen ist werd alles ausrichten. Ach du mein libes Herz könnte ich nur einen einzigen Tag mit dir in der Freiheit zu bringen ich würde dich schnell aufrütteln. Ich bedauere daß ich nicht weis ob ich dich noch sehen werde mein libster Freund. Ich hab die Ehre zu verbleiben

Dein treuer Stapsrittmeister
Obolenski.«

 

Da der Fürst nach Georgien reiste, ließ ihm Wilhelm durch den Wachtposten einen Brief für Gribojedow übergeben.

Am nächsten Morgen klirrte der Schlüssel der Nachbarzelle. Wilhelm hörte muntere Schritte vor seiner Tür, und Obolenski rief:

»Leb wohl, Freund!«

Obolenski war in prächtigster Laune. Jetzt sollte er nach Georgien, und in Georgien, das hatte er gehört, gab es Frauen, derengleichen man in der ganzen Welt nicht fand. Allein schon die Tscherkessin Puschkins! Teufel noch mal, sollte er jemals in die Gefangenschaft der Tscherkessen geraten, so eine Tscherkessin würde er nicht einsam verkommen lassen am Ufer irgendeines Flüßchens! Das einzige, was ihn störte, war der dicke Wachtmeister Aksjuk neben ihm im Wagen, mit seinem roten, weibischen Gesicht. Aksjuk gab ihm absichtlich Püffe, um ihm seine Macht zu zeigen, und glotzte ihn jedes Mal, wenn sie haltmachten, derart an, als ob er, der Fürst, ein wilder Ziegenbock wäre, der nichts anderes im Sinn habe, als in den Wald davonzulaufen. Der Fürst versuchte menschlich mit ihm zu sprechen, doch Aksjuk gab einfach keine Antwort. Auch nicht die leiseste Antwort. Der Fürst ärgerte sich. Alles an Aksjuk reizte ihn: Sein weibisches Gesicht, der Regenschirm, an dem er hing wie eine Frau, sein Schnarchen in der Nacht, seine Gewohnheit, sobald er erwachte, ihn ängstlich an der Hand zu fassen, um sich zu überzeugen, daß er noch da sei. Zweimal wollte Aksjuk ihn anpumpen, aber der Fürst hatte nichts. Vielleicht gab er ihm deshalb dauernd Püffe. In Orel übrigens vergaß der Fürst den Mann völlig. Seine vier Freunde, alles Husaren, hatten irgendwie erfahren, daß er vorbeitransportiert wurde, und bereiteten ihm einen wahrhaft würdigen Empfang. Viel Champagner und unzählige Tränen flossen.

Der Fürst fuhr und schlummerte. So kamen sie in das Dorf Kulikowka. Sie rasteten im Gasthaus Ljachows, des reichsten Bauern im Dorf. Als sie Kulikowka wieder verließen, sah der Fürst nicht ohne Schadenfreude, daß Aksjuks Schirm aus dem Wagen gefallen war. Er sagte natürlich kein Sterbenswort. Als sie zehn Werst zurückgelegt hatten, bemerkte Aksjuk den Verlust. Der Schirm war nicht mehr da.

Er ließ halten, gab dem Fürsten einen Puff, befahl ihm, auszusteigen, durchsuchte und durchwühlte alles. – Der Schirm war unauffindbar. Leicht sich in den Hüften wiegend und den wegen seines Schirmes entsetzten Aksjuk ansehend, sagte der Fürst:

»Adieu, Schirm! Sie können ihn lange suchen. Sie haben ihn in Kulikowka verloren.«

Aksjuk starrte ihn an und fragte heiser:

»Haben Sie das gesehen?«

»Aber natürlich. Natürlich hab' ich's gesehen.«

»Warum haben Sie nichts gesagt?« Aksjuk sah ihn wütend an.

»War ja nicht mein Schirm!«

»Einsteigen!« brüllte Aksjuk.

Sie stiegen ein.

»Zurück!«

»Wieso zurück?« fragte der Fürst. »Wegen dieses Dreckschirms sollen wir zehn Werst zurückfahren?«

»Maul halten!« zischte Aksjuk. »Zuchthauskanaille!«

Wortlos setzte der Fürst sich hin. Er wurde ganz rot im Gesicht.

Sie kamen nach Kulikowka zurück. Wieder hielt der Wagen vor dem Gasthaus. Aksjuk, den der Verlust völlig aus der Fassung gebracht hatte, rannte ins Haus, um sich beim Wirt zu erkundigen, und vergaß seinen Säbel im Wagen. Der Fürst wartete.

Er saß da, bemerkte den Säbel und streckte die Hand nach ihm aus. Er zog ihn aus der Scheide.

Leichtfüßig wie ein junges Mädchen sprang er aus dem Wagen und lief mit gezogenem Säbel ins Haus.

Aksjuk sah ihn und bekam das Zittern.

»Zurück! In den Wagen!« schrie er heiser.

Schnell, geschickt gab ihm der Fürst einen Hieb in die Hüfte. Die Klinge zerschnitt die Uniform. Das Hemd kam zum Vorschein. Aksjuk stöhnte auf, faßte sich an der Hüfte und lief mit kleinen Schrittchen in den Vorraum. Dort sprang er in einen Verschlag und schlug die Tür zu.

Mit langen, freudigen Schritten stürzte der Fürst ihm nach und attackierte den Verschlag.

»Komm raus!« brüllte er. »Wenn du rauskommst, tu ich dir nichts.«

Aksjuk begann zu unterhandeln:

»Euer Hochwohlgeboren, lassen Sie doch die Scherze.«

»Ich mach' keine Scherze! Überhaupt, seit wann bin ich hochwohlgeboren? Ich bin doch eine Zuchthauskanaille! Komm raus, dann tu ich dir nichts. Wenn du nicht rauskommst, kriegst du den Säbel zu spüren!«

Er riß die Tür des Verschlages auf.

Aksjuk lief mit seinen kleinen Schrittchen auf die Straße und kreischte wie ein Weib.

»Mörder! Mörder! Hilfe, ihr Rechtgläubigen!«

Er verkroch sich hinter einen Busch, der am Wege stand.

Jetzt attackierte der Fürst den Busch.

Da kam der Gastwirt mit seinem Sohn angelaufen. Sie packten den Fürsten von hinten, und der Wirt schlug ihm den Säbel aus der Hand.

»Riemen her!«

Sie fesselten ihm die Hände.

Der Fürst lächelte: »Schankwirt und Wachtmeister. Fehlt nur noch der Zar.«

Er wurde nach Orel geschafft.

Bei der Durchsuchung fand man bei ihm einen Brief. Auf die Frage nach dem Schreiber und dem Adressaten sagte er gleichgültig, er erinnere sich an nichts.

Man warf ihn ins Gefängnis, legte ihn in Ketten und verhörte ihn wieder wegen des Briefes. Er tat so, als ob er sich alle Mühe gebe, seinem Gedächtnis nachzuhelfen. Die Gendarmen warteten. Dann lächelte er, sagte, er könne sich doch nicht erinnern, und zuckte die Schultern.

Die dritte Abteilung der persönlichen Kanzlei Seiner Majestät leitete eine Untersuchung ein und stellte fest, daß der bei Obolenski gefundene Brief von dem Staatsverbrecher Wilhelm Küchelbecker in der Festung Dünaburg stammte und an den Staatsrat Gribojedow gerichtet war.

Der Fürst saß schwer gefesselt im Gefängnis.

1830 erstattete der Chef der dritten Abteilung, Generaladjutant Benkendorff, dem Zaren Bericht. Der Zar befahl, den Fürsten Obolenski aufs strengste zu überwachen, desgleichen den Staatsverbrecher Küchelbecker. Generaladjutant Benkendorff gab den Allerhöchsten Befehl an den Oberkommandanten der dritten Abteilung im Kaukasischen Korps, den Grafen Paskewitsch-Eriwanski, weiter, unter dessen Aufsicht der verhaftete Fürst Obolenski stand, und an den Kommandanten von Dünaburg, Christofowitsch, unter dessen Aufsicht der Staatsverbrecher Küchelbecker stand.

Fürst Obolenski wurde nunmehr aufs strengste überwacht, d. h. nachts hielt man ihn durch Klopfen wach, und Spaziergänge gab es nicht für ihn.

Gleichzeitig wurden dem Staatsverbrecher Küchelbecker in Dünaburg Tinte, Papier und Feder und die Spaziergänge entzogen.

Nach einem halben Jahr legte Benkendorff dem Zaren einen besonderen Bericht vor über das Ergebnis der Untersuchung.

Die Allerhöchste Resolution lautete: »Dem Kommandanten von Dünaburg ist zu bemerken, daß es ungehörig war, Schreiberlaubnis zu erteilen.«

Da aber auch Küchelbecker bereits unter strengster Bewachung stand, war die Resolution eigentlich überflüssig.

Die Angelegenheit des Staatsverbrechers Fürsten Sergius Obolenski überwies das Auditoriatsdepartement dem Grafen Paskewitsch-Eriwanski zur Begutachtung, und dessen eigenhändig geschriebenes Gutachten schloß mit den Worten:

»Ich schlage vor, den Obolenski des Adels- und Fürstenprädikats zu entheben und ihn auf sechs Jahre nach Sibirien in die Katorga zu schicken, nach Ablauf welcher Zeit er dort lebenslänglich in Verbannung bleibt.«

Der Fürst saß schwer gefesselt, sang den »Schwarzen Schal«, weinte und sagte dem groben Kommandanten, der ihn mit »Du« anredete: »Du kannst mich nicht beleidigen. Ich weiß, du bist ein Zarenknecht, der dafür bezahlt wird, Menschen zu peinigen.«

Nach weiteren zwei Monaten war der endgültige Bericht des Auditoriatsdepartements an Seine Kaiserliche Majestät den Zaren aller Reussen Nikolaus Pawlowitsch fertig: Da Fürst Sergius Sergejewitsch Obolenski überführt ist, den Wachtmeister Aksjuk durch einen Säbelhieb in die Hüfte verwundet, den an den Staatsrat Gribojedow gerichteten Brief des Staatsverbrechers Küchelbecker hartnäckig verborgen und gegen die Regierung gemurrt zu haben, wird er, Obolenski, als für die Gesellschaft und den Dienst unnütz, seines Adels- und Fürstenprädikats sowie seines militärischen Ranges enthoben und lebenslänglich nach Sibirien verbannt.

Wieder schrieb der Zar eigenhändig eine Resolution: »So soll es sein. Nikolaus.«

Ende 1830 waren zwei Kuriere in rasendem Tempo mit dem Kleinbürger Sergius Sergejewitsch Obolenski unterwegs, um ihn für sein ganzes Leben in die Verbannung nach Sibirien zu schaffen. –

Inhalt des Briefes, den der Staatsverbrecher Küchelbecker an den Staatsrat Gribojedow geschrieben hatte:

»Ich habe lange geschwankt, ob ich Dir schreiben soll. Vielleicht aber bietet sich mir im Leben keine andere Gelegenheit mehr, Dir mitzuteilen, daß ich noch nicht tot bin, daß ich Dich noch immer liebe. Du warst ja mein bester Freund. Ich glaube an die Menschheit. Ich zweifle nicht, daß Du der gleiche geblieben bist, und daß mein Brief Dich freuen wird. Ich will keine Antwort. Wozu auch? Ich bitte Dich, mein Freund, hilf, wenn Du kannst, dem Überbringer dieses Briefes. Sechs Monate lang war er ein treuer, guter Kamerad Deines Wilhelm. Er tröstete mich, wenn ich des Trostes bedurfte. Er wird Dir berichten, wo ich bin und unter welchen Verhältnissen. Lebe wohl! Auf Wiedersehn in jener Welt, an die zu glauben Du zuerst mich gelehrt hast!

W. K.

 

Der Brief war am 20. April 1829 geschrieben. Aber bereits am 3o. Januar 1829 hatte die Bevölkerung von Teheran, aufgehetzt durch die Scheiks und Kadis, die ihm persönlich den Heiligen Krieg erklärt hatten, den Staatsrat Gribojedow in Stücke zerrissen.

Der Brief war also an einen Toten geschrieben!

 

VII

Brief von Dunja, der Wilhelm nicht erreichte:

15. März 1828.

Sie sind immer bei mir. Was auch geschieht, wo ich auch bin, ich denke stets an Sie. Glauben Sie mir, die Trennung von Ihnen fällt mir gar nicht so schwer, denn ich weiß, daß in dem Augenblick, wo ich an Sie denke, Sie auch an mich denken. Ich brauche bloß zu wissen, daß Sie leben, irgendwo, sei es auch auf einer unbewohnten Insel, dann bin ich heiter. Welch ein Glück, Wilhelm, daß Sie am Leben geblieben sind! Ich warte auf das Ende Ihrer Haft, das doch einmal kommen muß. Wir sind beide noch jung. Ich küsse Ihre Augen, mein Freund.

Ich habe den Brief noch nicht abgeschickt und setzte ihn fort. Ich komme eben von der Gräfin Laval zurück, wo Puschkin seinen »Boris Godunow« vorgelesen hat. Denken Sie, wen ich dort getroffen habe: Ihren Alexander! Gribojedow war dort! Und was er mir gesagt hat?! Er bemüht sich darum, daß man Sie nach dem Kaukasus schickt. Oh, es wird ihm gelingen! Er ist sehr angesehen. Er hat den Friedensvertrag mitgebracht. Man hat ihn mit Geschützsalut empfangen. Ich glaube, er wird zum Minister in Persien ernannt. Mein Lieber, es wird ihm gelingen, Sie nach dem Kaukasus zu bekommen. Denken Sie aber nicht daran! Hoffen Sie nichts! So viele Hoffnungen sind schon gescheitert. Aber der Tag wird kommen, und die Hoffnung wird in Erfüllung gehn. Glauben Sie daran! – Alexander hat sich nicht verändert. Dieselben Falten auf der Stirn. Dieselbe stets sprungbereite Fähigkeit zu Witzen als Reaktion auf herzliche Teilnahme. Das verletzt ein wenig, aber Sie wissen, Willi, man muß ihn lieben. Er ist ein wenig traurig, aber das ist nichts Beunruhigendes. Seine übliche Hypochondrie. Mit welcher Güte gedachte er Ihrer! Ein treuer Freund!

Sie wären getröstet, wenn Sie ihn zusammen mit Puschkin gesehen hätten. Puschkin ist bezaubert von Alexander. Er sagt, er sei der klügste Mensch in ganz Rußland. Aber mir scheint doch, daß er in Alexanders Gegenwart sich irgendwie verschließt und nicht alles ausspricht. Vielleicht täusche ich mich. Puschkin sagte zu mir, als er mich sah: »Wie schön, daß Sie hier sind! Sie sind Sie und Wilhelm in einer Person.« Er denkt an Sie und liebt Sie wie vor Zeiten. Viel hat Ihr früherer Schüler Mischa Glinka von Ihnen gesprochen. Er ist jetzt ein wunderbarer Musiker. Er hat bei der Gräfin so gesungen, daß man die Tränen nicht zurückhalten konnte, trotzdem seine Stimme gar nicht gut ist.

Also Kaukasus! Ich atme leichter, seitdem ich mit Alexander gesprochen habe! Leben Sie wohl! Vielleicht kann ich bald »Auf Wiedersehn« sagen!

Eudoxie.

 

VIII

Brief von Dunja, der Wilhelm erreichte:

20. August 1829.

Mein unschätzbarer Freund!

Den Brief, den Sie mir schicken konnten, habe ich erhalten und bewahre ihn auf mit den vier anderen zusammen. Er hat mich erschreckt. Sie haben Alexanders Tod erfahren und sind der Verzweiflung nahe. Als ich Ihren Brief las, war mir zum Sterben weh. Begreifen Sie doch, mein Lieber, begreifen Sie ein für alle Male, daß man so sich nicht von Trauer hinraffen lassen darf! Sie werden mir doch wohl glauben, daß Alexanders Tod auch für mich ein schwerer Schlag ist. Ich habe geweint wie ein kleines Kind. Ich sehe ihn immer vor mir. Ich stelle mir seine Augen, seine Stimme vor und kann kaum glauben, daß er nicht mehr ist.

Und dennoch ist er tot. Auch Sie, lieber Freund, werden sterben. Auch ich. Selbst unsere Briefe werden verwesen, wie unsere Herzen. Doch dabei ist nichts Trauriges. Keiner kann uns unser Glück nehmen: Wir haben gelebt und, sprechen wir es gemeinsam aus, wir haben geliebt. Ich weiß nicht, ob das Gedicht in Ihre Hände gelangt ist, das Puschkin Ihren Kameraden und Ihnen gewidmet hat. Ich schicke es Ihnen. Sie wollen Einzelheiten über Alexanders Tod wissen? Kann Ihnen das denn Erleichterung bringen? Ich will Ihnen Wort für Wort berichten, was General Arzruni, der eben angekommen ist, mir erzählt hat. Seiner Ansicht nach sind die Engländer schuld an seinem Tod. Alexander suchte zu hitzig den russischen Einfluß in Persien zu fördern. Selbst an Stätten, die den Persern heilig sind, nahm er seine Überschuhe nicht ab. Die Georgierinnen und Armenierinnen schützte er vor Zwangsehen mit Persern. Das war Alexander, wie er leibte und lebte. Aber aus solchen Gründen erklärten ihm die Saids und Scheiks den Heiligen Krieg. Der Tag seines Todes wurde im voraus festgesetzt. Als Alexander die vieltausendköpfige Menge sah, zog er den Säbel und sprang vom Balkon mitten unter sie. Alles andere wissen Sie. Zusammen mit ihm hat auch sein Diener Alexander den Tod gefunden. Sie erinnern sich doch noch an ihn? – Das ist der nackte Bericht der Tatsachen. Anders könnte ich nicht schreiben. Dazu hätte ich keine Kraft. Weinen Sie, mein Freund, aber fassen Sie sich!

Wir wollen nicht seine letzten Tage in Erinnerung behalten. Möge er für uns stets jung und lebendig bleiben! Ich küsse Sie.

E.


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