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Puckis goldenes Herz

Der Winter mit seinen vielen Freuden war vergangen. Wieder zog der Frühling ins Land und schmückte Bäume, Wiesen und Felder mit frischem Grün. Puckis Fleiß war nicht erlahmt. Sie freute sich an den Fortschritten, die sie im Lesen machte, und jedesmal, wenn sie zur Schmanzgroßmutter wanderte, stellte Pucki selbst fest, daß sie Fortschritte gemacht hatte. Die Schmanzgroßmutter war über den heutigen Besuch des Kindes überglücklich und nannte Pucki ihren kleinen Engel, der im Alter zu ihr geflogen wäre, um sie zu erfreuen.

Aber auch verschiedene der Waldarbeiter gaben dem Försterkinde den Namen: unser gutes Waldgeistchen. Als Pucki zum ersten Male diesen Namen hörte, schaute sie erstaunt die Männer an und sagte:

»Ich heiße doch Pucki, und ein Pucki macht oft was Schlimmes.«

»Du bist aber kein schlimmer Puck, ganz im Gegenteil! Wo du hinkommst, verbreitest du Freude. Wir alle haben dich lieb, du bist eben der gute Waldpuck.«

Glücklich lief das Kind zu den Eltern und erzählte ihnen von dem Lobe, das ihr geworden war.

»Wenn ich der gute Waldpuck bin, Mutti, dann sollen mich alle Menschen nur immer Pucki nennen. Dann denke ich daran, daß der eine Mann im Walde gesagt hat, ich brächte den Leuten Freude und man hätte mich lieb. Oh, Mutti, ich möchte nur Pucki heißen, auch wenn ich so alt werde wie die Schmanzgroßmutter.«

»Du bist ja unsere liebe Pucki.«

»Aber alle Menschen sollen mich Pucki nennen, und ich will immer sehen, daß ich ein guter Waldpuck bin. Die Schmanzgroßmutter meint auch, ich mache ihr Freude.«

Von jetzt an lebte in Pucki mehr denn je das Verlangen, alle Menschen zu erfreuen. Wenn sie mit dem Vater in den Wald ging, so brachte sie den Holzfällern stets ein paar Blümchen. Mitunter steckte sie diesem oder jenem einen Bonbon zu, den sie sich daheim abgespart hatte. Traf sie Leute, die Holz suchten, so war sie sogleich bereit, zu helfen, und lud oftmals Äste auf die kleinen Wagen.

Die Tiere des Waldes waren ihre besonderen Lieblinge. Jedes Vöglein, jedes Käferchen wurde entzückt betrachtet. Hatte ein Käfer Mühe, über einen im Wege liegenden Ast zu kommen, so beugte sie sich nieder, um den Ast behutsam aus dem Wege zu räumen.

»Du sollst auch deine Freude haben, du liebes Käferlein, sollst dich nicht quälen.«

Vor den Ameisenhaufen konnte sie lange stehen und die fleißigen Tierchen beobachten. Nicht selten brachte sie Krümchen mit und hatte Freude daran, wenn die emsigen kleinen Tiere den wertvollen Schatz in ihren Bau trugen. Niemals hätte sie einen Ameisenhaufen zerstört. Als Paul einmal den Versuch machte, fuhr die Kleine ihm zornig in die Haare und riß ihn zurück.

»Ein großer Junge wird solch kleinen Tierchen, die immerfort arbeiten, ein Leid zufügen! Oh, pfui, ich mag dich gar nicht mehr leiden!«

An einem Nachmittage erschien der große Claus im Forsthause und schloß Pucki lachend in seine Arme.

»Ich bin nun fertig mit der Schule, Pucki, ich habe das Abiturium bestanden und bin darüber sehr froh.«

»Ich habe auch tüchtig den Daumen gedrückt. – Brauchst du nun gar nicht mehr in die Schule gehen?«

»Ach, nun geht das Lernen erst richtig los. Jetzt wird es noch ernsthafter als früher.«

»Fängst du nochmal von vorne an, großer Claus?«

»Jetzt geht es auf die Universität, dort wird studiert, bis aus dem großen Claus ein Onkel Doktor geworden ist, der die kranken Menschen gesund macht.«

»Ach, und wenn ich krank werde, kommst du dann auch zu mir und machst mich gesund?«

»Freilich, ich hoffe aber, daß du gar nicht erst krank wirst, Pucki. Für dich gibt es nun auch bald Ferien, dann wollen wir wieder zusammen durch den Wald wandern.«

»Wieviel Tage sind es noch, bis ich Ferien habe?«

»So viele, wie du Finger an einer Hand hast.«

»Und was ist dann?«

»Gründonnerstag – Karfreitag – dann kommt das Osterfest.«

»Ja, mit dem Osterhasen und den Ostereiern.«

»Mit der Versetzung, Pucki! Du wirst doch ein gutes Zeugnis erhalten und in die siebente Klasse hinüber kommen?«

»Ich glaube schon – Fräulein Caspari hat ein bißchen davon erzählt.«

»Das ist schön – ich hätte sonst meine kleine Pucki auch gar nicht mehr so lieb haben können wie bisher, wenn sie faul wäre.«

»Hast du den Paul Niepel nicht lieb? Er ist faul und wird nicht versetzt. Aber der Fritz wird versetzt, er ist lieb und fleißig.« – –

So vergingen auch die letzten Schultage, und beglückt brachte Pucki ein sehr gutes Zeugnis heim. Dafür wurde sie von den Eltern gelobt.

»Weißt du noch, Pucki«, sagte der Vater, »daß du dich vor der Schule sehr gefürchtet hast? Du wolltest gar nicht hingehen. Anfangs warst du auch nicht gerade fleißig, doch jetzt, da du sieben Jahre zählst, bist du schon klüger geworden. Du siehst bereits ein, wie schön es ist, wenn man etwas versteht, und wieviele Freude man damit anderen machen kann.«

»Wenn ich zur Schmanzgroßmutter gehe, zeige ich ihr das Zeugnis und lese ihr was vor.«

»Zur Schmanzgroßmutter wirst du in den nächsten Tagen nicht gehen können. Die alte Frau ist nicht wohl.«

»Vati, tut ihr was weh?«

»Ja, sie muß zu Bett liegen.«

»Oh, dann gehe ich mit dem großen Claus hin. Er wird bald alle Leute gesund machen können. Er kann auch die Schmanzgroßmutter wieder gesund machen. – Ach, Vati, laß mich doch zur Schmanzgroßmutter gehen.«

»Erst wollen wir abwarten, wie es ihr morgen geht. Dann kannst du vielleicht am Ostersonnabend hingehen.«

Am Gründonnerstag saßen die beiden Kinder im Garten zusammen. Pucki erzählte Waltraut von dem Osterhasen mit dem goldenen Schwänzchen, der in wenigen Tagen wieder in das Forsthaus kommen würde, um schöne bunte Eier zu legen.

»Wir müssen aber noch warten und noch ein paarmal schlafen gehen, Waldi, ehe er kommt. Heute ist erst der grüne Donnerstag, an dem alles schön grün wird. Und morgen ist immer noch nicht Ostern, aber dann bald.«

Der nächste Morgen brachte Pucki eine große Freude. Aus der Oberförsterei wurde angerufen, daß Oberförster Gregor am heutigen Tage beruflich nach Rotenburg müsse. Er wolle in seinem Auto Pucki und die drei Niepelschen Knaben mitnehmen. Pucki möge sich für ein Uhr bereithalten, dann würde das Auto kommen.

Die Kleine jubelte laut auf. Eine Fahrt im Auto des Onkel Oberförster hatte für sie keine Schrecken. Wohl dachte sie mit Entsetzen an eine Fahrt in dem dunklen Kasten des Viehhändlers Henschel, die sie einmal gemacht hatte, aber in dem großen Wagen von Onkel Oberförster saß es sich herrlich.

»Mutti, ich freue mich furchtbar! Mach nur, daß ich bald fertig werde, damit der Onkel nicht zu warten braucht. – Mutti, ist der große Claus auch dabei?«

»Das weiß ich nicht. Außerdem kennt Claus Rotenburg genau, denn er geht dort mit seinem Bruder aufs Gymnasium.«

»Ja, dort hat er gewohnt, bei seiner Tante.«

»Wahrscheinlich wird der gute Onkel Oberförster euch zu der lieben Tante bringen. Sei also nicht unartig, mein Kind. Wenn du mit den Niepelschen Knaben zusammen bist, bist du genau so wild wie sie.«

»Ach, fein wird es sein! Mutti, ich freue mich furchtbar!«

Oberförster Gregor, der große Kinderfreund, wollte besonders der fleißigen kleinen Pucki und dem braven Fritz Niepel eine Freude machen. Die beiden Kinder hatten so gute Zeugnisse mit heimgebracht, daß sie eine Belohnung verdienten. Seine beruflichen Pflichten würden ihn wohl eine gute Stunde, in Anspruch nehmen. Während dieser Zeit sollte Claus, der die Fahrt mitmachte, mit den vier Kindern zu Tante Grete gehen.

Frau Perler war die verwitwete Schwester des Oberförsters, die in Rotenburg wohnte und Pensionäre bei sich aufnahm. Zu ihr hatte Oberförster Gregor seine beiden Söhne gegeben, denn er wußte sie bei seiner Schwester in den allerbesten Händen. Rotenburg war eine ansehnliche Stadt, die außer einem Gymnasium auch eine landwirtschaftliche Schule, ein Technikum und mehrere Fabriken aufzuweisen hatte.

Pünktlich um ein Uhr fuhr der Oberförster am Forsthause vor. Er saß selbst am Steuer, und Claus holte Pucki aus dem Forsthause. Sie kam sich sehr wichtig vor, als sie auf dem weichgepolsterten Sitz neben dem großen Claus saß. Sie wippte auf dem Polster auf und nieder und sagte glücklich:

»Wie eine große Frau bin ich jetzt. Ob Schneewittchen auch einen so schönen Wagen gehabt hat, als es zur Hochzeit fuhr?«

Schnell ging es weiter hin zum Niepelschen Gutshause. Walter und Fritz waren dem Wagen ein gutes Stück entgegengelaufen und hielten ihn mit lautem Lärmen an.

»Nun, wo ist denn der Dritte?«

»Der darf nicht mit!«

»Warum denn nicht?«

»Weil er viele Tadel hat und nicht versetzt ist. Der Vater sagte, ein fauler Junge brauche auch nicht Auto zu fahren«, antwortete Walter.

»Oh, das wäre aber schrecklich«, rief Pucki erregt, »er hat sich gewiß mächtig darauf gefreut. Wir wollen ihm schnell sagen, daß er doch mitkommen kann.«

Schon stieg Pucki aus dem Wagen. Im Vorgarten trafen die Kinder Herrn Niepel und dessen Frau.

»Onkel Niepel, gelt, du läßt den Paul nach Rotenburg mitfahren. Das ist eine so schöne Stadt mit einer Kirche. Die hat einen runden Turm. – Sieh mal, sooo – –. Der Paul hat sich so furchtbar darauf gefreut! Laß ihn doch einsteigen.«

»Nein, Pucki, der Paul bleibt hier. Die Fahrt ist eine Belohnung für fleißige Kinder.«

»Was macht er denn dann, wenn wir weg sind?«

»Er weint«, rief Walter laut.

Puckis Gesichtchen wurde sehr traurig. »Ach, laß ihn doch mitfahren, Onkel Niepel. Wenn der Paul weint, ist es sehr schlimm.«

Sie erblickte Paul. Er kam mit verweinten Augen soeben aus dem Hause und drückte sich scheu hinter einen Baum, als er der anderen ansichtig wurde. Pucki eilte sogleich zu ihm.

»Weine doch nicht, lieber Paul, du mußt deinem Vati versprechen, daß du von morgen an viel lernen willst.«

Pauls Tränen flossen erneut. Da lief Pucki wieder zu Onkel Niepel, legte bittend die Händchen ineinander und bat nochmals:

»Sieh mal, lieber Onkel, wie er weint.«

Doch Onkel Niepel blieb unerbittlich. Eindringlich schilderte er dem kleinen Mädchen, daß Faulheit Strafe verdiene, und daß Paul sich das Vergnügen selbst verdorben hätte, weil er gar zu träge gewesen sei.

»Es wird ihm eine Lehre sein, Pucki.«

Der Oberförster drängte zum Weiterfahren. Nochmals streichelte das Kind den weinenden Knaben, dann kehrte es betrübt zu dem Wagen zurück.

»Es wäre noch viel schöner, wenn der Paul dabei wäre. – Ach, der arme Paul.«

Bald war die Traurigkeit Puckis wieder verflogen, als man Rotenburg erreichte, und Claus die drei ein wenig durch die Stadt führte, um schließlich Tante Grete aufzusuchen.

Das war eine sehr liebe ältere Dame, die die Kinder mit Kaffee und Kuchen bewirtete und ihnen viel Schönes erzählte. Nur zu rasch vergingen die Stunden. Der Oberförster kam, blieb noch ein Weilchen bei seiner Schwester, dann wurde die Heimfahrt angetreten.

»War es schön?« fragte er Pucki, als er sie aus dem Auto hob.

»Ach ja, sehr schön, Onkel Oberförster. Aber – es wäre noch viel schöner gewesen, wenn der Paul nicht hätte weinen brauchen, wenn er mitgekommen wäre.«

»Gutes, weichherziges Mädchen«, lobte der Oberförster.

»Es ist eben meine kleine Pucki mit dem goldenen Herzen«, sagte der große Claus und strich dem Kinde zärtlich über die Wange.

Pucki wies stolz auf das goldene Herzchen am Halse.

»Hier hängt es, großer Claus, und immer denke ich an dich.«

»Unser guter, kleiner Waldpuck! Mögest du immer so bleiben, kleines Mädchen!« – – –

Am Ostersonnabend drängte Pucki, es wollte nun endlich zur alten Schmanzbäuerin gehen, um ihr von Ostern vorzulesen.

»In meinem Buch steht eine sehr schöne Geschichte vom Herrn Jesus, die muß die Schmanzgroßmutter hören, gerade weil Ostern ist. Ich kann sie schon ganz fix lesen.«

»Pucki, die Großmutter liegt noch zu Bett.«

»Dann hat sie gar keine Freude mehr, nur noch wenn ich ihr was vorlese. – Ach, Mutti, laß mich doch hingehen. Der große Claus hat gesagt, wir sind dazu da, die Menschen zu erfreuen, und auch zu Ostern muß man Freude machen. – Mutti, bitte, laß mich zur Schmanzgroßmutter gehen.«

»Meinetwegen, so begleite den Vater, der heute nachmittag über die Schmanz gehen muß. Aber sei nicht laut, mein Kind, denke immer daran, daß die Schmanzgroßmutter krank ist.«

»Ich will ihr dann ganz leise vorlesen. Aber sie freut sich doch immer so sehr.«

So wurde am Ostersonnabend von Förster Sandler und seiner Tochter die Schmanz besucht. Die Bäuerin empfing die beiden und sagte betrübt:

»Es will mit der Mutter gar nicht mehr gehen. Ich glaube, sie macht es nicht mehr lange.«

»So will ich Pucki nicht mehr zu ihr hineingehen lassen.«

»O doch, Herr Förster, die Mutter freut sich immer sehr über das Kind. Ich will gleich mal zu ihr gehen und sehen, was sie macht.«

Pucki, die unterwegs für die Schmanzgroßmutter einen Strauß Waldanemonen und Leberblümchen gepflückt hatte, sagte bittend, indem sie der Bäuerin das Buch hinhielt:

»Laß mich doch zu ihr, ich habe eine sehr schöne Geschichte. Sie freut sich, wenn ich ihr vorlese, und die Blümchen will ich ihr auch geben.«

Die Bäuerin kam sehr bald wieder zurück und sagte, daß die Mutter zwar sehr schwach sei, aber trotzdem Pucki sehen möchte.

Auf den Zehenspitzen ging die Kleine ins Zimmer. Da lag die Schmanzgroßmutter im Bett, hatte eine weiße Haube auf und sehr kleine, müde Augen. Auch schien es Pucki, als sei das faltenreiche Gesicht heute viel kleiner geworden.

»Schmanzgroßmutter«, sagte sie leise, »ich bin da und habe dir Blümchen mitgebracht. Dann lese ich dir wieder was vor, um dich glücklich zu machen. Ein Osterei kann ich dir nicht bringen, ich habe noch keines. Aber von Ostern kann ich dir vorlesen.«

»Du liebes, gutes Kind, du meine ganze Freude in meinen letzten Tagen.«

»Hier hast du Blümchen.«

Die zitternde Rechte der Alten tastete sich zu Puckis Fingerchen hin, dann nahm sie den Strauß in die Hände, die sie gefaltet auf die Bettdecke legte.

»Wenn du mir nun noch etwas vorlesen wolltest – ach, das wäre schön. Dabei läßt es sich gut einschlafen.«

»Bist du müde, Schmanzgroßmutter?«

»Ja, mein gutes Kind, müde von der langen Wanderung, die hinter mir liegt, müde von aller Arbeit, die ich verrichtet habe. Die alte Großmutter möchte nun endlich ausruhen und bittet den lieben Gott, daß er ihr die Augen schließen möge.«

»Willst du in den Himmel zu ihm, Schmanzgroßmutter?«

»Wenn mir der liebe Gott die Himmelstür gnädig aufschließt, wird die Großmutter die ewige Herrlichkeit bald sehen und sehr glücklich sein. – Aber nun, du gute Pucki, mach mir noch die letzte Freude und lies mir die Leidensgeschichte vom Herrn Jesus vor, der sterben mußte, um wieder aufzuerstehen. Dann wird der Großmutter sehr wohl sein.«

»Soll ich dir nicht die Geschichte lesen, wo der liebe Gott in den Himmel fliegt?«

Die Lippen der alten Frau bewegten sich, und Pucki hörte die geflüsterten Worte:

»Ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein.«

Pucki kannte diese Worte, sie standen auch in dem Buche, das ihr gehörte. Wenn die Schmanzgroßmutter diese Geschichte hören wollte, würde sie sie lesen. Freilich, das ging nicht so glatt wie die andere, die sie sich daheim sehr oft vorgelesen hatte.

Die Schmanzgroßmutter lag still, in den gefalteten Händen die blauen und weißen Blümchen. Sie hatte die Augen geschlossen und sah aus, als ob sie schliefe.

Leise, wie es die Mutter wünschte, begann Pucki zu lesen:

»Und es war um die sechste Stunde, und es ward eine Finsternis über das ganze Land bis in die neunte Stunde. Und die Sonne verlor ihren Schein, und der Vorhang des Tempels riß mitten entzwei. Jesus rief laut und sprach: Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.«

Die Kleine wollte weiterlesen, aber zunächst blieb ihr Blick wie gebannt an dem Gesicht der Schmanzgroßmutter hängen. Es schien heute noch heller zu leuchten als damals, als Rose der Alten zum ersten Male eine Geschichte vorgelesen hatte.

»Großmutter«, sagte sie leise flüsternd, »ist's sehr schön, was ich dir vorlese? – Großmutter, bist du eingeschlafen? – Großmutter – Schmanzgroßmutter – –«

Eine Tür wurde geöffnet. Die Bäuerin schaute in das Zimmer, trat leise an das Bett heran, betrachtete die Schlafende und begann zu weinen.

»Nun ist sie gestorben, die gute Mutter.«

Leises Erschauern überlief den Körper des Kindes. Aber vor der guten Schmanzgroßmutter konnte sie keine Angst empfinden. Sie lag mit so freundlichem Gesicht in den Kissen, als ob sie einen wunderschönen Traum hätte.

Die Bäuerin weinte noch immer leise.

»Wir wollen ganz still sein«, sagte Pucki, »wenn sie schläft, darf man sie nicht stören.«

»Dein Leben ist Mühe und Arbeit gewesen, Mutter, du hast dir die ewige Ruhe verdient. Der liebe Gott wird dich mit Freuden in seinen Himmel aufnehmen.«

Da horchte Pucki auf. – Was hatte die Großmutter vorhin gesagt, ehe sie eingeschlafen war? Der liebe Gott solle der Schmanzgroßmutter die Himmelstür gnädig aufschließen. – Ob er es wohl tat? – Freilich, der liebe Gott war ja so gut.

Vorhin, als sie mit dem Vater aus dem Walde gekommen und über die Wiesen geschritten war, hatte das Kind viele Himmelschlüssel gesehen, die gerade jetzt zum Osterfest erblüht waren.

»Ich weiß«, flüsterte der Kindermund, »jetzt bringe ich der guten Großmutter einen Himmelschlüssel. Dann schließt sie sich die Tür zum lieben Gott selbst auf, damit sie dort oben froh und glücklich sein kann.«

Lautlos huschte Pucki aus dem Zimmer, wählte draußen auf der Wiese das schönste Himmelschlüsselchen aus, das sie finden konnte, und trug es bewegten Herzens hinein zur Schmanzgroßmutter. Vorsichtig steckte sie es zu den anderen Blumen in die gefalteten Hände der Toten.

»Jetzt wirst du schon in den Himmel hineinkommen, Schmanzgroßmutter. – Soll ich dir nun noch was vorlesen? Wie der liebe Gott in den Himmel fuhr?«

Die Schmanzbäuerin weinte noch immer, sie kümmerte sich nicht um das kleine Mädchen. Da nahm Pucki erneut das Buch vor und flüsterte leise:

»Und der Herr, nachdem er mit den Jüngern geredet hatte, ward aufgehoben in den Himmel und sitzet zur rechten Hand Gottes.«

Erst als der Vater zurück zur Schmanz kam, trippelte Pucki ihm entgegen und sagte leise, daß die Schmanzgroßmutter nun für immer schliefe.

»Denke dir, Vati, sie ist eingeschlafen, als ich ihr eine Geschichte vorgelesen habe. Sie macht auch beim Schlafen ein frohes Gesicht. – Nun ist sie glücklich, denn sie kann gleich in den Himmel hinein.«

Förster Sandler nahm seine Tochter in die Arme und küßte sie innig. Er freute sich darüber, daß seine Pucki der alten Schmanzgroßmutter noch kurz vor dem Sterben eine große Freude hatte bereiten dürfen.

* * *


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