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Ach, Scheiden ist ein Wort so schwer

Nur zu schnell vergingen die schönen Ferientage. Der Schulanfang kam in immer bedrohlichere Nähe, und oft konnte Pucki ihre neue Freundin Rose beobachten, wie sie im Garten stand und mit schwermütigen und sehnsüchtigen Blicken Wald und Flur betrachtete. Alles das würde wie ein schöner Traum verschwinden. Jetzt ging es wieder zurück in den engen Hof, in die kleinen Stuben, in denen Mutter und Geschwister lebten. Sie würde bald nicht mehr das Rauschen der hohen Tannen, nicht mehr das Zwitschern der Vögel hören.

Rose öffnete den Mund weit, sie sog mit Behagen die würzige Waldluft ein. Das tat wohl! Ihr war es, als bekäme sie dadurch Stärke und Kraft, sie wurde ordentlich ein anderer Mensch. Rose beneidete Pucki, beneidete alle Kinder, die den Wald so nahe hatten. Was wußten die von den engen Höfen der Großstadt, in die kaum ein Sonnenstrahl fiel. Hier draußen war überall Sonne. Man brauchte nur vor die Haustür zu gehen, ach nein, man brauchte nur das Fenster zu öffnen – es war wundervoll! Wie gut hatte sie es gehabt, was konnte sie alles den Geschwistern daheim erzählen. Wie ein Märchen würde es ihnen erscheinen, und sie, Rose, war die verwunschene Prinzessin, die all das Schöne hatte genießen dürfen.

Frau Sandler strich dem kleinen Stadtkinde liebevoll über das Haar. Sie ahnte, was in dem Herzen des kleinen Mädchens vorging.

»Wenn es uns allen gut geht, wenn wir gesund bleiben, kommst du im nächsten Jahr wieder zu uns in den Wald.«

»Liebe Tante Sandler, du liebe, gute Tante, ich, ich –«. Rose begann zu weinen. Das Herz wollte ihr schier zerspringen. Sie dachte an die bevorstehende Trennung, an den Abschied von diesen guten Menschen, von Wald und Vögeln.

»Ein Jahr vergeht schnell, meine liebe Rose, wir haben dich alle herzlich liebgewonnen und werden dir öfters Briefe senden, damit du weißt, wie es hier aussieht. Pucki kann dir freilich noch nicht schreiben, aber ich will dir über deine kleine Freundin berichten.«

»Ich möchte gern noch einmal zur Schmanzbäuerin gehen.«

»Gewiß, Rose, das wollen wir tun. Dort hat man dich auch lieb gewonnen, dort sollst du Lebewohl sagen.«

»Tante, wie froh bin ich, daß ich der alten Schmanzbäuerin ein bißchen Freude bringen konnte. Ich habe es hier so gut gehabt, ich konnte dir gar nichts schenken, und wollte dir doch auch etwas Liebes antun.«

»Du hast mir oftmals Blümchen aus dem Walde gebracht, mein gutes Kind, warst immer artig und brav, gar oft habe ich mich über dich gefreut.«

»Das ist alles nicht genug, Tante, das ist nicht genug«, schluchzte Rose, »ich möchte dir zeigen, wie gut ich dir bin.«

»Du hast dich recht nützlich gemacht, mein liebes Mädchen, hast unsere kleine Waldi liebevoll betreut und geduldig mit ihr gespielt. Waltraut wird dich sehr vermissen. Doch nun trockne deine Tränen, wir alle müssen uns sagen, daß es im Leben nicht nur schöne Tage geben kann. Nach der Freude kommt wieder die Pflicht.«

Rose trocknete sich die Augen; sie wollte tapfer sein, wollte ihr großes Trennungsweh verbergen, aber jedesmal überkam sie aufs neue der Schmerz, wenn sie an das Scheiden dachte. Pucki tröstete sie, so gut es ging, und wiederholte unzählige Male:

»Rose, du kommst doch bald wieder. Wenn der Wald wieder grün ist, bist du wieder da.«

Zu der Schmanzbäuerin war Rose in der Ferienzeit öfters hingegangen. Die alte Frau hatte inständig darum gebeten, ihr kleiner, guter Engel möge sich recht oft bei ihr sehen lassen; jedesmal las Rose der alten Frau etwas vor; jedesmal bemerkte Rose, daß sie der fast Blinden dadurch eine große Freude bereitete.

Am heutigen Nachmittage sollte Rose sich von der Schmanzbäuerin verabschieden. Die Försterin gab den Kindern das Geleit.

Zum letzten Male sollte Rose den Wald in seiner ganzen Schönheit sehen, denn gerade um die Schmanz herum standen so herrliche Buchen und Birken wie nirgends sonst.

Und wieder hockte Rose neben der alten Frau. Zum letzten Male für lange Zeit las sie ihr die Geschichte von der Himmelfahrt Christi vor.

»Ich glaube«, murmelte die alte Frau, »daß auch ich nicht mehr lange auf der Erde bin.«

»Großmutter, ich darf im nächsten Jahr wiederkommen, dann lese ich dir noch viel mehr vor. In drei Tagen fahre ich ab.«

»Und kommst nicht mehr zu mir?«

»Ich muß heim, muß wieder in die Schule.«

»Dann wird es wieder dunkel um die alte Großmutter werden, denn dann ist niemand mehr da, der ihr ein wenig Licht in das Herz scheinen läßt.«

»Großmutter«, fragte Pucki, »hat die Rose das getan?«

»Ja, mein Kind, es ist die einzige Freude für mich alte Frau. Die anderen haben keine Zeit, sie müssen um das tägliche Brot arbeiten. Aber die liebe Kleine hier, die hat die alte Großmutter reich und glücklich gemacht.«

»Großmutter, ich kann noch nicht lesen, aber bald kann ich es auch. – Mach' ich dich dann auch reich und glücklich, wenn ich zu dir komme und dir was aus dem dicken Buch vorlese?«

»Das wäre sehr schön, Pucki. Die alte Großmutter hat nichts weiter als das liebe, heilige Buch.«

»Dann lerne ich ganz gewiß sehr schnell lesen, ich möchte dich auch reich und glücklich machen. – Hast du keinen, der dir sonst was vorliest?«

»Nein, mein Kind.«

»Sei mal nicht traurig«, sagte Pucki und strich zärtlich über die welken Hände der Alten, »dann will ich fleißig lernen. Dann komme ich her und lese dir immerfort was vor. – Freust du dich dann auch?«

»Du gutes, gutes Kind! Ja, darauf freut sich die alte Großmutter von ganzem Herzen.«

Wohl eine Stunde lang las Rose vor, dann mahnte Frau Sandler zum Heimgehen.

»Leb wohl, Großmutter«, sagte Rose bewegt, »bleibe gesund und – und Pucki wird kommen und dir vorlesen. Wenn ich im nächsten Jahr wieder hier bin, komme ich auch, dann kann ich viel besser lesen.«

»Gott segne dich, mein Kind! Sollte die alte Großmutter, wenn du im nächsten Jahre wiederkommst, nicht mehr am Leben sein, darfst du dir immer sagen, daß du sie an ihrem Lebensabend sehr glücklich gemacht hast. Das wird dir der liebe Gott in deinem künftigen Dasein reich vergelten.«

Dann kam der Abschied vom Schmanzbauer und dessen Frau. Der sonst mürrische Mann hatte das zarte Stadtkind, das seiner Mutter so viele schöne Stunden bereitete, langsam liebgewonnen. Er klopfte der Kleinen derb auf die Schulter und sagte:

»Bist uns immer willkommen, Mädel, kehre gesund im nächsten Jahre zurück und vergiß uns nicht.«

»Niemals!«

»Das nimmst du mit, und nun leb wohl.«

Der Schmanzbauer ging davon, nachdem er Rose ein großes Paket in den Arm gelegt hatte. Es waren zwei mächtige Dauerwürste, Würste von der besten Sorte, die im Schornstein hingen. Wenn der Schmanzbauer von diesen etwas hergab, stand es fest, daß er den Beschenkten gar gern hatte, sonst opferte er nichts von seiner Lieblingswurst.

Frau Sandler sorgte dafür, daß der Abschied von der alten Bäuerin nicht zu lange und zu schmerzlich wurde. Sie stimmte ein Wanderlied an, und im Marschschritt gingen die drei dem Forsthause wieder zu.

Dort wartete bereits Besuch.

»Ach, großer Claus!«

Mit ausgebreiteten Armen flog Pucki dem Primaner entgegen.

»Ich komme, um mich zu verabschieden. Die Ferien gehen zu Ende, die Schule beginnt.«

»Du willst fort?« Es war Pucki auf einmal, als stecke ihr ein Kloß im Halse.

»Ja, Pucki, wir alle müssen wieder an die Arbeit, wir alle. Bedenke doch, daß ich viel zu lernen habe, da ich Ostern das Abiturium mache.«

»Darum mußt du weg?«

»Ja, Pucki, wir alle müssen wieder lernen. Drücke den Daumen, daß ich es schaffe und daß ich das Examen gut bestehe.«

»Nutzt es dann? Willst du das Examen bestehen?«

»Selbstverständlich, ich würde sehr traurig sein, wenn es mißglückte.«

»Na, dann will ich immerfort meinen Daumen drücken. Großer Claus, welchen soll ich denn drücken?«

»Das ist einerlei, wenn du nur drückst!«

»Ist es so richtig?« Pucki preßte den kleinen Daumen mit den Fingern der anderen Hand.

»Freilich, jedesmal, wenn du an mich denkst, mußt du drücken«, lachte er.

»Ich denk' immerzu an dich, großer Claus! – Ich weiß, wenn ich schlafen gehe, lege ich mich immer auf den Daumen, dann wird er gedrückt, und der Mucki sage ich, sie kann ruhig den Daumen in den Mund stecken. Das soll sie sonst nicht, aber das macht sie. Wenn sie tüchtig auf dem Daumen herumbeißt, wirst du das Examen in der Stadt schon machen können.«

»Nein, Daumenlutschen nützt nichts, nur Daumendrücken. Und nun, kleine, liebe Pucki, habe ich dir zum Abschied auch etwas mitgebracht. Hier, das hänge dir um den Hals, dabei denkst du an den großen Claus.«

Er reichte ihr ein Kettchen, an der ein goldenes Herzchen hing.

»Ist das schön! Mach mir das doch gleich um. Hast du das gekauft?«

»Ja, Pucki, beim Kaufen habe ich daran gedacht, daß meine kleine liebe Pucki genau ein solches goldenes Herzchen hat wie das hier.«

Sie tippte auf das Herz. »Dann hängt mir also mein Herz jetzt um den Hals.«

»Ja, dabei sollst du denken, daß es sehr schön ist, wenn ein Mensch ein goldenes Herz hat. Tut er etwas Schlechtes, so wird das goldene Herz schwarz.«

»Dann putzt es die Minna.«

»Nein, ein Herzchen geht nicht blank zu putzen. Man muß sich Mühe geben, daß es immer so golden bleibt.«

Pucki war sehr stolz auf das kleine Schmuckstück, das sie heute zum Abschied vom großen Claus erhalten hatte. Es war nur traurig, daß es ein Abschiedsgeschenk war, und daß sie den großen Claus nun viele Wochen nicht mehr sehen würde. Ein schwacher Trost war der, daß er zu den Herbstferien wiederkommen und dann mit Pucki durch das raschelnde Laub wandern wollte.

Rose bekam von Claus eine niedliche Perlenkette. Pucki betrachtete sie lange, zog dann den Freund zur Seite und flüsterte ihm ins Ohr:

»Hast du die Rose lieber als mich?«

»Ich habe euch beide recht lieb.«

»Ach – ich möchte aber, daß du mich ein ganz kleines bißchen mehr lieb hast.«

Und Claus Gregor beugte sich nieder und tuschelte der Kleinen ins Ohr: »Pucki, dich habe ich am allerliebsten von allen den Mädchen, die in den Wald gekommen sind.«

Die Augen des Kindes strahlten.

»Das brauchst du aber keinem zu sagen, das ist unser Geheimnis.«

»Au fein! Nun haben wir wieder mal ein Geheimnis. – Großer Claus, ich habe Geheimnisse furchtbar gern.«

Es war ein schmerzlicher Augenblick, als Claus dem kleinen Mädchen zum Abschied die Hand reichte.

»Leb wohl, Pucki, und wenn ich wiederkomme, frage ich dich, ob du in der Schule fleißig gelernt hast. Wir wollen nun um die Wette lernen. Willst du?«

»Wenn du willst, daß ich lernen soll, dann lerne ich. – Ich muß jetzt schnell lesen lernen, damit die alte Großmutter reich und glücklich wird.«

»Das ist recht, Pucki, dann freut sich der große Claus über dich. Und nun leb wohl.«

Sie wollte noch ein Stück Weges mit ihm gehen, doch Claus wehrte ab. »Du bleibst im Garten bei Rose und winkst mir nur nach.«

»Ach, großer Claus – –.« Pucki hatte Tränen in den Augen.

»Leb wohl, Pucki.«

Rasch schritt er aus. Beim Umwenden bemerkte er, daß Pucki mit beiden Ärmchen winkte. Da bog er schnell in den ersten Seitenpfad ein, um dem Kinde den Abschiedsschmerz zu verkürzen. Pucki stand jedoch noch lange am Gartenzaun. Endlich ging sie traurig ins Haus, lief in die Küche und sagte zu Minna: »Ach, ich bin so furchtbar traurig. Der große Claus ist weg – die Rose geht weg – oh, es ist schlimm!«

»Ja«, sagte Minna, »Scheiden ist ein schweres Wort. Aber ich habe ein Mittel gegen deine Schmerzen.«

»Was haste denn?« fragte Pucki sehr interessiert.

»Wir haben soeben Krapfen gebacken. Willst du einen?«

»Zwei, Minna, denn der Claus geht weg, und die Rose geht weg.«

Sie bekam die zwei Krapfen, und das schwere Kinderherz wurde dadurch wesentlich erleichtert. – –

In den letzten beiden Tagen, während welcher Rose noch im Forsthause weilte, bemühte Pucki sich nach Kräften, der kleinen Freundin recht viel Liebes zu erweisen.

»Mutti, darf ich ihr etwas schenken? Der große Claus hat mir doch auch das Herzchen geschenkt.«

»Gewiß, mein Kind, ein Andenken soll Rose mitnehmen. Wir geben ihr für ihre Mutter Lebensmittel mit, und du magst Rose eine Freude machen. Frage sie mal, was sie gern haben möchte.«

Sofort lief Pucki zu Rose. »Ich will dir was schenken, was du gerne haben möchtest. Du sollst dich auch in deinem Hofe noch darüber freuen, wenn du keinen Wald mehr hast. – Was möchtest du denn haben?«

»Ein bißchen Wald, ich möchte ein paar schöne, grüne Zweige mitnehmen dürfen.«

»Ach, das kannst du!«

»Und auch ein paar Blümchen.«

»Ich möchte dir aber ganz was Schönes schenken. – Willst du eine Puppe von mir? Ich gebe sie dir gern, denn ich hab' dich lieb.«

»Den Harras möchte ich auch mitnehmen.«

»O – – nein, den Harras können wir dir nicht geben, der muß doch aufpassen, daß der Wald nicht brennt, er muß auch mit Vati in den Wald gehen, damit der Vati den Weg findet. Der Harras riecht das.«

»Nein, Pucki, den Harras lasse ich dir hier, er würde krank werden, hätte er den großen Wald nicht mehr.«

»Soll ich dir mein Kleidchen schenken?«

»Das paßt mir doch nicht, Pucki.«

»Ich möchte dir doch so gern was schenken«, sagte Pucki weinerlich, »was ganz Schönes.«

Rose umarmte mit beinahe leidenschaftlicher Heftigkeit das kleine Försterkind. »Du sollst mich lieb behalten und deiner Mutti sagen, daß ich mal wieder zu euch in den Wald kommen darf. Das ist das Allerschönste, und dann möchte ich – – ja, das möchte ich gern – daß du zur alten Schmanzgroßmutter gehst und ihr bald was vorlesen kannst.«

»Ja, Rose, ich gehe zur Schmanzgroßmutter, ich lerne an jedem Tag lesen.«

»Mehr brauche ich nicht. Ich bin so froh hier gewesen, wie noch nie, das vergesse ich im ganzen Leben nicht mehr.«

»Der Thusnelda habe ich meine Schuhe geschenkt, und dir darf ich nichts schenken. Der große Claus hat dir doch auch was geschenkt.«

»Deine Mutti soll mich wiederkommen lassen, das ist das allerschönste Geschenk.«

»Na gut«, meinte Pucki energisch. »Du kommst bald wieder, ich hole dich dann vom Bahnhofe ab. – Weißt du, du könntest auch im Winter kommen. Dann bauen wir einen großen Schneemann.«

»Nein, Pucki, lieber im Sommer, wenn der Wald grün ist und die Vögel so schön singen, ich höre sie so gern.«

»Oh, jetzt weiß ich, was ich dir schenke.« Pucki stürmte davon, und wenige Augenblicke später kehrte sie mit einer kleinen Trillerpfeife wieder. »Hier hast du sie, das ist genau so, als wenn ein Vogel singt. Der Vati wird sie mir schon geben. Damit ruft er nämlich den Harras. Aber ich schenke sie dir. Wenn du im finstern Hof darauf bläst, denken alle, die Vöglein singen. – So, die nimmst du mit.«

Förster Sandler tauschte die Trillerpfeife tags darauf gegen eine kleine Vogelpfeife um, die er aus der Stadt mit heimbrachte. Das klang freilich, als zwitschere ein Vöglein sein lustiges Lied. Beglückt nahm Rose das Geschenk entgegen.

»Ich werde immer an die lieben Vöglein hier im Walde denken.«

.

An einem Sonnabend schlug die Trennungsstunde. An Sandlers, Niepels und überall, wo Ferienkinder untergebracht waren, war ein Schreiben gekommen, daß die Kinder am Sonnabend, vormittags elf Uhr, auf dem Bahnhofe zu Rahnsburg sein sollten, wo sie von der Transportleiterin in Empfang genommen werden würden. Niepels wollten mit dem Wagen beim Forsthause vorfahren, um Rose abzuholen und zur Stadt zu bringen. Frau Sandler und Pucki begleiteten selbstverständlich die kleine Freundin. In Roses kleinem Koffer steckten allerlei Geschenke und verschiedene Lebensmittel, denn man hatte erfahren, daß bei der Scheeleschen Familie große Not herrschte. Rose hatte sich über die Gaben nicht recht freuen können, denn zu groß war der Abschiedsschmerz. Und als nun der Wagen mit den Knaben und den vier Ferienkindern vorgefahren kam, als es hieß: einsteigen, waren Roses Augen so voller Tränen, daß sie nichts mehr erkennen konnte. Sie schluchzte am Halse des guten Onkels, sie umarmte Minna, ja sogar den treuen Harras, der zu wissen schien, daß die kleine Freundin nicht so bald wiederkäme. Traurig sah er sie an und bellte leise.

Nun saß sie im Wagen. Roses Tränen tropften auf den großen Strauß Blumen, den sie in den Händen hielt. Am liebsten wäre sie wieder vom Wagen gesprungen.

Von allen Seiten kamen die Ferienkinder herbei. Wer hätte in diesen rotwangigen Mädchen die blassen Kinder wiedererkannt, die vor fünf Wochen auf demselben Bahnsteige gestanden hatten und bangen Herzens in ihre Quartiere gegangen waren. Diese Ferienzeit war allen zu einem herrlichen Erlebnis geworden, war eine schöne Erinnerung, die sich nicht mehr auslöschen ließ.

Das junge Mädchen, das die Kinder in Empfang nahm, staunte über deren gesundes Aussehen. Herzliche Dankesworte wurden gewechselt. Alle Pflegemütter hatten sich auf dem Bahnhofe eingestellt, noch einmal wurden Umarmungen und Abschiedsküsse getauscht, dann stiegen die Kinder in den Zug und drängten sich an die Fenster.

Rose lag noch in den Armen Frau Sandlers; sie war vielleicht die einzige, die in den letzten Minuten nichts sagen konnte. Pucki plauderte munter daraus los, sprach vom Wiederkommen, vom Schneemann, den man gemeinsam bauen wollte, und vielleicht käme auch sie mal und besuchte Rose. Aber das Stadtkind hörte kaum, was die kleine Freundin sagte.

»Du mußt nun einsteigen, mein Kind.«

Frau Sandler brachte Rose selbst in den Wagen. Es schien, als wollte sich das Kind an ihr festklammern. Dann saß es auf der Bank, ganz still für sich.

Mit schwerem Herzen stieg die Försterin aus dem Zuge. Am Fenster sah sie Rose nicht mehr. Aus dem fahrenden Zuge aber winkten gar viele Kinderhände ein letztes Lebewohl, und auch Pucki schwenkte ihr Taschentuch aus Leibeskräften.

»Mutti, kommt die bald wieder?«

»Hoffentlich im nächsten Jahre.«

»So, Mutti, nu müssen wir heim, jetzt muß ich lesen lernen, damit die alte Schmanzgroßmutter reich und glücklich wird.«

Obwohl Rose im Forsthause niemals Lärm gemacht hatte, erschien es allen darin in den nächsten Tagen still und einsam. Auch Pucki vermißte die Freundin überall, aber sie tröstete sich mit dem Schwesterchen, dem sie sich von nun an mehr widmete als bisher.

»Und jetzt, Mutti, muß ich in der Schule ganz genau aufpassen. Weißt du, die Schmanzgroßmutter will nur, daß ich lesen lerne, da werde ich in Zukunft nicht mehr so viel schreiben. Das brauche ich nicht, das kann die Schmanzgroßmutter doch nicht sehen.«

»Aber Rose wartet doch auf einen Brief von dir. Rose wird uns bald Nachricht von sich geben. Ich dachte, es würde dich freuen, wenn du deiner kleinen Freundin antworten könntest.«

Einige Augenblicke überlegte Pucki, dann nickte sie ernsthaft mit dem Köpfchen.

»Ja, dann wird wohl nichts anderes übrig bleiben, dann muß ich auch schreiben lernen.«


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