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8. Kapitel.
Nachdenkliches

Wieder einmal waren die Sommerferien gekommen, und Herr Apotheker Wagner hatte für dieses Jahr mit seiner Familie eine Erholungsreise an die Ostsee unternommen.

Vier volle Wochen wollte man am Meere zubringen, zwar nicht immer im Beisein des Vaters, denn Herr Wagner konnte unmöglich so lange fern bleiben. Aber er hatte versprochen, acht Tage später zu erscheinen, sich dann eine volle Woche der Familie zu widmen, wieder für kurze Zeit heimzufahren, um den Rest der Ferien mit der Familie zu verleben.

Bärbel strahlte. Sie liebte die Ostsee geradezu leidenschaftlich, außerdem freute sie sich auf das Neue, das sich ihr dort bieten würde. Sie war doch jetzt mit ihren sechzehn Jahren eine junge Dame und würde wahrscheinlich mit den Eltern zu den Tanzabenden gehen, sie würde auch sonst sicherlich vieles erleben. Oh, es würde herrlich werden!

Bruder Joachim hatte sein Examen als Diplom-Ingenieur zur Zufriedenheit bestanden. Zwar hatte er nicht so glänzend abgeschnitten wie Harald Wendelin, der das Examen mit Auszeichnung gemacht hatte. Es war daher kein Wunder, daß der junge Diplom-Ingenieur sofort eine Stellung in einem großen Unternehmen bekam.

Bärbel hatte einen Luftsprung gemacht, als sie erfuhr, daß die Firma nur eine halbe Stunde von Dresden entfernt ihre riesigen Anlagen hatte. Es würde also möglich sein, daß sie in der nächsten Zeit öfters mit Herrn Wendelin zusammentraf, denn er würde sicherlich zu Großchen kommen. Dann konnte man gemeinsam allerlei tolle Streiche unternehmen.

Als sie bei den tollen Streichen angelangt war, zog sie die Nase kraus. Mit Harald Wendelin ließ sich eigentlich keine Dummheit machen. Er erschien ihr stets wie ein Vater, so ernst, so gemessen. Aber vielleicht gelang es ihr doch, ihn dazu zu bringen. Großchen hatte doch immer gesagt: zur Jugend gehöre Fröhlichkeit, Lachen und Singen. Warum sollte sie das dem ernsten Harald Wendelin nicht beibringen können!

Auch Bruder Joachim war nicht mit an die Ostsee gereist. Er hatte zur Belohnung für das bestandene Examen eine größere Summe Geldes vom Vater erhalten und wanderte vergnügt durch die Alpen, die er bis jetzt noch nicht kannte.

So war nun Frau Wagner mit Bärbel und den Zwillingen vorausgefahren und hatte in einem netten Hause bei dem Uhrmacher und Goldschmied Zapp Wohnung genommen.

Da man mitten in die Hochsaison kam, wimmelte es von Badegästen. Welch ein lustiges Leben herrschte am Strande.

Man krabbelte im Sande und baute Burgen, badete, lachte und tollte in der kühlen Flut, um dann scharenweise zu den Konzerten zu gehen, hin und her zu promenieren und – Bekanntschaften zu machen.

Es wurde Bärbel heiß vor Erregung. Zum ersten Male in ihrem Leben durfte sie die junge Dame spielen, durfte sich nach eigenem Ermessen erfreuen, baden, Burgen bauen und auch Bekanntschaften anknüpfen, genau so wie alle anderen jungen Damen, die sie hier erblickte.

An den Läden blieb sie voller Bewunderung stehen. Was gab es hier für herrliche Sachen! Noch viel schönere als in Dresden. Sofort erwachte in dem jungen Mädchen das glühende Verlangen, eine der schönen, bunten Ketten, einen neuen Badeanzug, einen grellbunten Bademantel und andere Herrlichkeiten zu besitzen.

Es verging daher kein Tag, an dem das junge Mädchen nicht leicht schmollend zur Mutter kam.

»Sie sind alle viel schöner als ich, liebe Mutti. Wenn ich mit meinem ollen weißen Bademantel am Strande liege, sehe ich aus wie ein Bettelweib. – Die meisten haben so schöne Ketten aus großen blauen oder roten Perlen. – Komm doch mal mit, liebe Mutti. Auf der Brücke ist ein Laden. Dort bekommt man schon für fünf Mark solch eine Kette.«

»Du brauchst keine solche Kette, mein liebes Goldköpfchen.«

»Ich habe doch das weiße Kleid mit den blauen Punkten. Wenn ich dazu eine solche blaue Kette hätte, würde ich gewiß auffallen, Mutti.«

»Es wäre entsetzlich, wenn mein Bärbel auffiele.«

»Nein, Mutti, ich fände das gar nicht entsetzlich, es wäre doch wunderschön. Schließlich ist man doch hierher gekommen, um den grauen Alltag zu verscheuchen und der Freude zu leben.«

»Hast du denn nicht Freude genug, mein Kind?«

Ein anderes Mal wieder kam sie mit der Frage, ob man wirklich schon nach vier Wochen heimreisen wolle. Ihre Bekannten vom Strande blieben alle die ganzen großen Ferien hier.

»Da wollen wir doch auch fünf Wochen bleiben, liebe Mutti. Warum sollen wir denn eher heim als die anderen?«

»Bärbel, Bärbel, sei zufrieden, daß du vier Wochen an der See sein kannst. Es gibt so viele, die sich mit ein paar freien Tagen begnügen müssen.«

»Kaufst du mir dann aber die Kette? Morgen ist doch Tanzabend, und ich sehe so plundrig aus.«

»Wenn du das meinst, Bärbel, so ist es bester, wir gehen erst gar nicht zu dem Tanzabend.«

Erschrockenen Auges schaute Bärbel die Mutter an.

»Ich meinte es ja nicht so,« meinte sie kleinlaut, »aber die Bekannten vom Strande haben Seidenkleider. Ich glaube, man darf nur in seidenen Kleidern zum Tanzabend kommen.«

»O nein, mein Kind.«

»Auf der Brücke ist ein Laden, Mutti, da gibt es schon seidene Kleider für zwölf Mark.«

»Komm einmal zu mir, mein Kind. – Was ist eigentlich mit dir geschehen, – seit wann bist du mit nichts mehr zufrieden? Der Vati glaubte, auch dir eine große Freude zu bereiten, wenn er uns vier Wochen an die See schickt. Wir wollen ihm dafür doch auch recht dankbar sein.«

»Das sind wir auch,« sagte Goldköpfchen, indem es an der Unterlippe nagte. »Aber – – die blaue Kette möchte ich so gern haben.«

»Du bekommst die blaue Kette nicht,« klang es fest und energisch von den Lippen der Mutter.

Eine kleine, trotzige Falte zeigte sich aus der Stirn des jungen Mädchens.

»Im übrigen gehst du jetzt mit den Brüdern zum Strande. Ihr könnt die Burg fertigbauen, ich komme etwas später nach.«

»Der Martin gräbt immer nur Höhlen, weil er den ganzen Tag Indianer spielt.«

»Du gehst sofort mit den Brüdern zum Strand, Bärbel, kein Wort weiter!«

Da wußte Goldköpfchen, daß es keine Widerrede mehr gab. Sie wäre viel lieber ins Nachmittagskonzert gegangen, noch dazu, da man heute zwischen den einzelnen Musikstücken im Freien tanzte. Sie tanzte nun einmal für ihr Leben gern, aber die Mutter duldete es nicht, daß sie jedesmal diese Tanznachmittage besuchte.

So rief sie ziemlich herrisch nach den Brüdern, die begeistert vor ihr hereilten, um recht rasch wieder an den Strand zu kommen und ihre Räuberhöhle fertigzustellen.

»Ich kann schon bis hinter den Bauch in die Höhle hineinkriechen,« plauderte Martin, »und heute graben wir so tief, daß auch noch die Beine reinrutschen.«

Bärbel hörte kaum hin, sie hatte nur Ohren für die Musik, die vom Kurpark herübertönte. Ach, wie glücklich waren doch alle die, die hier tanzen durften; sie aber mußte als Kindermädchen mit an den Strand.

»Wir laufen voran!«

Weg waren die beiden Brüder.

Bärbels Schritte verlangsamten sich mehr und mehr. Schließlich blieb sie an dem Zaune stehen, der den Kurgarten von der Promenade abgrenzte.

Ein herrlicher Boston begann soeben. Es zuckte Bärbel in den Füßen. Die Brüder gruben ja doch nur an ihrer Höhle, sie würden die Schwester nicht vermissen. Die Kurkarte trug sie stets bei sich. Wenn sie nur einen einzigen Tanz auf dem Podium mittanzte, niemand würde es merken.

Noch zögerte sie. Sie wußte genau, daß sie den ausdrücklichen Wünschen der Mutter entgegenhandelte. Aber wenn sie nicht einmal die blaue Kette bekam, wollte sie doch heute wenigstens einmal tanzen.

Es zog sie mit aller Gewalt zu dem Platze hin. Sie reichte dem Kurdiener ihre Karte, sie näherte sich mit Herzklopfen dem Podium.

Da war es ihr, als käme von der Promenade her ein dumpfer Ton. Noch ein zweiter folgte, ein dritter. Bärbel blieb stehen und schaute rückwärts. Sie erblickte zwei Männer, die jeder einen tanzenden Bären vor sich hertrieben. Nach dem klirrenden Ton des Tamburins tanzte Meister Petz täppisch umher.

Ein Bär! – Bärbel stand plötzlich regungslos da. Durch die Straßen Dillstädts war auch einmal ein Bär gegangen. Oh, das war schon lange her. Damals war sie noch ein kleines Schulmädchen gewesen, das gerade nachgesessen hatte.

Das liebliche Mädchenantlitz erglühte. Jener Bär damals war der Anfang von vielen schrecklichen Stunden gewesen. Sie hatte die Mutter belogen, war dann von ihrem Mitschüler Georg Schenk arg bedroht worden. Sie sollte Geld schaffen. Sie hatte die fünfzig Pfennige fortgenommen und das Hausmädchen in schlimmen Verdacht gebracht.

Ein Zittern durchlief Goldköpfchens Körper. Es starrte auf den tanzenden Bär, stürmte plötzlich aus dem Kurgarten hinaus, hin zum Strande.

Sie sah nur Kuno; und als er Bärbel erblickte, stürzte er ihr weinend entgegen.

»Die Höhle ist soeben zusammengepurzelt, – der Martin ist futsch!«

Aus dem Sande ragten nur zwei Stiefel hervor. In der nächsten Sekunde begann Bärbel fieberhaft zu wühlen, und wenige Augenblicke später zog sie den stark verstörten Bruder aus dem Sandhaufen hervor.

Als er furchtbar zu schimpfen begann, hätte Bärbel am liebsten vor Freude geweint. Aber sie lachte krampfhaft und bekam dafür von Martin mehrere derbe Püffe.

»Ach du,« sagte sie glücklich, indem sie den Bruder an sich riß, »ich bin so glücklich, daß du wieder da bist!«

Nun begann Martin zu weinen, denn jetzt erst kam es ihm zum Bewußtsein, daß er in dem Sande hätte ersticken können. Aufs neue ergoß sich eine Flut von Scheltworten über Bärbel und Kuno.

Und dann saß Bärbel still und versonnen in der Burg und atmete von Zeit zu Zeit schwer auf. Was wäre geschehen, wenn sie den einzigen Tanz getanzt hätte? Damals hatte ihr die gute Mutter verziehen, als sie den Bär vorgeschützt hatte. Heute wäre namenloses Elend über die Wagnersche Familie gekommen, wenn sie ihrem Verlangen nachgegeben hätte.

Nun schämte sich Goldköpfchen. Wenn die Mutter ihr eben verbot, zu tanzen, mußte sie sich fügen.

Es gab nicht einmal Vorwürfe daheim. Frau Wagner glaubte, daß die Knaben vorweggelaufen wären, und Bärbel konnte ihnen im Galoppschritt nicht nach. Und selbst, wenn sie sich absichtlich auf der Strandpromenade ein wenig verweilt hatte, durfte sie darüber auch nicht schelten. Ein großes Unglück war verhütet worden, die Knaben würden in Zukunft vorsichtiger sein.

In den nächsten Tagen arbeitete Bärbel sehr fleißig an der großen Decke, die sie der Mutter zum Geburtstag schenken wollte, denn dieser Tag fiel noch in die Ferienzeit. Bärbel fühlte sich der Mutter gegenüber recht schuldig und nahm sich vor, Frau Wagner doppelt durch diese schöne Handarbeit zu erfreuen.

Wenn sie aber so still an ihrer Arbeit saß, nagte doch manches an ihrer Seele. Das eine war die blaue Kette, das andere die verkürzte Ferienzeit. Bärbel wagte aber nicht mehr davon zu reden, sie fürchtete den strengen Ton der Mutter. Außerdem war der Vater inzwischen eingetroffen, man hatte manches Tanzvergnügen mit ihr besucht, aber Bärbel konnte nicht genug bekommen.

Als sie eines Tages wieder, bepackt mit der großen Decke, zum Strande gehen wollte, um dort ungestört zu arbeiten, sah sie an einer leeren Bank eine kleine, schwarze Ledertasche hängen.

»Wieder einer, der etwas vergessen hat!« Neugierig nahm sie die Tasche an sich, öffnete sie und erblickte darin zehn Zehnmarkscheine. »Ach – muß das eine Reiche sein, die hundert Mark in der Handtasche mit herumschleppt! – Wenn ich doch ein einziges Mal hundert Mark hätte!«

Und während Bärbel die Scheine immer wieder durch die Finger gleiten ließ, träumte sie von seidenen Kleidern, einer blauen Kette, dem bunten Bademantel und einer grellgelben Badekappe.

»Mumpitz,« sagte sie seufzend, »das ist ja nicht mein Eigentum. Aber wenn die reiche Frau die Tasche aus dem Bureau abholt, wird sie mir sicher einen fabelhaften Finderlohn geben. Dann kaufe ich mir doch die blaue Kette. Die Mutti wird dann auch nichts mehr dagegen haben.«

Wieviel Finderlohn würde sie wohl bekommen? Ganz bestimmt doch zehn Mark. – Vielleicht gab man ihr auch zwanzig. Vielleicht sagte die Betreffende auch, daß ihr an dem Gelde gar nichts liege. Denn wenn man hundert Mark alltäglich mit sich herumträgt, mußte man furchtbar reich sein.

Sorgsam steckte Bärbel alles in die Tasche zurück. Es war wohl am besten, sie ging gleich nach dem Fundbüro.

Aber da stürmte ihr auch schon ein junges Mädchen entgegen.

»Meine Tasche, meine Tasche!«

Voller Staunen betrachtete Bärbel die Erregte. Lieber Himmel, hatte die ein hageres Gesicht und so ein einfaches Kleid. Die sah doch gar nicht aus, als ob sie sehr reich sei.

Bärbel versteckte die gefundene Tasche auf dem Rücken.

»Sie werden einsehen, mein Fräulein, daß ich zuerst ein Verhör mit Ihnen anstellen muß, ehe ich Ihnen die Tasche zurückgeben kann.«

Mit fliegendem Atem schilderte die andere, was sich in der Tasche befände, so daß Bärbel keinen Zweifel mehr hegen konnte, daß sie die rechtmäßige Besitzerin vor sich habe.

Da saßen sie nun nebeneinander auf der Bank, Bärbel voller Spannung darauf, was sie nun wohl bekommen würde, und die andere noch immer zitternd vor Erregung, aber doch innerlich beglückt, daß die Tasche wiedergefunden war. Ganz von selbst begann sie zu erzählen, und Bärbels Augen wurden immer größer.

Acht Tage Ferien waren der anderen zugebilligt worden, die von morgens acht Uhr bis abends acht Uhr als Verkäuferin in Berlin tätig war und die dann abends noch zu einem Herrn ging, um ihm Schreibarbeiten zu machen.

»Ich bin zum ersten Male an der See. Seit zwei Jahren freue ich mich auf meine Ferien. Ich habe daheim eine Mutter und noch vier Geschwister zu ernähren. Diese hundert Mark sind alles, was ich in langen Monaten gespart habe. Ich muß davon auch noch etwas wieder heimbringen. Ach, wie bin ich glücklich, daß ich hier sein darf.«

»Acht Tage?« fragte Bärbel kleinlaut.

»Ist das nicht eine schöne Zeit? Denken Sie doch, acht ganze Tage Ferien! Einmal ausruhen zu dürfen, frische Luft zu atmen. – In Berlin schaue ich in einen kleinen Hof hinab, kein grünes Blatt ist zu sehen, kein Vogelgezwitscher zu hören. Ach, es ist ja so wunderbar schön hier!«

»Gehen Sie auch tanzen?«

»Nein, – ich genieße die See, die wundervolle blaue See! Kann es denn überhaupt noch etwas Schöneres geben, als diese Pracht zu sehen? Und die bewaldeten Höhen, ich kann mich nicht satt daran schauen.«

Bärbel wurde immer stiller. Sie war mit vier Wochen Ferien nicht zufrieden, sie wollte Vergnügen aller Art haben; und neben ihr saß auch ein junges Mädchen, dem strahlte das Glück aus den Augen, acht Tage lang Ferien zu haben und Berge und See zu schauen.

Dann kam der stürmische Dank, daß Bärbel die Tasche zurückgegeben hatte.

»Ich bin Ihnen doch einen Finderlohn schuldig. Darf ich Ihnen diesen Schein geben? Werden Sie es mir übelnehmen?«

Bärbel sprang auf. »Was denken Sie denn!« Das junge Mädchen erschien ihr plötzlich so unnahbar, darum sagte sie zögernd: »Gnädiges Fräulein, ich denke gar nicht daran, wie käme ich dazu, etwas anzunehmen. – Erfreuen Sie sich weiter. Also, – viel Vergnügen, gnädiges Fräulein.«

Bärbel eilte davon. Auch jetzt wieder hatte sie das Gefühl, als nähme ihr ein Stein, der schwer auf dem jungen Herzen lag, den Atem fort.

Erst am Strande wurde ihr wieder leichter. Sie schaute lange auf die weite, blaue See hinaus, dann blickte sie rückwärts zu den bewaldeten Höhen. Goldköpfchen hatte plötzlich das Empfinden, als sei See und Wald noch nie so wunderschön gewesen wie heute.

»Vier Wochen Ferien,« sagte sie laut vor sich hin, »oh, das sind viermal acht Tage. Das ist doch eine sehr lange Zeit! Ja, man kann doch glücklich sein, wenn man vier Wochen Ferien hat.«

Das junge Mädchen ging Goldköpfchen nicht mehr aus dem Kopfe. Von früh acht Uhr bis abends acht Uhr mußte es arbeiten, und Bärbel klagte schon über die kurzen Schulstunden. – Auch Harald Wendelin mußte arbeiten, und doch schrieb er so beglückt, daß ihm sein Beruf große Freude mache.

Sein Beruf! – Ja, einen Beruf mußte der Mensch wohl haben. Wie interessant verstand Fräulein Römer aus dem Strandkorb von nebenan zu erzählen, die eine Frauenschule besuchte und sich zur Säuglingsschwester ausbilden ließ. Dann hatte Bärbel zwei andere Damen belauscht, die in der Armenpflege tätig waren und auch so viel Interessantes zu berichten wußten.

Ja, einen Beruf mußte man wohl haben. Mit dem Heiraten würde es vielleicht nichts werden. Gerhard Wiese war zu Ostern sitzengeblieben, und die Eltern wollten ihn, wenn er nicht fleißiger wurde, von der Schule nehmen und in die Lehre geben. Er kam also als künftiger Ehemann für Bärbel kaum in Betracht.

Es war überhaupt so eine Sache mit den Männern. Wenn man einmal einen traf, der einem gleich beim ersten Anschauen das Blut zum Rasen brachte, war es bestimmt einer, der nur auf Betrug ausging und aus dem Elternhause eine wertvolle Bronze mitnahm.

»Wenn er gleich in richtige Elternhände gekommen wäre,« murmelte Goldköpfchen, »wäre gewiß aus ihm etwas Rechtes geworden. Er hatte eine so edle Nase. Aber er ist in den Strom der Welt hineingerissen worden und wird heute als Hochstapler gesucht. – Gräßlich!«

Den Gedanken, Ärztin zu werden, hatte sie schon lange aufgegeben. Immerfort an den Menschen herumzuschneiden, mißfiel ihr; und für eine Lehrerin hatte sie schon gar nichts übrig. Aber Jura studieren, das war vielleicht schon eher etwas. Wenn sie dann in der schwarzen Kutte vor den Verbrechern stehen würde, – oh, wie wollte sie diese Schurken verfluchen! Und wenn dann Wilhelm Wolf eingeliefert wurde, – na, der sollte gründlich ihre Meinung zu hören bekommen.

Man hatte ihr gesagt, daß das Studium sehr schwierig und langwierig sei. Nein, das war wohl auch nicht das Richtige. So lange konnte sie doch unmöglich den Eltern auf der Tasche liegen.

Aber es war wirklich Zeit, an einen Beruf zu denken. Was mochten wohl alle die Menschen, die hier so fröhlich im Seebade weilten, für Berufe haben?

Die Berufsfrage ging Goldköpfchen nicht mehr aus dem Sinn; selbst dann nicht, als sie, den Bademantel unter dem Arm, langsam ihrer Wohnung zuschlenderte. Aufmerksam studierte sie die Schilder an den Häusern.

»Bäckermeister? – Vielleicht Konditorin? Oh, das wäre nicht schlecht. Ich würde viele Windbeutel backen und sie an meine Freundinnen zum halben Preise abgeben. Aber – – dazu muß man täglich früh um fünf Uhr aufstehen. –«

Dann kam sie vorüber an einer Klempnerei, bei einem Schuhmacher, dem Pumpenbauer; aber immer wieder schüttelte das goldhaarige junge Mädchen den Kopf.

»Handwerk hat goldenen Boden,« sagte sie laut vor sich hin, »ein tüchtiger Handwerker ist etwas sehr Schönes. Großchen meint immer, meine Hände seien das Beste an mir. Ich wäre sehr geschickt. Ach – was könnte ich wohl werden?«

Bei diesem Stoßseufzer war die Wohnung erreicht. Vor der Ladentür stand Herr Zapp und grüßte freundlich.

Durch die geöffnete Tür warf Bärbel einen Blick in den Laden, überall hingen Uhren. Wie lustig die tickten!

»Darf ich einmal hereinkommen?«

Sie betrat den Laden und betrachtete neugierig alle die kleinen Rädchen und Räder, die umherlagen, und einige zerbrochene Schmuckstücke.

»Das ist wohl 'ne sehr kniffliche Sache, Herr Zapp?«

»O ja, man muß dazu Geduld und Geschick haben.«

»Hm,« meinte Bärbel, »Geschick hätte man vielleicht, aber – – ob man Geduld hätte? – – Wie wird denn solch eine Uhr zusammengesetzt?«

»Sie können ja einmal zusehen, Fräulein Wagner.«

»Ach ja, furchtbar gern. – Können Sie auch diese zerbrochenen Ringe wieder heilmachen?«

»Natürlich.«

»Immer in solch edlem Metall zu arbeiten, muß doch furchtbaren Spaß machen.«

»Ich wollte, ich könnte nur Goldschmied sein, Fräulein Wagner, es ist das schönste Handwerk, das es überhaupt gibt.«

»Ja, auch ein sehr vornehmes Handwerk, immer nur Gold, Silber und Brillanten um sich herum.«

»Wenn es Sie interessiert, Fräulein Wagner, zeige ich Ihnen gern einiges.«

Es interessierte Bärbel ungemein. Am Nachmittage saß sie bei Meister Zapp und schaute voller Neugier alles genau an. Er setzte mit der Pinzette eine Uhr zusammen, und Bärbel konnte gar nicht genug fragen.

»Machen Sie auch Verlobungsringe?«

»Ich habe es natürlich gelernt, Fräulein Wagner, aber in diesem kleinen Orte lohnt es nicht. Jeder Goldschmied muß es natürlich verstehen.«

»Es muß herrlich sein, wenn man Bräutigam ist und ein Goldschmied dazu. Sich dann selbst den Verlobungsring zu schmieden.«

Meister Zapp hielt Bärbel die Hand hin. »Den Ring habe ich gemacht.«

»Gibt es auch Goldschmiederinnen?«

»Freilich, wir haben eine ganze Reihe junger Damen, die die Kunstgewerbeschule besuchen und das Goldschmiedehandwerk erlernen.«

»Dann ist es beschlossen,« sagte Bärbel, und ihre Stimme klang wie aus Grabestiefen, »die Berufsqual hat ein Ende gefunden. – Ich werde Goldschmiederin und hämmere mir meinen Trauring selbst!«

Es gab noch viele Stunden, in denen Bärbel bei Meister Zapp saß und Erklärungen verlangte. Je mehr sie sich in diese Wissenschaft einweihen ließ, um so größer wurde ihr Interesse; und eines Tages, als ihre Armbanduhr ein wenig nachging, nahm sie sich vor, im geheimen eine Leistung zu vollbringen, über die nicht nur Meister Zapp, auch ihre Angehörigen staunen würden. – Sie wußte vom Uhrenbau schon manches. An diesem Stift mußte man schieben, wenn die Uhr nachging. Vielleicht konnte sie auch das Rädchen herausnehmen und wieder neu einsetzen.

Mit geheimnisvoller Miene borgte sie sich von Meister Zapp einen kleinen Schraubenzieher. Damit wurde die kleine Uhr bearbeitet. Aber obwohl sich Bärbel mit unendlicher Ausdauer bemühte, das Räderwerk wollte nicht wieder in Gang kommen.

So traf sie der Vater an.

»Nanu, was ist denn das?«

»Ach, Vati, ich wollte ein Gesellenstück vollbringen, nun ist die Uhr ganz kaputt!«

Dann beichtete sie ihm, daß sie bei Meister Zapp zwar schon viel gelernt habe, daß es anscheinend aber noch lange nicht genug sei.

»Wenn jedes Handwerk so leicht wäre, mein liebes Goldköpfchen, wie du annimmst, brauchte man nicht drei lange Jahre zum Lernen. Geh, trage die Uhr hinunter, Herr Zapp soll sie dir wieder in Ordnung bringen.«

Sehr kleinlaut überbrachte Bärbel dem Uhrmacher das Stück, und Meister Zapp lächelte verständnisinnig, nahm alles wieder auseinander und riet Bärbel, in Zukunft von weiteren Experimenten lieber abzusehen.

In den nächsten Tagen mußte sich das junge Mädchen wieder mehr seiner Handarbeit widmen. Der Geburtstag der Mutter stand nahe bevor, und die Decke war noch nicht ganz fertig. Auf jeden Fall mußte die Arbeit beendet werden, denn Bärbel hätte sich unsäglich geschämt, wenn es der guten und fürsorglichen Mutter eine unfertige Arbeit geschenkt haben würde.

Frau Wagner beobachtete schon seit einiger Zeit ihre Tochter verstohlen. Irgend etwas mußte ihrem Bärbel begegnet sein, denn Goldköpfchen hatte seit mehr als acht Tagen niemals wieder den Wunsch geäußert, die blaue Kette zu besitzen; auch war die wütende Tanzlust ein wenig verstummt. Sie freute sich darüber, denn sie hatte gerade in den ersten Tagen ihres Hierseins eine bange Sorge nicht unterdrücken können. Bärbel war anspruchsvoll und zuweilen auch mißmutig gewesen. War ganz von allein der schlechte Samen zertreten worden? Die Mutter hätte es gern gewußt. Und daher nahm sie sich heute vor, an jenem Laden stehenzubleiben, in dem noch immer die blauen Ketten hingen.

Das geschah.

»Die Ketten sind wirklich recht nett, aber es geht wohl auch ohne sie. Nicht wahr, Bärbel?«

Vor den Augen Goldköpfchens tauchte plötzlich das hagere, junge Mädchen auf, von dem Bärbel anfangs einen Finderlohn erhofft hatte. Die Ärmste saß nun lange wieder daheim und arbeitete, zehrte aber gewiß noch von der schönen Erinnerung an Wald und See.

Goldköpfchens Körper straffte sich.

»Man hat doch die blaue See und die grünen Hügel, Mutti. Bedenke doch, wie schrecklich es wäre, wenn man alltäglich in einen engen Hof hinabstarren müßte, in dem kein grüner Baum zu sehen ist, kein Vogel singt. – Man muß zufrieden sein, Mutti. – Ich denke, ich brauche die blaue Kette nicht.«

Frau Wagner sagte dazu kein Wort, aber sie ahnte, daß diese Worte nicht in Goldköpfchens Innern geboren worden, daß sie aber hineingefallen waren und dort Wurzel geschlagen hatten.

Sie freute sich, daß sich auch hier wieder der gute Charakter ihres Kindes offenbarte.

Dann kam der Geburtstag der Mutter. Die Decke war fertig, strahlend konnte Goldköpfchen die Arbeit in der Mutter Hände legen. Es war ein prächtiges Stück geworden, und wieder staunte die gute Mutter über die Kunstfertigkeit der eigenen Tochter.

Man verbrachte diesen Tag sehr fröhlich, man stellte Goldköpfchen sogar frei, an diesem Nachmittage zu tanzen. Aber Bärbel schüttelte energisch den Kopf.

»Der ganze Tag gehört dir, Mutti, ich bin doch viel lieber bei euch als bei den anderen, zumal Vati heute abend mit dem letzten Zuge wieder heimfahren muß.«

»Ja, leider,« sagte Herr Apothekenbesitzer Wagner, »aber es war doch eine schöne Zeit, die mich recht erfrischt hat.«

Am Abend brachte die Familie den Vater zur Bahn, dann kehrte man in die kleine Wohnung zurück. Bärbel, die stets, wenn der Vater zu Besuch weilte, in einer kleinen Nebenkammer schlief, durfte nun wieder umziehen und mit der Mutti in demselben Zimmer schlafen, während die beiden Brüder den anstoßenden Raum bewohnten.

Es war gegen zehn Uhr, als Mutter und Tochter zu Bett gingen.

»Schlafe süß ins neue Jahr hinüber, Mutti.«

»Du auch, mein Goldköpfchen!«

Dann war es eine Weile still im Zimmer.

»Mutti?«

»Nun, mein Goldköpfchen?«

»Was hast du denn soeben gemurmelt?«

»Ich will es dir sagen, mein Kind. Ich habe mit dem Himmel gesprochen und ihm gedankt, daß er mir so gute Kinder gegeben hat.«

Wieder war es eine Weile still, dann kam es noch leiser:

»Mutti, – darf deine Große noch ein bißchen zu dir ins Bett kommen?«

»Komm nur!«

Da sprang Goldköpfchen aus dem Bett und schlüpfte unter die Decke der Mutter. Einem kleinen Kinde gleich legte sie ihr goldenes Haupt in Frau Wagners Arme.

»Weißt du was, Mutti, – du hast eigentlich gar keine guten Kinder, – ja, die anderen, die mögen vielleicht gut sein, aber ich bin es nur manchmal.«

Goldköpfchen fühlte den pressenden Druck des Mutterarmes.

»Heute früh an deinem Geburtstage hast du etwas gesagt, Mutti, das geht mir nicht von der Seele, das drückt ein bißchen. – Du hast gesagt, du freust dich über unsere Geschenke, aber das größte Geschenk, das wir dir machen können, ist unser Vertrauen. Ich habe dir nicht immer alles gesagt, Mutti. – Willst du jetzt alles hören?«

»Ja, mein Goldköpfchen.«

Und in dieser traulichen Nachtstunde berichtete Bärbel von all den Versuchungen, denen sie hier ausgesetzt war, von dem Bär, von der zusammengestürzten Höhle, von der gefundenen Tasche, auch von ihrer Unzufriedenheit und ihrem Undank.

»Nun weißt du alles, Mutti. – – Bist du mir böse?«

Goldköpfchen fühlte einen langen Kuß auf seiner Stirn.

»Ihr habt mich heute alle sehr erfreut, meine geliebten Kinder; aber das schönste Geschenk habe ich soeben von dir erhalten, mein geliebtes Goldköpfchen. Komm auch weiterhin mit deinem Kummer und deinen Zweifeln zu mir, dann wird uns beiden das Glück erhalten bleiben.«


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