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2. Kapitel.
Doktor Rollmops

Das war ein Kichern und Lachen in der Obertertia, wie man es lange nicht mehr gehört hatte. Die Schülerinnen hatten sich gewaltig zusammennehmen müssen, um dem Ordinarius, Herrn Doktor Gerlach, nicht ins Gesicht zu lachen.

Es war aber auch zu komisch, daß ein Hering von nun an in der Obertertia den Geschichtsunterricht erteilen sollte. Studienrat Simoni war schwer erkrankt, hatte einen halbjährlichen Urlaub nehmen müssen; so war, kurz nach Beginn des zweiten Halbjahres, Herr Doktor Hering berufen worden, um in der Klasse den erkrankten Kollegen zu vertreten.

»Kinder, ich platze vor Lachen,« rief Bärbel in der Pause. »Der Hering kommt!«

»Hering in Gelee!«

»Doktor Rollmops!«

»Habt ihr ihn schon gesehen?«

»Zwei Meter neunzig, – Gewicht: neunundneunzig Pfund, – Stiefel: Nummer 36. – Kinder, das ist ein Unikum!«

»Was sollen wir denn mit dem Doktor Rollmops anfangen?«

»Wenn er doch erst käme!«

So tönte es durcheinander. Die ganze Klasse befand sich in fieberhafter Spannung, niemand kannte den neuen Vertreter; alles waren nur Vermutungen, und doch hatte man munkeln gehört, daß Doktor Hering ein ganz frischgebackener Studienrat sei, der wegen seiner Größe und Magerkeit in Dresden bekannt wäre.

»Wenn ihn der Ordinarius bringt, wenn er ihn uns vorstellt, – Kinder, Kinder, ich lache mich tot,« kicherte Bärbel. »Du hast einen breiten Rücken, Valeska, ich verkrieche mich hinter dich. – Kinder, Kinder, ich stopfe mir das ganze Taschentuch in den Mund!«

»Wehe dir, Bärbel, wenn du loslachst!«

»Doktor Rollmops, – hahaha! Wir werden ihn mit Zwiebeln werfen, mit Pfefferkörnern!«

»Wir werden ihn ärgern, daß er schwitzt!«

»Dann wird aus dem Hering ein Brathering!«

Die Glocke läutete. Sekundenlang herrschte Totenstille in der Klasse, darauf begann das unterdrückte Kichern erneut.

»Jetzt kommt er – – der Ordinarius bringt ihn! Ach, Gott, ich sterbe vor Lachen!«

Goldköpfchen, das in der zweiten Bank saß, duckte sich ganz zusammen. Der Backfisch hatte vor sich selbst Angst. Bärbel kannte sich. Wenn ihr einmal das Lachen ankam, gab es kein Halten mehr. Wenn dieser Doktor Hering wirklich ein solch langer, magerer Herr war, wie ihn Gabriele Langen schilderte, dann wußte Bärbel, daß der Lachkrampf kam und daß es unmöglich war, ihn zurückzudämmen.

»An was denke ich nur schnell?« flüsterte sie ihrer Nachbarin zu, »an etwas recht Trauriges! An den Tod von Mortimer – –, ja, das will ich tun.«

Wenige Augenblicke später stellte der Ordinarius Doktor Gerlach der Obertertia den neuen Geschichtslehrer Doktor Hering vor.

Bärbel saß auf dem Platze und hatte die Hände so fest ineinander verkrampft, daß die Knöchel schneeweiß waren. Nur eine Sekunde lang hatte sie ihre Blauaugen zu dem spindeldürren, langen Studienrat erhoben, der den Ordinarius genau um Kopfeslänge überragte. Es kam hinzu, daß Doktor Hering den blonden Kopf unnatürlich weit nach vorn streckte, der weiße Kragen erschien viel zu kurz für den langen Hals, und als jetzt Valeska ganz leise das Wort »Giraffe« flüsterte, biß Bärbel die Zähne knirschend aufeinander.

Nicht lachen, – nicht schreien vor Übermut! – Bärbel dachte an einen schwarz verhängten Sarg, an das Todesurteil der Maria Stuart. Sie murmelte die letzten Worte Mortimers leise vor sich hin:

»Maria, Heilige, bitt' für mich und nimm mich zu dir in dein himmlisch Leben.«

Jetzt sprach der lange Hering. Bärbel hatte nur ein Sausen und Brausen in den Ohren, in der Kehle saß eine ganze Tonleiter, die hinausdrängte. – Nur nicht lachen!

Totenstille herrschte in der Klasse. Aber Bärbel fühlte deutlich, wie alle Nerven gespannt waren. Sie setzte sich nochmals energisch auf dem Platze zurecht, drückte sich die Fingernägel fest ins Fleisch. – Ein ganz schwarz verhängter Sarg stand irgendwo. – – Nur nicht aufblicken!

Dann kam aus der hintersten Bank ein leises Kichern. Ganz leise, – aber für Bärbel wurden diese unterdrückten Töne zum Verderben. Sie warf beide Arme auf die Tischplatte, drückte das Gesicht fest hinein; und dann lachte sie los, lachte, lachte, bis ihr die Tränen über das Gesicht strömten. Sie preßte die Fäuste an den Mund, sie drückte die Frisur der Bluse an die Lippen. – Alles nützte nichts. Bärbel lachte, und in dieses Lachen stimmte die Nachbarin mit ein; es lief von Bank zu Bank, und der finster dreinblickende Ordinarius wurde von diesem Gelächter überbraust, als ob man ihn mit glühender Lava überschüttete.

»Ruhe!«

Der gebieterische Ruf fruchtete nichts.

In das blasse Gesicht unter den blonden Haaren des neuen Studienrates stieg dunkle Röte. In sichtlicher Verlegenheit streckte Doktor Hering den Kopf vor und zurück, was natürlich von den jungen Mädchen auch nicht unbemerkt blieb.

»Die Giraffe würgt,« flüsterte Valeska Bärbel zu; aber Bärbels Augen waren voller Tränen, die verdunkelten den Blick.

Nun begann eine Strafpredigt, ernst und eindrucksvoll. Die meisten der jungen Mädchen faßten sich, nur Bärbels Körper schüttelte sich noch immer vor Lachen.

»Barbara!«

Bärbel machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. Wenn sie ihre Ruhe wiedergewinnen sollte, mußte man sie unbehelligt lassen.

»Barbara, stehe auf!«

Auch das noch!

»Maria, Heilige, bitt' für mich und nimm mich zu dir in dein himmlisch Leben.«

Aber auch die Sterbeworte Mortimers fruchteten in diesem Augenblicke nichts. Gekrümmt erhob sich das junge Mädchen, um sogleich wieder in sich zusammenzusinken.

»Du siehst mich an, Barbara.«

Bärbel erschrak. Dicht neben dem Ordinarius stand Doktor Rollmops.

»Was habt ihr so zu lachen? Du sollst mich ansehen, Barbara. – Hörst du nicht?«

Der strenge Ton des Klassenlehrers verfehlte auch diesmal seine Wirkung nicht. Bärbel hob den verschleierten Blick, aber eben in diesem Augenblicke beugte sich Doktor Hering etwas vor. Bärbel hatte den Eindruck, als sähe sie da vorn eine gebogene Latte, und aufs neue kam über ihre Lippen ein jämmerlich klingender Ton, ein ersticktes Lachen, das gewaltsam zurückgedrängt werden sollte.

»Wir beide sprechen uns nach dem Unterricht. – Setz dich.«

Bärbel hörte nicht mehr, was der Ordinarius sagte. Sie schämte sich, daß sie sich so schlecht betragen hatte, aber dennoch steckte ihr das Lachen noch immer in der Kehle. Es war furchtbar, daran zu denken, daß dieser Fiedelbogen dort vorn auf dem Katheder sitzen sollte, um den Unterricht zu geben.

Der Ordinarius hatte die Klasse verlassen; der neue Studienrat begann mit den einleitenden Worten.

Ein Neidgefühl stieg plötzlich in Bärbel auf. Wie war es nur möglich, daß sich die Mitschülerinnen derartig beherrschten? Die meisten konnten Doktor Rollmops ungestört betrachten. Aber jedesmal, wenn Bärbel den Blick erhob, ging es erneut wie ein elektrischer Schlag durch ihren Körper, und jedesmal fuhren beide Hände an den Mund, um die Lippen noch fester zu schließen.

Man hatte geglaubt, daß dieser spindeldürre Studienrat nun auch eine helle, wäßrige Stimme haben würde. Aber seine Worte klangen rauh und streng. Wenn er etwas sagte, wurde das so herrisch hervorgestoßen, als spräche ein erzürnter Herrscher seine Wünsche aus. Es klang beinahe, als bestünde der ganze Unterricht nur aus Befehlen.

Bärbel lauschte mit gesenktem Kopf der neuen Methode. Wenn man nicht hinblickte zu dem Manne, mußte man glauben, daß auf dem Katheder der Tyrann von Syrakus saß, den Dolch in der erhobenen Rechten. Aber wenn man den Mann dann ansah – –

»O Gott, o Gott,« stöhnte Bärbel leise auf.

Valeska Meißner, die neben Bärbel saß, hatte ihre teuflische Freude daran, Bärbel noch immer fassungslos zu sehen.

»Wie mag er aussehen, wenn er in der Badewanne sitzt!« flüsterte sie Bärbel zu.

Die vordere Mitschülerin hatte diese Worte gehört. Hastig wandte sie sich um.

»In der Badewanne hat er ja keinen Platz. Er muß die langen Beine hinaushängen.«

Bärbel warf einen flehenden Blick auf ihre Klassengenossinnen.

»Bitte, bitte, seid doch still,« flüsterte sie.

Vom Katheder herunter grollte es weiter. Keines der jungen Mädchen hatte eine Ahnung, wie es in dem Herzen des jungen Studienrates aussah. Er wußte schon lange, daß er infolge seiner Magerkeit und Größe für alle Bekannten eine lächerliche Figur war. Er hatte sich geradezu vor dem heutigen Tage gefürchtet, weil es ihm bekannt war, daß er auf die Backfische der Obertertia den ungünstigsten Eindruck machen würde. Seine übergroße Verlegenheit, die angeborene Schüchternheit, schnürten ihm häufig die Kehle zusammen, und als er heute das Gelächter gehört hatte, fühlte er sich fast einer Ohnmacht nahe.

Er sagte sich, daß er diesen jungen Mädchen niemals zeigen durfte, was er innerlich litt. Er mußte sich gleich vom ersten Augenblick an Respekt verschaffen. Das aber konnte nur geschehen, wenn er den unfreundlichsten und herrischsten Ton anschlug, der ihm zu Gebote stand. Und wenn er heute von der Gründung Roms sprach, wenn er die Namen Romulus und Remus erwähnte, klang das wie Kanonenschüsse. Alles aber nur, um sich vor dieser Klasse in Respekt zu setzen.

Bärbel wurde in dieser Stunde gar nicht gefragt. Sie war glücklich darüber, denn wenn sie auch endlich das Lachen eingestellt hatte, fühlte sie doch noch immer, daß es nur des leisesten Anstoßes bedurfte, um erneut loszukichern. Das aber kam dem Backfisch doch zu albern vor.

Das junge gequälte Mädchen atmete erlöst auf, als endlich die Glocke ertönte und das Ende der Stunde anzeigte.

Sie wurde zu Doktor Gerlach gerufen. Im allgemeinen hegte der Ordinarius viele Sympathien für Bärbel, aber heute hielt er es für seine Pflicht, dem jungen Mädchen ernsthafte Vorhaltungen wegen seines Betragens zu machen.

»Bitte, entschuldigen Sie, Herr Doktor,« sagte Bärbel schuldbewußt, »ich wollte nicht lachen, aber – es ging nicht anders.«

»Du siehst also ein, daß du dich recht töricht betragen hast?«

»Ich sehe es ganz gewiß ein, Herr Doktor.«

»Du solltest deinen Mitschülerinnen mit gutem Beispiel vorangehen.«

Bärbel schwieg. Das war doch zuviel von ihr verlangt.

»Ich hoffe, daß du dich in Zukunft Herrn Doktor Hering gegenüber tadellos betragen wirst. Ich müßte sonst einen Vermerk in das Zeugnis bringen.«

Bärbel war froh, so glimpflich davongekommen zu sein. Sie beschloß, sich zu bessern, aber Doktor Hering wirkte eben gar zu komisch. Es würde gewiß noch eine Weile dauern, ehe sie sich an seinen Anblick gewöhnte. Warum er nur so polterte?

Auf dem Nachhausewege sprachen die Mädchen ausschließlich von dem neuen Studienrat, der seinen Spitznamen bereits bekommen hatte und von diesem Tage an für sämtliche Klassen nur Doktor Rollmops hieß.

Daheim wurde natürlich alles erzählt.

»Ach, Großchen, du müßtest den Rollmops sehen! Wenn du Gardinen aufzumachen hast, brauchst du keinen Tapezierer; der reicht bis an die Decke. Dann hat er mit dem Halse hin und her gewackelt, – es war zum Totschießen!«

Frau Lindberg versuchte ihrer Enkelin klar zu machen, daß sich Doktor Hering wahrscheinlich selbst nicht ganz wohl fühle in seiner langen Gestalt. Aber davon wollte Bärbel nichts wissen.

»Weißt du, Großchen,« sagte sie eindringlich, »dieser Mensch ist derart von sich eingenommen, das hört man schon an seiner Sprache, daß er überhaupt keinen anderen neben sich duldet. Er brüllt uns an, als ob wir dumme Jungen wären. Wir hassen ihn alle. Er täte besser, wenn er mit der Obertertia Fühlung nähme und sich nicht wie ein pädagogischer Diktator aufspielte. So etwas braucht man sich in heutiger Zeit nicht gefallen zu lassen. Und wenn man außerdem noch den Spitznamen Doktor Rollmops führt, muß man jungen Damen gegenüber doch sehr vorsichtig sein.«

»Nun, wie junge Damen habt ihr euch heute eigentlich nicht benommen, Bärbel, besonders du nicht, mein liebes Kind.«

»Ich konnte wahrhaftig nichts dafür, Großchen, ich habe all meine Energie zusammengenommen, – aber es ging nicht mehr. Wenn Armin Rabes mitten in einer Trauerszene den Doktor Rollmops sehen würde, wäre es auch um ihn geschehen. – Selbst Mortimer würde lachend in den Tod gehen, wenn plötzlich Doktor Rollmops auf der Bühne erschiene.«

Am Nachmittage desselben Tages gab es für Bärbel eine neue Überraschung. Ganz unerwartet hatte sich Tante Agnes mit Onkel Otto angemeldet.

Onkel Otto! Was rief dieser Name doch für Erinnerungen in Bärbel wach? Als kaum sechsjähriges Mädchen war sie bei der Großmutter zu Besuch gewesen, damals hatte sie Onkel Otto kennengelernt, der einen so gewaltigen Eindruck auf das Kind gemacht hatte. Die Eltern hatten es oft lachend erzählt, daß Bärbel durchaus darauf gewartet habe, ob dem Onkel nicht endlich der Bauch platzen würde. Onkel Otto hatte dann Tante Agnes geheiratet, die Schwester von Bärbels Mutter.

Seitdem Bärbel wieder als Tertianerin im Hause der Großmutter weilte, hatte sie mit Onkel Otto Freundschaft geschlossen. Bei jedesmaligem Besuch brachte der Onkel dem niedlichen Backfisch ein hübsches Geschenk mit. Da er selbst keine Kinder hatte, war seine ganze Liebe auf die goldlockige Nichte gefallen, und als Studienrat, der an einem Gymnasium tätig war, fand er sich immer bereit, Goldköpfchen einen guten Rat bezüglich der Schulaufgaben zu geben.

Frau Lindberg mußte oftmals dazwischentreten, um einem weiteren Verzuge vorzubeugen.

So war es ganz selbstverständlich, daß sich Bärbel auch heute wieder über alle Maßen freute, als man ihr mitteilte, sie möge zum Kaffeetrinken kommen, denn Onkel und Tante seien bereits anwesend.

Mit hellem Jauchzen sprang sie dem Studienrat in die Arme.

»Na, endlich bist du mal wieder da, ich habe rasende Sehnsucht nach dir gehabt.«

»Ich auch nach dir, Goldköpfchen.«

»Du bist gar nicht wie ein Lehrer, Onkel, du bist viel netter. Warum kannst du dich denn nicht an unser Gymnasium versetzen lassen?«

»Weil ich lieber mit Knaben arbeite als mit jungen Mädchen.«

»Das verstehe ich nicht, lieber Onkel. Wir alle würden dich rasend anschwärmen.«

»Schwärmt ihr mal lieber den Armin Rabes an. Paß mal auf, Goldköpfchen, hier habe ich was für dich!«

»Oh!«

Doktor Wendt öffnete die Brieftasche und entnahm ihr eine Karte.

»Für Sonnabend abend die ›Räuber‹ mit Armin Rabes.«

»Mit dem Göttlichen!«

»Jawohl. – Wir nehmen dich mit.«

»Onkel, – süßer, – einziger, – herrlicher – – geliebter Onkel!«

»Puh – Mädel, laß los, du zerdrückst mir ja die Hemdbrust.«

»Mit Armin Rabes! – Ach, Onkel, warte nur ab, wenn der losbrüllt: ›Menschen, Menschen, falsche, heuchlerische Krokodilenbrut!‹ Es wird schauerlich schön sein!«

Bärbel begann zu schwärmen. Immer wieder wollte sie von Onkel Otto hören, ob jener auch so begeistert für den Schauspieler sei.

Da mengte sich Frau Lindberg ein.

»Bärbel hat eigentlich solch eine Belohnung nicht verdient. Sie ist heute erst vom Ordinarius getadelt worden.«

»Nanu, Goldköpfchen.«

»Ach, Onkel Otto, du hättest auch gelacht, wenn du den Rollmops gesehen hättest. Wie kann man uns solch einen Lehrer auftischen! – Bis an die Decke reicht er, kein Lot Fleisch hat er auf den Knochen! Ach, nein, der hätte niemals den Lehrstuhl besteigen dürfen.«

»Ach ja, richtig, ihr sollt ja Doktor Hering als Vertretung bekommen.«

»Wir haben ihn bekommen, bester Onkel! – Den Mann müßtest du sehen!«

»Ich kenne den armen Kerl recht genau. Der junge Mann ist so schüchtern, daß – –«

»Schüchtern,« rief Bärbel stürmisch, »der und schüchtern? Nein, Onkel, er ist ein Tyrann! Er pulvert wie ein Maschinengewehr. Dann meinst du einen anderen Hering, lieber Onkel.«

»Kein Gedanke, Goldköpfchen, ich meine den langen, dünnen Doktor Hering, der erst kürzlich sein letztes Examen gemacht hat. Er ist blond, nicht wahr?«

»Ja, und hat wässrige Heringsaugen.«

»Laß den armen Kerl nur in Ruhe. Dem ist es sicherlich nicht leicht geworden, bei euch zu unterrichten. Der hat gewiß mehr Respekt vor euch als ihr vor ihm.«

»Du irrst, lieber Onkel, – der schnauzt – –«

»Doch nur, um seine Verlegenheit zu verbergen, Goldköpfchen.«

»Um – seine – Verlegenheit – –?«

»Nun höre mich einmal an, mein liebes Goldköpfchen, so geht es gar vielen von uns Lehrern. Da kommt man von der Universität, fühlt sich selbst noch recht unsicher, und dann wird man in eine Schule gesteckt, in der viele Dutzend neugierige Augen auf einem ruhen. Und wenn man nun gar noch äußerlich ein so wenig schöner Mensch ist, fühlt man sich doppelt beengt, zumal dann, wenn niedliche und vorlaute Backfischchen vor einem sitzen. Da wird der Hals trocken, die Kehle rauh, und man schreit die jungen Dinger an, weil man sonst gar keinen Laut hervorzubringen imstande wäre. – So geht es auch dem armen Doktor Hering, bei dessen Eintreten ihr vielleicht gelächelt habt.«

»Gelacht – gebrüllt – –«, sagte Goldköpfchen kleinlaut.

»Nun siehst du.«

»Ich habe mich gar nicht fassen können, Onkel.«

Doktor Wendt zog seine Nichte zärtlich an sich.

»Da siehst du nun, Goldköpfchen, wie dem armen Doktor Hering zumute gewesen sein muß, als er sich so ausgelacht sah. – Wäre dir das angenehm?«

»Wenn er aber doch so komisch ist?«

»Kann er etwas dafür?«

Goldköpfchen fuhr sich mit der Hand mehrfach durch die goldenen Locken.

»Dann ist es eigentlich ein Unglück für ihn, daß er ein Studienrat geworden ist. – Doktor Rollmops haben wir ihn getauft.«

Jetzt lachte auch Onkel Otto. »Da siehst du nun, wie vorlaut die Backfische sind. – Wenn man dich nun Jungfer Strohkopf taufte?«

»Du meinst wirklich, daß er vor uns Angst hat?«

»Angst wohl nicht, aber er fühlt sich ein wenig unsicher.«

Goldköpfchen schlug sich klatschend auf die Oberschenkel.

»Verflixt, wenn ich das jetzt in der Klasse erzähle.«

»Komm einmal her, Fräulein Unbedacht. – – So, und nun schau mich einmal an. – Fändest du es gut und schön, den anderen die Schwächen deines Lehrers zu verraten, die ich dir anvertraute? Sage einmal, Goldköpfchen, willst du wirklich das Vertrauen, das ich in dich setzte, mißbrauchen? Willst du nicht lieber dem armen Doktor Rollmops das Leben ein wenig erleichtern?«

Der Backfisch schlug die Augen zu Boden.

»Ich denke, mein Goldköpfchen verlacht von nun an den armen jungen Mann nicht mehr. Es wird sich gar schnell an den langen, dünnen Lehrer gewöhnen und bald gut Freund mit ihm werden.«

»Wenn ich aber immer das Lachen kriege, Onkel?«

»Mit fünfzehn Jahren kann man sich beherrschen, Goldköpfchen.«

»Du hast gut reden, Onkel, du bist eine gereifte Persönlichkeit, aber unsereiner lebt eben noch in der goldenen Jugendzeit. Ich will es aber versuchen.«

»Du wirst jedenfalls deiner Klasse nicht verraten, daß Doktor Rollmops so schüchtern ist.«

»Ich schwöre es dir bei dem silbernen Mond, bei den blonden Haaren meines Hauptes, das heilige Geheimnis, das du in meine Brust senktest, es bleibt darin verschlossen. Und Sonnabend abend gehen wir in die ›Räuber‹. – Ach, Onkel, du hast mich zum glückseligsten Menschen gemacht. Ich will dir nun auch etwas anvertrauen, ganz im geheimen. – Ich liebe Armin Rabes, und ich bin selig, am Sonnabend seine Stimme zu hören. – Meinst du, Onkel, daß ich schauspielerisches Talent in mir habe?«

»Keinen Funken, Goldköpfchen.«

»Das habe ich mir selbst schon gesagt,« erwiderte sie seufzend, »der höhere Funke ist nicht auf mich gefallen, und gerade darum bewundere ich ihn so. – Kannst du das begreifen, Onkel?«

»Durchaus, Goldköpfchen.«

»Aber schön muß es doch sein, wenn ihn der Beifall umrauscht.«

»Ist es nicht ebenso schön, wenn man sich sagt, daß man in der Schule die Erste und Beste ist, und wenn alle Lehrer im Konferenzzimmer erklären: unser Goldköpfchen ist die intelligenteste und fleißigste Schülerin des ganzen Gymnasiums?«

Der blonde Kopf legte sich auf die Seite.

»So etwas werden sie nie sagen, Onkel, und dann hört man es ja auch nicht. Der Ordinarius behauptet immer, wir könnten viel mehr leisten und aufmerksamer sein. Nun, die Hauptsache ist ja aber, daß ich meinen Armin am Sonnabend höre. Ich habe fast die ganzen ›Räuber‹ auswendig gelernt.«

»Das war nun gerade nicht notwendig, Goldköpfchen.«

»O doch, Onkel, ich kann mich dann später nochmals hineinträumen in das Räuberleben. Ich kann es ja begreifen, daß der arme, verstoßene Karl eine Räuberbande gründete. Wahrhaftig, ich könnte es auch.«

»Nun, dazu wird es hoffentlich nicht kommen.«

Bärbel rollte mit den Augen und streckte die Arme weit von sich.

»Aber wenn Vaterliebe zur Megäre wird, dann fange Feuer männliche Gelassenheit, verwildere zum Tiger, sanftmütiges Lamm, und jede Faser recke sich aus zu Grimm und Verderben.«

Die Tür wurde heftig aufgerissen. Frau Lindberg stürzte ins Zimmer.

»Du lieber Himmel, was ist denn los?«

»Ach so,« sagte Goldköpfchen, »ich habe vergessen, daß ich nicht auf der Bühne stehe. Ist schon gut, Großchen, ich habe mich wieder gefaßt.«

Frau Lindberg warf einen entsagungsvollen Blick auf den Schwiegersohn. »Aber gar zu oft geht ihr mit Goldköpfchen nicht ins Theater, nicht wahr, lieber Otto?«

»Hab' keine Sorgen, Mama, Bärbel hat neben dem Theater noch so viele andere Interessen, daß sie sich vom Rampenlicht nicht einspinnen läßt. Dazu ist sie viel zu vernünftig.«

Als Bärbel am nächsten Tage wieder in der Klasse saß, als Valeska und Gabriele davon erzählten, auf welche Weise sie Doktor Rollmops ärgern konnten, sprang das junge Mädchen plötzlich auf die Bank und rief:

»Ich habe das Wort!«

Dann folgte ein Vortrag, daß man den Doktor Rollmops doch lieber in Ruhe lassen wolle.

»Seine Länge flößt uns jungen Damen Mitleid ein. Ein übermäßig lang geratener Mann fühlt sich in seiner Haut niemals glücklich. Suchen wir uns einen anderen aus!«

»Kein Gedanke,« rief Valeska. »Mit wem willst du es denn riskieren, Bärbel? Etwa mit dem Direx?«

»Mit dem? – Nein – –«, erwiderte Goldköpfchen, und all der Respekt, den sie vor dem Direktor hatte, lag in den wenigen Worten.

»Etwa mit dem Ordinarius?«

»Der Rollmops kommt dran,« erklärte Gabriele Langen, »ich habe mir auch schon etwas Feines ausgedacht.«

Nun wurde der Plan entwickelt. Morgen war die Geschichtsstunde gerade nach der großen Pause. Die halbe Klasse sollte draußen bleiben. Einer nach dem anderen wollte ins Zimmer kommen und erstaunt zu Doktor Rollmops sagen: bitte, entschuldigen Sie, ich wußte nicht, daß der Unterricht bereits begonnen hat.

»Beim ersten und zweiten wird er noch nichts wittern,« meinte Gabriele lachend, »aber wenn der Sechste und Siebente kommt – – Kinder, das wird herrlich!«

Bärbel fielen die Worte des Onkels schwer aufs Herz. Wenn Doktor Rollmops wirklich so schüchtern war, wie der Onkel Otto gesagt hatte, mußte dem Ärmsten das Herz bis in den Hals hinauf schlagen, wenn immer wieder eine der Schülerinnen kam und sich entschuldigte. Nein, das ging nicht.

»Wir wollen es lieber sein lassen. Ich finde diesen Spaß nicht schön.«

»Na, höre mal, was ist denn in dich gefahren? – Du machst mit!«

»Lassen wir doch den Doktor Rollmops in Ruhe!«

Jetzt fing Edith Scheffel an zu lachen.

»Hast du dich vielleicht in ihn verknallt, Bärbel?«

»Sie ist verliebt in den Rollmops,« echoten die anderen.

Der Zorn stieg Bärbel ins Gesicht.

»In den dreistöckigen Menschen sollte ich mich verlieben? Traut ihr mir solch einen schlechten Geschmack zu? Ich habe einen ganz anderen!«

»Wir glauben dir nicht, Bärbel, sonst würdest du mitmachen.«

»Ich bin in den Rollmops nicht verliebt!«

»Doch!«

»Nein!«

»Dann mache mit!«

»Gut,« sagte Bärbel, indem sie das Buch, das sie eben in der Hand hielt, auf den Boden warf. »Also morgen!«

Auf dem Heimwege war ihr allerdings nicht recht wohl. Sie wollte doch Doktor Rollmops nicht ärgern. Aber vielleicht machte ihm die Sache Spaß. Sie durfte unmöglich den Verdacht auf sich sitzen lassen, daß sie in diesen Fiedelbogen verliebt war. Außerdem kränkte man den Rollmops damit nicht. Man entschuldigte sich dabei ganz höflich. Es war nur ein kleiner Scherz, den er sicherlich mit Humor aufnahm.

Der Sonnabend kam heran. Bärbel war von früh morgens an recht erregt. Heute abend ging es ja in die »Räuber«. Ach, wenn doch erst die Schulstunden vorüber wären!

Aus dem Wege zum Gymnasium sprach sie sich den Monolog des Karl nochmals vor. Es würde herrlich werden. Als sie um eine scharfe Ecke bog, rief sie ziemlich laut vor sich hin:

»Sag ihnen, mein Handwerk ist Wiedervergeltung – mein Gewerbe ist Rache!«

Die Hand, die die Büchermappe hielt, fuhr nach rechts weit aus.

Ein Schrei, Bärbel hatte mit der Tasche einem alten Herrn mitten ins Gesicht geschlagen.

»Was soll das heißen!«

Bärbel war völlig benommen. Die Worte der Entschuldigung fielen ihr im Augenblick nicht ein, nur die Worte des Räuberhauptmanns: »Rache, Rache ist mein Gewerbe.«

Als sie dann die zornigen Augen des alten Herrn sah, lief sie im Sturmschritt davon. Erst an der nächsten Straßenecke wandte sie sich nochmals um und sah, daß der alte Herr an seiner heruntergefallenen Brille putzte.

In der Pause wurde der gefaßte Plan von den Schülerinnen der Obertertia nochmals gründlich durchgesprochen. Acht junge Mädchen hatten sich gefunden, um die Entschuldigung vor Doktor Rollmops anzubringen. Bärbel wollte die Letzte sein. Sie wollte ihre Entschuldigung recht zart flöten, damit Doktor Rollmops wirklich sah, daß es sich hier nur um ein niedliches Späßchen handelte.

Die anderen Mitschülerinnen harrten gespannt der Dinge, die da kommen sollten. Doktor Hering stellte fest, daß heute viele Schülerinnen fehlten. Aber er begann doch mit dem Unterricht. Da öffnete sich die Tür, und Edith Scheffel trat als erste ein.

»Bitte, entschuldigen Sie, Herr Doktor, ich wußte nicht, daß der Unterricht bereits begonnen hat.«

»Setz dich!« klang es barsch zurück.

Dann ging die Stunde weiter. – Wieder öffnete sich die Tür; Helene Almer kam herein.

»Bitte, entschuldigen Sie, Herr Doktor, ich wußte nicht, daß der Unterricht bereits begonnen hat.«

Doktor Hering zog die Brauen hoch und sagte noch herrischer als zuvor: »Setz dich!«

Die Dritte, die Vierte erschien. Aber als die Fünfte die gleiche Entschuldigung hervorbrachte, rückte Doktor Hering auf seinem Stuhl unruhig hin und her, während Edith Scheffel kaum das Lachen meistern konnte.

Gabriele Langen kam als Sechste.

»Bitte, entschuldigen Sie – –«

»Schon gut – setz dich!«

Wie die Stimme des Rollmopses zitterte, wie er das Buch ganz dicht an die Nase hob.

»Er wird rot,« flüsterte Edith, »gleich wird er vor Wut platzen.«

»Wir fahren fort,« grollte es hinter dem Buche hervor.

»Bitte, entschuldigen Sie, Herr Doktor, ich wußte nicht, daß der Unterricht bereits begonnen hat.«

Marion erhielt keine Antwort.

Die sieben Missetäter zappelten voller Ungeduld mit den Füßen. Jetzt fehlte nur noch Bärbel, die als letzte ihre Entschuldigung anbringen sollte.

»Wir kommen nun zu Numa Pompilius, dem Nachfolger des ersten römischen Königs. Nachdem Romulus – –«

Die Tür öffnete sich. Doktor Hering verstummte und fuhr wie vom Schlage gerührt herum. Er hatte geglaubt, daß nun alle Schülerinnen vollzählig wären, hatte sich mühsam wieder gefaßt. Und nun kam noch eine, gerade jene, die ihn bei seinem Antritt am meisten ausgelacht hatte.

Bärbel machte ihr süßestes Gesicht.

»Bitte, entschuldigen Sie, Herr Doktor.«

Da traf sie ein Blick aus seinen Augen, so jammervoll, so tief unglücklich, daß Bärbel für wenige Augenblicke den Faden verlor.

»Ich – – ich wußte nicht – –,« stammelte sie.

Dann schlug sie die Augen nieder. Der arme Doktor Rollmops tat ihr jetzt furchtbar leid. Der Onkel hatte recht, er war in tiefster Seele schüchtern, denn er fühlte sich in diesem Augenblick verspottet und verlacht.

»Bitte, entschuldigen Sie,« murmelte sie, »daß ich jetzt erst komme,« und dann setzte sie mit einem treuherzigen Augenaufschlag hinzu: »Ich komme aber nicht wieder so spät.«

Sie sah das Zucken seiner Lippen, sie hörte das mühsam hervorgestoßene »Setz dich!« Und während alle anderen Schülerinnen kicherten, hatte Bärbel das Gefühl, als müsse sie sich in tiefster Seele schämen.

Sie wollte heute durch doppelte Aufmerksamkeit die Scharte auswetzen. Aber da stieß sie Edith an und flüsterte: »Ich gehe heute abend auch in die »Räuber«.

Verflogen waren alle Gedanken an Romulus, Remus und Numa Pompilius, durch Goldköpfchens Gedanken zogen nur die Worte ihres Karl Moor: »Ich fühle eine Armee in meiner Faust, Tod oder Freiheit, sie sollen keinen lebendig haben!«


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