Franz Treller
Der Sohn des Gaucho
Franz Treller

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Der Sohn des Abiponenhäuptlings

Sie führten noch mancherlei Gespräche und gewannen allmählich die seelische Ruhe zurück. Sie wußten, daß sie sich im Brennpunkt zahlloser Gefahren befanden; es war durchaus nötig, einen Ausweg zu finden. Sie konnten nicht ewig auf der Insel bleiben.

Juan, der lange vor sich hingesonnen hatte, wandte sich schließlich an Pati. »Weißt du noch«, sagte er, »wie wir uns am Picalmayo in der Nacht mitten ins Feindeslager schlichen und dem Capitano seine besten Pferde wegholten?«

Pati grinste. »Die ganze Armee hat gelacht damals«, sagte er.

Juan erhob sich. »Komm, amigo«, sagte er, »wir wollen uns unsere roten Freunde und vor allem ihre Pferde ein bißchen aus der Nähe betrachten.« Sie wußten, daß die Abiponen in der Nähe des Ufers wachten; schon vor einiger Zeit waren rund um den See kleine Feuer aufgeflammt.

»Sollen wir hierbleiben, Vater?« fragte Aurelio.

Der Gaucho überlegte. »Nein«, sagte er schließlich, »es ist besser, ihr kommt gleich mit. Nehmt aber ein anderes Boot. Und vermeidet jedes Geräusch.«

»Ich ziehe ihr Kanu am Lasso nach«, sagte Pati, »man könnte Aurelios Ruder hören. Auf dem Wasser trägt der Schall weit.«

Sie bestiegen die Kanus; Pati verband sie miteinander; Juan und er bestiegen das erste, Aurelio und der junge Pater das zweite Gefährt. Nahezu geräuschlos setzte der erfahrene Schiffer sie über den See und steuerte das Ufer zur Rechten an. Etwa zweihundert Schritt vor dem Ziel verhielten sie und durchforschten aufmerksam den Saum des Waldes. Von den Indianern war nichts zu gewahren;

der Himmel hatte sich bezogen, es war so dunkel geworden, daß man nur wenige Schritte weit zu sehen vermochte.

Plötzlich vernahmen sie in ihrer Nähe ein leichtes Plätschern. Pati winkte den Gefährten, leise zu sein, zog sein Messer und ließ sich geräuschlos aus dem Kanu ins Wasser gleiten. Er tauchte in der Finsternis unter. Minuten später war er wieder da und schwang sich in das Boot. »Sie haben nicht mit einem La Plata-Schiffer gerechnet«, sagte er. »Sie waren dabei, unsere Kanus zu holen. Zwei Mann waren es. Sie hatten sich aus Kuh- oder Pferdehäuten eine Art Schwimmbeutel gemacht. Ich habe ihn aufgeschnitten, nun mögen sie Wasser saufen.« Er schnaufte und schüttelte sich.

Vorsichtig ließ er die Kanus auf das Ufer zutreiben und fuhr eine Strecke weit an ihm entlang. Hier und da schimmerte der Feuerschein durch die Stämme; von Menschen war nichts zu sehen und zu hören. Schließlich erreichten sie die Mündung des Baches, den sie herabgekommen waren, und Stimmen drangen an ihr Ohr. Pati ließ die Fahrzeuge in das Uferschilf gleiten. »Ihr bleibt hier«, wandte Juan sich an die beiden Jünglinge im zweiten Boot, dann folgte er Pati, der bereits leise an Land gegangen war.

Das Stimmengewirr wurde lauter, je weiter sie vordrangen, auch der Lichtschein ward heller. Bald darauf hatten sie das Lager vor sich. Hinter einem Mimosengebüsch versteckt sahen sie auf ein wildes, groteskes Bild. Mehrere hochlodernde Feuer beleuchteten die baumfreie Lichtung. Zahllose Indianer, Männer, Frauen und Kinder, standen, saßen und sprangen zwischen den Feuern herum. Die kräftigen, muskulösen Gestalten der Männer boten in ihrer wilden Bemalung und Tätowierung, mit den langen, lose fallenden Haaren und flatternden Bändern einen halb gräßlichen, halb komischen Anblick. Einige von ihnen hatten den vorderen Teil des Schädels rasiert und waren mit allerlei Lippen- und Ohrenschmuck seltsamer Art behangen. Die Frauen waren im allgemeinen kaum weniger widerwärtig verunziert.

Es schien hier ein Gelage stattzufinden. Kuhhörner kreisten und wurden fortwährend aus großen, aus Rinderhaut gefertigten Schläuchen nachgefüllt. Juan wußte, daß die Chacoindianer sich aus Honig und der Frucht des Johannisbrotbaumes ein berauschendes Getränk zu bereiten pflegten. Die ausgelassene Stimmung der Wilden schien auf ziemlich reichlichen Genuß dieses Getränkes schließen zu lassen. Pferde sah der Gaucho einstweilen nicht.

Dem Busch gegenüber, hinter dem Juan und Pati lauerten, hockte ein Mann von mächtiger Gestalt, dessen mit Leopardenfell kunstvoll verziertes Lederhemd, bunter Hauptschmuck und reiches Glasperlengehänge, zusammen mit seiner hochmütig gebietenden Haltung darauf schließen ließen, daß es sich um einen angesehenen Häuptling handele. Tatsächlich war der Mann Ychoalay, der Kazike dieser Abiponenhorde.

Zu Füßen des wild und furchterregend aussehenden Mannes spielte ein etwa zwölfjähriger Indianerjunge von kräftiger Gestalt, dessen hübsches Gesicht noch nicht durch Tätowierungen verunziert war. Der kleine Bursche benahm sich reichlich wild und ungebärdig; die Augen des Häuptlings ruhten nichtsdestoweniger mit sichtlichem Wohlgefallen auf ihm.

Juan betrachtete die Szene mit großer Aufmerksamkeit. Die Gelegenheit ist günstig, dachte er. Die Indianer sind angetrunken, zu einer ernsthaften Verfolgung werden sie unfähig sein. Wir werden ihre Pferde aufspüren, uns holen, was wir brauchen und davonreiten. Wer weiß, wann eine solche Möglichkeit wieder kommt.

Er wollte Pati gerade einen Wink geben, sich mit ihm zu erheben, als ein gellender Ruf des Häuptlings zwanzig junge Männer in der Mitte des Platzes zusammenführte. In der Nähe hockende Weiber begannen mit kleinen Trommeln und getrockneten Kürbissen einen ohrenbetäubenden Lärm zu veranstalten. Den Ohren der jungen Männer mußte der Lärm als Musik erscheinen, denn sie begannen sogleich, sich zum Tanz zu ordnen und in einem schnellen und eigenartigen Rhythmus allerlei sonderbare Sprünge zu vollführen. Dem Ganzen schien bei aller Wildheit eine feste Ordnung innezuwohnen. Durch die Reihen der Männer bewegte sich mit staunenswerter Gewandtheit die schlanke Gestalt eines Jünglings, dessen Aufgabe darin zu bestehen schien, den sich nach bestimmten Gesetzen lösenden und schließenden Ringen und Kreisen der anderen zu entschlüpfen. Die in ständiger Bewegung befindliche Gruppe begann sich dem Mimosengebüsch zu nähern, hinter dem Juan und Pati sprungbereit hockten. Plötzlich suchte der in die Enge getrieben Vortänzer sich seinen Verfolgern dadurch zu entziehen, daß er zwischen das Buschwerk sprang.

Das hätte er nicht tun sollen; er stieß dabei auf Pati, ja, er rannte recht unsanft gegen ihn, was ihm einen Fausthieb eintrug, der ihn in hohem Bogen aus dem Busch heraus und zwischen seine Gefährten beförderte. Im Augenblick sahen Juan und Pati sich von einem Dutzend bemalter Wilder umgeben, die ein gellendes Gebrüll erhoben und entschlossen schienen, die ins Garn gegangenen Opfer auf der Stelle umzubringen.

Sie mußten die Absicht zunächst aufgeben. Pati hatte schon des öfteren Gelegenheit gehabt, seine erstaunlichen Körperkräfte zu beweisen; er tat auch jetzt, was er konnte. Er schlug wie ein Berserker um sich, er hob die Angreifer wie Spielbälle hoch und schleuderte sie zwischen ihre tobenden Genossen. Juan, nicht mit so herkulischer Kraft ausgestattet, erwehrte sich mit dem langen Messer seiner Bedränger. Die Dunkelheit kam den Entdeckten zustatten; sie vermochten immer wieder unterzutauchen und Atem zu schöpfen. Doch konnte dieses Spiel nicht lange währen, denn nun strömte es mit Speeren und Keulen von den Feuern herbei. Es ist aus! dachte Juan, es ist aus; er stach einen auf ihn eindringenden Wilden zusammen und wich in das Dunkel zurück. Da gewahrte sein Auge unweit des Gebüsches das Kind, des Häuptlings Sohn offenbar; ein Gedanke durchzuckte ihn. Mit einem Satz war er aus dem Busch heraus, ergriff den Jungen, hob ihn hoch und setzte ihm das Messer auf die Brust. Er stand von den Feuern beleuchtet, in vollem Licht. Ein Indianer flog aus dem Busch heraus;

Pati, mit Augen, die aus den Höhlen wollten, stürzte hinterher und stand keuchend neben dem Gaucho.

Die Indianer standen erstarrt; sie sahen die beiden Weißen, das Häuptlingskind in der Faust des einen von ihnen, die Spitze des Messers auf seine Brust gerichtet. Ein furchtbares Geheul erhob sich.

»Nimm den Jungen auf den Rücken und folge mir«, flüsterte Juan. Er warf ihm das Kind zu, der es sich wie ein Bündel über die Schulter legte. Mit einem Sprung war Juan im Gebüsch; Pati mit dem Jungen folgte ihm. Hinter ihnen aber schien sich die Erstarrung zu lösen; sie hörten die Meute auf ihren Fersen. Sie hetzten durch die Nacht, erreichten das Ufer. »Aurelio«, rief Juan.

»Hier, Vater!«

Sie sprangen in das Kanu. Durch das Uferholz brachen die bewaffneten Feinde; Fackeln lohten und warfen ihr grelles Licht auf die Männer im Boot. Im vordersten stand Juan, den Indianerjungen im Arm und das Messer in der Hand.

»Was ist das? Wen habt Ihr da?« stammelte der Cura.

»Den Häuptlingssohn! Sprecht zu ihnen in ihrer Sprache, Cura. Sagt ihnen, daß wir den Jungen töten werden, wenn sie uns angreifen. Morgen bei Tageslicht können sie ihn auslösen. Er widerfährt ihm kein Leid, wenn wir nicht belästigt werden.«

Der Cura begriff. Er erhob sich in dem zweiten Boot und rief mit weithin schallender Stimme zum Ufer hinüber, was der Gaucho geboten hatte. Juan sah in der vordersten Reihe der Wilden den Häuptling; der Mann schien furchtbar erregt. Er rief etwas herüber.

»Ychoalay ist einverstanden«, sagte der Cura. »Er will morgen zur Insel kommen, Parinkaikin auszulösen. Er bittet, ihn gut zu behandeln.«

»Sichere es ihm zu; der junge Wolf soll uns nur als Geisel dienen.«

Der Cura sprach abermals mit dem Häuptling; auf dessen Wink hin verschwanden die Indianer im Wald, und Pati ruderte auf den See hinaus. »Das hieß gerade noch einmal entkommen, amigo!« sagte Juan.

Sie kamen ungefährdet auf der Insel an, entzündeten ein Feuer und banden den kleinen Abiponen mit zähen Lianen, denn sie waren überzeugt, daß er sich andernfalls ins Wasser stürzen und versuchen würde, zu entkommen. Der Cura sprach ihn wiederholt im Abiponendialekt an, aber der kleine Bursche antwortete nicht; sein hübsches Gesicht blieb trotzig verschlossen.

Die Nacht verging ungestört. Die Männer hatten vorsichtshalber abwechselnd gewacht. Die Sonne war eben am Horizont aufgetaucht, als der Abiponenhäuptling erschien. Er kam auf einem aus Baumstämmen gefertigten Floß, das von zwei Indianern fortbewegt wurde. Während Juan am Ufer stand und dem Fahrzeug entgegensah, erkletterte Aurelio einen Baum, um Umschau zu halten. Man mußte mit allerlei Tücken rechnen. Es wäre immerhin möglich gewesen, daß die Wilden versucht hätten, sich der Insel gleichzeitig von verschiedenen Seiten zu nähern.

Der Häuptling und seine Leute schienen unbewaffnet. Immerhin machten Juan und Pati ihre Karabiner schußfertig.

»Sagt ihnen, daß sie die Insel nicht betreten sollen«, wandte Juan sich an den Cura, »andernfalls wird geschossen.«

Die Abiponen kamen heran; sie ließen das Floß treiben. Der Häuptling stand aufrecht auf dem schwankenden Gefährt; er betrachtete mit unverkennbarer Neugier den Gaucho und seinen stämmigen Gefährten. Die Kraft und die Kühnheit der Männer mochten ihm imponiert haben. Er grüßte jetzt höflich mit der Hand. »Ich komme, Parinkaikin, meinen Sohn, zu holen«, sagte er. Der Cura betätigte sich als Dolmetscher. Der kleine Indianer stand aufgerichtet neben dem Gaucho und blickte zu seinem Vater hinüber.

»Du sollst ihn haben, Kazike«, ließ Juan antworten, »aber wir haben einige Bedingungen an seine Freilassung zu knüpfen.«

»Ychoalay wird geben, was er hat«, übersetzte der Cura die Antwort des Häuptlings.

»Laß unsere Reittiere an das Ufer bringen«, befahl Juan, »und noch zwei gesattelte Pferde. Eines für den frommen Cura hier, den ihr Halunken ermorden wolltet, und eines für Parinkaikin.«

Man sah, daß der Häuptling zusammenschrak. »Warum ein Pferd für meinen Sohn?« ließ er fragen.

»Weil er uns begleiten wird, bis wir in völliger Sicherheit sind, schlauer Abipone. Du kannst zwei deiner Leute mitschicken, aber unbewaffnet. Sie mögen uns bis südlich des Saladillo begleiten, dann können sie dir den Jungen zurückbringen.«

»Das wird eine beschwerliche Reise für den Knaben werden«, wandte der Häuptling ein. »Nimm Pferde von uns, Rinder, Häute, Leopardenfelle, wir geben alles, was du willst.«

»Entschließe dich«, sagte Juan und ließ den Cura übersetzen. »Der Junge reitet einstweilen mit. Bist du ehrlich, erhältst du ihn unversehrt zurück.«

»Bürgt der Priester für das Leben Parinkaikins?« fragte der Häuptling.

»Ja«, sagte der Cura, »ich bürge dir dafür. Du erhältst ihn gesund zurück.«

»Mein Sohn wird Hunger haben«, sagte der Häuptling, »wir haben Fleisch mitgebracht.«

Das war allen hochwillkommen; große Stücke gebratenen Rind-und Hirschfleisches wanderten an Land. Dann fuhren die Abiponen zurück; diesmal in einem Kanu, das zu nehmen man ihnen erlaubt hatte, und die Flüchtlinge griffen zu den Speisen. Auch der Junge zeigte jetzt gesunden Appetit.

Bald darauf wurden vom Ufer aus Zeichen gegeben. Sie bestiegen mit dem vorsichtshalber wieder gebundenen Indianerjungen die Kanus und ruderten hinüber. Sie fanden, von zwei berittenen Indianern gehalten, ihre Tiere und zwei weitere Pferde, deren eines, für Parinkaikin bestimmt, reichen indianischen Schmuck aufwies. Parinkaikin wurde in den Sattel gesetzt, die Füße wurden ihm unter dem Bauch des Pferdes zusammengebunden, das Juan mit einem Lasso an sich fesselte.

Den Indianerknaben zwischen sich, ritten Juan und Pati hinter den beiden Indianern her. Juan hatte ihnen durch den Cura befehlen lassen, den Weg nach Westen in der Richtung auf den Saladillo zu nehmen.

Bald war die Kavalkade im Wald verschwunden. Hunderte funkelnder Augen folgten ihnen. Doch hatte kein Abipone sich sehen lassen. Ungefährdet erreichten sie schließlich den Saladillo und überschritten ihn. Erst als sie sich in völliger Sicherheit glauben durften, entließen sie die beiden Indianer mit dem Häuptlingssohn. Ungefährdet erreichten sie bald darauf das friedliche San Luis, wo sie endlich nach schweren Tagen Ruhe fanden.


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