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Friedrich Hebbel.

(Königstein 1860.)

In zwiefachem Sinn ist die Dichtkunst die Herzenskündigerin ihrer Zeit. Dem Dichter bleibt nicht nur das schöne Recht herauszusagen, was die Gegenwart in ihren Tiefen bewegt; er zwingt auch die Zeitgenossen, durch die Aufnahme, welche sie seinen Werken angedeihen lassen, ihr innerstes Wesen der Nachwelt zu enthüllen. Die von Grund aus verwandelte Stellung der Gebildeten zu den Werten der Poesie zeigt klarer als irgendeine Tatsache der politischen Geschichte, daß wir wirklich binnen weniger Jahrzehnte andere Menschen geworden sind. Als nach einer langen Zeit vorherrschender literarischer Tätigkeit die ersten Keime freien politischen Lebens in Deutschland sich schüchtern aus dem Boden emporhoben, da galt es noch als ein Wagnis, der ästhetisch verbildeten Lesewelt politische Geschäftssachen in nüchterner geschäftlicher Form vorzutragen, und der alte Benzel-Sternau kleidete weislich den langweiligsten aller Stoffe, einen Bericht über die ersten bayrischen Landtage, in die phantastische Hülle eines Briefwechsels zwischen Hochwittelsbach und Reikiavik. Nur zwanzig Jahre vergingen, und jede Spur andächtigen Schönheitssinnes schien hinweggefegt von der politischen Leidenschaft. Alles jubelte, wenn die Meute gesinnungstüchtiger Zeitpoeten wider die vornehme Ruhe des Fürstenknechtes Goethe lärmte. Das Vaterland forderte, wie ein Wortführer jener Tage selbstgefällig sagt,

von der Dichterinnung
statt dem verbrauchten Leiertand,
nur Muth und gute Gesinnung.

Von diesem Äußersten unästhetischer Roheit freilich, von diesem Selbstmordversuch der Poesie sind wir zurückgekommen. Der schwere Ernst der politischen Arbeit lehrte uns die verschwommenen Phrasen der Tendenzlyrik mißachten, und jener schlichte Sinn für das Wahre, welcher das köstlichste Gut der Gegenwart bildet, wandte sich mit Ekel von poetischen Gestalten, die kein eigenes Leben lebten, nur das Mundstück waren für des Dichters politische Meinungen. Doch die alte Begeisterung der Deutschen für das Schöne ist nicht wiedererwacht; dem starken und tiefsinnigen Dichtergenius fällt in unseren Tagen ein unsäglich hartes Los.

Wir wollen nicht allzu bitter beklagen, daß die gesamte Lyrik heute lediglich von den Frauen gelesen wird, nur selten ein Mann von Geist in verschämter Stille an seinem Horaz oder an Goethes römischen Elegien sich erquickt: die Härte, der Weltsinn, die Aufregung des modernen Lebens verträgt sich wenig mit lyrischer Empfindsamkeit. Und wenn in sehr zahlreichen und sehr ehrenwerten Kreisen ein junger Mann, von dem man nur weiß, er sei ein Poet, mit verhaltenem Lachen empfangen wird, wenn man von ihm erwartet, er werde jenes Durchschnittsmaß von Verstand und Willenskraft erst erweisen, das wir bei allen anderen Sterblichen voraussetzen: so sehen wir keinen Anlaß, sentimental und verstimmt zu werden ob dieser notwendigen Folge der poetischen Überproduktion. Aber versuchet, in einem Kreise gebildeter Männer die triviale Wahrheit zu verfechten, daß die Kunst für ein Kulturvolk täglich Brot, nicht ein erfreulicher Luxus sei – und Widerspruch oder halbe Zustimmung wird euch lehren, wie arg der Formensinn verkümmert ist in diesem arbeitenden Geschlechte. Es ist nicht anders, der ungeheuren Mehrzahl unserer Männer gilt die Kunst nur als eine Erholung, gut genug, einige müde Abendstunden auszufüllen, Wir widmen, was von Idealismus in uns liegt, dem Staate, uns bedrückt eine Geschäftslast, welche die älteren Geschlechter unseres Volkes nie für möglich gehalten hätten, wir wissen den Wert der Zeit so genau zu schätzen, daß der ruhige briefliche Gedankenaustausch unter tätigen Männern fast ganz aufgehört hat und selbst unser geselliger Verkehr überall die Spuren hastiger Unruhe zeigt. Eine solche ganz nach außen gerichtete Zeit sucht in der Kunst die Ruhe, die Abspannung. Wer will bestreiten, daß Gustav Freytag seine Popularität weit weniger seinem edlen Talente verdankt als seiner liebenswürdigen Heiterkeit, welche auch dem Gedankenlosen erlaubt, vor dem unverstandenen, aber lustigen Gebaren der Gestalten des Dichters ein gewisses Behagen zu empfinden? Sehr undankbar ist in solchen Tagen das Schaffen des pathetischen Dichters. Gelingt ihm sein schweres Werk nicht vollkommen, so vereinigt sich zu seiner Verurteilung der Haß der Massen gegen jeden, der ihren dumpfen Schlummer stört, und der gesunde Sinn für Harmonie, dem eine niedrige, doch erfolgreiche Bestrebung erfreulicher scheint als ein groß angelegtes, aber unfertiges Schaffen.

Dabei lebt in diesem prosaischen Geschlechte unausrottbar doch die stille Hoffnung, daß das fröhlich aufblühende neue Leben unseres Staates auch die dramatische Kunst einer großen Zukunft entgegenführen müsse. Freilich nur eine unbestimmte Ahnung. Kein sicheres Volksgefühl zeichnet dem jungen Dramatiker gebieterisch bestimmte Wege vor; uns fehlt ein nationaler Stil, ein festes Gebiet dramatischer Stoffe, jede Sicherheit der Technik. Unermeßlich, zu beliebiger Auswahl breitet sich vor dem Auge des Poeten die Welt der sittlichen, sozialen, politischen Probleme aus; und wenn schon diese schrankenlose Freiheit der Wahl den geistreichen Kopf leicht zu unstetem Tasten, zum Experimentieren verleitet, so wird ihm vollends die Sicherheit des Gefühls beirrt durch die Wohlweisheit der Kritik. Scheint es doch, als verfolgten manche Kunstphilosophen nur das eine Ziel, dem schaffenden Künstler sein Tun zu verleiden, ihm den frischen Mut zu brechen. Was hat diese Altklugheit nicht alles bewiesen: für das Epos sind wir zu bewußt, für die Lyrik zu nüchtern, für das Drama zu unruhig; die alte Geschichte ist für unsere Kunst zu kahl, das Mittelalter zu phantastisch, die neue Zeit steht uns zu nahe – und wie die anmaßenden und doch im Grunde gehaltlosen Schlagwort sonst lauten. Zu den Füßen dieser überreifen Ästhetik treibt eine vulgäre Kritik ihr Unwesen, deren erschreckende Roheit täglich deutlicher beweist, daß die besten Köpfe der Epoche sich der Kunst entfremdet haben. Wir wundern uns gar nicht mehr, wenn ein tief empfundenes Kunstwerk als Nr. 59 unter »Fünf Dutzend neuer Romane« abgeschlachtet wird, wenn eine Dichtung von G. Freytag oder G. Keller alles Ernstes in eine Reihe gestellt wird mit den Arbeiten der Frau Mühlbach oder ähnlichen Produkten einer volkswirtschaftlichen Tätigkeit, welche sich lediglich durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmen läßt. Wir fühlen uns nicht mehr befremdet, wenn jener beliebige Herr Schultze, der im Erdgeschoß einer politischen Zeitung seinen kritischen Sorgenstuhl aufgestellt hat, mit den Dichtern und Denkern, deren Werke er beschwatzt, auf du und du oder gar im Tone des Schulmeisters verkehrt. Wir empfinden für den Kritiker sogar eine gewisse Hochachtung, wenn er die Kenntnisse eines angehenden Obersekundaners entfaltet – eine Bildungsstufe, welche in diesen Kreisen unserer Literatur nicht allzu häufig erklommen wird. Begreiflich in der Tat, wenn ein starker Künstlergeist, angeekelt von diesem nichtsnutzigen belletristischen Treiben, auch die ehrenwerten Ausnahmen übersieht, welche in unserer Presse zuweilen noch auftauchen, und grimmig seiner Straße zieht.

Doch das schwerste Hemmnis, das die Gegenwart dem dramatischen Dichter in den Weg wirft, ist die Gärung, die Unsicherheit unserer sittlichen Begriffe. Wieviel einfacher als der moderne Mensch standen unsere großen Dichter zu den Problemen des sittlichen Lebens! Welchen sittlichen und ästhetischen Schatz besaß Schiller an Kants kategorischem Imperativ – eine großartige, streng sittliche Weltanschauung, wie geschaffen für den Dramatiker, denn sie läßt dem tragischen Charakter ungeschmälert die Freiheit. Seit die neue Philosophie den Glauben an Gott und Unsterblichkeit erschüttert hat, seit die Naturforschung beginnt den Zusammenhang von Leib und Seele schärfer zu beleuchten, steht der Dichter, wenn er zugleich ein Denker ist, den einfachsten und schwersten sittlichen Fragen minder unbefangen gegenüber; selbst die Idee der tragischen Schuld und Zurechnung, die dem Dramatiker unbedingt feststehen muß, wird ihm leicht durch Zweifel verwirrt und getrübt. Und wo ist sie hin, die edle, mit Geist und Empfindung gesättigte Geselligkeit, die in den Tagen von Weimar freilich nur einige auserwählte Kreise unseres Volkes beglückte? Die schamlose Frechheit der Halbwelt auf der einen, die unleugbar steifen, gezwungenen Formen unserer guten Gesellschaft auf der anderen Seite – in einer solchen Umgebung erlangt der Künstler nicht leicht die harmonische Bildung der sittlichen und der sinnlichen Kräfte.

Das Edle und Große dieser durchaus von der Politik, der Volkswirtschaft, der Wissenschaft beherrschten Welt begeistert zu empfinden, ihr Leben mitzuleben und dennoch das Schöne, nichts als das Schöne zu schaffen, das ist die schwere Aufgabe des modernen Dichters. Ein Zug der Resignation, das Bewußtsein, daß nicht jede Zeit dem Künstler das Höchste zu erreichen gestattet, wird in solchen Tagen oft den Geist des Dichters ergreifen, und sicherlich viele der heutigen Poeten haben zuweilen mit eingestimmt in die Bitte, welche Friedrich Hebbel einst an seine Muse richtete:

Du magst mir jeden Kranz versagen,
wie ihn die hohen Künstler tragen,
nur daß, wenn ich gestorben bin,
ein Denkmal sei, daß Kraft und Sinn
noch nicht zu Wilden und Barbaren
aus meiner Zeit entwichen waren.

Das ganze Wesen des Mannes liegt in diesen Zeilen: sein Stolz, sein ernster Künstlersinn und jene hoffnungslose Verstimmung, die ihn seinem Volke entfremdete. Aber wie schwer er auch irrte, den Ruhm, den er sich in jenen Zeilen erfleht, wird ihm heute kein Unbefangener mehr versagen. Er dachte groß von seiner Kunst, er lebte ihr mit rastlosem,, fruchtbarem Fleiße, mit Andacht und Sammlung, treu seinem Ausspruch: »leben heißt tief einsam sein.« Oftmals berührt von den Sünden der Zeit, die er lästerte, hat er nie wissentlich ihren Launen gehuldigt; in ihm waltete jene vornehme Selbstgewißheit, welche jedes unmittelbar tendenziöse Einwirken der Poesie auf die Gegenwart verschmäht und sich des freudigen Glaubens getröstet, daß der Gehalt der Dichtung ein ewiger ist und seiner Stunde harren kann.

Ein ditmarscher Kind, in einer engen und harten Welt aufgewachsen, bewahrte Hebbel immer einen Zug rauher reckenhafter Kraft, also daß starke nordische Naturen, wie der alte Dahlmann, ihm die Teilnahme des Landsmannes nie versagten, auch wenn sie seinen Wandlungen nicht folgen mochten. Er selber bezeichnete die altgermanische Welt und die Bibel gern als die Quellen seiner Dichtung. Doch auch andere, minder lautere Kräfte schlugen in sein Leben ein: die nervöse Sinnlichkeit des modernen Paris, die zersetzende, glaubenlose Reflexion der jungdeutschen Literatur. Verbittert durch die Entbehrungen einer freudlosen Jugend, ward der stolze Mann launisch, anmaßend, gehässig; bis zur Grausamkeit selbstisch mißbrauchte er die Güte der Menschen, die sich ihm liebend hingaben. Erst nach langen Irrgängen, da er endlich wieder zurückgriff zu den Sagengestalten unserer Vorzeit, die ihm die Träume der Knabenjahre erfüllt hatten, gelang ihm ein Kunstwerk, das dauern wird.

Die Künstlertugend, welche an Hebbel zuerst in die Augen fällt, ist der seltene, dem Dilettanten allezeit unverständliche Sinn für die Totalität des Kunstwerks. Er verachtet das Haschen nach Einzelschönheiten, wie die kleinmeisterliche, an einzelne Auffälligkeiten sich festklammernde Kritik. Schon aus diesem einen Grunde sollte man endlich aufhören, ihn mit Grabbe zu vergleichen. Grabbe war das Kind einer sinkenden Epoche, welche die Ideale einer großen Vergangenheit in zuchtlosem Übermute zerschlug; in diesem rohen Talente war keine Entwicklung. Hebbel erscheint als der Sohn einer aufstrebenden Zeit, welche neue Ideale zu gestalten suchte. Freilich es war ein Suchen, an dem der grübelnde Verstand oft mehr Anteil hatte als die schaffende Phantasie. Der Dichter experimentierte, er tastete umher nach einem Kunstwerk der Zukunft, in seinen ersten Werken erschien die Intention ungleich stärker als die lebendige Ausführung. Das traurige Wort, womit Hebbel einst die Frage »Man weiß doch, was ein Lustspiel heißt?« beantwortet hat: – »Dies steht so klar vor meinem Geist, daß, wenn ich's minder hell erblickte, das Werk vielleicht mir besser glückte« – dieses unselige Geständnis gibt leider den Schlüssel zu einem großen Teile seines Schaffens. Er haßt die Phrase, niemals drängt sich bei ihm der Verstand in der prosaischen Form undramatischer Betrachtungen hervor; aber bei aller realistischen Anschaulichkeit im einzelnen läßt das Ganze oft kalt, erscheint als gemacht und geklügelt. Und so findet sich bei Hebbel, der nach dem edlen Ziele strebt, alles Geistige zu verleiblichen, das Zusammenfallen von Idee und Bild ebenso selten wie bei Klopstock, von dem ein altes treffendes Wort sagt, er habe alles Leibliche des Körpers entkleidet.

Man hat Hebbel schweres Unrecht getan, wenn ihm die Wärme des Gemüts gänzlich abgesprochen ward. Selbst aus den verfehltesten seiner Gedichte bricht zuweilen, und dann ergreifend, eine starke und tiefe Empfindung hervor. Wer die Gedichte kennt, worin er Selbsterlebtes, wie das stille Glück des Hauses besingt, der wird den herzlosen Vorwurf der Herzlosigkeit nicht wiederholen. Er dichtete nur, wenn der Geist ihn rief, ließ oft jahrelang die halbfertigen Gestalten seiner Entwürfe ruhen, bis sie von selber wieder erwachten. Trotzdem trat in den also aus künstlerischem Drange entstandenen Werken die Reflexion zuweilen so stark hervor, daß der Hörer kaum wußte, ob ein Dichter oder ein Denker zu ihm sprach. Dies verrät sich vornehmlich in der Zeichnung der Charaktere. Otto Ludwig nennt in seiner grobkörnigen Weise Hebbels dramatische Gestalten kurzab »psychologische Präparate«, er meint: »sie thun dick, sie wissen sich etwas« mit ihrer Eigenart. Ein hartes Urteil, das Hebbels ältere Werke leider nicht immer Lügen strafen. Seine Charaktere handeln so folgerecht, daß wir jedes ihrer Worte vorausberechnen können; er motiviert oft mit überraschender Feinheit, und eine große dialektische Kraft steht ihm zu Gebote, um den Irrgängen innerer Kämpfe nachzugehen. Aber über dem allzu eifrigen Bemühen, den Charakteren feste scharfe Umrisse zu geben, verlieren sie die Farbe, das Leben. Wohl zwingt die strenge Prägnanz des Dramas den Dichter, seinen Menschen offenherzige Geständnisse in den Mund zu legen, welche der phantasielose Verstand unnatürlich findet; doch die helle Selbsterkenntnis, welche Hebbel seinen Charakteren leiht, überschreitet zuweilen die Grenzen der poetischen Wahrheit, und wie selten schallt aus diesen Menschen der volle Brustton naturwüchsiger Leidenschaft heraus, den, wie alles Herrlichste in der Kunst, keine Anstrengung des Hirns erklügeln kann!

Es klingt wie ein unwillkürliches Selbstbekenntnis, wenn dieser zwischen dem Reiche des Gedankens und dem Reiche der Phantasie einherschwankende Geist einmal ausruft:

Ein Shakespeare lächelt über Alle hin
und offenbart des Erdenräthsels Sinn,
indeß ein Kant noch tiefer niedersteigt
und auf die Wurzel aller Welten zeigt.

Der Denker verachtet den stofflichen Reiz, das Anekdotenhafte in der Kunst, er will nicht »der Auferstehungsengel der Geschichte« sein. Er fühlt, daß die moderne Bildung ein Recht hat, über die Tragik Shakespeares hinauszugehen und eine Tragödie der Idee, nach dem Vorbild des Faust, zu fordern; und so fest hält er diesen Gedanken, daß er niemals versucht, eine einfache Charaktertragödie zu schreiben. Die bunte Fülle des Menschenlebens reizt ihn nur, wenn sie ihm ein »Problem«, einen Kampf der Ideen zur Lösung darbietet. Unter allen Rätseln des Menschendaseins hat ihn keines so anhaltend beschäftigt wie das Verhältnis von Mann und Weib; von der Judith bis herab zu den Nibelungen, in den mannigfachsten Formen versucht er dies große Problem künstlerisch zu gestalten, immer tiefsinnig und mit starkem Gefühle, doch zuweilen spielt auch die häßliche Überfeinerung moderner Sinnlichkeit in seine Bilder hinein.

Ganz modern ist auch seine Anschauung der Geschichte: er sieht in ihr nicht wie Shakespeare die ewig gleiche sittliche Weltordnung, die sich immer wieder herstellt, wenn die Leidenschaft des Menschen sie auf Augenblicke gestört; der Jünger der modernen Philosophen faßt sie auf als ein ewiges Werden. Er liebt den Zusammenstoß zweier Kulturwelten zu schildern: wie das Hellenentum aus der orientalischen Gebundenheit emporsteigt, das Christentum aus der jüdischen Welt, die neue Zeit aus dem Mittelalter. Ich kann jedoch nicht finden, daß der Dichter bei diesem kühnen Unterfangen immer glücklich ist. Die neue Welt, die aus der zerfallenden alten Ordnung sich erhebt, tritt nicht leibhaftig vor uns hin, sie wird uns lediglich angedeutet durch einen symbolischen Zug; und nur weil wir historische Schulbildung besitzen, erraten wir, was uns das Kunstwerk selber nicht sagt, daß die heiligen drei Könige, die am Schlusse von »Herodes und Mariamne« plötzlich auftreten, den Anbruch der christlichen Gesittung vorstellen sollen. Diese Neigung für symbolische Züge beherrscht den Dichter zuweilen so gänzlich, daß er in eine gleichgültige, ja absurde Fabel willkürlich eine Idee hineinlegt, welche ihr völlig fremd ist. Und da ja ausschweifende Phantastik im Innersten verwandt ist mit den Verirrungen überfeinen Verstandes, so erinnert Hebbel mit solcher Symbolik, solchem Mystizismus oft stark an Calderon.

In der Einsamkeit brütender Betrachtung mußte die düstere Denkweise vom Leben, wozu Hebbels Natur neigte, zu erschreckender Stärke anwachsen. Der Pessimismus ist insgemein eine Sünde begabter Menschen, denn nur ein heller Kopf wird die tiefen Widersprüche des Lebens, wird die schreckliche Tatsache, daß die Ordnung des Rechts eine andere ist als die Ordnung der Sittlichkeit, in ihrer ganzen Schärfe durchschauen, nur ein tiefes Gemüt sie in ihrer vollen Schwere empfinden. Kein Wunder, daß diese, die Werke aller bedeutenden tragischen Dichter überschattende, reformatorische Strenge, welche die Welt verachtet und Lügen straft, von dem Haufen verketzert und als unsittlich gebrandmarkt wird. Aber selbst ein tiefmelancholisches Gedicht wird dem Poeten nur dann gelingen, wenn ihm, ob auch verhüllt und verborgen, tief in der Seele der Glaube lebt an den Sieg des Geistes über die Gebrechen der Welt. Noch keinem echten Dichter hat dieser Glaube gefehlt, er atmet selbst in dem schwermütigsten Gedichte, das je in den Nebeln Altenglands ersonnen ward, in Walter Raleighs » the lye«. Hebbel wußte wenig von solcher Hoffnung. Wie er, der Konservative, nicht daran dachte, im Leben an der Heilung der kranken Welt mitzuwirken, so vermögen auch seine Gedichte, obwohl sie dann und wann von künftiger Versöhnung reden, von der Lebendigkeit dieses Glaubens nicht zu überzeugen. Die furchtbare Anklage, die er in einem abscheulichen Sonette gegen die menschliche Gesellschaft schleudert: »der Mörder braucht die Faust nur hin und wieder, du hast das Amt zu rauben und zu töten« – sie ist nicht ein wilder Ausbruch augenblicklichen Unmuts, sie blieb durch lange Jahre die Grundstimmung seiner Seele. Er erkannte mit eindringender Klarheit die Gebrechen der Welt, doch er verzweifelte an der Heilung. Ganz unerträglich wird diese Verbitterung des Gemüts, wenn Hebbel seinem eigenen Worte zum Trotz »die Kirsche vom Feigenbaum fordert« und seiner düsteren Phantasie die hellen Klänge der Komödie zu entlocken sucht.

Er gesteht, daß er mit seinen Gedichten »seiner Zeit ein künstlerisches Opfer dargebracht« habe; und gewiß, einige der Ideen, welche das moderne Deutschland bewegten, fanden in den Werken dieses Dichters einen treuen und großartigen Ausdruck. Doch gerade die schönste und herrlichste Erscheinung unserer Tage, recht eigentlich die Signatur der neuen Zeit, das Emporwachsen unseres Volkes zum staatlichen Leben, blieb diesem verdüsterten Auge verborgen. Er sah in der Entwicklung unseres Volkes »nicht eine Lebens-, sondern eine Krankheitsgeschichte«. Nun warf ihn sein Unstern unter das verkommene Deutschtum in Österreich; »wir und germanisieren!« rief er hohnlachend. Die frohe Botschaft des Jahrhunderts, die Verjüngung der antiken Sittlichkeit, welche von jedem Menschen, auch von dem Künstler, zugleich die Tugenden des Bürgers fordert – an ihm fand sie einen tauben Hörer. Selbst die Dichtungen unserer kosmopolitischen klassischen Zeit tragen die Spuren der politisch-nationalen Kämpfe der Epoche weit deutlicher auf der Stirn als Hebbels Werke die Eindrücke der Gegenwart. Und wird ja einmal die Natur der Dinge mächtiger als Hebbels Verstimmung, entschließt er sich ein Zeitgedicht zu schreiben, so finden wir nicht, wie es bei dem Sohne der Marschen zu entschuldigen wäre, einen naturwüchsigen Ausbruch des Zornes über die Schmach seines Volkes, sondern ein griesgrämiges Epigramm über Staatsmänner, welche die Kunst verstehen, niemals zu erwachen, oder eine wegwerfende Bemerkung über moderne Staatsverfassungen – oder ein Gedicht an König Wilhelm, das im Grunde nicht gehauen und nicht gestochen ist, in schönen Versen nur die politische Ratlosigkeit des Dichters offenbart.

Bei so trostloser Anschauung des Lebens weiß er nichts von jener edlen Volkstümlichkeit, welche der Ehrgeiz großer Dichter ist. Darum hat er, der Dramatiker, Schillers Größe lange gänzlich verkannt; darum verschmähte er die hohe Schule des Dramatikers, den Wechselverkehr mit der Bühne. Auch dieser Irrtum ist eng verflochten mit einer ehrenwerten Tugend, einer wohlberechtigten Verachtung gegen die bornierten Rücksichten der Konvenienz, welche gemeinhin das Bühnenschicksal eines Dramas bestimmen. Aber nicht die Theaterzensur allein verbannt seine Werke von den Brettern, sie sind in ihrer Mehrzahl in Wahrheit nicht darstellbar. Sie behandeln nicht bloß extreme Fälle, sondern abnorme, krankhaft seltsame Konflikte, welche keinen Widerhall erwecken in den Herzen der Hörer; und wer es verschmäht, die Edelsten seiner Zeit im Innersten zu bewegen, der mag der stolzen Hoffnung entsagen, für das Theater aller Zeiten zu schreiben.

Hart, ja grausam ward diese gewollte Vereinsamung an dem Lebenden bestraft. Über den vielgelesenen Schriftsteller bildet sich die Welt zuletzt immer ein mildes, ausgleichendes Urteil. Doch die Werke dieses Sonderlings fielen zumeist nur einzelnen Kritikern in die Hände, die ihn von den Wällen ihres ästhetischen Systems herab schonungslos bekämpften. Nun geschah ihm, was gemeinhin den Einsiedlern des Gedankens widerfahrt: wie um Friedrich Rohmer und Schopenhauer – Männer, die ich übrigens weder unter sich noch mit Hebbel vergleichen will – so scharte sich um diesen vielbekämpften Dichter eine kleine Gemeinde fanatischer Anhänger, die durch unmäßiges Lob den Hohn der Gegner erweckten. So zwischen gehässigen Tadel und blinde Bewunderung gestellt, ward das wohlbegründete Selbstgefühl des Mannes krankhaft reizbar. Auch wir halten es für trockene Philisterweisheit, wenn dem Poeten zugemutet wird, er solle nicht empfindlich sein. Wer darf Angriffe auf sein eigen Fleisch und Blut mit Kälte ertragen? Und wer könnte die alte Wahrheit, daß ein halbes Lob tiefer verletzt als ein ganzer Tadel, bitterer empfinden als der Dichter? Führt doch der Künstler das Los des verwunschenen Prinzen: im Leben soll er sich schelten und stoßen lassen wie die anderen auch, und kaum nimmt er das Saitenspiel zur Hand, so ist er ein geborener Fürst und hat immer recht und treibt mit uns, was ihm gefällt; darum mögt ihr Nachsicht üben, wenn nicht ein jeder dies gespaltene Dasein mit Haltung zu tragen weiß. Aber es ist ein anderes, seinem Ärger über die Kritik einmal durch einen derben, in Gottes Namen ungerechten, Cynismus Luft zu machen – und wieder ein anderes, jahrelang die geschmacklose Rolle des verkannten Genies zu spielen, fortwährend mit »Wichten« und »Kannegießern« um sich zu werfen, jedes seiner eigenen Worte mit einer Andacht zu bewahren, die dem reichen Geiste schlecht ansteht, ja sogar nach Knabenart pathetisch zu prahlen: diese und jene Tugend hat mir noch niemand abgesprochen. Jene Liebenswürdigkeit, die, nach der Versicherung seiner Freunde, dem Menschen zuweilen eigen war, blieb dem Schriftsteller versagt. Es gibt glückliche Naturen – und viele unserer streitbarsten Männer, Lessing vornehmlich, zählen dazu – denen wir niemals grollen, auch wenn wir widersprechen; andere wieder, welche uns immer in Versuchung führen, mit ihnen zu rechten, sie mögen sagen, was sie wollen. Zu diesen letzteren zählt Hebbel, nach meinem und vieler anderer Gefühl; er hat den Mitlebenden erschwert, gerecht über ihn zu reden.

Dem Toten sollen endlich die menschlichen Schwächen vergessen werden; auch von dem Kunstwerk seines Lebens gilt das gute Dichterwort, das er einmal über das Drama aussprach: »in einem Kunstwerk muß immer die letzte Zeile die erste recensieren.« Er ist wirklich gewachsen mit seinem Volke, das er nie ganz würdigte, er befreundete sich als reifer Mann mit den einfachen Idealen, die er einst mißachtet, er lernte die Größe des edelsten unserer Dramatiker schätzen und schuf endlich jene hochpoetischen Gestalten der Nibelungen, die nicht mehr angekränkelt sind von der Blässe des Gedankens. Von diesen letzten Werken des Dichters fällt verklärend ein Lichtstrahl zurück auf die unfertigen Dichtungen seiner früheren Zeit. Kein Zweifel mehr: der friedlose Sinn, der aus Hebbels älteren Dramen spricht, ist nicht die blasierte Ironie der Romantiker, nicht die zuchtlose Frivolität, der buhlerische Weltschmerz der Jungdeutschen, er ist der tiefe und wahre Schmerz eines starken Geistes, der erst nach harten Kämpfen eine Versöhnung finden konnte, welche der Glückliche, der Gedankenarme mühelos erreicht. – Der Dichter wies in seinem Eigensinne jede Kritik der Wahl seiner Stoffe zurück, weil »das einmal lebendig Gewordene sich nicht zurückverdauen« lasse. Heute, da wir sein Schaffen im ganzen überschauen, wird uns das Körnlein Wahrheit deutlich, das in diesem anmaßenden Ausspruch liegt; auch in den seltsamsten Experimenten des Poeten läßt sich eine gewisse Notwendigkeit nicht verkennen.

Wir gehen rasch hinweg über Hebbels erste Novellen, die in der Art des Humors an Jean Paul, in der Hast der Darstellung an Heinrich Kleist erinnern. Wie seltsam verkannte der Dichter sein ganz und gar nicht populäres Talent, wenn er hoffte, seine niederländische Geschichte »Schnock« werde im Bauerkittel von Fließpapier auf den Jahrmärkten feilgeboten werden; den derben Ton herzhaften Spaßes, den der Bauer verlangt, findet dieser Poet des Gedankens nicht.

In seinem ersten Drama Judith versucht Hebbel in der Seele der epischen Heldin der Bibel einen Bruch, einen Kampf hervorzurufen, er will uns an ihr das Recht des Weibes auf wahre Liebe zeigen und dergestalt den Liebling starkgeistiger Maler und Poeten dem modernen Bewußtsein verständlich machen. Freilich wird das gräßliche Weib selbst dadurch kein tragischer Charakter; denn unter den widerstreitenden Gefühlen, welche ihr Herz bewegen, der religiösen Begeisterung für ihr Volk, der durch den Anblick kläglicher Schwächlinge geschärften Ruhmbegierde, endlich der geheimen Liebe zu dem einzigen ganzen Manne, den sie kennt, tritt bald die nackte tierische Sinnlichkeit als das herrschende Motiv hervor. Noch häßlicher ist Holofernes, wohl der unwahrste aller jener souveränen Kraftmenschen, in deren Schilderung sich die Literatur jener Tage gefiel, bei aller scheinbaren Größe ein lächerlicher Prahler. Wahrhaft empfunden sind allein die glaubenseifrigen Gestalten des jüdischen Volkes. Hier war es dem Sohne strenger bibelfester Bauern leicht, aus voller Seele zu schaffen. Aber wie fremd steht die Frömmigkeit des Alten Testaments neben einem Materialismus, der an die häßlichsten Ausgeburten der poésie de sang et de boue gemahnt! Diese Zerfahrenheit der Stimmung, diese Unsicherheit der sittlichen Begriffe des Dichters raubt dem Stücke, trotz der in mächtigem Aufschwung stetig anschwellenden Handlung, die innere Einheit.

Selbst jenes verwirrenden und berauschenden Reizes, den die Judith bei der ersten Aufführung immer bewähren wird, entbehrt die Genoveva. Hebbel versteht noch nicht, den unbestimmtesten und darum bildsamsten der Verse zu gebrauchen: sein dramatischer Jambus ist korrekt und entspricht durch die Härte seiner männlichen Endungen äußerlich dem Wesen des Dramas, aber er hat weder lebendige Kraft noch melodischen Fluß. Mißachtend das durch die Natur des Stoffes Gebotene hat der Poet das wehmütig-liebliche Volksmärchen gewaltsam in eine Tragödie verwandelt, indem er den versöhnenden Schluß hinwegließ und jede Spur des Naiven und Naturwüchsigen vertilgte. Ja, er benutzte den mythischen Stoff, um an ihm die Unwahrheit unserer sittlichen Gesetze zu zeigen. Hier freilich sind »Satzungen und Rechte, die das Lebendig-Freie schamlos knechten.« Diese Menschheit ist befangen in formalistischer Sittlichkeit: nur ein Äußerliches erblickt sie in der Ehre, der Treue, dem Glauben, zu deren Schutze sie die blutbefleckten Hände hebt. Doch wir erkennen in ihr unser eigenes Gefühl nicht wieder; rein unbegreiflich erscheint in dieser gebundenen Welt die ganz moderne Empfindung des Versuchers Golo. Die Handlung ist ein gehäuftes Maß von Schrecknissen – denn bei Hebbel erscheint der Tod stets als die gräßliche Kere, nimmer als milder Genius – die Diktion bietet einen jähen Wechsel von Frost und Hitze; der letzte Eindruck ist vollkommene Ermüdung und die ratlose Frage, ob die wirre Symbolik dieser Szenen wirklich eine Tragödie der ehelichen Treue vorstellt?

Verdankte die Judith ihren Erfolg vor allem ihrer Wahlverwandtschaft mit gewissen krankhaften Verstimmungen der Zeit, und hatte die Genoveva als ein Verstandeswerk gar nur das Staunen eingeweihter Literatenkreise erregt, so fand die Maria Magdalena den verdienten Beifall aller Unbefangenen, ein wahrhaft poetisches Werk, das über seiner klaren und strengen Komposition und über der ergreifenden Wahrheit seiner Charaktere alle seine Mängel leicht vergessen läßt. Hebbel war kühn genug, aus der Not eine Tugend zu machen, die »schreckliche Gebundenheit in der Einseitigkeit« – jene Klippe, an der die meisten bürgerlichen Dramen und Dorfgeschichten scheitern – zum Mittelpunkte des tragischen Konflikts zu erheben. Die Hohlheit kleinbürgerlicher Ehrbegriffe mit ihren schrecklichen Folgen soll dargestellt werden. Zu solcher Arbeit ist Hebbels große dialektische Kraft wie geschaffen. Auch das Eingehen auf Sitten und Zustände, welche dem Poeten genau bekannt waren, ist ihm zum Heile ausgeschlagen. Nicht als meinten wir mit den Verehrern photographischer Wahrheit, der Künstler solle nur Verhältnisse schildern, die ihm durch persönliche Erfahrung vertraut geworden; wer das Zeug hat zu einem Dichter, trägt ein Bild der Menschheit im Herzen. Hebbel jedoch mußte durch einen Stoff, dessen feste Schranken ihm selbst wie den Lesern wohlbekannt sind, von seiner Unart, symbolische Züge in die Aktion zu legen, abgehalten werden. Er bewährt hier seinen Ausspruch: »überall soll der Dichter ökonomisch sein, nur nicht in seinen Grundmotiven.« Der Bau des Dramas ist musterhaft knapp und gedrungen, auch die Naturlaute der Leidenschaft erklingen tief erschütternd, das Stück würde das Muster eines bürgerlichen Trauerspiels sein, wenn nicht der Dichter durch die Unsicherheit seines sittlichen Gefühls auch dem Hörer das Gefühl verwirrte. Der Hörer nimmt Partei – nicht wie der Dichter will für die büßende Heldin, sondern für den harten alten Philister Meister Anton. Das unglückliche Mädchen hat sich im Zorn verschmähter Liebe einem ungeliebten Manne verlobt, und da ihr Gewissen sie noch immer der alten, jetzt sündhaften Liebe zeiht, wähnt sie sich verpflichtet, dem eifersüchtigen Bräutigam durch verzweifelte Hingebung ihre Treue zu beweisen. Eine solche Tat ist denkbar – denn was wäre unmöglich für ein geängstetes Mädchengewissen – doch sie steht sittlich tiefer als ein in der Hitze natürlicher Leidenschaft begangener Fehltritt. Der Dichter soll uns nicht einreden, das Mädchen sei durch diesen Schritt nicht innerlich befleckt worden. Der alte borstige Vater hat ganz recht, wenn er die Schande nicht auf seinem ehrlichen Bürgerhause dulden will – und über solchen unabweisbaren Verstandesbedenken geht uns die Freude an dem schönen Gedichte fast verloren.

Mit diesem Werke war ein großer Erfolg errungen, des Dichters dramatisches Talent unzweifelhaft erwiesen. Wer hätte nicht hoffen sollen, Hebbel werde mit frischem Mute, mit seiner jetzt durch schöne Reisen erweiterten Bildung fortschreiten auf so glückverheißendem Wege? Statt dessen verlor er sich jahrelang in zielloses Experimentieren, er schrieb jene unglückseligen Märchendramen »der Diamant« und »der Rubin«, deren Symbolik zu enträtseln der Mühe nicht lohnt.

In Unteritalien lernte er eine Welt verrotteter Zustände kennen, einen tief unsittlichen Polizeistaat, einen leeren Lippenglauben, einen getretenen und verwilderten Pöbel, eine gewissenlose Geldmacht. Hier, wenn irgendwo, war seine Verachtung der schlechten Wirklichkeit am Platze, hier mußte er fühlen, daß des Künstlers Hände zu rein sind, um die Verwesung byzantinischer Verhältnisse zu berühren. Und hier gerade ließ er sich durch eine aberwitzige Anekdote anreizen zur Erfindung seiner berüchtigten Tragikomödie »ein Trauerspiel in Sicilien«, welche ein tragisches Geschick in untragischer Form darstellen, des Hörers Lachmuskeln zucken und zugleich ihn vor Grausen erstarren machen soll. Das heißt doch nur die gemeine Prosa des Alltagslebens geradeswegs in die Kunst einführen. Das tragische Geschick in untragischer Form stöhnt und ächzt auf allen Märkten; ihm die tragische Form zu finden, ist des Dichters schönes Recht. Hebbels feiner Formensinn hat ihn davor bewahrt, den unglücklichen Gedanken weiter zu verfolgen. Auch ein anderes Experiment dieser Zeit blieb liegen. In der Tragödie »Moloch« wollte der Dichter »ein Volk stammeln lassen«, die Uranfänge der menschlichen Gesittung, die Entstehung der Religion darstellen – ein Versuch, der mit ungemeiner dichterischer Kraft begonnen, schließlich doch in undramatische Symbolik verlaufen mußte. Wiederum in den zerfressenen italienischen Verhältnissen wurzelt das Schauspiel Julia – eine Schilderung moderner Blasiertheit und Verworfenheit, wie sie nur einem völlig umnachteten Auge erscheinen konnte, ein Drama ohne Abschluß, ohne jedes Interesse, gerade darum gefährlich und unsittlich, weil Hebbel die unnatürliche, kläglich-sentimentale Handlungsweise seines Helden, der sich selber eine wandelnde Leiche nennt, als eine sittliche darstellen, sittlich erhebend durch das abgeschmackte Drama wirken will.

Das waren böse Tage für Hebbel, da sein Selbstgefühl im selben Maße wuchs, wie die Teilnahme der Leser sich ihm entfremdete. Selbst die Freunde fragten verwundert, ob er denn aus dem ewigen Rom nichts anderes davongetragen habe als die seine Durchbildung der Form, welche fortan alle seine Gedichte auszeichnete. Auch das bedeutendste Drama dieser unseligen Periode ist ein Werk des kalten Verstandes. »Herodes und Mariamne« schildert das Judentum in seiner Selbstauflösung und ist zugleich eine Tragödie der ehelichen Treue; so bildet es ein Gegenstück zur Judith und zur Genoveva. Herodes kann es nicht ertragen, daß sein Weib ihn überlebe, zweimal stellt er sie, während er zu gefahrvollen Fahrten verreist, unter das Schwert des Henkers. Gegen solchen Zwang sträubt sich der Stolz der Gattin, denn »das kann man thun, erleiden kann man's nicht.« Und dieser bei aller Seltsamkeit gewaltige, echt dramatische Konflikt, der schon in der Darstellung des Josephus jedes Herz bewegt, läßt bei Hebbel vollkommen kalt. So sehr ermangeln diese Menschen der Ursprünglichkeit und Freiheit, so sehr befremdet uns die moderne epigrammatische Sprache an historischen Personen, deren grundverschiedene Gesittung wir von Kindesbeinen an kennen.

Endlich, endlich nach so langem theoretischen Umhertasten öffnete sich Hebbels Gemüt wieder natürlicheren, einfacheren Gefühlen, als er die »Agnes Bernauer« schrieb und auf heimatlichem Boden Menschen schuf, so wahr und tüchtig, wie sie ihm seit der Maria Magdalena nicht mehr gelungen waren. Hier erscheint der moralische Revolutionär als politisch konservativ: die Berechtigung des Allgemeinen, des Staates, wird gezeigt gegenüber dem subjektiven Belieben der Leidenschaft. Hebbel bleibt vollkommen frei von der sentimentalen Auffassung der Liebe, deren heute der vornehme Pöbel voll ist. Leider verrät die Heldin kaum durch ein hingeworfenes Wort eine Ahnung von der Schwere ihrer Schuld, und wir empfinden ihren Tod als eine brutale Mißhandlung. Der wahrhaft innerlich ringende Held des Stücks vielmehr ist Herzog Ernst; sollte das Werk dramatisch wirken, so mußte der alte Herzog in den Mittelpunkt der Handlung treten. Dann ließ sich ein besserer Schluß finden als dieser unselige fünfte Akt, wo Hebbel, der sonst das Gräßliche liebt, einen tödlichen Gegensatz durch eine übereilte Versöhnung beendet. In Einem Aufzuge die Ermordung der Agnes, den wütenden Kampf des Sohnes gegen den Vater und die Beilegung des Streites darstellen – das verletzt jene Einheit der Zeit, welche der Dramatiker auch nach Lessing noch achten soll, das bleibt unglaublich, obschon der Poet durch die sprudelnde Heftigkeit, welche er dem jungen Herzoge leiht, uns darauf vorbereitet hat. Aber wie das Land nach langer Wasserreise begrüßen wir in dem Stücke wieder eine warme natürliche Stimmung, wir freuen uns der getreuen Genossen des jungen Herzogs und der kernhaften Bürger. Lebendig tritt die gärende Zeit uns vor die Seele, wo die Tage der Hohenstaufen bereits als ein ferner schöner Jugendtraum in der Sehnsucht der Menschen lebten und moderne Diplomatenkunst die ritterliche Vasallentreue zu verdrängen begann.

So war das Eis gebrochen, und die gesunde freudige Stimmung hielt an. Das gemütvolle Versmaß, das uns Deutschen wie ein liebes altes Märchen zum Herzen redet, das Metrum der deutschen Reimpaare, ward von Hebbel glücklich benutzt für das kleine Künstlerdrama Michelangelo. Diese geistreiche Behandlung einer sinnigen Anekdote gewährt manchen tiefen Einblick in die Geheimnisse künstlerischen Schaffens; und doch ist genug Handlung in dem Stücke, um selbst auf der Bühne Interesse zu erregen. Mögen andere rügen, daß die Schilderung der Kunstfreunde und dilettierenden Künstler sich von tendenziöser Bitterkeit nicht frei hält und sehr deutlich an des Verfassers eigene Fehden mit der Kritik erinnert; mögen sie tadeln, daß die Gestalt des Raffael, wie fast alles Holde und Milde bei Hebbel, ganz schattenhaft gehalten ist: – uns widersteht es, an einem erfreulichen und mit Unrecht vergessenen Werke zu mäkeln. Dieser Michelangelo lebt wirklich – ein hohes Lob, da die allzu verbreitete Kenntnis der Kunstgeschichte hier der freien Tätigkeit des Dichters schwer beengende Fesseln anlegte. Mancher akademisch korrekte Künstler wird an dem jugendfrischen, vielsagenden Worte »die Ordnung, mein' ich und bleibe dabei, beginnt erst bei der Staffelei« seine eigene Hohlheit erkennen; mancher, der Hebbel mit Mißwollen betrachtet, wird aus diesen einfachen Szenen den heiligen Ernst des Schriftstellers begreifen.

Noch einmal, in der Tragödie Gyges und sein Ring, hat Hebbel einen Schatz von Formenschönheit und Kunstverstand an einen undankbaren Stoff verschwendet. Der Dichter versteht, uns in die Atmosphäre längst entschwundener Zeiten zurückzuzaubern, »an den alten Nil, wo gelbe Menschen mit geschlitzten Augen für todte Könige ew'ge Häuser bau'n,« Wo nicht stellenweise eine allzu moderne Bewußtheit der Sprache uns die Stimmung verdirbt, steht sie wirklich farbenprächtig vor uns, die reiche Wunderwelt des Herodot, die mit der Fülle ihrer reinmenschlichen Konflikte unseren Poeten ein so dankbares Feld eröffnet. Dennoch wird dies Trauerspiel mit vollem Rechte nie auf der Bühne Fuß fassen, denn es ist ein antiquarisches Stück. Es ist ein sinniger, freilich mehr für eine Novelle als für eine Tragödie der Ehe geeigneter Gedanke, daß auch in der innigsten Vereinigung jeder Gatte ein Etwas zurückbehält, das Schonung erheischt, das er dem Gemahl nicht hingeben kann, ohne sich selbst aufzugeben; aber wie wenige Leser werden aus der seltsamen Handlung des »Gyges« diese Idee erraten! Heute, da man den Dramatiker unaufhörlich auf historische Stoffe verweist, kann nicht laut genug die einfache Wahrheit wiederholt werden, daß der Dichter seine Menschen in den Herzen seiner Zuschauer, der Kinder seiner Zeit, entstehen und wachsen lassen muß. Mag er getrost Weltverhältnisse aus den Tagen vor der Sündflut uns vorführen: in den Empfindungen seiner Charaktere dulden wir nichts Antiquarisches. Gerade unser Publikum mit seinen abgestumpften Gefühlen wird nur durch einfach-drastische, sofort verständliche Empfindungen erregt werden. Dieser König Kandaules, welcher »Zeugen braucht, daß er nicht ein eitler Thor ist, der sich selbst belügt, wenn er sich rühmt, das schönste Weib zu küssen,« welcher darum den Fremden als Zuschauer an das eheliche Lager führt – er handelt nach unsern Begriffen mit einer brutalen Roheit, die seinen Edelmut uns völlig unglaublich macht und jedes tragische Mitleid aufhebt. Hier aber sind unsere Begriffe im Rechte, weil wir leben. Nur ein bedauerndes Achselzucken haben wir für die untadelhafte Komposition, die Melodie der Sprache und den Gedankenreichtum des Dichters, der in diesem Werke sich glänzend entfaltet. Wie nämlich Kandaules in seinem Hause die Schranken altheiliger Sitte zerstört, so wagt er auch im Staate »an den Schlaf der Welt zu rühren«, obwohl er »nicht die Kraft hat, ihr Höheres zu bieten«. Und in diese dumpfe gebundene Menschheit tritt der einzige, den wir ganz verstehen, der jugendliche Gyges, der Mann der freien entschlossenen Tat, der Sohn des klaren Hellenenvolkes, das die Fesseln starrer Sitte lächelnd abgestreift hat.

Wie seine Dramen, so zeigen auch Hebbels kleine Gedichte eine auffällige Ungleichheit des Werts. Wir sehen eine ursprünglich poetische Natur vor uns, welche durch übereifrige Verstandestätigkeit sich der schönsten Früchte ihres Talents beraubt. Hebbel erstrebt eine Universalität, woran selbst ein Goethe nie gedacht hat – ein Unterfangen, wobei einem pathetischen Dichter das Ärgste widerfahren muß. Ein Mann wie er konnte in seiner Jugend ein Mädchen erschrecken durch heiße, despotische Leidenschaft; er konnte dann ein edles Weib mit jener tiefen und ernsten Mannesneigung erfassen, wovon so manches schöne Gedicht an Christine Kunde gibt; versucht er jedoch zu tändeln und leicht zu kosen, so zeigt er nur die Grazie eines seiltanzenden Elefanten. Auch für das einfache Lied fehlt ihm die Naivität. Dagegen sind mehrere der Balladen durch ihre einheitliche Stimmung sehr wirksam; nur leiden sie meist an zu großer Länge; denn der Dramatiker weiß nichts von dem Kunstgeheimnis des lyrischen Rhapsoden, durch Verstummen das Tiefste zu sagen. Die Gedichte »dem Schmerz sein Recht« erschüttern durch den heftigen rastlosen Kampf eines aufwärts strebenden Geistes; doch zeigen auch sie, wie selbst die schönsten Gedichte der Sammlung, eine ungelöste Zutat von Reflexion. Das Epigramm ist natürlich stark vertreten: fast überall Gedanken eines gescheiten Mannes, aber auch überall eine unselige Störung, bald durch die Breite der Darstellung, bald durch die Prosa des Gedankens oder durch ein geschmackloses Bild. Selbst das verständigste der Gedichte, selbst das Epigramm, muß in der Phantasie des Künstlers empfangen werden.

Es ist doch ein frischer, erfreulicher Dichterzug in Hebbels Leben, wie er, entzückt von dem liebenswürdigen Spiele einer Künstlerin, sie rasch entschlossen von der Bühne heimführte. Beglückt an der Seite dieser edlen Frau, in dem Frieden eines wohlgeordneten Hauses ließ er jetzt in dem kleinen Epos »Mutter und Kind« alles wieder zu frischem Leben zu erwachen, was vorzeiten seine Phantasie erregt: das derbtüchtige niederdeutsche Bauernleben, das reiche Hamburg und seinen furchtbaren Brand. Auch die Ideen, welche seinen Kopf vorzugsweise beschäftigt, das Verhältnis von Mann und Weib, die Fragen von der Armut und dem Sozialismus, spielen in das Gedicht hinein. In dieser kleinen Welt reinmenschlicher Empfindungen hat der Dichter jene Wärme des Gefühls, jene Freude an dem Milden und Gemütlichen, jene gläubige versöhnte Stimmung wiedergefunden, die auf seinen langen spekulativen Irrfahrten fast verloren schienen.

Welches irdische Glück ist diesem höchsten vergleichbar,
das uns über uns selbst erhebt, indem wir's genießen,
und wem wird es versagt, wem wird es gekränkt und geschmälert? ...
Und so ist die Natur gerecht im ganzen und großen
und verteilt nur den Tand, die Flitter, nach Lust und nach Laune.

Uns scheint, in diesen Worten über die Elternliebe liegt unendlich mehr Tiefsinn und kräftiger Mannesmut, als in den heftigsten Invektiven, welche Hebbel je gegen die Gesellschaft geschleudert. Der wesentliche Mangel des Werks zeigt sich in der Form. Wir meinen hier nicht die übermäßige Anwendung des Trochäus, die Hebbel sich erlaubt. Denn der Hexameter ist zwar keineswegs, wie Hebbel meint, »der deutscheste Vers«, sondern ein Maß, das einer ursprünglich der Quantität entbehrenden Sprache niemals ganz natürlich zu Gesichte stehen kann; doch gerade deshalb mag der deutsche Dichter bei dessen Handhabung mit großer Freiheit verfahren. Sein feines Gehör allein muß ihn warnen vor dem Schein der Dürftigkeit, der durch zahlreiche Trochäen entsteht, wie vor dem haltlosen, hüpfenden Wesen und dem zischenden Mißklang gehäufter Konsonanten, welche die Daktylen der »korrekten« Platenschen Schule in den Hexameter bringen. Wir meinen, hier die Form in einem minder äußerlichen Sinne. Die ungeheure, vollkommen nur einmal erfüllte Aufgabe, in unserer aufgeregten Zeit das erhabene Gleichmaß epischer Diktion und Empfindung zu bewahren, war dem Dramatiker unlösbar. Bald staut seine Rede sich auf in abgebrochenen Sätzen, bald stürmt sie daher in langen Perioden, die ebenmäßige Wallung des Hexameters geht verloren. – Und dies einfach herzliche Gedicht ging in der Lesewelt fast spurlos vorüber. Ist es doch längst kein Geheimnis mehr, daß das Los der Gedichte heute in den Händen der jungen Damen liegt. Wirken Tragödien zu aufregend auf die Gemüter der Fräulein – nun, hier ist ein Epos aus der stillen Welt des Hauses, ganz dazu geschaffen, ein einfaches Mädchen sanft zu bewegen. Doch leider, keine Spur von Sentimentalität und augenverdrehender Frömmigkeit; und diese Bäuerin hat so gesunde Nerven, sie untersteht sich sogar, im Grünen zu gebären! Mon Dieu, welche Pensionsdirektrice von Pflichtgefühl darf ihren Zöglingen solche Natürlichkeiten bieten?

Unterdessen reifte langsam des Dichters größtes Werk, die Nibelungen. Wenn der gebildete Durchschnittsmensch heute schon beim Anblick des Titels einer Nibelungentragödie mit der Ruhe des Weisen zu sagen liebt: das sind alte Geschichten, der Himmel bewahre uns vor dieser tausendjährigen Hexerei – so können wir nicht bestimmt genug die Überzeugung aussprechen: nur wenige moderne Dichter haben die gewaltige Versuchung nicht empfunden, die Gestalten des Nibelungenliedes irgendwie nachzubilden. Da steht sie vor uns, eine jener grandiosen Fabeln, woran die Kunst und der Glaube von Jahrhunderten gearbeitet, das Wunderwerk eines ganzen Volkes, in ihren Grundzügen hoch erhaben über jeder Anfechtung der Kritik. Und mit dem vollen Reize der Jugend tritt das altehrwürdige Werk vor unsere Augen. Seit zwei Menschenaltern erst hat sich die Liebe unseres Volkes wieder der alten Dichtung zugewendet. Seitdem sind die Gestalten des hörnernen Siegfried und der Rächerin Kriemhild einem jeden eng verwachsen mit jenen ersten Empfindungen der Kindheit, welche ewig frisch bleiben, als wären sie gestern empfunden. Und dieser Schatz gewaltigster menschlicher Leidenschaft, der unsere Maler zu immer neuen Nachschöpfungen reizt, ist uns überliefert in einer poetischen Bearbeitung, die dem feineren Kunstsinne der Gegenwart nimmermehr völlig genügen kann. Denn – zum Schrecken orthodoxer Germanisten sei gesagt, was jedes einfache Gefühl sofort empfindet – neben Stellen von hinreißender Kraft und Schönheit dehnen sich im Nibelungenliede weite Strecken von langweiliger Einförmigkeit. Auch der Inhalt bietet oftmals eine fremdartige, ja feindselige Mischung von altnordischen, deutsch-heidnischen und christlichen Elementen. Die ungeheure Bewegung und leidenschaftliche Wildheit des Stoffes, welchen die epische Form oft kaum bewältigen kann, fordert den Dramatiker ebenso laut zum Nachbilden auf, wie jene Keime verschlungener, eingehender Charakteristik, die sich im Epos nur halb entfalten dürfen. Gründe genug, um in unzähligen modernen Menschen den Wunsch zu erregen, daß die Heldengestalten der alten Sage auf der Bühne erscheinen möchten, wo, nach Hebbels schönem Worte,

wo sich die bleichen Dichterschatten röthen
wie des Odysseus Schaar von fremdem Blut.

Aber wie läßt sich diese ungeheure Fabelwelt dem Verständnis unserer Hörer erschließen? Am nächsten liegt es, durch sorgfältige psychologische Motivierung die alten Recken uns menschlich nahe zu führen. Dieses Weges ist Emanuel Geibel gegangen – und der Erfolg bewies, daß auf solche Weise die finstere Größe des alten Gedichtes gänzlich verloren geht. Wie anders ist Hebbel verfahren! Ein ungeheures Geheimnis bleibt immerdar über den riesigen Gestalten dieser Sage, das keine Kunst unserer helleren Zeit lichten kann. Sollen unsere Hörer an einen Hagen Tronje wirklich glauben, so gilt es nicht, ihn hinabzuziehen in unsere Kleinheit und Feinheit, nein, es gilt, ihn noch reckenhafter erscheinen zu lassen und die Wunder der alten Göttersagen, die im Nibelungenliede schon halb verwischt sind, in voller Pracht zu entfalten. Von vornherein muß der Hörer empfinden, daß er die Welt des hellen, bewußten Verstandes verlassen hat, daß er unter Menschen tritt, die wahllos, zweifellos, wie die Naturgewalten, das Ungeheure tun, die der vollbrachten Untat hart und sicher in die Augen sehen und sie auf sich nehmen wie der Hagen des Liedes, der bei jedem neuen Frevel sich vordrängt und spricht »laß mich den Schuldigen sein.«

Diese Erhöhung der Helden fast über das Maß des alten Liedes hinaus hat Hebbel mit bewundernswürdiger Kunst vollzogen. Wie vertraut sind diese Menschen mit aller Heimlichkeit des Naturlebens. Beredt wird ihre Zunge nur, wenn sie sich erzählen von den Geheimnissen des Waldes, von den Seherworten, die aus dem Nixenbrunnen ertönen, von den Wundern des nordischen Eislandes, von jenen Runen, darüber ein Held vergeblich sinnen mag bis an seinen Tod. Wo es zu handeln gilt, gehen sie ans Werk wortlos, sicher, unentwegt; dann und wann bricht aus den geschlossenen Lippen ein Ausruf jenes gräßlich wilden Humors hervor, der sich schon in dem alten Liede findet, wenn es von Volker spricht:

»das ist ein rother Anstrich, den er am Fidelbogen hat.«

Doch während der Dichter so trotzig allen unseren konventionellen Begriffen ins Gesicht schlägt, ist er um so maßvoller und schonender verfahren, wo er unser sittliches Gefühl zu verletzen fürchten muß. Jener König Gunther, der schon in dem alten Liede eine sehr widerwärtige Rolle spielt und bei jedem Versuche eingehender psychologischer Zergliederung notwendig ekelhaft erscheinen muß, ist von Hebbel mit sicherem künstlerischen Takte in den Hintergrund geschoben worden. Jung und schwach läßt er den grimmen Hagen gewähren, der ihn und seine Brüder ganz beherrscht. Ebenso ist jener nächtliche Ringkampf auf Brunhilds Lager von Hebbel sehr schamhaft behandelt, und wer sich einmal eingelebt in die wunderbare Luft dieses Dramas, wird ohne jeden Anstoß daran vorübergehen.

Auch daß Hebbel den ganzen Inhalt des Nibelungenliedes in die dramatische Form umgegossen hat, können wir nur billigen. Denn wenn man so gern auf die attischen Dramatiker verweist, die nur einzelne Katastrophen aus der reichen Fülle der homerischen Gedichte sich auswählten, so will diese gelehrte Vergleichung hier nimmermehr passen. Wie Schuld die Schuld gebiert – dies Fortwirken des Frevels, welches in der ursprünglichen Form der Sage, in dem Fluche, den Andwari über das Gold gesprochen, sogar noch schöner ausgedrückt war, bildet recht eigentlich den Kern der Tragik des Nibelungenliedes. Darum müssen wir sehen, wie Siegfrieds Mörder und ihr ganzes Geschlecht untergehen; eine Vision, welche dies nur andeutete, kann uns nicht genügen.

Wer diesen Stoff dramatisch gestaltet, muß verzichten auf die konzentrierte Schönheit des Einzeldramas, er ist gezwungen zur zyklischen Behandlung. Hebbel griff zur Dreiteilung; er läßt auf ein kurzes Vorspiel »Der hörnerne Siegfried« zwei Trauerspiele »Siegfrieds Tod« und »Kriemhilds Rache« folgen. Diese Einteilung ist eben deshalb ein großes künstlerisches Verdienst, weil der Laie meinen wird, sie verstehe sich von selbst. Sie bietet dem Dichter den Vorteil, daß er, ohne je in undramatische Breite zu verfallen, den reichen tragischen Gehalt seiner Fabel wirklich erschöpfen kann. Es gibt einige Stoffe von so unergründlicher tragischer Tiefe, daß sie unserer Seele bei jeder neuen Betrachtung immer neue und immer ergreifendere Situationen enthüllen. Wer hat das Bild von Paul Delaroche »Maria in ihrem Hause in der Nacht nach der Kreuzabnahme« gesehen, ohne im ersten Augenblick zu erstaunen über die Neuheit der Erfindung und im zweiten ihre Notwendigkeit freudig anzuerkennen? Und wenn die Bauern vom Oberammergau ihr Passionsspiel aufführen, was ist es, das diese Tausende während langer Stunden in atemloser andachtsvoller Stille fesselt, den blasierten Großstädter so gut wie die schwäbische Bäuerin, die meilenweit gewallfahrt zu der heiligen Handlung? Es ist nicht bloß die einzige Erscheinung, daß hier die künstlerische Kraft, die in den Tiefen unseres Volkes schlummert, frei und freudig aus dem Verborgenen hervortritt; es ist nicht bloß die erhabene Weihe, welche der Glaube von Millionen über den grandiosen Mythus von der Kreuzigung Christi ausgegossen hat. Noch ein anderer, rein ästhetischer Grund gibt den anspruchslosen Zeilen des alten Dorfschulmeisters eine so mächtig erschütternde Kraft. Jener eine Tag des Todes Christi ist so überschwenglich reich an tragischen Momenten, daß der Nachdichter nicht nötig hat, zu jenen Verkürzungen zu greifen, welche das Drama insgemein verlangt. Stunde für Stunde vielmehr des schmerzensreichen Tages geht in jenem Passionsspiele an uns vorüber. Also hat der Zuschauer den zweifachen Genuß der tragischen Erschütterung und zugleich der vollen ungetrübten Naturwahrheit; denn auch jener letzte Schein des Absichtlichen, der nach Goethes tiefem Worte jedem Kunstwerke anhaftet, verschwindet bei dieser glücklichen Fabel. Einen ähnlichen Moment voll unerschöpflicher Tragik bietet die Nibelungensage in dem Morgen nach Siegfrieds Ermordung, und Hebbel hat verstanden, die Gunst der Fabel auszubeuten. Kein Augenblick des Grausens wird uns erlassen von der Stunde an, da Kriemhild erwacht und der Kämmerling über den toten Mann vor der Tür stolpert, bis zu jener schrecklichen Totenprobe, da der grimme Hagen unerschüttert ruft:

das rothe Blut! Ich hätt' es nie geglaubt,
nun seh' ich es mit meinen eignen Augen.

In solcher Weise ist der fünfte Akt von Siegfrieds Tod das Schönste geworden, was Hebbel je geschrieben.

Wenn Hebbel in klarer und berechtigter Absicht das Maßlose, das Reckenhafte seiner Helden in den gewaltigsten Umrissen gezeichnet hat, so war sein Plan doch keineswegs, uns durch das Fremdartige dieser Erscheinungen lediglich in Erstaunen zu setzen. Nein, wir sollen empfinden, dies ist das Geschlecht der Heiden, der Gewissenlosen, das einer neuen reinen Menschheit die Stätte räumen soll. Darum hat er jene Spuren des Christentums, welche in das Nibelungenlied hineinspielen, weiter verfolgt und den Heiden Hagen in grimmiger Feindschaft der Kirche gegenübergestellt. Zuletzt, als die Heiden sich hingemordet, ergreift der Christ Dietrich von Bern das Zepter der Welt

»im Namen Dessen, der am Kreuz verblich«.

Dies war sicherlich der einzige Weg, um das Entsetzen dieser Fabel zu einem für das moderne Bewußtsein versöhnenden Abschlusse zu führen. Dennoch liegt hier eine Schwäche des Werkes. Die christlichen Elemente treten im Verlaufe der Handlung so wenig hervor, Dietrich selbst greift so wenig in das Spiel ein, daß sein letztes Aufsteigen fast wie ein symbolischer Zug, zum mindesten nicht als eine Notwendigkeit erscheint. Der ruhige gewaltige Alte des Nibelungenliedes ist uns verständlicher als dieser Dietrich, der so befremdlich mitten inne steht zwischen der heidnischen und der christlichen Welt.

Gerade vor diesem schönen Drama haben wir aufs neue empfunden, wie ganz eigen unser Volk zu seiner Geschichte steht, wie vertraut und zugleich wie fremd die Jugend unseres Volkes uns erscheint. Jene jugendliche Naivität des Naturlebens, welche sich im Drama schon wegen seiner klaren bewußten Kunstform nur leise andeuten läßt und nur in der Breite des Epos zu ihrem vollen Rechte kommt – sie ist es, die noch heute das Gemüt des Deutschen zu seinen alten Mythen hinzieht. Was aber des Dramatikers eigentliche Aufgabe bildet, das Gemütsleben dieser epischen Zeit, das ist uns in solchem Maße fremd geworden, daß wir dreist behaupten können, ein Trauerspiel aus der französischen oder italienischen Gegenwart dürfe sich heute mit größerem Rechte ein deutsches Trauerspiel nennen als eine Dramatisierung der Nibelungensage.

Dem Dramatiker sind, weil seine Kunst gewaltiger als irgendeine andere den ganzen Menschen erschüttert, engere Schranken gesetzt bei der Wahl seiner Stoffe als dem Maler oder dem erzählenden Dichter; und dieser Einsicht voll hat sicher schon mancher moderne Poet der reizenden Versuchung dieser Fabel widerstanden. So gewiß wir beim Hören von Uhlands Ballade »Jung Siegfried« uns willig in die alte Wunderwelt versenken, ebenso gewiß ruft das Drama den Verstand zum schonungslosen Mitsprechen auf. Indem Hebbel seine Recken gänzlich aus der Welt unseres Denkens und Empfindens heraushob, hat er zwar den einzigen Ton angeschlagen, der diesem Stoffe geziemt, doch er hat zugleich verzichtet auf die höchste Lust des Dramatikers, daß die Hörer fortwährend mit seinen Helden leiden und denken, sie treiben oder zurückhalten möchten. Allerdings bietet dies Drama auch mehrere Charaktere, welche uns völlig verständlich sind, namentlich den Charakter der Kriemhild, den nach unserem Gefühle schönsten des Werkes – wie ja auch Shakespeare in dieser alten Sagenzeit mehrere Stoffe von rein menschlichem für alle Zeiten gültigem Gehalte gefunden hat. Aber daneben stehen sehr viele Züge eines halb bewußtlosen Menschenlebens, das »keinen Grund braucht« für sein Handeln, während der heutige Zuschauer sich doch fortwährend im stillen nach den Gründen fragt.

Und untersuchen wir, was Hebbel neu geschaffen hat in dem alten Stoffe, so finden wir zwar einzelne überraschend feine Motivierungen, welche das Lied gar nicht oder nur leise andeutet, wir sehen Brunhilds geheime Liebe zu Siegfried, wir erfahren, daß die Eifersucht Kriemhild bewog, ihre Schwägerin zu schelten, und daß der Neid der letzte Grund des Hasses ist, den Hagen gegen Siegfried hegt, aber wir können nicht sagen, die Helden seien uns in dem modernen Drama vertrauter geworden als in dem alten Liede. Unvermeidlich vielmehr treten in dem Drama einige moderne Züge störend hervor. Die alten Recken beurteilen sich gegenseitig mit einer bewußten Klarheit, welche zu ihrem eigenen Tun wenig stimmt; und wenn Brunhild zu Günther spricht:

in dir und mir
hat Mann und Weib für alle Ewigkeit
den Kampf um's Vorrecht ausgekämpft –

so offenbaren auch diese Worte ein helles Bewußtsein, das wir der Königin von Isenland nicht zutrauen. Gestehen wir also: wenn uns die Lust anwandelt, uns zu erfreuen an der Größe unserer Sagenzeit, so greifen wir lieber zu dem Nibelungenliede selber als zu dem neuen Drama. Denn in einer Erzählung vergangener Taten nehmen wir vieles arglos und willig hin, was uns in der unmittelbaren Gegenwart des Dramas verletzt, und während die Mängel des alten Liedes uns nur wie das Blei erscheinen, worein die Natur das Silber verborgen hat, machen die Mängel des modernen Wecks den Eindruck einer fremden künstlichen Zutat. Der Dichter hat das mögliche geleistet, aber er hat gewisse Bedenken nicht überwinden können, welche notwendig gegeben sind durch die ungeheure Kluft, die unser Empfinden von dem Seelenleben der epischen Tage trennt.

So war dem kräftigen Manne doch gelungen, das Echte seines Wesens der Mitwelt zu offenbaren, und auch sein letztes Werk gab ein Zeugnis von der Läuterung dieses Geistes. Er nahm die Fabel des Schillerschen Demetrius wieder auf; doch Schillers Drama einfach fortzusetzen kam ihm nicht bei: »ich könnte ebensogut da zu lieben anfangen, wo ein Anderer aufgehört hat.« In seinen jungen Jahren wäre ihm unzweifelhaft der verzwickte Charakter eines tugendhaften Betrügers ein reizender Vorwurf gewesen; jetzt stand er anders zu den sittlichen Fragen. Sein Sinn war jetzt so ganz auf das einfach Edle gerichtet, er empfand so lebhaft die Gemeinheit, die in jedem Betrüger liegt, daß ihm sogar Schillers Idealismus nicht mehr genügte. Schiller wäre, erklärte er oft, mit seinem Betrüger nicht zu Ende gekommen. Er faßte den Demetrius als den Betrogenen, der erst ganz zuletzt, da er nicht mehr zurück kann, seine eigene Schuld erfährt, und stellte den Usurpator so rein und edel hin, daß ich fast zweifle, ob nicht das vollendete Wert an dramatischem Interesse ebensoviel verloren hatte, als der Held an Tugend gewann. Hebbels realistischer Sinn zeigt sich diesmal nur in der drastischen Schilderung des slawischen Volkslebens, die unser deutsches Gefühl fremdartig berührt. Überhaupt liegt über dem tief durchdachten Werke eine seltsame Kälte; unter den vielen, welche sich an dieser erhabenen Schicksalstragödie, versucht haben, reicht keiner an Schillers feurige schwungvolle Weise heran.

Das Gedicht abzuschließen war dem Dichter nicht vergönnt. Eben jetzt begann die Welt dem lange Verkannten zu danken, da warf ihn eine tödliche Krankheit nieder. Er hörte noch auf dem Krankenbette, seinen Nibelungen sei der große Berliner Dramenpreis zuerkannt worden. Die Antwort, die er dem Boten gab, ist wie der letzte Pinselstrich zu dem Charakterbilde des düsteren schwerkämpfenden Mannes, der die helle Lust am Leben niemals ganz gekostet hat. Er sagte trüb: »Das ist Menschenloos, Bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.« –


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