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Lessing.

(Leipzig 1863.)

Allein die Zeitgenossen winden dem Dichter den schönsten der Kränze. Gerechter vielleicht mag die Nachwelt richten, als einen Seherblick des Genius mag sie einzelnes preisen, was den Mitlebenden unverstanden vorüberschwebte; doch jene fraglose unwillkürliche Rührung der Seelen, die der Künstler als edelsten Lohn erstrebt, wird er am gewaltigsten in seiner Zeit erregen. Wie könnte heute ein Jüngling von den Leiden des jungen Werther so schmerzlich ergriffen werden wie damals, da die Werther noch auf unseren Straßen verkehrten? Und hat je eine moderne Hörerschaft den Scherzen der Narren Shakespeares ein so herzliches baucherschütterndes Gelächter entgegengebracht, wie es dem Dichter zuscholl aus den Reihen der Gründlinge seines Parterres? Immer wird heute inmitten der jubelnden Menge ein Nüchterner stehen und meinen: so, ganz so empfinden wir nicht mehr. Alle Welt weiß, wie wenigen Dichtern beschieden ward, noch in der Zukunft vom Volke geliebt, nicht bloß durchgrübelt zu werden von den Fachgelehrten. Warum aber ist bei den Deutschen die Zahl der Dichter so auffällig gering, welche den Jahrhunderten getrotzt? Denn wer außer dem Forscher liest noch, was über die Literaturbriefe, über die Werke von Lessings Mannesalter hinausliegt? Es ist wahr, weit später als anderen Völkern ist den Deutschen der Tag der Dichtung erschienen, und in dem Jahrhundert, seit jener Morgen graute, hat unser Volk erstaunlich rasch gelebt. Aber ist mit solcher Antwort das Rätsel gelöst? Warum erfreut sich der Brite noch an seinem Spenser, während Klopstock und Wieland unserem Volke nur Namen sind? Hat doch auch über den Glanz von Spensers Dichtung sein großer Nachfahr Shakespeare seinen breiten Schatten geworfen, und ungeteilte Freude kann der derbe Realismus der Gegenwart an jenen zierlichen Allegorien so wenig empfinden, wie unser aufgeregtes Wesen an dem ruhigen Flusse des Epos. Offenbar, wir müssen eine andere Antwort suchen.

Ein Märchen ist es, erfunden in philisterhaften Tagen, als könne je ein vorwiegend literarisches Volk bestehen. Zuerst nach dem Ruhme seiner Fahnen schaut ein Volk aus, wenn es seiner Vergangenheit gedenkt, und gern vergißt es die Mängel, das Veraltete eines Kunstwerks, wenn die Glorie einer großen Zeit aus der alten Dichtung redet. Nie genug werden wir die Briten um jenes vornehmste Zeichen ihrer Gesundheit und harmonischen Kraft beneiden, daß ihnen die Kunst auf dem festen Boden staatlicher Größe reifte. Liest der Engländer die Verse von der Feenkönigin, so steigt vor seinen Augen auf das Bild der großen Elisabeth, er sieht sie reiten auf dem weißen Zelter vor jenem Heere, dem die unüberwindliche Armada wich, und hinter den kriegerischen Scharen der Engel in Miltons Verlorenem Paradiese erblickt er kämpfend Cromwells gottselige Dragoner. So tritt auch dem Spanier aus den Dichtungen seiner Lope und Cervantes das Weltreich entgegen, darin die Sonne nicht unterging. Also erhalten durch die Wucht erhabener politischer Erinnerungen diese Werke einen monumentalen Charakter. Wo aber fand die deutsche Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts solch ein Fußgestell staatlicher Größe, daraus sie sich sicher emporheben konnte? Von einem gesunkenen, verachteten Reiche, von einem mißhandelten Volke gingen unsere Sänger aus, und wie ihnen im Leben keines Mediceers Güte lächelte, so auch im Tode sind sie, was sie sind, durch sich selbst allein. Als Lessing sein letztes Drama schrieb, fragte er zweifelnd, ob die Tage reiner Menschensitte so bald erscheinen würden, die dies Wert auf der Bühne ertrügen; Heil und Glück rief er dem Orte zu, der zuerst die Aufführung des Nathan schauen würde. Und – vor zwanzig Jahren ging in Konstantinopel der Nathan in neugriechischer Bearbeitung über die Bretter. Als dann vor den verwunderten Türken die edlen Worte erklangen: »es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen«, und die rechtgläubigen Moslemin in lauten Beifall ausbrachen, da mochte wohl ein Deutscher stolzer den Nacken heben. Denn hier, weit über die Grenzen christlicher Gesittung hinaus, wo keiner des Dichters Namen kannte, keine volkstümliche Erinnerung des Gedichtes Zauber erhöhte – hier strahlte siegreich die Macht des deutschen Genius allein, das weltbezwingende Lächeln der Menschenliebe.

Durch sich selbst allein wirken jene Künstler auf die Nachgeborenen. Noch mehr, sie selbst erst sind die Schöpfer eines freieren öffentlichen Lebens in unserem Volke, sie standen unbewußt im Bunde mit jenen Staatsmännern, die dem deutschen Staatswesen ein menschlicheres Dasein bereitet haben. Wie sich von selbst versteht in einer Zeit, wo das häusliche Leben die beste Kraft der Deutschen erschöpfte, geschah dies Hinüberwirken Lessings auf unser öffentliches Leben vornehmlich durch seine Person, durch die souveräne Selbständigkeit seines Charakters. Erst vor wenigen Jahren ist ein gutes Bild des Knaben Lessing bekannt geworden, und mit schalkhaftem Behagen sehen wir den Mann vorgebildet in den Zügen des Kindes. Da sitzt Theophilus Lessing, sittsam, ernst, in priesterlich langem Gewande, ehrbarlich ein Lämmchen fütternd, daneben der aufgeweckte Bruder, »mit einem großen, großen Haufen Bücher«, in der eleganten roten Tracht der Zeit; auch der Unkundige kann erraten, daß jenem bestimmt sei, zu leben als dunkler Ehrenmann und Konrektor, diesem – als Gotthold Lessing. Kraft und Wahrhaftigkeit spricht aus den derben Zügen des Knaben, und wahrlich, hart gebettet hat die Zeit den starken und wahren Mann. Sein Puls schlug bei voller Gesundheit so schnell wie der Puls anderer im Fieber, er besaß im höchsten Maße jene Lebhaftigkeit des Redens, welche die Obersachsen vor anderen Deutschen auszeichnet. Wie rasch jagen sich da Fragen, Ausrufe, schnell wiederholte abgebrochene Worte, und er fand den Mut also zu schreiben, wie seine Landsleute dachten und sprachen. Nie hat ein Schriftsteller getreuer jenes Wort erfüllt, das seltsam genug zuerst ausgesprochen ward in einer Nation, die es nicht versteht – das Wort: le style c'est l'homme. Dramatisch bewegt wie das Leben selber strömt sie dahin, diese schmucklose, wasserklare Prosa – dem Unkundigen ein Kind der Laune, des Augenblicks, dem Tieferblickenden ein Werk vollendeter Kunst, die schwierigste aller Schreibweisen, denn unerträglich verletzend muß jeder triviale Gedanke, jede falsche Empfindung sich verraten unter dieser leichten, nichts verbergenden Hülle.

Und dieser Natürlichste der Menschen wuchs empor in einer Umgebung, wo jedes einfache menschliche Gefühl in feste, herzlose, beengende Formen gebannt war, in einem Vaterhause, wo hart abweisend der Befehl der Eltern, unterwürfig und in schnörkelhaftem Ausdruck die Antwort der Kinder erklang. Der ganze Schmerz um eine verbildete Jugend spricht aus dem Ausruf des Mannes: »der Name Mutter ist süß, aber Frau Mutter ist wie Honig mit Zitronensaft.« Als er dann in Leipzig sich herausriß aus der dürftigen Buchgelehrsamkeit der Schule und jenes Doppelwesen seiner Natur, das schon das Bild des Kindes ahnen läßt, sich entfaltete – der Gelehrte, der in jedem Buche der Wittenberger Bibliothek geblättert, der an schlechten Büchern mit Vorliebe seinen Scharfsinn übte, und der Weltmann von feinen Formen, der sich gern im Lärm des Tages tummelte, um die rasche Wallung seines Blutes zu übertäuben: – da brach jener schwere Kampf aus mit seinen Eltern, der längst schon gedroht. Man kennt jenes bittere Wort, das Lessing am Abend seines Lebens schrieb: »ich wünsche was ich wünsche mit so viel vorher empfindender Freude, daß meistentheils das Glück der Mühe überhoben zu sein glaubt, den Wunsch zu erfüllen.« Seiner Jugend vornehmlich gilt diese Klage wider das karge Glück. Auch der Geduldigste unter uns ertrüge nicht mehr die Öde des Daseins jener Tage: ein Volk ohne Vaterland, darum gezwungen, im Hause jede Freude zu suchen, und dennoch unfrei sogar im häuslichen Leben.

Sie werden freilich immer wiederkehren, am heftigsten in fruchtbaren, aufstrebenden Zeiten, jene traurigen Zerwürfnisse von Vater und Sohn, herzergreifend traurig, weil jeder Teil im Rechte ist und das alte Geschlecht die junge Welt nicht mehr verstehen darf. Aber in Lessings Leben – wie herzlich er auch von seinem Vater sprach, wie groß immer die innere Verwandtschaft der beiden Streitenden war – in Lessings Leben erscheint dieser Kampf unmäßig hart, das alte Geschlecht ungewöhnlich klein und gehässig. Denn der Hader bewegte sich nicht um politische und religiöse Fragen, die doch nur mittelbar den Frieden des Hauses berühren; eine große gesellschaftliche Umwälzung vielmehr begann sich zu vollziehen, die Ehre des väterlichen Hauses ward bloßgestellt durch die soziale Stellung des Sohnes. Bis dahin war, wer hinausstrebte aus der Erwerbstätigkeit des Bürgertums, in den Dienst des Staates oder der Kirche gegangen. Die regsamsten Kräfte des Adels und der Mittelklassen hatte das Beamtentum und jene Zunftgelehrsamkeit des Katheders verschlungen, die kaum noch den Namen der akademischen Freiheit kannte. Höchstens dem bildenden Künstler ward gestattet seiner Kunst zu leben, im Gefolge eines Hofes ein Unterkommen zu suchen. Da wagte der Sohn des ehrenfesten Pastorenhauses, was vordem nur verdorbene Talente zu ihrem Unsegen versucht hatten, er wurde der freie Schriftsteller, der erste deutsche Literat – nicht in klarer Absicht, nein, wie die Menschen werden, wozu der Geist sie treibt, weil er nicht anders konnte, weil dieser freie Kopf den Zwang des Amtes nicht ertrug. Wie er also unserem Volke eine neue ungebundene Berufsklasse erschuf, so wandte er auch zuerst mit Bewußtsein sich an ein neues Publikum. Nimmermehr mochte er der unfreien Weise der Mehrzahl seiner Vorgänger folgen, die nur geziert für die Höfe, plump für das Volk zu schreiben wußten. Wohl dachte er groß und menschlich von den niederen Ständen, von »dem mit seinem Körper tätigen Teile des Volks, dem es nicht sowohl an Verstand als an Gelegenheit ihn zu zeigen fehlt«, er wünschte ihnen als Tröstung Gedichte zum Preise der »fröhlichen Armut«. Er selber indes suchte sich andere Leser. Wie er sich hinausgerettet aus dem Bannkreise der alten Stände, so sprach er auch zu einem gebildeten Publikum, das keine Stände kennt, und half also diesen Kern unseres Volks erziehen, der in der Literatur zuerst, dann im Staate zur entscheidenden Macht emporwachsen sollte.

Zum ersten Male sahen die Deutschen das ruhelose und doch nie würdelose Leben eines abenteuernden Schriftstellers. »Lessing,« sagt Goethe, »warf die persönliche Würde gern weg, weil er sich zutraute, sie jeden Augenblick wieder ergreifen und aufnehmen zu können.« Wie geistvoll hier der Herzenskündiger geurteilt, das bezeugt ein erst vor kurzem wieder aufgefundenes Epigramm aus Lessings Studienzeit; Goethe hat es nie gekannt, und doch stimmt es wörtlich mit seinem Urteile überein. Achtlos, übermütig wirft der Dichter in den ersten Zeilen seine Würde hin, um sie am Ende gefaßt wieder aufzunehmen – in den Versen:

Wie lange währt's, so bin ich hin
Und einer Nachwelt unter'n Füßen.
Was braucht sie, wen sie tritt, zu wissen,
Weiß ich nur, wer ich bin.

Worte, überaus bezeichnend für Lessings rasche, ungestüme Weise des Lebens – denn er vor allen besaß jenen gemeinsamen Charakterzug aller vorwartsstrebenden Geister, die Gleichgültigkeit gegen seine eigenen Werke, sobald sie vollendet waren – aber bezeichnender noch für die Meinung, welche unseres Volkes beste Männer von dem Werte des Nachruhms hegten. Ist den hellen Köpfen der Romanen der Nachruhm das eingestandene höchste Ziel des Schaffens, so leben die Deutschen des Glaubens: der Ruhm sei, wie die Liebe, wie jedes echteste und höchste Glück des Lebens, eine Gnade des Geschicks, die wir in Demut hinnehmen, doch nimmermehr erstreben sollen. Und noch immer hat unser Volk sich jener Männer mit der wärmsten Liebe erinnert, die am wenigsten davon redeten, daß sie ein solches Gedächtnis erhofften. – Einen leisen Schatten freilich hat diese harte, kampferfüllte Jugend in Lessings Wesen zurückgelassen. Jener prosaische, nüchterne Zug, der Lessing von späteren glücklicheren Dichtern in ähnlicher Weise unterscheidet, wie Friedrich der Große einem Cäsar, einem Alexander gegenübersteht, läßt sich nicht allein aus der Naturanlage des Dichters erklären. In den Tagen, wo das Gemüt jede Härte am schmerzlichsten empfindet, hat kein Frauenauge gütig über ihm gewaltet, allein die streng abweisende Mutter, die lieblos meisternde Schwester trat ihm entgegen. Die innige Zartheit der Empfindung aber, die ein hartes Geschick dem Jüngling verkümmerte – wie vermöchte der Mann sie je aus sich heraus zu entfalten?

Also hinausgetreten aus den altgewohnten Kreisen des bürgerlichen Lebens hat er mit unverwüstlichem Mut seinen Kampf geführt wider die falschen Götzen der literarischen Welt. Die Freude am Kampfe, am Widerspruch – vergeblich hat man es leugnen wollen – blieb die herrschende Leidenschaft in ihm, der von früh auf liebte, »Rettungen« verkannter Charaktere zu schreiben, der das Bekenntnis streitlustigen Stolzes niederlegte in dem Worte: »auf wen Alle losschlagen, der hat vor mir Frieden.« Wie die Schwäche und zugleich die Größe der modernen Kulturvölker gutenteils darin gelegen ist, daß sie nicht vermögen, wieder ganz jung zu werden, so offenbarte auch die unreife deutsche Dichtung jener Tage alle Mängel der Kindheit und des Greisenalters zugleich. Eine Weltliteratur mag man sie nennen, wenn das widerstandlose Aufnehmen fremdländischer Ideale und Formen zu solchem Namen berechtigt. Und doch war die in festen überlieferten Formen erstarrte Dichtung nicht einmal der korrekten Redeweise mächtig. Von beiden Schwächen hat Lessing unsere Dichtung geheilt. Man erfaßt nur eine Seite seines kritischen Wirkens, wenn man in ihm lediglich den trotzigen Streiter wider die régles du bon goût erblickt, wenn man ihm nicht folgt in jene ersten Jahre, da er mit der peinlichen Strenge des Pädagogen die kläglichen Übersetzungsfehler armseliger Gesellen rügte. Kein Wunder aber, daß jener Kampf mit den Regeln der französischen Ästhetik allein noch haftet in dem Gedächtnis der Nachwelt. Denn das erste dauernde seiner Werke schuf er erst, da er in den Literaturbriefen auf die zuversichtliche Behauptung: »Niemand wird leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe« – seinen kecken Schlachtruf erschallen ließ: »ich bin dieser Niemand.« Allerdings der Zorn des tiefempörten nationalen Stolzes redet aus dieser Polemik. Wider den Dünkel der Kritik lehnt der Kritiker sich auf und hält ihr das Recht des Künstlers entgegen, der sich selber seine Bahnen bricht. Doch schärfer noch befehdet der Deutsche die Anmaßung des fremden Volkes, das jeden anderen Volksgeist in die Enge seiner konventionellen Empfindungen zu bannen gedachte. Wer hört nicht das schadenfrohe Gelächter des nationalen Selbstgefühles aus jenen erbarmungslosen Zeilen, die der untrüglichen französischen Ästhetik beweisen, daß sie die Regeln des Aristoteles nicht verstanden, die Voltaires Dramatik enthüllen, wie sie ist – gesucht, gemacht, der Natur entfremdet, »so steif, als wäre jedes Glied an einen besonderen Klotz geschmiedet?« Mochten die einen im derben Liede den alten Fritz preisen, der sich auf die Hosen klopft und die Franzosen laufen läßt, die andern Beifall rufen, wenn der deutsche Kritiker Voltaires Blöße zeigt: Beide feierten Siege eines wieder erwachenden Volkstums.

Wucht und Nachdruck erhielten jene kritischen Schläge erst durch Lessings Dichtertaten. Auch er hatte sich geübt in den überlieferten Formen und Empfindungen anakreontischer Dichtung, und lange Zeit lockte seinen Scharfsinn, der zu spielen liebte, das Grenzgebiet zwischen Dichtung und Prosa: Fabel und Sinnspruch. Doch zur rechten Geltung gelangte das ihm eigene schöne Gleichgewicht ordnenden Verstandes und schöpferischer Phantasie in dem Drama. Das Gleichgewicht, sage ich. Denn jene noch heute oft nachgesprochene romantische Torheit, die dem Dichter der Minna von Barnhelm die echte poetische Kraft absprechen will, ist längst im voraus widerlegt durch den Denker, den Lessing selber als den größten der Ästhetiker verehrte. Aristoteles sagt: zum Dichten gehört ein Genius, ein kräftig und ebenmäßig geschaffener Geist (εύφνής), der von Natur schon das Schöne und Wahre findet – oder auch ein Geist von erregbarer, enthusiastischer Phantasie (μανχός). Wenn in Lessings Seele der lichte Verstand unleugbar vorherrschte, dieser ekstatische Rausch seinem nüchternen Wesen fremd blieb, so besaß er dafür jenes Höhere: die harmonische Kraft des Genius, die nichts unternimmt, was sie nicht ganz vollbringen kann. Wie er schon als Student an der wirklichen Bühne sich geschult, ja seine Rollen gedichtet hatte für bestimmte Schauspieler aus der Truppe der Neuberin, die uns als die Vorläuferin der modernen Schauspielkunst gilt: so kamen seine dramatischen Anschauungen zur Reife im Verkehr mit jener Hamburger Bühne, die heute als die erste Erscheinung des neuen deutschen Schauspiels bezeichnet wird. Und wie er damals schon unter den Franzosen sich die natürlichere Schule Marivaux' zum Muster wählte, so führte er die germanische Dichtung auf den geraden Weg zurück, brachte ihr die Naturwahrheit, die freie Bewegung des Shakespearischen Dramas. Aber ein Reformer – wie der maßvollen Natur des Künstlers ziemt – nicht ein Revolutionär – wie sollte er sich vermessen, auf unsere verwandelte Bühne den ungebundenen Szenenwechsel des altenglischen Schauspiels einzuführen? Der so viele falsche Götzen gestürzt, wie sollte er sich selber Shakespeare als neuen Götzen setzen – was ihm die Gedankenlosen noch heute nachsagen? In der Charakterzeichnung allerdings folgte er Shakespeares Spuren; doch der Bau seiner Dramen wich nur wenig ab von der Weise der Franzosen, die mit ihrer klaren Verstandesschärfe dem Gegner doch sehr nahe standen und in ihm einen billigen Richter fanden. Sogar die Rollen, welche das französische Schauspiel uns überliefert, hat er sorglich beibehalten, nur daß jetzt statt des Liebhabers, des edlen Vaters, der Buhlerin die Tellheim, Odvardo, Orsina erschienen, lebendige Menschen mit dem unendlichen Recht der Persönlichkeit. Auch die dramatischen Probleme, die er sich stellt, sind die höchsten nicht; gewaltigere Kämpfe von reicherem tragischen Gehalt sind seitdem über unsere Bretter gegangen. Doch in seinem engen Kreise schaltet er mit einer dialektischen Kunst und einem Reichtum der Erfindung, die allen Zeiten bewundernswert bleiben werden. Er reißt seine Charaktere in eine leidenschaftliche dramatische Bewegung hinein, die keiner seiner Nachfolger übertroffen hat.

Wenn alle diese gemeinsamen Charakterzüge der Dramen Lessings die Bühne umgestalteten, wie hat doch jedes einzelne davon noch seinen besonderen Einfluß geübt auf unser öffentliches Leben! Schon Sara Sampson, dies erste bürgerliche Trauerspiel der Deutschen, konnte nur gedichtet werden in einem Volke, dessen Mittelstände sich erhoben, und wirkte belebend zurück auf das Selbstgefühl dieser Klasse. Welch ein Griff aber mitten hinein in das nationale Leben der Gegenwart, als Lessing sich des Stiefkindes unserer Dichter, des Lustspiels, erbarmte und in Minna von Barnhelm – mit Goethe zu reden – ein Werk schuf von spezifisch nationalem Gehalt! Hier klingt etwas wieder von dem Lärm des schlesischen Winterlagers, von dem Trommelwirbel der Grenadiere des alten Dessauers, den der Knabe schon vor den Fenstern vor St. Afra gehört. Wie lange hatten unsere Dichter, wenn sie die Form suchten für den unfertigen, nach Gestaltung ringenden Gehalt ihrer Seele, sich hinweg geflüchtet aus der armen Gegenwart und die Heroen einer Vergangenheit, die so nie gewesen ist, »auf des Sittenspruchs geborgte Stelzen steigen« lassen! Jetzt endlich wagte ein Dichter das Gemüt der Gegenwart dramatisch zu verkörpern und gab ein Werk, volkstümlich sogar in seinen Schwächen, in der Breite der komischen Szenen, und eben darum ein Werk für alle Zeiten. Denn wie das Erzbild in freier Luft im Lauf der Jahre sich verschönt, so haben manche veraltete Wendungen in diesem Lustspiele für uns Nachlebende einen neuen schalkhaften Reiz gewonnen. Als ein Gott aus der Maschine tritt in dieses Drama noch der große König hinein, mit seinem Herrscherwort die erregten Gemüter versöhnend.

Wie anders schon der politische Sinn in Emilia Galotti! Nicht allein das Kunstwerk erquickt uns, das, nach Goethe, »gleich der heiligen Insel Delos aus der Gottsched-Weiße-Gellertschen Wasserfluth emporstieg, um eine kreißende Göttin barmherzig aufzunehmen.« Keiner unter uns, der nicht den sittlichen Zorn wider höfische Tyrannei und Verderbnis aus diesem Drama vernommen hätte. Und doch, wer hätte vor der Katastrophe der Emilia nicht empfunden, daß der Sinn unseres Volkes seitdem herzhafter und stolzer geworden, daß auch Lessing von der Schüchternheit einer unfreien Zeit sich nicht völlig befreien konnte? Ein Knabe hat mir einst gesagt: aber warum schlägt der Odoardo nicht lieber den Prinzen tot? – und ich fürchte nicht, daß man dies Wort belächeln werde. Lernen wir erst wieder jene Bescheidenheit Lessings, der vor einem Kunstwerke seiner Empfindung nicht traute, »wenn sie von Niemandem getheilt würde« fassen wir den Mut, unbekümmert um literarhistorische Pedanten, zu bekennen, was wir fühlen, und sagen wir gerad heraus: wir verstehen diesen Mann nicht mehr, der in gerechter Sache die mißhandelte, freilich in ihrem Herzen nicht mehr schuldlose Tochter opfert, statt den frechen Dränger zu töten. Angeekelt von dem falschen Pathos der französischen Tragödie strebte Lessing vor allem die Leidenschaft in seinen Charakteren zu erregen, im schärfsten Gegensätze zu Corneille wies er die Bewunderung aus dem Drama hinweg, und wenn es ihm unfehlbar gelingt, unser Mitleid für seine Helden zu erwecken, so bemerkt er nicht immer, daß unser Mitgefühl mit einem leidenschaftlich bewegten Menschen auch ein achselzuckendes Mitleid sein kann. Aber dürfen wir ihm eine Unsicherheit des Gefühles nicht vorwerfen, die einem staatlosen Volke natürlich war, so bleibt ihm allein der Ruhm einer Kühnheit, die unsere freiere Zeit kaum mehr zu würdigen weiß. Welchen Schrecken mußte es in ängstliche Gemüter werfen, daß ein Dichter die sittliche Fäulnis der Mächtigen auf der Bühne erscheinen ließ – wenige Jahre nachdem ein adliges Haus seiner Heimat ein prunkendes Hochzeitsfest gehalten, weil seine Tochter zur Maitresse des Landesherrn erhoben war! Wenn er absichtlich vermied, seine Fabel mit dem staatlichen Leben zu verknüpfen, wenn er nur durch das persönliche Schicksal seiner Heldin die Hörer erschüttern, nur »eine bürgerliche Virginia« schaffen wollte, so hat seitdem die Geschichte seinem Drama einen großen Hintergrund gegeben. Wer hört das Schlußwort des Prinzen, jenen Ausbruch ohnmächtiger leichtfertiger Reue, und denkt dabei nicht an das gräßliche après nous le déluge? Wer sieht nicht hinter den Gestalten Marinellis und der Orsina die Schreckensmänner der Revolution emporsteigen?

Und was war, blicken wir zurück, mit diesem kritischen und dichterischen Wirken erreicht? Gebrochen war der Aberglaube an fremde Weisheit, den Deutschen der Mut zurückgegeben, in der Kunst sich eigene Pfade zu suchen. Selbständige Werke der Dichtung waren unserem Volke geschenkt, welche aller Glorie der französischen Dramatik vollauf die Wage hielten. Das Kunstverständnis endlich unseres Volkes ward geläutert, die Reinheit der Gattungen in der Kunst wiederhergestellt, der Vermischung von Dichtung und bildender Kunst in der beschreibenden Poesie, der Vermischung von Poesie und Prosa in dem Lehrgedichte ein Ziel gesetzt. Und noch der Lebende sollte die Früchte seines Schaffens schauen; denn nie wieder wagte unter uns ein Mann von Geist ein Lehrgedicht zu schreiben, und sah Lessing auf die jungen Stürmer und Dränger, so hörte er die Deutschen mit Stolz, ja mit Übermut wegwerfend reden von den einst vergötterten Franzosen.

Auch durch die beherrschende Vielseitigkeit seiner Bildung ist Lessing ein Bahnbrecher der gegenwärtigen Gesittung geworden. Der den theologischen Beruf entschieden von sich gewiesen, sollte der Theologie seit Luther die erste nachhaltige Umbildung bringen. Die Freiheit, die wir Luther dankten, die Begründung des Glaubens auf die Heilige Schrift, war selber eine neue Knechtschaft geworden. Lessing aber erkannte in den Schriften des neuen Bundes den Beleg, nicht die Quelle des christlichen Glaubens und leitete also auf den Weg, den die wissenschaftliche Evangelienkritik der neuen Zeit weiter verfolgt hat. Nicht völlig neu war diese Richtung; freute sich doch selbst jener harmlose Hamburger Naturdichter Brockes, derselbe, der neun Bände lang das irdische Vergnügen in Gott besungen, im stillen an den geheimgehaltenen Streitschriften des Reimarus wider den Offenbarungsglauben. Neu aber war der Mut, herauszusprechen, was Taufende meinten, Schmach und Unglimpf zu ertragen von den »kleinen Päpsten«, denen Lessing zuerst das tausendmal nachgesprochene Wort entgegenwarf: lieber einen großen Papst als diese vielen kleinen – jener Mut, der am schneidigsten aus der »ritterlichen Absage« an Goeze spricht: »schreiben Sie, Herr Pastor, und lassen Sie schreiben, soviel das Zeug halten will; ich schreibe auch. Wenn ich Ihnen in dem geringsten Dinge, was mich und meinen Ungenannten angeht, Recht gebe, wo Sie nicht Recht haben, dann kann ich die Feder nicht mehr rühren!« Aber vergleichen wir selbst die heftigsten dieser Streitschriften mit den gleichzeitigen Angriffen der Franzosen auf die Kirche, so nehmen wir mit Erstaunen wahr, daß der deutsche Denker in der Sache die Romanen an Verwegenheit überbietet, in der Form hingegen jenes edle Maß einhält, welches, eine schöne Frucht deutscher Duldung, unsere freien Geister davor bewahrt, Freigeister zu werden in dem von Lessing gebrandmarkten Sinne.

Und läßt sich nicht aus diesem maßvollen Wesen des Denkers das Rätsel erklären: warum doch er, der hinwegschaute über alle geoffenbarten Religionen, für den alten Gedanken einer Union der christlichen Kirchen sich erwärmen konnte? Es ist ein großes Ding, die Weissagung des Genius; nicht heute, nicht morgen, nicht so erfüllt sie sich, wie der am Buchstaben haftende Deuter sie auslegt. Jene Union, belächelt als ein Unding von denen, die an der Oberfläche der Dinge verweilen – alltäglich, stündlich schreitet sie vorwärts, seit die Bildung des Protestantismus, die Ideen Lessings beginnen das Eigentum unseres ganzen Volkes zu werden. Auf eine solche Union, die alle kirchlichen Schranken überwunden hat, auf ein solches »neues Evangelium« deutet das reifste Werk dieser theologische» Kämpfe Lessings, die Erziehung des Menschengeschlechts. Seine ersten Schriften liegen noch jenseits der Grenze dessen, was modernen Menschen lesbar scheint; mit dieser tritt er bereits mitten hinein in die neue Wissenschaft. Denn lösen wir ab, was uns befremdet, die parabolische Hülle, und wir schauen als Kern: eine Philosophie der Geschichte; wir hören die Lehre von dem Fortschreiten der Menschheit und von dem Gott, der die ganze Welt beseelt, wir finden jenen historischen Sinn der Gegenwart, der in den positiven Religionen »den Gang des menschlichen Verstandes« erkennt und seinen stolz-demütigen Ausdruck erhält in Lessings Worten: »Gott hätte seine Hand bei Allem im Spiele, nur bei unsern Irrthümern nicht?« Wohl mochte er empfinden, daß diesem kühnsten Fluge seines Geistes die Zeitgenossen nicht folgen konnten; darum bat er: lasset mich stehen und staunen, wo ich stehe und staune.

Auch die Dichtung, welche diesen Kämpfen entsproß, ragt hinaus über das Verständnis seiner, und soll ich nicht auch sagen: – unserer Zeit. Denn wohl in tausend Herzen lebt jenes Evangelium der Duldung Nathans des Weisen. Aber vor diesem Werke am schmerzlichsten empfinden wir, daß die besten Männer unseres Volkes Helden des Geistes waren; hier gerade tut sich vor uns auf eine unselige Kluft zwischen den Gedanken unseres Volkes und seinem politischen Zustand. Erst wenn die Ideen des Nathan in unserer Gesetzgebung sich vollständig verkörpert haben, dann erst dürfen wir uns rühmen, in einer gesitteten Zeit zu leben. Wie man auch denken möge über den Inhalt von Lessings theologischem Systeme – in einem mindestens ist er schon jetzt der anerkannte Lehrer unseres ganzen Volkes: er hat die sittliche Gesinnung vorgezeichnet, daraus alle wissenschaftliche Forschung entspringen soll. Er sagte: »ich weiß nicht, ob es Pflicht ist, Glück und Leben der Wahrheit zu opfern. Aber das weiß ich, ist Pflicht, wenn man Wahrheit lehren will, sie ganz oder gar nicht zu lehren.« Zum Gemeinplatze geworden sind seine Aussprüche über das Recht der freien Forschung, und noch hat keiner die Kühnheit jenes Wortes überboten: »es ist nicht wahr, daß Speculationen über Gott und göttliche Dinge der bürgerlichen Gesellschaft je nachteilig geworden; nicht die Spekulationen – der Unsinn, die Tyrannei ihnen zu steuern.«

Und alle diese Werke in einer durchsichtigen Form, daraus überall das leuchtende Auge des Denkers hervorblickt. Komisch beinahe, wie in seinen ersten Werken das leidenschaftlich bewegte Herz ankämpft gegen die Steifheit des überlieferten Verses. Wie anders der der ungebundenen Rede aufs nächste verwandte Jambus des Nathan und jene Prosa, die gar nicht anders kann als die augenblickliche Stimmung des Schreibers getreulich widerspiegeln! Die augenblickliche Stimmung, sage ich, denn wenn so häufig geklagt wird über die Widersprüche in Lessings Schriften, über die Schwierigkeit, aus seinen Briefen seine Herzensmeinung herauszulesen, so kann ich in dieser Klage nur den sichersten Beweis für die Wahrhaftigkeit, die Unmittelbarkeit seiner Schreibart finden. Wie ihm zu Mute war, hat er geschrieben, jede Regung der Neckerei, des Widerspruchsgeistes, jeden Einfall eines halbfertigen Gedankenganges rücksichtslos herausgesprochen, jeder Übertreibung übermütig eine andere entgegengestellt. Und eben weil ihn beim Schreiben nie der Gedanke störte, als könne je die Nachwelt über seinen Schriften grübeln, eben darum ist es so leicht, den einen ganzen Menschen aus allen seinen Widersprüchen herauszufinden.

Fragen wir endlich, wie Lessing sich stellte zu dem größten Gegenstande männlicher Arbeit, zum Staate, so ließe sich wohl dawider fragen: ist es nicht genug an den politischen Taten, die ich soeben geschildert? Waren es nicht politische Taten, als er die Schranken der bestehenden Stände durchbrach, als er ein Erzieher wurde des modernen Bürgertums, als er unserem Volke ein starkes Selbstgefühl zurückgab gegenüber der Kunst der Fremden und einer Nation gedrückter Kleinbürger den unendlichen Gesichtskreis der Humanität erschloß? Gewiß, nur jene sich liberal dünkenden Pedanten, welche alles staatliche Leben allein in bestimmten Verfassungsformen enthalten glauben, werden hierauf mit einem kurzen Nein antworten. Aber auch zu einem herzhaften Ja werden sich nur wenige zwingen. Denn gelernt haben wir endlich, jeden Mann zu fragen, ob er ein Vaterland habe, ob er das Wohl und Weh des Geheimwesens als seine Lust und sein Leid empfinde? Hier aber erscheint modernen Augen eine Lücke in Lessings Bildung. Wer stimmt ihm nicht zu, wenn er die Freunde Ramler und Gleim tadelt, daß in ihren preußischen Kriegsliedern der Patriot den Dichter überschreie? Wer entschuldigt es nicht, daß dem Mitlebenden der welthistorische Sinn des Siebenjährigen Krieges verschlossen blieb, und er darin allein den großen Genius des Königs zu bewundern fand? Und doch, stellet eine Ode Ramlers oder das Lied des preußischen Grenadiers: »auf einer Trommel saß der Held« neben jenen geistsprühenden Brief Lessings, der in solchem Patriotismus nur »eine heroische Schwachheit« sah – und ihr werdet gestehen, daß auf diesem Gebiete Lessing jene ärmeren Geister um ihren Reichtum beneiden konnte: sie waren reicher um die große Empfindung der Vaterlandsliebe.

Selbst in Tagen, die des freien politischen Lebens entbehren, entzieht sich keiner gänzlich der Einwirkung des Staates. So läßt sich auch von Lessing manches Wort und manche Tat aufweisen zum Belege, daß er die Unfreiheit, die Kleinheit des deutschen Staatslebens empfand: wie er gleich seinem Geistesverwandten Thomasius hinausstürmte aus der Zahmheit und Enge des kursächsischen Wesens, wie er mit überlegenem Lächeln auf den Gegensatz des Sachsentums und Preußentums hinabsah, wie er das engherzige Mäcenatentum des Pfälzer Kurfürsten hochsinnig zurückwies, wie auch ihm die Klage sich entrang: wann werde Deutschland je einem Beherrscher gehorchen? Aber blicken wir von solchen vereinzelten Zügen auf jene Freiheitstragödie Henzi, die von blinden Verehrern als ein ganz modernes Werk gepriesen wird, so erkennen wir sofort, wie ganz anders als die Gegenwart Lessings Tage sich zu den Kämpfen des Staatslebens stellten. Welche Armut der Motive hier bei ihm, der uns überall sonst durch den Reichtum poetischen Details entzückt! Wie künstlich wird doch die lebendige Fülle des Parteiwesens zugespitzt zu dem kahlen abstrakten Gegensatze von Tyrannei und Freiheit! Nicht bloß die Jugend des Dichters ist schuld an solcher Armut, die Gesinnung eines Bürgertums vielmehr spiegelt sich darin wider, das die werktätige Teilnahme am Staate noch nicht kannte und darum von dem Inhalt politischer Kämpfe noch keine Anschauung besaß. Offenbar hat Lessings Denken die politischen Fragen nur berührt, an wenigen Stellen berührt. Den Publizisten von Gewerbe rief er sogar, seinem praktischen Wesen getreu, die Mahnung zu, solche Dinge zu überlassen »dem Staatsmanne und vornehmlich demjenigen, den die Natur zum Weltweisen machen wollte, weil sie ihn zum Vorbilde der Könige machte.«

Trotzdem sind jene hingeworfenen politischen Gedanken Lessings keineswegs überlebt, nicht einmal erledigt. Denn wie man von der Humanität der Deutschen des achtzehnten Jahrhunderts gesagt hat, sie sei herabgestiegen vom Himmel auf die Erde, so hat auch Lessing, der die alltäglichen Pflichten des Staates übersah, einige der höchsten Probleme der Staatskunst beleuchtet, die erst eine ferne Zukunft lösen wird. Die Gesittung der Gegenwart steht zugleich über und unter den Ideen der Humanität unserer Väter. Sie blickt hernieder auf ein Volk von Privatmenschen, das den Patriotismus nicht kannte, aber demütig schaut sie empor zu jenen Weisen, die, menschlichen Sinnes voll, nach der Grenze fragten, »wo Patriotismus Tugend zu sein aufhört«. Mit der traurigen Wirklichkeit, die Lessing umgab, mit dem Elend der Notstaaten, darin er lebte, entschuldigen wir es, daß auch ihm, wie allen deutschen Denkern seiner Zeit, sehr schwer ward, die Notwendigkeit des Staates zu verstehen, daß auch ihn jene Frage beschäftigt hat, die ein Volk mächtiger und glücklicher Bürger nie lange betrachten mag, die Frage: ist die Abschaffung des Staates möglich oder zu wünschen? Desgleichen in die überwundene Epoche vorherrschenden Privatlebens verweisen wir seine Lehre, daß der Staat, obwohl er erst »den Anbau der Vernunft möglich mache«, doch nur ein Mittel sei für die Bildung des einzelnen Menschen. Aber weit hinaus über den Gesichtskreis der Nachwelt selber schweift er wieder, wenn er in den Freimaurergesprächen das tiefsinnige Problem durchdenkt: wie lassen sich die Übel der Beschränktheit und der Härte heben, die das Bestehen mehrerer Staaten notwendig hervorruft? Wie ist eine Verbindung möglich aller guten Menschen ohne Ansehen des Standes, des Landes und des Glaubens zum Zwecke rein menschlicher Gesittung? In diesen Worten, fürwahr, eröffnet sich die Aussicht auf einen menschlichen Verkehr der Völkergesellschaft, den erst ferne Tage schauen werden. Wie aber? Steht nicht dies Weltbürgertum ein Todfeind gegenüber dem ersten und berechtigtsten Streben der Gegenwart, dem Drange nach nationaler Staatenbildung? Ich denke, nein. So tiefsinnig, so überschwenglich reich ist das Leben der Staaten, daß niemals eine Geistesrichtung allein darin herrschen kann. Noch heute leben sie, jene Gedanken von dem Weltbürgertume, und eben jene dürfen sich heute Lessings getreueste Diener nennen, die – seinem Geiste, nicht dem Klange seiner Rede folgend – am rührigsten für den nationalen Gedanken wirken. Wenn erst von den großen Kulturvölkern jedes zerrissene sich geeint, jedes geknechtete aus seinem Volksgeiste heraus seinen Staat sich gestaltet hat, wenn damit verschwunden sind die größten, die gefährlichsten Anlässe des Haders, die bisher Staat mit Staat verfeindet: dann erst wird jener gesicherte Verkehr der Menschen, jenes Weltbürgertum sich vollenden in einem tieferen, reicheren Sinne, als Lessing meinte, und allüberall wird man reden von seinem Sehergeiste. Dann auch wird die Welt den Kern der Wahrheit herausfinden aus einem Worte, das in dem schwer ringenden Menschengeschlechte niemals ganz sich verwirklichen darf – aus dem himmlisch milden: was Blut kostet, ist gewiß kein Blut wert.

Und Lessing ahnte, daß Zeiten harten, aufreibenden staatlichen Kampfes unserem Volke kommen würden. Das bezeugt sein gehaltvolles Urteil über die Geschichte. Wie sicher begreift er das der Kunst verwandte Wesen der Geschichtschreibung, wenn er die Bildung des »Gelehrten und des schönen Geistes zugleich« von dem Historiker fordert. Und sollte wirklich nur eine skeptische Laune, und nicht vielmehr eine Ahnung der politischen Bedeutung historischer Wissenschaft sich aussprechen in seinem vielgescholtenen Paradoxon: im Grunde könne ein jeder nur der Geschichtschreiber seiner eigenen Zeit sein –? So scheinen ihm alle Vorteile umfassender archivalischer Forschung nichtig gegen die Vorzüge des zeitgenössischen Geschichtschreibers, daß er seinen Menschen bis in Herz und Nieren blicken, daß er seine Leser durch die Erzählung von ihrer eigenen Schuld und Strafe im Innersten ergreifen und – vor allem – daß er eine Macht werden kann unter den Lebenden.

Soll ich noch schildern, wie wenig die Mitlebenden ihm dankten, wie schwer das Geschick bis zum Ende ihn heimsuchte? Das widrige Sprichwort, das in jenen weichlichen Tagen von Mund zu Munde ging, das Wort: »geteilter Schmerz ist halber Schmerz« hatte der Jüngling schon mit der stolzen Gegenrede abgewiesen:

Was nutzt mir's, daß ein Freund mit mir gefällig weine?
Nichts, als daß ich in ihm mir Zwiefach elend scheine.

Einsam ist er durch das Leben geschritten, und sein alle Weichheit des Gefühls mißachtender Sinn neigte sich zu dem Grundsatze antiker Sittlichkeit, der Weiber und Sklaven von den höchsten Forderungen des Sittengesetzes ausschloß. Dann hat ihm der klare und heitere Geist seiner Eva König jene treue und tiefe Neigung erweckt, die mit ihrem verständigen, derb bürgerlichen Wesen in den Herzensgeschichten der Dichter ihresgleichen nicht findet. Ein Jahr einer glücklichen Ehe lehrte ihn größer von den Frauen zu denken; dann am Abend seines Lebens entrang sich ihm jene schreckliche Klage: »meine Frau ist tot, und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Es ist mir lieb, daß mir viele solche Erfahrungen nicht mehr übrig sein können, und ich bin ganz leicht.« Wenn er aber aus dem tiefen Schmerze hinausblickte in sein Haus und in die Welt der Kunst, so hat er sicher empfunden, daß seine Saat aufging. Die Kinder seines Weibes hörte er verkehren in dem Tone schlichter offener Herzlichkeit, er sah eine segensreiche Verwandlung des häuslichen Lebens und durfte sich sagen, daß er selber ein Großes daran gewirkt. Und in der Kunst, deren Fesseln er gebrochen? Da stürmte Götz von Berlichingen über die Bretter, und die Jünglinge klagten in überströmender Empfindung um die Leiden des jungen Werther. Mochte der Maßvolle der regellosen Weise des jungen Geschlechts zürnen und spotten über die weichen Gefühle, die seinen hellenischen Sinn nie berührt, und die Rechte der Kultur verteidigen wider Rousseaus Naturschwärmerei: – mit freudigem Verständnis hat er doch den Genius begrüßt, als Goethe jene grandiose Fabel besang, die zu ewig neuen Liedern den Sinn der Sterblichen begeistern wird, die Fabel von dem Lichtbringer Prometheus.

Um das Todesjahr Lessings ging von der Einsiedelei in Sanssouci die denkwürdige Schrift aus »über den Zustand der deutschen Literatur«. Zu ihr möchte ich alle jene führen, die noch immer das Tendenzmärchen wiederholen, dem großen König habe das Herz gefehlt für unser Volk. Ist es nicht genug an dem einen Fluche der Deutschen, der noch heute gewaltig fortwirkt in allen Zweigen unseres Volkslebens bis hinab in die Sprache und die traulichen Umgangsformen des Hauses – daß Luther der einen Hälfte der Nation der gepriesene Erretter, der anderen ein Greuel ist? Noch fern ist die Zeit – doch auch sie wird erscheinen – wo alles, was deutsche Zunge redet, den deutschen Helden in Luther begrüßen wird. Schon jetzt aber ist die Stunde gekommen, den anderen Mann, der nächst Luther am gewaltigsten für die neueren Deutschen gewirkt, von den Schmähungen zu entlasten, womit blinde Parteiwut ihn bedeckt hat. Nicht die preußische Neigung des heutigen Liberalismus hat unserem großen König den Ruhm eines nationalen Helden angedichtet; kein anderer als Goethe sprach das gute Wort: Friedrich der Große erst habe durch seine Taten unserem Volksleben jenen großen heroischen und nationalen Inhalt gegeben, den Lessing in schöne Formen bildete. Ihn, der also den Stoff geboten für die neu erstandene Dichtung – hören wir ihn reden über die Kunst der Deutschen! Klagen, bittere Klagen über die form- und zuchtlose Sprache, Klagen, daß unsere Sprache noch nicht in die Schnürbrust eines Wörterbuchs der Akademie eingezwängt sei, daß die Dramen Shakespeares, »würdig der Wilden von Kanada«, und die »abscheulichen Plattheiten« des Götz von Berlichingen das rohe Volk erfreuen! Wir erstaunen über diesen unerhörten Beweis der französischen Bildung des Königs und seiner gänzlichen Unkenntnis der deutschen Dichtung; doch lesen wir weiter in derselben Schrift, so redet uns mächtig zum Herzen die deutsche Empfindung desselben Mannes, der bewegte Ausdruck des Zornes und der Scham über solche Armut der Kunst seines Volks, das frohe Aussprechen endlich einer großen nationalen Hoffnung. Nicht an Geist gebreche es den Deutschen; schon sei der Ehrgeiz der Nation erwacht, »und vielleicht werden, die zuletzt kommen, alle Vorhergehenden übertreffen. Ich bin wie Moses,« ruft der König am Ende, »ich sehe das gelobte Land aus der Ferne, doch ich bin zu alt, um es je zu betreten.«

Nun halte man neben diese Worte des Königs Lessings berufene Klage: der Charakter der Deutschen sei, keinen eigenen Charakter haben zu wollen – in wie seltsamem Irrtum verfingen sich doch die beiden! Der König erwartet den Glanz unserer Dichtung von den französischen Regeln, und siehe, er kam durch die Freiheit. Der König meint in der Ferne das gelobte Land zu sehen, und siehe, er selbst stand mitten darin. Desgleichen der Dichter, der so schmerzlich fragte nach dem Nationalcharakter der Deutschen – hätte er lesen können in der Seele jener preußischen Soldaten, die bei Roßbach die Franzosen warfen und bei Leuthen in der Winternacht das »Herr Gott Dich loben wir« sangen, gewiß, er hätte begriffen: die lebendige Staatsgesinnung, die er suchte, sehr unreif war sie, doch sie war im Werden. So standen die beiden im Nebel der Nacht: der König, der einen Lessing suchte für unsere Kunst, und der Dichter, einen Friedrich suchend für unseren Staat. Inzwischen ist es Tag geworden, die Nebel sind gefallen, und wir sehen die beiden dicht nebeneinander auf demselben Wege: den Künstler, der unserer Dichtung die Bahn gebrochen, und den Fürsten, mit dem das moderne Staatsleben der Deutschen beginnt.

Und wäre es denn ein Zufall, daß achtzig Jahre nach Lessings Tode gerade sein Bildnis den Anstoß gab zu einem heilsamen Umschwunge unserer Bildnerkunst? Versuchen wir uns zu versenken in die Seele des Künstlers, dem jene Aufgabe ward. Sollte er Lessing bilden in der Toga – ihn, der das gespreizte Römertum der Franzosen erbarmungslos verspottete? Oder in dem beliebten Theatermantel – ihn, der im Leben jeden falschen Schein verschmähte? Da blieb kein Ausweg: kraftvoll, schlicht und wahrhaft wie er selber – oder gar nicht mußte Lessings Bild erscheinen. Und der glückliche Entschluß einmal gefaßt, hat unserm Rietschel jedes Glück des Genius gelächelt, aus jeder Not ward ihm eine Tugend. Der steife Haarbeutel ward ihm ein Anlaß, die vollendeten Linien des wallenden Haares zu zeichnen, und die Enge des kurzen Beinkleides erlaubte ihm, die gedrungene Kraft der Glieder zu zeigen. So sehen wir Lessings Bildnis vor uns – die erste Bildsäule der Deutschen, darin der entschlossene wahrhaftige Realismus der Gegenwart sich in höchster Ehrlichkeit offenbart – schmucklos und stark, gehobenen Hauptes, und diese trotzigen Lippen scheinen zu reden:

was braucht die Nachwelt, wen sie tritt, zu wissen,
weiß ich nur, wer ich bin


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