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Im Nebel

I

Auf der linken Seite des Newskij-Prospekts, in den Straßen, deren Benennungen oft eine klare Vorstellung von den sie bewohnenden Menschen erwecken (auf der rechten Seite sind ganz andere Benennungen und Bewohner), erheben sich gelbe vielstöckige Häuser, die weder alt noch neu sind und von einem Architekten entworfen zu sein scheinen, der ewig Kopfschmerzen hatte.

In diesen Häusern, die gar keinen äußeren Schmuck und kleine, von der Feuchtigkeit zerfressene Fenster haben, sind niedere Torwege durchgehauen, die in öde Höfe führen. Die Höfe gemahnen an Brunnen, aus denen das Wasser ausgelaufen ist.

Die Bevölkerung dieser Häuser ist nur dem Paßregistrator allein gut bekannt, und das ist sein Geheimnis; doch jeder andere Mensch, und wenn er auch noch so aufmerksam die Fenster studiert, an denen die Vorhänge einander gleichen und überall dieselben Milchflaschen stehen und in Papier eingehüllte Würste hängen, kann unmöglich bestimmen, womit sich die Menschen hinter diesen Fenstern beschäftigen und ob sie überhaupt Menschen sind.

Das dachte sich auch Proschka Tscheremissow, alle Hauseingänge im Hofe nach der Wohnung Nr. 113 absuchend.

Nachdem Proschka eine Zeitlang vergebens gesucht hatte, rückte er seinen Zwicker zurecht, trat in die Mitte des Hofes, warf den Kopf in den Nacken und musterte die abgebröckelten Mauern mit allen fünf Fensterreihen, deren Eintönigkeit nur von einer zum Trocknen hinausgesteckten Strohmatratze gestört wurde.

Proschka sah dies alles undeutlich und verschwommen, und der Hof erschien ihm ungewöhnlich gelb, weil über den Dächern und Kaminen ein dichter, stickiger Nebel vom Meere her nach Norden jagte.

Dieser Nebel ätzte die Augen, drang unter den Mantel und trieb den Schmutz auf den Steinen auseinander, auf die Proschkas Schuhe mit einem schmatzenden Geräusch auftraten.

»Den Teufel kann man hier finden!« sagte endlich Proschka. Er steckte die Hände in die Taschen und bemerkte plötzlich in seiner nächsten Nähe einen Hausknecht in kurzem Schafpelz.

»Nummer einhundertdreizehn – im zweiten Tore rechts«, sagte der Hausknecht, einen vorbeilaufenden kleinen Hund anspuckend, und blickte plötzlich Proschka gerade in die Augen. Dieser wandte sich gleich um und ging auf das angegebene Ziel los. Im Gehen brummte er: »Alles wissen diese Hausknechte, da soll sich einer vor ihnen verstecken! Kein Mensch kann sich verstecken!«

Auf der Treppe, die zur Wohnung Nr. 113 führte, roch es nach Kohldunst, der aus einer plötzlich geöffneten Türe drang; aber Proschka, der vom frühen Morgen an auf der Suche nach einem Zimmer herumgelaufen war, freute sich über die Wärme und dachte sich: »Eine recht gemütliche Treppe; es wäre gut, wenn mir auch die Vermieter paßten, denn ich liebe herzliche Menschen.«

Auf dem obersten Treppenabsatz gab es nur zwei Türen; auf der Türe rechts las Proschka auf einem Blechschild: »Redaktion der humoristischen Wochenschrift …«; an der Türe links war aber die Nummer 113 angeschlagen, und darunter stand mit schwarzer Tinte auf die gelbe Ölfarbe geschrieben: »Falalej Mustschinkin und Schneiderin«; das Wort »Schneiderin« war mit Kreide unterstrichen. Die Türe war um die Klinke herum ganz schwarz vor Schmutz, und vom Glockenzug baumelte ein Strick mit einem Knoten herunter …

»Was für ein Unsinn!« dachte sich Proschka, nachdem er die Inschrift gelesen hatte. »Nun, in Gottes Namen.« Und er läutete.

Die Türe ging augenblicklich auf, jemand (im finsteren Vorzimmer konnte man nicht sehen, wer es war) machte einen Kratzfuß und sagte kichernd: »Treten Sie bitte näher!«

»Ich komme wegen des Zimmers«, sagte Proschka schüchtern und folgte durch den engen Korridor dem Menschen, der alle Seitentüren unterwegs schloß und die letzte Türe aufmachte.

»Hier, richten Sie sich nur wie zu Hause ein. Bei uns ist es warm und lustig«, sagte er, Proschka höflich den Vortritt lassend und sich mit dem Gesicht zum Fenster wendend.

Proschka erblickte einen hellblonden, nach Gendarmenart geteilten Vollbart, lange Haare und ein offenes, lächelndes, blasses Gesicht mit herzhaftem Blick.

»Falalej Mustschinkin!« sagte der Mann und verließ sofort das Zimmer. Hinter der Türe fing er wieder leise zu lachen an; oder kam es Proschka nur so vor?

Das Zimmer war lang und schmal und hatte ein einziges Fenster an der Schmalwand. Es gab da ein kleines rotes Sofa, der Tür gegenüber ein Bett und am Fußende des Bettes einen runden Ofen. Das war alles. Proschka aber gefiel es sehr gut. Er setzte sich auf das Sofa, rieb sich die Hände und vertiefte sich in die Betrachtung, wie das Holz im Ofen ausbrannte …

»Ich bin aber müde«, sagte sich Proschka, »und hier ist es viel zu heiß im Mantel. Ein schönes Zimmer, und gemütlich, wie zu Hause.«

Proschka stützte den Kopf in die Hand und streckte müde die Beine aus.

»Gleich fahre ich hin und hole meinen Koffer«, sagte er sich. »Daß ich nur nicht einschlafe.« Und er nickte mit dem Kopf und schlief ein.

II

Proschka wurde von einem Lärmen und Stampfen geweckt; als er aber ein Auge öffnete, stellte er fest, daß alles ebenso still wie früher war; vor dem Ofen kauerte in einem gelben Röckchen Falalej und mischte mit einem Schürhaken die Glut.

Proschka erkannte ihn nicht sofort; zuerst hatte er den Eindruck, daß es die Abenddämmerung in seiner ländlichen Heimat sei, daß die Kinderfrau den Ofen heize, draußen ein strenger Frost wüte, daß auf dem Schnee lautlos Hunde herumliefen und den hartgefrorenen Mist beschnüffelten und daß ihm heute ein ebenso leidloser, eintöniger Abend bevorstehe, wie er ihn gestern erlebt habe.

Falalej wandte sich aber um, das kurze Röckchen rutschte ihm bis zum Hals hinauf, und sein von der Kohlenglut gerötetes Gesicht lächelte.

»Er schläft immer noch«, flüsterte Falalej. Proschka schüttelte nun den Zauber des Schlafes von sich ab, streckte sich, unterdrückte ein Gähnen und rieb sich mit der flachen Hand das Gesicht.

»Ich glaube, ich habe geschlafen«, sagte er. »Ich war auch zu müde.«

»Schlafen Sie nur, schlafen Sie nur, ich hab' es gern, wenn die Leute schlafen, denn ich selbst komme nur selten dazu.« Falalej setzte sich zu ihm aufs Sofa, lächelte und blinzelte ihm so herzlich zu, daß Proschka, der noch ganz warm vom Schlafe war, zu ihm näher rückte und freudig ausrief; »Mir gefällt es hier ganz schrecklich; wenn Sie mich nicht hinausjagen, bleibe ich lange wohnen.«

»So, es gefällt Ihnen. Alle bleiben bei uns lange wohnen«, fuhr Falalej fort. »Ich liebe stille, verschlafene Mieter; Studentinnen zum Beispiel kann ich nicht ausstehen: Die wollen mir unbedingt allerlei Fragen beibringen, ich kann aber, mit Verlaub zu sagen, die Politik nicht leiden. Ein Musiker wollte sich neulich bei uns einmieten; doch es fiel ihm ein, in aller Herrgottsfrühe Posaune zu blasen. Ich habe aber eine Schwester.«

Falalej sprach sehr schnell, wobei er seine langen Haare schüttelte und nicht nur sich selbst, sondern auch Proschka auf das Knie klatschte. Dieser rückte aus lauter Gefälligkeit noch näher zu ihm heran, damit Falalej es bequemer habe, ihn aufs Knie zu klopfen.

»Meine Schwester näht Kleider für die Tänzerin Perschinskaja; andere Aufträge nimmt sie gar nicht an. Die Tänzerin braucht jede Woche ein Ballkleid und jeden Tag einen Rock; wenn sie zur Anprobe herkommt, sehe ich sie jedesmal in ihrer ganzen Natur; und das ist, wissen Sie, der Grund, warum ich so trinke. Denn ich kann zu ihr gar nicht hinaufreichen; sie ist nämlich am Kaiserlichen Ballett angestellt. Glauben Sie nur nicht, daß das Ofenheizen mein ganzer Beruf ist. Ich bin in Stellung und täglich bis sechs beschäftigt; was soll ich aber nach sechs anfangen? Besonders an Feiertagen! Also unterhalte ich in der freien Zeit die Zimmerherren und zerstreue mich dabei auch selbst.«

Falalej hob beide Knie in die Höhe und sagte, vor Lachen schier platzend:

»Neben Ihnen wohnt Valerjan Semirasow, ein Literat. Ich will ihn Ihnen übrigens persönlich vorstellen.« Falalej zupfte seine warme Weste zurecht und lief, mit den Füßen scharrend, fort. Proschka aber streckte noch immer seine Glieder, seufzte und stellte sich vor, wie angenehm es sein müsse, in dieser Wärme mit dem guten Kerl Falalej zusammenzuleben; wer hätte sich auch denken können, daß es möglich sei, im bösen Petersburg einen solchen Segen Gottes zu finden!

»Nun sind die Freunde versammelt!« rief in diesem Augenblick Falalej, indem er bei der Hand Semirasow hereinschleppte. Dieser war so mager, daß sein schwarzer Anzug an ihm schlotterte. »Schließen Sie Bekanntschaft, und dann gehen wir zur Feier des Tages für einen Augenblick in eine Kneipe.«

»Guten Tag!« sagte Semirasow mit näselnder Stimme. »Entschuldigen Sie, daß er mich hergeschleppt hat; es ist Ihnen vielleicht unangenehm, mich zu sehen.« Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln, steckte die rechte Hand in den Rocklatz und wich zur Türe zurück.

»Aber ich bitte!« stammelte Proschka. »Es ist mir ein großes Vergnügen, und ich bin auch sonst zufrieden.« Erblickte Falalej eine Weile an und schlug ihm plötzlich mit aller Kraft auf den Rücken; das sollte besagen: »Gut, trinken wir eins!«

Aber Falalej zeigte keine Freude, sondern wurde böse, blickte Proschka durchdringend an und sagte kurz:

»Das merke ich mir.«

»Ist schon gut«, versetzte Semirasow trübsinnig, »der Rücken wird Ihnen davon nicht abfallen.«

Es verstrich aber recht viel Zeit, bis die lustige Stimmung von früher wiederkehrte. Proschka söhnte sich endlich mit Falalej aus, stülpte sich die Mütze über die Ohren und rief: »Warten Sie auf mich, ich will nur schnell in die Klinik, um meinen Koffer zu holen.« Wie er aber durch den Korridor lief, konnte er sich zwischen den vielen Türen nicht mehr zurechtfinden. Hier hatte er ein Abenteuer, das sein Bewußtsein endgültig und für immer verdunkelte.

III

Nach dem Korridor gingen viele Türen, und die eine von ihnen stand halb offen; Proschka glaubte, daß sie ins Vorzimmer führe, machte sie noch mehr auf und blieb mit vor Staunen gestrecktem Hals stehen.

Vor ihm war ein kleines Zimmer mit dumpfer Luft und braunen Tapeten; an der Decke hing eine Lampe, die zwei sehr seltsame Gestalten beleuchtete, die unbeweglich vor dem Tische saßen und Teegläser in der Hand hielten. In einer dieser Gestalten, die das Gesicht runzelte, als wollte sie eben niesen, erkannte Proschka den Semirasow, der andere aber war Falalej; er lachte, den Kopf in den Nacken geworfen. Proschka hörte aber keinen Ton, und die beiden schienen erstarrt; vielleicht waren es überhaupt keine Menschen.

Proschka, dem die Sache höchst unverständlich war, kniff die Augen zusammen; in diesem Augenblick packte ihn jemand von rückwärts an den Schultern, warf ihn in den Korridor hinaus und schlug die Türe zu. Und Falalejs Stimme zischte dicht vor seinem Ohr: »Was sind Sie wirklich für ein frecher Kerl …«

Proschka befreite sich schweigend aus seinen Händen und purzelte die Treppe hinunter. Als er auf dem Hofe war, nahm er sich den Mund voll Luft, hustete und sagte: »Eine unangenehme Geschichte.«

Und in der Tat: Alles, was Proschka nicht verstehen konnte, erschien ihm unangenehm und feindselig; wenn er beispielsweise moderne Verse las, fühlte er sich höchst unbehaglich und zürnte, als ob ihn der Autor mit verbundenen Augen durch eine Straße führte, wo viele ausschlagende Pferde herumliefen.

Einen Gedichtband kann man aber unter den Tisch werfen, doch Falalej und Semirasow wird man nicht so leicht los.

Proschka setzte sich in eine Droschke, krümmte sich zusammen und begann nachzudenken, warum man ihn so betrüge und zum Narren halte, wo schon alles auch ohnehin so verworren und trügerisch sei. Es ist, zum Beispiel, nicht zu verstehen, wohin dieser dicke Offizier mit dem klirrenden Säbel rennt und was das Wort »Peklie« auf dem Ladenschild bedeutet; die Droschken, die windigen Damen, die grünen Narren mit den Plakaten, – alles fliegt an den Augen vorbei, und man hat nicht Zeit, etwas zu erfassen und zu betrachten. Es ist, als sei Proschka das einzige echte Wesen in dieser Stadt, und alle anderen wären Gespenster. Wie anders ist es doch in der schneeverwehten Steppe seiner Heimat, wo jeder Strauch verständlich ist und wo man weiß, daß der Hund nur darum so schnell rennt, weil er einen Hasen wittert.

»Vielleicht kam es mir im Korridor nur so vor«, dachte sich Proschka. »Eigentlich hätte ich noch an die acht Tage in der Klinik bleiben sollen.« Er hob den Kopf, um wenigstens einen Lichtschimmer zu sehen, aber in der Höhe trieb immer derselbe stickige gelbe Nebel.

Proschka war in die Klinik nach dem Konkursexamen für die technische Hochschule gekommen; vor dem Examen hatte er drei Monate lang Tag und Nacht mit fünfzehn anderen Grünschnäbeln aus der Provinz gearbeitet, die sich gleich ihm einen Weg durch das Petersburger Eis bahnen wollten.

Nachts rochen sie, um nicht einzuschlafen, an einer Salmiakflasche; sie plagten sich ununterbrochen mit der Aufgabensammlung von Schmulewitsch ab und ruhten nur zwei Stunden am Tage; in diesen Ruhepausen spielten sie entweder Dame oder badeten im Finnischen Meerbusen.

Bei dieser Gelegenheit erblickte Proschka einmal am Strande ein wunderbares Mädchen. Sie hatte ein Badehemd an, und ihre rote Haube erinnerte an einen Fliegenpilz; sie war soeben aus der Kabine getreten, blickte lachend mit vor der Sonne zusammengekniffenen Augen auf den Abhang, wo Proschka in einem Boote saß, und ging, lustig um sich spritzend und das Hemd mit dem nackten Arm bis zu den Knien hebend, in das seichte Wasser. Proschka war aber wie versteinert und wandte sein Gesicht dem Walde zu …

Von nun an konnte er nicht mehr schlafen und sah auch im Wachen stets allerlei Unsinn vor sich, an dem fast immer das Mädchen mit den schmächtigen Armen und den Knien, die an Medaillons erinnerten, beteiligt war.

In der Nacht nach dem letzten Examen zog sich Proschka ganz nackt aus und rannte mit einem Wecker in der Hand auf die Straße, um jemand zu verführen (den Wecker hatte er aber aus Gewohnheit mitgenommen, um nicht zu verschlafen). Seine Kollegen banden ihn mit Stricken und brachten ihn in die Anstalt, aus der Proschka nach zweieinhalb Monaten, also erst heute früh, entlassen wurde.

Proschka näherte sich jetzt dieser Anstalt und gab sich Mühe, lustig und sorglos zu scheinen.

Als er in den gemeinsamen Saal, wo das Billard stand, trat, lief ihm ein Kretin, trotz seines reifen Alters so klein wie ein Kind, entgegen, umklammerte Proschkas Bein und versuchte mit seinem geschwollenen Munde etwas zu sagen; die Zunge wollte ihm aber nicht gehorchen, und der Kretin fing zu weinen an. Proschka umarmte ihn und wandte sich an den schlanken Greis, der im Strohhut, mit einem aufgespannten Schirm neben dem Billard stand: »Wir werden nicht mehr Billard spielen, – ich ziehe in die Welt hinaus.«

»Hol Sie der Teufel!« antwortete der Greis. Dann klappte er seinen Schirm zu und fing an, mit einer vermeintlichen Feder auf einem vermeintlichen Papierbogen zu schreiben: »Ich schicke einen Befehl an die zuständige Stelle, und man wird Sie tot oder lebendig zurückbringen.«

Proschka blickte den Greis trübsinnig an, schloß die Augen und dachte sich:

»Die andern sind ja verrückt, und nicht ich.«

Ihn verfolgte ununterbrochen der gleiche Gedanke, von dem er sich unmöglich freimachen konnte.

Proschka packte nachdenklich seine Sachen in den Koffer, machte einen Abschiedsbesuch beim Arzt und verabschiedete sich auch von allen andern. Als er wieder in der Droschke saß, sprang er plötzlich vergnügt auf und rief: »Es waren ja nur Puppen. Mein Gott, wie froh bin ich …«

Proschka hatte aber keinen Grund, sich zu freuen, denn das Weitere riß die immer noch nicht verheilten Wunden in seinem Willen von neuem auf.

IV

Als Proschka in Falalejs Wohnung gestürzt kam, warf er seinen Koffer im Vorzimmer auf den Boden, packte Falalej an einem Rockknopf und sagte lustig: »Wie Sie mich erschreckt haben, Falalej Petrowitsch! Was sind Sie für ein Spaßvogel! Das haben Sie geschickt gemacht: Es waren ja doch nur Puppen; zeigen Sie sie mir, ich will sie mir näher anschauen.«

Falalej lächelte, klimperte mit der Kette, an der er zwei Uhren, an jedem Ende eine, trug, und fragte: »Haben Sie denn vorhin im Zimmer etwas gesehen?«

»Gewiß.«

Und Proschka erzählte alles, was er erlebt hatte.

»Ich weiß nicht, vielleicht lügen Sie auch nicht«, sagte Falalej. »Ich stelle Ihnen aber die eine Bedingung: Außer Ihrem Zimmer dürfen Sie in kein anderes hineinschauen.« Er spitzte die Ohren, führte den Zeigefinger an die Nase und fuhr fort: »Kommen Sie mit, ich will Ihnen gleich etwas zeigen.«

Falalej schlich, Proschka an der Hand mitziehend, auf den Fußspitzen in den Korridor, bestieg zugleich mit ihm einen Koffer, so daß beider Augen sich in der Höhe eines schmalen und langen Fensters, das nach der Nähstube ging, befanden, und sagte ihm, daß er nach links schauen solle.

Proschka erblickte zuerst einige kopflose, einbeinige Frauen.

»Aha, das sind die Anprobepuppen!« sagte er sich. Plötzlich fuhr er zusammen und wurde über und über rot.

Zwischen den Puppen, auf dem Boden, der mit bunten Stoffetzen bedeckt war, stand das Mädchen, das Proschka damals am Strande gesehen hatte; auf dem Kopfe hatte sie aber statt der roten Haube zwei goldene Zöpfe, unter deren Last sich der schlanke Hals bog … Das Mädchen war bis zur Taille entblößt, und das weiche, weiße Hemd fiel über das Kleid bis zu den Knien hinab.

Zu Füßen des Mädchens erblickte Proschka eine sehr magere Frau, die Falalej ähnlich sah und sich bald hinhockte und bald wieder aufrichtete; sie hielt ein Bündel Stecknadeln mit den Lippen fest und hantierte mit Stücken grellfarbiger Stoffe.

»Lassen Sie mich doch, ich will sehen«, flüsterte Proschka, Falalej mit der Schulter stoßend.

Sein Zwicker war verschwitzt; als er das Tuch aus der Tasche zog, um die Gläser zu putzen, verlor er das Gleichgewicht und sprang mit großem Lärm vom Koffer. Falalej preßte Proschkas Hand zusammen und zog ihn mit sich fort. Er hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht aufzulachen. Gleich nach ihnen kam Semirasow ins Zimmer und erklärte näselnd:

»Sie haben sich wieder die Tänzerin angeschaut, mir zeigen Sie sie aber niemals.«

»Warum ist sie halb nackt?« schrie Proschka auf.

»Damit die Kleider besser sitzen«, antwortete Semirasow. »Ich habe darüber schon einmal geschrieben: Alle Frauen laufen der Mode nach.«

Proschka aber hörte nicht auf seine Erklärungen; er saß auf dem Sofa, beleckte sich die ausgetrockneten Lippen und blickte, ohne zu zwinkern, auf die Tapete, wie wenn er hinter der Wand ein Kleid rascheln hörte.

Falalej und Semirasow nahmen Proschka an den Armen und führten ihn kichernd auf die Straße, wo er sich sofort höchst unanständig aufzuführen begann: Er rempelte die Vorbeigehenden an und richtete an die Droschkenkutscher närrische Fragen, worauf ihm ein alter Kutscher recht deutlich sagte: »Solch ein Gesindel will ein gebildeter Herr sein!«

Falalej lachte bis zu Tränen, und Semirasow kicherte und ging so behutsam wie eine Katze um jede Pfütze herum.

Als Proschka im Vorzimmer des Restaurants »Zum Südpol« im Vorbeigehen in einen Spiegel blickte, kam ihm sein eigenes, rundes, grünangelaufenes Gesicht mit den großen Augen und den Haarbüscheln an den Schläfen wie fremd vor …

»Schön schau' ich aus«, sagte sich Proschka, »wie eine Leiche.« Er trat schnell in den Saal mit den beiden dicht unter der niedrigen Decke zischenden Monden, die sich in einer der Wände spiegelten.

Auf der Wand gegenüber waren Bilder aus dem Leben am Südpol gemalt; alles übrige war aber wie überall: das Orchester, die deutsche Büfettmamsell und die unbekannten Menschen vor den kleinen Tischen.

Falalej nahm den Kellner mit dem finnigen Gesicht und dem tabakgebräunten Schnurrbart um die Taille, sprach freundlich zu ihm und bestellte ein Abendessen. Proschka sah sich indessen die Bilder an der Wand an. Semirasow war es vor Hunger übel, und er beobachtete mit einer Grimasse einen Herrn, der in der Nähe speiste.

Als man ein Entrecote und Wein gebracht hatte (der Kellner hatte es so eingerichtet, daß sie für die »Sakusska« nichts zu zahlen hatten), betrank sich Proschka sehr schnell und begann laut sein Entzücken über die Bilder aus dem Leben am Südpol zu äußern. Das merkte ein dicker Herr mit rotem Gesicht, der dicht vor der Wand saß; er steckte seinen kurzen Finger in das Senffaß und fuhr damit über das Nordlicht und den Eisbären, Proschka geriet darob in große Wut; er schlug mit der Faust auf den Tisch und fing zu schreien an; der Herr mit dem roten Gesicht schmierte indessen lachend den Senf über das Bild.

»Machen Sie keinen Skandal, schauen Sie sich lieber um«, sagte Falalej, Semirasow zublinzelnd.

Proschka sah sich um: Vor der Wand gegenüber saß der gleiche Herr und schmierte den Senf über den gleichen Eisbären.

»Ach so!« sagte Proschka und schlug schnell die Augen nieder.

Nun überlegte er sich schnell, woher alle die Unannehmlichkeiten wohl kämen. Als Falalej mit dem Essen und Trinken fertig war, führte er die beiden Freunde in die Kegelbahn.

Die Wände in der Kegelbahn waren braun, von Feuchtigkeit zerfressen und verschimmelt, und die Luft so dick, daß die Lampe, die die schmale Bahn, auf der die Kugeln rollten, die Kegel an einem Ende und ein schwarzes Zifferblatt mit einem Zeiger mit trübem Lichte übergoß, ununterbrochen flackerte.

»Nicht übel«, sagte Semirasow. »Das nenn' ich ein Düftchen!«

Falalej aber zog sein kurzes Röckchen aus, ergriff eine Riesenkugel, machte einen Sprung und rollte sie gegen die Kegel. Dann sagte er zu Proschka:

»Gleich schmeiß' ich auch noch meinen Kopf hin!«

Proschka blickte ihn wie wahnsinnig an und taumelte zurück; Semirasow begann zu lachen, nieste und hustete und wurde davon so schwach, daß er gar nicht spielen konnte; darum setzte er sich an ein Tischchen und begann Bier zu trinken.

»Wie merkwürdig sind doch diese beiden«, dachte sich Proschka; »besonders Falalej; er ist zwar ein ganz gewöhnlicher Spießer, hat aber eine solche Kraft … oder schwindelt mir nur so der Kopf? Jetzt möchte ich mich zu ihren Füßen hinsetzen und ihr mit Tränen der Rührung sagen: ›Ich bin krank, liebe mich, mein liebes Mädchen, sonst sterbe ich!‹ Hier ist es aber so übel.«

»Was, glauben Sie, ist dieser Falalej? Sie meinen wohl, ein Mensch?« fragte Semirasow Proschka, sich zu ihm über den Tisch hinüberbeugend. »Er ist ein Teufel, bei Gott!«

»Wozu hat er das gesagt?« dachte sich Proschka und schielte nach Falalej, der, ein Auge zusammengekniffen, die Kegel mit Gepolter umwarf. »Sie machen sich über mich lustig, ich weiß aber, daß die Sache nicht ganz sauber ist.«

»Ich will Ihnen noch mehr sagen«, fuhr Semirasow fort, »er versteht auch Menschen zu machen; seine Menschen sind wie echte Menschen, vertragen aber kein Licht und mögen nichts Echtes, – zum Beispiel: Gras oder Wassermelonen; sie ziehen das Gemalte vor; dabei sind sie wollüstig wie die Insekten; in der Petersburger Feuchtigkeit gibt es ihrer viele, aber in Moskau und in Kiew kommen sie nicht so oft vor.«

»Sind Sie vielleicht selbst ein solcher?« fragte ihn Proschka mit schiefem Lächeln. Falalej zog indessen seinen Rock wieder an und sagte zu Semirasow, mit dem Finger drohend: »Du hast dich wieder verschnappt!« Dann flüsterte er Proschka zu: »Wollen Sie, daß ich den ganzen Saal mit Tänzerinnen fülle?«

»Ich kenne das«, stammelte Proschka. »Bei uns auf dem Lande gab es einen Bauern, der eine ganze Stube mit Wasser vollaufen lassen konnte und selbst durch die Ritzen zwischen den Balken hineinkroch.«

Proschka blickte durchdringend auf Falalej und Semirasow, die genauso saßen, wie sie vorhin mit den Gläsern in der Hand im dumpfen Zimmer gesessen hatten. Sein Gesicht verzerrte sich, er drückte sich die Mütze in die Stirn und lief zum Ausgang, die Beine weit auseinanderspreizend.

»Ach, diese Teufel«, murmelte er, »warum halten sie mich zum Narren?«

V

Als Proschka aus der Kneipe trat, sah er, daß die Straße steil hinaufging, doch nicht sehr hoch, denn die Laternenreihe hörte nicht weit von ihm auf: Die Straße ging von dort wohl wieder bergab.

»Ich komme schon hinauf«, dachte sich Proschka und begann, in Schweiß gebadet, die Straße hinaufzusteigen; das Trottoir senkte sich aber schnell wieder, Proschkas Beine zappelten in der Luft, und er fiel auf die Hände.

»Auch hier haben sie mich angeführt, die gemeinen Kerle! Nun will ich auf der Mitte der Straße gehen.«

Die Straße sank aber immer tiefer, und Proschka rannte, lief sie hinunter, schwankend und die Arme gespreizt.

In diesem Augenblick stöhnte etwas vor ihm auf, und ein langer schwarzer Körper, schmal und beweglich, mit vier Messinglaternen auf dem Kopfe, raste ihm entgegen.

Proschka blieb stehen, streckte die Arme aus, hockte sich erst hin und begann dann, mit weit aufgerissenem Mund, im Zickzack zu laufen. Ein Blech stieß ihm in den Rücken, und ein Auto mit einem Herrn im Zylinderhut und einer Dame, die beim Anblick des hinstürzenden Proschka schreiend aus dem Fenster hinaussah, raste an ihm vorbei …

»Das sind Sie!« rief ihr Proschka zu: »Wer ist aber mit Ihnen?« Lange blickte er dem Auto nach, stand dann auf, wischte sich die Hände an den Mantelschößen ab, stieg in eine Droschke und gab dem Kutscher die Adresse.

Der Kutscher zog die Zügel an, die Droschke dröhnte über das Pflaster, und das lahme Pferd spannte sich schließlich los. Als der Kutscher vom Bocke kletterte, wandte er sein Gesicht dem Fahrgast zu, und Proschka biß, als er ihn erblickte, die Zähne zusammen und schloß die Augen, denn der Kutscher hatte statt eines Gesichts einen großen Lederhandschuh mit einem Daumen anstelle der Nase.

Proschka hielt während der ganzen Fahrt die Augen geschlossen, denn er wollte all das Ekelhafte gar nicht sehen.

Als Proschka durch den Korridor auf sein Zimmer ging, blieb er beim Anblick Semirasows stehen, der mit dem Rücken gegen die Tür, den Kopf auf die Seite geneigt, vor dem Tische saß. In der Hand hatte er einen dünnen Federhalter, mit dem er soeben einige Zeilen geschrieben hatte.

Semirasow war vorher lange auf und ab gegangen, um sich die lüsterne Erzählung, die er schreiben wollte, zurechtzulegen.

Der Anfang war schon fertig: »Sie hieß Sina und hatte einen sinnlichen Busen …« Aber dann kamen große Schwierigkeiten. Semirasow wußte sehr gut, warum die praktischen Romanschreiber die Liebe auf dreihundert Seiten breittreten (Semirasow ließ sich nämlich nichts vormachen!), während jeder Roman aus nur drei Worten besteht, die schon einmal von Cäsar oder jemand anderm ausgesprochen worden sind. Man muß sich also kurz fassen. Darin lag aber auch die größte Schwierigkeit: die Sache so zu machen, daß sie die Zensur passiert, daß man aber in der Redaktion sagt: »Sie sind mindestens ein Pavian, mein Bester!«

»Der Anfang ist nicht übel«, dachte sich Semirasow. »Nun wollen wir den Leser betäuben.« Und er fing an, den Hals wie eine junge Ente zu recken und wieder einzuziehen, um sich auf diese Weise in eine wollüstige Stimmung zu versetzen. Und plötzlich schrieb er weiter: »Wenn Sina ihre Röcke auszog, rochen sie nach Frauenfleisch, und über dem Bette hingen seltsame Blumen der Wollust.« Weiter wußte er wieder nichts, und er duselte über dem Papier, auf dessen Rändern kleine und große Pistolen gezeichnet waren, was auf das düstere Temperament des Verfassers schließen ließ.

»Ein Narr ist dieser Proschka«, dachte sich Semirasow. »Ich will über ihn eine unanständige Erzählung schreiben; ich will auch das Kegelspiel ordentlich lernen und dann mit Falalej um Geld spielen.«

In diesem Augenblick sprach ihn Proschka von rückwärts stotternd an: »Semirasow, waren Sie eben im Restaurant?«

»Nein«, antwortete Semirasow und verzog das Gesicht zu einer Grimasse des Ekels.

»Aha«, sagte sich Proschka leise, »so ist es also!« Dann ging er zu sich ins Zimmer, sperrte die Türe von innen zu, zog die Schuhe aus und legte sich in den Kleidern aufs Bett.

Das Bett begann sofort zu schaukeln und zu schwimmen. Proschka wollte den Kopf vom Kissen losreißen, konnte es aber nicht. Am meisten quälte ihn der grüne Widerschein einer Straßenlaterne auf der Zimmerdecke.

»Ich habe hier niemand«, dachte sich Proschka, »weder Vater noch Mutter. Ich habe mich hier eingemietet und werde elend wie ein Hund zugrunde gehen.«

Proschka schüttelte den Kopf und begann zu weinen; die Tränen gaben ihm Erleichterung, und seine Gedanken richteten sich allmählich auf den Gegenstand, zu dem Proschka immer wieder zurückkehrte: zu dem lieben blonden Mädchen, das er bald auf dem Strande, bald in keuscher Entblößung zwischen staubigen Anprobepuppen und bald im Fenster eines Automobils sah.

Diese Visionen vermengten sich mit all dem Unsinn, den Falalej gegen ihn losgelassen hatte, und Proschka quälte sich wieder in dem verfluchten Wirrwarr, aus dem er nicht herauskonnte.

Schließlich kam hinter dem Ofen Falalej hervor. Er setzte sich aufs Fußende des Bettes, umschlang sein Knie mit den Armen, und Proschka rückte etwas zur Seite und begann seinen Wirt unverwandt anzustarren.

Falalej bewegte sich nicht, sein Gesicht war ganz grün, in der Tiefe seiner Pupillen leuchtete etwas, und der Mund war halb geöffnet.

»Falalej Petrowitsch!« wandte sich Proschka an ihn mit klagender Stimme. Falalej begann, ohne sich nach ihm umzusehen, die Lippen zu bewegen, und sofort krochen von überall, unter dem Sofa, unter den Sesseln und aus Proschkas Koffer, mit den Flügeln knisternd, schwarze Kakerlaken hervor.

»Glaubst du an meine Macht?« fragte Falalej.

»Ja«, erwiderte Proschka.

Falalej erhob die Hand, und die Kakerlaken zogen sich erbost in ihre geheimen Verstecke zurück.

»Das sind lauter zukünftige Menschen«, sagte Falalej. »Aus einem solchen habe ich zum Beispiel den Semirasow gemacht.«

»So ist es also!« sagte sich Proschka. Plötzlich klopfte sein Herz so heftig, daß er sich aufsetzen mußte.

»Falalej, mache mir sie, bring mir mein Mädchen her, jetzt gleich!«

»Nein«, sagte Falalej lächelnd, »du bist zu schmutzig, ich will aber deinen Doppelgänger machen.«

VI

Proschka schlief, mit den Zähnen knirschend, und sein Kopf war gleichsam am Scheitel entzweigespalten und mit Zigarettenstummeln vollgestopft.

Erst um die Mittagsstunde, als in das auch ohnehin dumpfe Zimmer der kalte Dunst aus der Küche drang, wachte Proschka stöhnend auf und setzte sich mit noch halbgeschlossenen Augen hin.

Die Köchin brachte ihm einen zerbeulten Samowar und einen Papierbeutel mit Zucker; hinter dem Fenster jagte ein noch dichterer Nebel als gestern, und vom Dache tropfte es laut auf das Gesimse.

»Ich will nicht mehr trinken«, sagte sich Proschka, »ich schreibe heute nach Hause und fange ein neues Leben an.« Als er sich Tee einschenkte, nickte er erst mit dem Kopfe gegen den Tisch, warf ihn dann zurück und fuhr fort: »Was für einen Unsinn habe ich gestern gesehen, es war etwas sehr Schlimmes. Kann man denn so weiter leben, ohne Schicksal, als ob ich gar kein Mensch wäre? Denn ich habe nichts als das Frauenzimmer im Sinn.«

Proschka trank lange seinen Tee. Dann beschloß er, in die Universität zu gehen, um das Vorlesungsverzeichnis zu erfahren. Als er durch den Korridor ging, erinnerte er sich, daß alle seine gestrigen Unannehmlichkeiten hier begonnen hatten …

»Mein Gott, wenn doch alles glatt ablaufen wollte!« sagte sich Proschka, zu Semirasow hineinblickend, der auf dem Rücken, die Hände auf der Brust gekreuzt, schlief. Sein nichtssagendes Gesicht war so unglücklich wie das eines kranken Kindes.

»Gott sei Dank«, sagte sich Proschka, »alles ist in Ordnung.« In großer Erregung bestieg er den Koffer. In der Nähstube sah es genauso wie gestern aus, am Tische saßen aber drei blasse Mädchen mit zusammengepreßten Lippen und nähten an einem Kleide für die Tänzerin Perschinskaja.

»Alles ist in Ordnung«, dachte sich Proschka, »da ist auch der Fleck auf der verstaubten Scheibe; den habe ich mit dem Finger weggerieben, als ich … Nein, ich will lieber daran nicht mehr denken, das Herz tut mir auch jetzt noch weh!«

Proschka sprang vom Koffer auf den Boden und stand lange zögernd vor der dritten Türe. Dann steckte er so vorsichtig, als ob er fürchtete, daß man ihm die Augen ausstechen würde, den Kopf hinein: Mitten im Zimmer stand Falalej und knöpfte sich die Hosenträger an.

»Entschuldigen Sie«, murmelte Proschka und trat aus dem Zimmer. Im dichten Nebel flammten eben, sich auf dem nassen Trottoir spiegelnd, die Laternen auf, und aus den Läden roch es nach Gemüse und Zündhölzern.

»Ach, mein Gott, sie waren natürlich, als ich im Korridor herumstand, durch irgendeine Nebentüre hineingekommen und hatten sich wie zwei Puppen hingesetzt. Wer hat mich aber von hinten gepackt? In meiner Angst wandte ich mich wohl mit dem Rücken zu ihnen um, und Falalej packte mich gleich; mir kam es aber vor, als ob er aus dem Korridor gekommen wäre. Und doch kann ich unmöglich verstehen, wozu sie das alles gemacht haben! Wollten sie mich vielleicht einfach erschrecken? Nein, nein!«

Proschka schlenderte langsam durch die Straße und bemühte sich, nur an die alltäglichsten Dinge zu denken. Seine Gedanken rissen sich aber wie ein verdorbenes Uhrrad immer wieder los und drehten sich in der verkehrten Richtung.

»Was tatsächlich war und was mir nur so vorkam, kann ich nicht mehr auseinanderhalten«, dachte sich Proschka. »Ich muß mich auf etwas besinnen, und alles wird dann gleich klarwerden«, rief er aus, vor einem Hauseingang stehenbleibend, vor dem eben ein Auto hielt.

Der Portier riß hastig den Schlag auf, auf dem Trittbrett zeigte sich ein pelzbesetzter Überschuh, dann erschien ein seidenbespanntes Knie, ein Muff, und aus dem Auto sprang, mit einem Zobelpelz angetan, die Tänzerin Perschinskaja. Proschka riß den Mund weit auf und zog die Mütze; aus dem Auto stieg auf die gleiche Weise der Herr im Zylinderhut. Der Herr war aber niemand anders als Proschka selbst.

Als die Türe sich hinter der Tänzerin und dem Herrn wieder schloß, wandte sich Proschka jäh um und lief davon, im Laufen murmelnd: »Jetzt weiß ich es, jetzt weiß ich alles!«

Von wahrer hündischer Angst gejagt, rannte Proschka durch die Straßen, und je mehr er sich Mühe gab, den Schlaf von sich abzuschütteln und die Dinge, so wie sie sind, zu sehen, um so schrecklicher wurde es ihm zumute und um so möglicher erschienen ihm alle Unverständlichkeiten.

»Da sind die Zigaretten ›Njuch-Njuch‹«, stammelte Proschka, auf die Auslage eines Tabakladens blickend, »die rauche ich immer; jetzt stampfe ich mit dem Fuße; da ist die Spur von meinem Finger auf der Fensterscheibe … Das alles existiert! Alles, was ich sehe, existiert; ich habe aber noch lange nicht alles gesehen, also kann ich noch schrecklichere Dinge sehen, als die ich heute sah …«

»Du, zum Beispiel, existierst«, wandte er sich an einen Hausknecht, der näher gekommen war und ihm aufmerksam zuhörte: »Sag mir aber, ob du die falschen Menschen gesehen hast, die der Falalej macht …«

»Mach, daß du weiterkommst!« sagte der Hausknecht streng.

»Wohin soll ich gehen? Übrigens danke ich dir. Ich gehe hin und kläre alles auf.«

Proschka kehrte zu jenem Hauseingang zurück und stieg, ohne die Frage des Portiers zu beantworten, zwei Treppen hinauf. Hier las er auf der Türe den Namen »Perschinskaja« und begann zu läuten, nachdem sein Finger lange um den Knopf herumgeirrt hatte. Auf die Frage des Dienstmädchens erklärte Proschka, daß er die Gnädige in einer sehr wichtigen Angelegenheit sprechen müsse. Nun wartete er im hellbeleuchteten, eichenholzgetäfelten Vorzimmer und betrachtete den Zobelpelz, der nach Parfüm und der noch nicht abgekühlten Körperwärme duftete.

»Selbst der Pelz ist besser als ich«, sagte sich Proschka. »Wo will ich eigentlich hin?« Als er leichte Schritte hörte, die sich aus dem Inneren der Wohnung dem Vorzimmer näherten, trat ihm Angstschweiß in die Stirne, und er murmelte: »Was sage ich ihr, was sage ich ihr? …«

Die Tänzerin schwebte wie ein Insekt, das seidene Kleid nachschleppend, lächelnd und hüpfend herein; als sie Proschka erblickte, schlug sie die dunklen Wimpern erschrocken auf.

»Es ist sehr merkwürdig«, begann Proschka sofort hastig, die Mütze ans Herz drückend. »Sie sind so schön, wie … ich weiß gar nicht, wie – und ich bin überhaupt nichts wert … Da kam aber eine dumme Geschichte dazwischen, und ich bin der Blamierte. Er ist natürlich sehr zufrieden, obwohl er nur eine schwarze Kakerlake ist, wie ich sie hinter meinem Bette zu Tausenden habe.«

Die Tänzerin kniff ihre Augen belustigt zusammen.

»Nach wem fragen Sie eigentlich?« sagte sie sanft. »Ich habe Sie nicht recht verstanden …«

»Vielleicht habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt, ich frage nach Proschka Tscheremissow; vielleicht heißt er bei Ihnen irgendwie anders, ich meine den, der eben mit Ihnen gekommen ist.«

»Ah!« sagte die Tänzerin und ging schnell aus dem Zimmer, den Rock vorne ein wenig hebend, um nicht daraufzutreten. In der Türe wandte sich die Tänzerin neugierig nach Proschka um … Bald darauf kam ins Vorzimmer, laut mit den Absätzen stampfend, jener Herr und fragte, wobei er die Brauen zusammenzog: »Womit kann ich dienen?« Und er drängte Proschka zur Türe zurück.

»Entschuldigen Sie«, begann Proschka, die Lippen so schwer wie im Froste bewegend, »wir müssen uns aussprechen, das ist für uns beide wichtig!« Er blickte wie in einen Spiegel dem Herrn ins Gesicht. »Sind Sie der Echte?«

»Wie meinen Sie?« fragte der Herr hochmütig. »Wollen Sie mir nicht Ihre Erklärungen draußen im Treppenhaus geben?« Im gleichen Augenblick legte er sich den Kragenschoner um den Hals.

Proschka ergriff das Treppengeländer mit beiden Händen, beugte sich zurück und sagte verzweifelt: »Sie brauchen sich nicht zu verstellen: ich bin der Echte, und Sie sind der Falsche, ich will an Ihrer Stelle sein, Sie aber begeben sich gütigst zu Falalej!«

Der Herr runzelte die Stirne und fragte, was Proschka mit ihm eigentlich tauschen wolle.

»Alles!« schrie Proschka auf. »Ich habe einen zerrissenen Anzug, und Sie fahren mit ihr im Auto herum. Sie müssen überhaupt verschwinden, denn Ihretwegen kann ich weder studieren noch leben.«

»Sie sind ein frecher Kerl!« sagte der Herr, während sich sein Schnurrbart sträubte, und ging in die Wohnung. Proschka aber stürzte zur Türe und begann zu läuten, ohne den Finger vom Druckknopf loszulassen.

Bald darauf kam der Portier, nahm Proschka bei den Schultern und stieß ihn die Treppe hinunter.

»Es ist dein Glück, du Grünschnabel«, sagte er zu ihm, »daß der Hausknecht aufs Revier gegangen ist!« Er stieß ihn noch einmal in den Nacken und warf ihn hinaus.

»Warte nur«, sagte Proschka, auf der Straße stehend, »ich fange dich schon ab!« Und er nagte an seinen Fingerknöcheln.

Die erleuchteten Fenster der Tänzerin gingen nach dem Kanal hinaus, an dessen Geländer Proschka lehnte. Er hatte sehr lange zu warten. Einige Lastfuhrwerke fuhren vorbei; ein kurzgeschorener Ladenjunge lief einmal über die Straße, um in den Kanal hineinzuspucken, und stieß, als er Proschka erblickte, einen gellenden Pfiff aus; die Laternen in der Ferne erschienen als im Nebel ertrunkene Sterne; Proschka sah ohne zu zwinkern auf die grünlichen Strahlen der Laternen und auf die blassen Regenbogen im schwankenden Nebel und hob den Blick ab und zu zu den Spiegelscheiben im zweiten Stock. Alles, was er sah, sammelte sich in seinem Gehirn wie in dem eines Hundes – ganz ohne jedes Verständnis. So hätte er, vor Haß zitternd und hin und wieder das Bewußtsein verlierend, die ganze Nacht stehen können, da klirrte aber plötzlich die Türe, der Portier rief nach einer Droschke, und der Herr trat aus dem Hause und ging zu Fuß weiter, mit dem Stock auf das Trottoir klopfend. Proschka riß seine Hände vom kalten Gitter los und begann dem Herrn auf der andern Straßenseite, den Kanal entlang, nachzuschleichen. Als der Herr in den Lichtschein der Laterne, die vor einem Laden brannte, trat, reckte er sich auf den Fußspitzen und ging auf Proschkas Trottoir hinüber. Proschka sah deutlich seinen abschüssigen Rücken, seine schlotternden Hüften und den durchgezogenen Scheitel unter dem Zylinderhut.

»Sehe ich denn von hinten so aus?« fragte sich Proschka, und der Haß biß ihn gleichsam in die Schläfen, so daß ihm das Blut in die Augen schoß.

Der Herr wandte sich um und sagte:

»Du verfolgst mich, du Taugenichts …«

Er kam aber nicht weiter, weil Proschka ihn um die Taille packte, ans Gitter drückte und zurückbog, um ihn ins Wasser zu werfen. Der Herr schrie auf, tastete nach Proschkas Hals und schlug ihn mit dem Stockgriff ins Gesicht. Proschka hockte sich stöhnend in den Straßenschmutz hin, und der Herr entfernte sich, fortwährend nach einem Schutzmann rufend.

»Ich muß fliehen, ich muß fliehen«, dachte sich Proschka, nach dem Gitter greifend. Mit großer Mühe stand er auf und ging weiter.

VII

Proschka irrte nun fast besinnungslos durch die ihm unbekannten Straßen und ging über viele Brücken. Als er vor ein Restaurant geriet, spürte er plötzlich Durst. Er trat ein und verlangte Bier, der Kellner aber tuschelte mit dem Besitzer und erklärte, daß an Betrunkene keine Spirituosen abgegeben werden. Darauf blinzelte er dem Portier zu … Man nahm Proschka bei den Armen und führte ihn hinaus, und alle Gäste wandten sich nach ihm um und lachten gleichzeitig auf, wobei sie rot wurden wie die Aussätzigen.

»Man hat mich von allen Seiten eingeschlossen, es gibt keinen Ausweg mehr, es ist mein Ende!« stammelte Proschka, als er über den Platz vor dem Marientheater ging. »Ich bin der einzige lebende Mensch in dieser Stadt, alle anderen sind aber Falalejs Brut; darum verfolgen sie mich auch so!«

Nachdem er eine Zeitlang auf die Laternen vor dem Theater und auf die schwarze Mauer der Droschkenkutscher gestarrt hatte, erinnerte er sich endlich an seine Wohnung. Er erreichte müde und durchnäßt sein Zimmer, setzte sich auf das Sofa, warf den Kopf in den Nacken und saß, ohne etwas zu fühlen und zu denken, bis der Schlaf ihm Gesicht und Augen in Spinngewebe hüllte.

Proschka fühlte plötzlich einen heißen Lichtschein auf seiner Wange und erwachte; der Ofen brannte, und vor dem Ofen saß Falalej in seinem gelben Röckchen und schürte mit einem Haken die Glut.

»Gleich wird Falalej den Kopf nach mir umdrehen und lächeln«, dachte sich Proschka. »Wenn er das wirklich tut, so habe ich alles, woran ich mich erinnere, tatsächlich erlebt; und wenn er sich nicht umdreht, so sah ich das Ganze nur im Traume, als ich, wohl an die zwei Stunden, hier auf dem Sofa schlief.«

Proschka dachte sich dieses ruhig und klar und erschrak sofort selbst vor der ungewöhnlichen Klarheit seiner Gedanken.

Falalej wandte den Kopf nach ihm um, lächelte und fragte: »Nun, wie fühlen Sie sich?«

Proschka stöhnte leise auf, erhob sich, ohne Falalej zu antworten, vom Sofa und ging zum Ausgang. Die Kälte überlief seinen Körper wie mit frostigen Insektenfüßchen. Als Proschka in die freie Luft trat, überblickte er alle fünf Reihen der erleuchteten Fenster, steckte die Hände in die Taschen und ging auf das Tor zu. Er wußte noch nicht, durch welchen Trick er sich retten könnte.

Im Torwege stand aber der Hausknecht und blickte Proschka an. Da lief auch schon das rote Hündchen herbei, das der Hausknecht anspucken sollte.

Proschka blinzelte schlau mit einem Auge und wandte sich dem zweiten Hofe zu:

»Ich finde schon Rat, so dumm bin ich nicht.«

Im zweiten Hofe stand ein unversperrter Holzschuppen. Proschka hob den Kopf in der Hoffnung, wenigstens einen Fetzen heiteren Himmels zu sehen. Die Sonne war aber schon längst draußen vor der Stadt untergegangen, und der Nebel ballte sich zu einem feinen unsichtbaren Sprühregen zusammen.

Proschka schlich in den Schuppen, schnitt mit seinem Taschenmesser ein Stück von der Leine ab, die zum Wäscheaufhängen gespannt war, machte eine Schlinge, stieg auf ein Holzscheit und befestigte den Strick an einem Holzpflock.

Das alles machte er schnell und gewissenhaft; dann legte er sich die Schlinge unter dem Kragen um den Hals, lachte nervös auf, zog die Beine ein und sprang vom Holzscheit hinunter.

Etwas riß ihn an der Kehle, er streckte vor Abscheu die Zunge heraus und versuchte den Strick mit den Fingern abzureißen …

In diesem Augenblick – so kam es Proschka vor – stürzte die Tänzerin in den Schuppen. Sie schlug ihren Zobelpelz vorne auf, umschlang Proschkas Hals mit den Armen und schmiegte sich eng und verliebt an ihn.

Proschkas Körper spannte sich vor stechender Wonne, und auf sein Gesicht legte sich der Saum des Pelzmantels und nahm ihm den Atem.

So endete der dumme und unnütze Kreis seines Lebens …


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