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Zar Peters Werktag

(1703)

Im dunklen und niedrigen Zimmer hörte man ein Schnarchen, ein tiefes, mühsames, pfeifendes und gurgelndes Schnarchen. Es roch nach Tabak, nach überstarkem Branntwein und einem überheizten Ofen.

Plötzlich wurde das Schnarchen weniger tief und heiser und hörte gänzlich auf. Man hörte jemand mit den Lippen schnalzen, brummen, und nun begann ein Husten, ein Raucher- und Säuferhusten, ein Räuspern, ein Spucken. Das Bett quietschte, der Mann setzte sich auf.

Im ersten Morgenlicht, das durch das schmale, dicht vergitterte Fenster drang, konnte man kaum das geschwollene, große Gesicht in einer Schlafmütze, die Strähnen dunkler, schmutziger Haare und ein zerdrücktes offenes Hemd unterscheiden. Der Sitzende rieb seine volle Brust und gähnte; er scharrte mit den Pantoffeln, steckte die Füße hinein und wandte den Kopf zu dem riesigen, weit nach vorne herausstehenden Kachelofen. Auf der Ofenbank lag ein Soldat in Waffenrock und hohen Stiefeln und kratzte sich im Schlaf. Der Sitzende rief ohne Übereilung mit tiefer Stimme: »Mischka!«

Wie heruntergeweht von der Ofenbank war der Soldat. Ohne die Lider ganz geöffnet zu haben, stand er schon vor dem Bett. Er wackelte einen Moment, zuckte aber sofort zusammen, stand stramm, reckte die Brust heraus und zog die Lippen ein.

»Soll ich noch lange auf deine Fresse schauen, du Hundesohn?« fragte der Sitzende mit demselben behäbigen Baß. Mischka machte kehrt und ging, die Füße militärisch streckend, hinaus. Und sofort hörte man hinter der Tür, durch die gelbes Kerzenlicht eingedrungen war, einige Stimmen flüstern.

Der Sitzende zog wollene, durchschwitzte Hosen an, sodann Strümpfe, erhob sich krächzend, knöpfte eine Weste aus roter Wolle auf dem Bauch zu, streckte die Arme in die Ärmel einer friesenen braunen Jacke, warf die Schlafmütze auf das Bett, fuhr sich mit der Hand über das dunkle Haar und ging schwerfällig wie ein Bär zur Tür.

Sieben Mann befanden sich im Nebenzimmer, das größer war, eine Balkendecke und mit frischer Eiche beschlagene Wände hatte und einen mittelgroßen, schweren Tisch enthielt. Der Tisch war schwer beladen mit Büchern, Mappen, Instrumenten, Abgüssen aus Eisen, Gußeisen, Kupfer, mit Asche verschüttet und angebrannt. In den Ecken standen ein Globus und ein Fernrohr; auf dem Boden, auf dem Fensterbrett, auf den Stühlen lagen in Leder gebundene Bücher. Dieses Zimmer, in dem helles Feuer im Kachelofen brannte, war Peters Arbeitszimmer. Die einen von den hier Anwesenden waren in grüne Militärröcke gekleidet, die unter den Achseln drückten, andere trugen Samtkamisole. Sowohl die Militärröcke als die Kamisole waren schmierig, mit Wein begossen und saßen wie Säcke. Die riesigen Perücken waren zerzaust, die Mützen schief aufgesetzt, eigenes Haar guckte unter den schwarzen Locken hervor, rotes, hellbraunes slawisches Haar. Im Licht des feuchtgrauen Morgens und der heruntergebrannten Kerzen erschienen die Gesichter dieser Höflinge grünlich, angeschwollen, mit scharfen Falten, Spuren schlafloser Nächte und Branntweingelage.

Die Tür ging auf, Peter trat herein, und tief verneigten sich vor ihm die sieben Perücken. Er nickte, setzte sich an den Tisch, schob schroff die Papiere zur Seite, schaffte Platz für seine Hand und begann mit den Fingern zu trommeln. Seine runden, schwachen, vor Wahnsinn flammenden Augen starrten die Anwesenden an.

So pflegte er zu blicken. Sein Blick durchdrang, durchbohrte, sog sich ein und konnte spöttisch und zornig sein. Behüte einen Gott davor, vor seinem bösen Auge zu stehen! Man erzählt, die Kurfürstin Eugenie sei in Ohnmacht gefallen, als ihr Peter zu Berlin, während er beim Abendbrot zur allgemeinen Verlegenheit laut schmatzend eine gefüllte Gans verzehrte, plötzlich und schnell ins Auge geblickt hätte. Aber noch niemand sah bei ihm einen ruhigen, hellen, die Seele spiegelnden, menschlichen Blick. Im Volke von Moskau, das seinen Blick fest im Gedächtnis behielt, hieß es, Peter sei kein Mensch, sondern der Antichrist.

Die Ordonnanz Wassjka, Sohn des Adligen Ssukin, brachte auf einem Brett Schnaps, Gurken und Brot. Peter nahm mit seinen schwieligen Fingern das Glas, trank langsam den Schnaps aus, wischte den Mund mit der Handfläche ab und begann an einer Gurke zu nagen.

Das war sein Frühstück. Die Falten auf der Stirn glätteten sich, und der schöne Mund, der durch die andauernde Anstrengung, die Grimasse zurückzuhalten, verunstaltet war, lächelte. Peter sog stark durch die Nüstern Luft ein und begann in seine schwarz gewordene kurze Pfeife Knaster zu stopfen. Die Ordonnanz reichte die Lunte. Peter schnaubte durch das Pfeifenrohr und sagte:

»Geh, wecke sie, laß sie heraus!« Und er gab ihm den Schlüssel von den Schränken, in die die übrigen drei Ordonnanzen über Nacht eingesperrt wurden. Diese Schränke waren unlängst errichtet worden, nachdem es sich erwiesen hatte, daß die Ordonnanzen trotz Ermahnungen und Schlägen zu den Mädeln im Obergeschoß – den Hoffräulein – durch das Bodenfenster durchzubrennen pflegten.

Dann schloß der Kaiser halb die Augen, runzelte die Stirn und sagte mit einer Grimasse: »Der durchlauchtigste Fürst Menschikow wird wohl nach dem gestrigen Debauchieren und der Feier zu Ehren Iwaschka Chmjelnizkijs einen blöden Kopf haben. Komm nur, komm. Wir wollen mal hören, wie du im Rausche lügst.«

Er zog die Zahlenlisten vom Tisch näher heran und blies eine Rauchwolke in das lange, von Angst schief gewordene Gesicht des Durchlauchtigsten. Doch das Lächeln war trügerisch. Große Schweißtropfen erschienen auf der hohen, von Zorn geröteten Stirne Peters. Die Anwesenden ließen die Blicke sinken. Atmeten kaum. Gott sei uns gnädig!

»Salpeter für vierzig Rubel, sechs Dreier und zwei Denjgas. Wo ist der Salpeter?« fragte Peter. »Hafer zu einem Dreier und vier Denjgas, zwölftausend Maß. Wo ist der Hafer? Das Geld steht hier, wo ist der Hafer?«

»In Pskow, im Bojarenhof, in Säcken bis auf den heutigen Tag«, murmelte der Durchlauchtigste.

»Du lügst!«

Der heilige Nikola behüte einen jeden davor, sich zu rühren! Peters Kopf neigte sich zur Schulter. Der Mund, die Backe, sogar das Auge wurden schief. Der Fürst versuchte vorsichtshalber, um sein gepflegtes Gesicht zu retten, sich umzuwenden, wenigstens nach der Seite zu wenden, aber es war schon zu spät: Die riesige Zarenfaust erhob sich vom Tisch, fuhr auf seinen Mund nieder und zerschlug ihm die Lippen. Die aus den öligen Augen des Durchlauchtigsten hervorquellenden Tränen vermischten sich mit Blut. Allen wurde es leichter ums Herz. Tolstoi drehte sogar seine Tabaksdose in den knochigen Fingern. Schachowskois Lippen gaben einen Laut von sich. Das Gewitter war leicht vorübergezogen.

So begann der Morgen. Ein gewöhnlicher Petersburger Werktag.

 

Es gab aber viel zu tun. Die diebischen Rechnungen des Fürsten Menschikow erledigen; an seine Exzellenz den Fürsten Romodanowskij schreiben, er möge aus Orjol, Tula und Galitsch Zimmerleute und Holzhacker nach Petersburg jagen, »da das im Februar angekommene Volk ganz ausgestorben ist, und deshalb soll man nur Junge hertreiben, damit sie nicht, Leib- und Fußschmerzen vorschützend, unnötigerweise hinsterben«; nach dem Lodijnofeld schreiben, daß er in einer Woche selbst auf die Werft kommen werde; nach Warschau an Dolgorukij schreiben; nach Reval an den Kaufmann Jakob Dill, er möchte drei halbe Dutzend Flaschen gutes Dünnbier, ein Bündel Knoblauch und Speck senden. Nach Beendigung der Arbeit, der Briefe, der Befehle, des Reglements muß er auf die neue Werft fahren, wo eine Linienfregatte mit zwei Verdecken gebaut wird; die Kanonen- und die Seilfabrik aufsuchen; unterwegs beim Schuhmacher Matthäus vorfahren, um seine Tochter zur Taufe zu halten, ein Glas Pfefferbranntwein zu leeren, Rübenkuchen dazu zu essen und einen silbernen Rubel der Gevatterin Wöchnerin unter das Kissen zu stecken; den diebischen Beamten am Salzzollamt verprügeln; zwischen den Gebäuden am Ufer und auf der Insel herumgehen; um zwölf das Mittagessen einnehmen und bis drei Uhr schlafen; nach dem Mittagsschlaf in die Geheime Kanzlei fahren, wo Pjotr Andrejitsch Tolstoi, Uschakow und Pissarew die Staatsverbrecher unter Folter vernehmen. Abends eine »Assemblee« auf kaiserlichen Befehl. Alle müssen anwesend sein, nach der Musik herumspringen, trinken und Tabak rauchen, und sollte jemand nicht erscheinen, so ist des Kaisers Zorn fürchterlich.

Kurzum, es gab viel zu tun.

 

Ein feuchter Wind brachte dichten Nebel vom Meere her; in den Wassiljewskijsümpfen rauschte der gelichtete Tannenwald; die hie und da noch in der Stadt ragenden hohen Fichtenbäume neigten sich im Sturm; von den Hütten und Speichern wehte der Wind das faule Stroh herunter, er heulte in den kalten Kaminen, schlug mit den Türen: Es gab viele leerstehende Häuser, denn das Volk starb an Seuchen, Nebelschwaden und Hunger. Ein arges, trauriges Leben herrschte in Petersburg.

Der aufschwellende Fluß schlug an das mit Balken verkleidete Ufer; Barken mit steilen Borden schwankten und kreischten; auf freien Plätzen bildeten der Schnee und der Regen ganze Teiche, über die für die Durchfahrt Holzklötze, Bretter und Blöcke quergeworfen waren.

Auf der schwarzen Brandstätte des am vorigen Donnerstag auf der Petersburger Seite abgebrannten Kaufhofes ragten vier Galgen empor, auf denen der Wind vier Diebe schaukeln ließ, die da zur allgemeinen Furcht und Abschreckung für die Zukunft gehenkt worden waren. Die Ufer des Flusses und der Newa-Perspektive entlang, die schon von beiden Seiten mit kümmerlichen Bäumchen bepflanzt waren, und um den ganzen Trojizkij-Platz herum klopften die Äxte, zogen Karren mit Sand, Handwagen mit Kalk, Kiesel- und Ziegelsteinen. In dem Schmutz, im gelben Nebel, auf Pfählen, die in den sumpfigen Schlamm hineingerammt waren, entstanden jeden Tag neue Speicher, lange Baracken, Krankenhäuser und Privathäuser der Bojaren, die man hier ansiedelte. Allmählich verminderte sich die Zahl der aus Weidengeflecht und Lehm erbauten Hütten, wo noch vor kurzer Zeit Golowin, Ostermann und Schafirow gewohnt hatten. Nur der flinke Durchlauchtigste hatte es längst fertiggebracht, sich ein Holzpalais mit einem Turm, wie an einer deutschen Kirche, aufzubauen, und suchte jetzt nach einer passenden Stelle für ein Schloß aus Stein. Von allen Seiten Rußlands kommend, alle Sprachen sprechend, arbeiteten Tag und Nacht viele Tausende von Menschen am Aufbau der Stadt. Überschwemmungen vernichteten die Arbeit, Feuer richtete sie zugrunde; der Hunger und die Pest mähten das Volk nieder, aber immer wieder kamen über die sumpfigen Wege, über die Stege in den Wäldern neue Züge Maurer, Holzhauer, Böttcher und Gerber. Manche waren in Eisenfesseln geschlagen, damit sie nicht fortliefen; andere wurden an den Werstpfählen, vor dem Richterhause totgeprügelt; die begleitenden Dragoner, schnurrbärtig wie die Kater, glattrasiert, katzenähnlich in den ausländischen grünen Röcken, kannten keine Gnade.

Die Zarenstadt entstand am Rande der Erde, in Sümpfen, dicht an der Grenze des Auslandes. Wer sie brauchte, für welche neue Pein das Volk sein Blut und seinen Schweiß vergießen und zu Tausenden untergehen mußte, das wußte das Volk nicht. Aber die Erde stöhnte unter der Last der Steuern, der Abgaben, der Wegebau- und Kriegspflichten. Und wenn jemand aus Empörung bloß ein Wörtchen fallen ließ: »Man fordert schon wieder von den Bauern, daß sie Fuhrwerke stellen; wir sind schon durch die Fuhrwerke, die Abgaben, die Steuern verarmt, und jetzt verlangt man noch Zwiebäcke. Der Zar hat sein Land leer und arm gemacht, aber an unserem Zwieback wird der Zar ersticken«, so wurde solch ein Unglücklicher in Eisenfesseln gelegt und in die Geheime Kanzlei oder Preobrashenkij-Gerichtsstube gebracht, und man konnte von Glück reden, wenn ihm nur der Kopf abgehauen wurde; denn manche wurden auf dem Rad gefoltert oder mit einem eisernen Pfahl durchbohrt oder lebendig geräuchert. Die fürchterlichsten Strafen bedrohten einen jeden, der auch nur im geheimen für sich allein oder im Rausche darüber grübelte: »Führt uns der Zar zum guten? Sind alle diese Qualen nicht umsonst erlitten, bringen sie uns nicht zu einer noch ärgeren Qual, die viele hundert Jahre dauern wird?«

Es war verboten, etwas anderes als bloß Unterwürfigkeit nicht nur zu denken, sondern auch zu fühlen. Nur so vermochte Zar Peter, in seinen Wüsteneien und Sümpfen sitzend, dank seinem ungeheuerlichen Willen sein Reich zu befestigen und das Land umzubauen. Ob Bischof oder Bojare, ein leibeigener Bauer, ein Scholar oder ein heimatloser Landstreicher – niemand durfte ein Wort gegen diesen Willen sagen. Ein eifriges Ohr könnte es auffangen, zur Gerichtsstube laufen und Anzeige erstatten. Überall strichen Kommissare herum, Spione, Angeber; dröhnend rollten die Wagen mit Gefangenen vorbei, eingeschüchtert und eingeängstigt war das ganze Land.

Die Städte und die Dörfer entvölkerten sich; das Volk lief hinter den Don und die Wolga, in die Brjansker, Muromer, Permer Wälder. Manche wurden von den Dragonern gefangen, andere von Räubern mit Knütteln erschlagen, andere von Wölfen zerrissen, andere von Bären zerfleischt. Die Felder bedeckten sich mit Steppengras, das Bauerntum verwilderte, starb aus; die Woiwoden und die Kommissare stahlen. Und wollte Zar Peter wirklich Rußlands Wohl? Was bedeutete Rußland für ihn, diesen Herrscher, der in Zorn und Eifersucht entflammt war, weil sein Gut und sein Vieh, seine Knechte und seine ganze Wirtschaft schlechter und dümmer seien als die des Nachbars? War es das Wohl des Landes, an das er dachte, als er mit einem von Wut und Ungeduld zuckenden Gesichte aus Holland nach Moskau geritten kam, in diese alte, faule, orthodoxe Stadt, mit ihrem leisen Glockenschlag, mit den zerbrochenen Zäunen, mit den Maßholdersträuchern und den Mägden an den Toren, mit den chinesischen, indischen und persischen Kaufleuten unter den Mauern des Kreml, mit Kühen und ärmlichen Popen auf den Plätzen, mit den überklugen Bojaren und den Schützenfreischaren?

Liebte er sein eigenes Rußland? Kam er mit Liebe und Mitgefühl? Angerannt kam er voller Wut – schau einer, was er für ein Reich gekriegt hat – was sind der brandenburgische Kurfürst oder der holländische Statthalter gegen ihn?! Sofort, am selben Tage soll alles umgekippt, umgeschnitten werden! Die Bärte ab und holländische Röcke an! Auf der Stelle klüger werden und anders denken lernen!

Und der leiseste Widerstand – kaum ein leises Stottern darüber, daß wir halt keine Holländer seien, sondern Russen, die das tatarische, chasarische und polowezer Joch erlitten, mehr als einmal mit unserem Blute und unserem Gebein das Land wiedererobert haben, und keine Holländer werden können – hab doch ein Einsehen, wie könnten wir es auch! – und das Zarenherz entbrannte in Wut über diese Frechheit, und es rollten die Köpfe der Strelitzen.

Tag und Nacht wurden beim Lichte des brennenden Pechs auf den über Sümpfe geworfenen Balken Menschenköpfe abgeschlagen. Der Durchlauchtigste selber, dazumal noch Alexaschka, prahlte, daß er mit einem Hieb, ohne den Menschen umzuwerfen, einen Kopf herunterhauen könne. Man trank viel Branntwein in jenen Tagen, einen mit dem Pfeffer des Sultans angesetzten schwarzen Branntwein. Der Zar selbst stieg vor dem Lubjanskij-Tor vom Pferd, stieß den Henker weg, beugte den Strelitzenhauptmann an den Haaren zum Balken und schlug so stark auf seinen Hals ein, daß die Axt klirrend tief ins Holz drang. Der Zar schimpfte unflätig, sprang aufs Pferd und jagte nach dem Kreml.

Keinen Schlaf gab es in jenen Nächten. Man trank, man rauchte holländische Pfeifen. Einem Gutsbesitzer, Laptjew, wurde eine Kerze ins Innere gesteckt, dann wurde er auf den Tisch gelegt und die Kerze angezündet. Das Gelächter war groß.

 

In einem kurzen Nacktpelz, in einer Mütze aus Hirschleder, den Hals mit einem gestrickten Schal umwunden, setzte sich Peter auf einen zweirädrigen Wagen, nahm die Zügel in die Hand, stieß mit dem Ellbogen den pockennarbigen Soldaten, der sich an seiner Seite klein machte, noch mehr zur Seite und fuhr aus dem Hofe. Der gefügige, braune Wallach, der an jegliches Wetter gewöhnt war, bewegte gemächlich seine Hufe; eine schnelle Fahrt war unmöglich: der Wagen wurde auf dem schon stark zerfahrenen Fahrweg aus Balken hin und her geworfen und geriet in Gruben voller Schmutz.

Ein starker Wind schlug mitten ins Gesicht und jagte den endlosen, zu Fetzen zerrissenen Wolken nach. Die Sonne hing tief herab, wurde zeitweise von grauen Lappen verhüllt und quoll dann wieder hervor, scharlachrot, matt, nordisch. Auf der Erde aber und zwischen den Wolken, überall wälzte sich der gelbliche feuchtwarme Nebel.

Ist das ein Wetter! Ein prachtvolles Wetter! Starke Seeluft! Windzug! Mit Genuß die Nüstern blähend, sog Peter diesen salzigen, feuchten Wind ein, der irgendwo in der Ferne auf offener See mit Waren beladene Handelsschiffe, Barken und drohende Linienschiffe jagte und den widerlichen russischen Geist aus allen Ecken herauswehte.

Und hat auch des Zaren Axt ein Fenster in des Volkes Fleisch und Bein geschlagen, und sind auch im starken Windzug die ruhigen Bauern, die nicht einmal wußten, wer und wozu man ihr Leben brauchte, zugrunde gegangen, ist auch die ganze Selbständigkeit von oben bis unten gespalten, das Fenster wurde dennoch geschlagen. Ein frischer Wind drang in die uralten Gemächer hinein und jagte von den warmen Ofenbänken die verschlafenen Einwohner herunter, und nun krabbelten und krochen die russischen Menschen zu den erweiterten Grenzen – um für das allgemeine Staatswohl zu sorgen.

Und dennoch kam es anders, als der stolze Peter es wünschte; nicht stark und festlich trat Rußland in den Familienkreis der großen Mächte! Nein, von ihm an den Haaren geschleppt, blutübergossen, sinnlos vor Schreck und Verzweiflung, so erschien es vor den neuen Anverwandten, in einem ärmlichen und elenden, sklavischen Zustande. Die russischen Kanonen mochten noch so donnern, das große Land, das sich von der Weichsel bis zu Chinas Mauern streckte, war zu einer Sklavin herabgesetzt und erniedrigt.

Über den Trojizkij-Platz marschierte eine Abteilung des Semjonower Regiments in kupfernen Helmen und durchnäßten Röcken. Die Soldaten wateten gewandt durch den Schmutz und nahmen plötzlich Habachtstellung an, die Augen auf den Kaiser richtend. Die Beamten, die, in Geschäften eilend, über die den Häuschen und Läden entlang gelegten Stege gingen, zogen tief die Hüte, und der Wind zerzauste die Locken ihrer Perücken. Das gemeine Volk in Bauernkitteln und Schafpelzen, manche barfuß, fiel auf die Knie mitten in die Pfützen, obwohl der Befehl lautete: »Vor dem Zaren, dem man auf seinem zarischen Wege begegnet, nicht auf den Boden fallen, sondern den Hut lüften und anständig stehen bleiben, wo man sich gerade befindet, bis der Zar vorüberzugehen geruht.«

Nur ein dicker Bäckermeister aus Hannover, in gestreiften Hosen und sauberer Schürze vor der Tür seiner Bäckerei stehend, auf deren Fensterladen kuriose langnasige alte Männlein gemalt waren, lächelte lustig und rief, mit der Pfeife nickend: »Guten Morgen, Herr Peter!«

Und Peter wandte ihm sein feuerrotes, rundes Gesicht zu und rief: »Guten Morgen, Herr Müller!«

Am Ufer drängten sich zwischen Brettern, Balken und Tonnen mit Kalk Arbeiter. Dahin eilte auch in seinen hohen Stiefeln ein Bengel, in eine Bastdecke gehüllt, ein Brett mit Kuchen tragend. Vom anderen Ufer her nahte mit Rudern und Segel eine Polizeibarkasse; sie legte sich auf die Seite, ihr Kiel zerschnitt die Wellen, und auf ihr stand, unflätig fluchend, der Polizeimeister. All das zeugte von einer Unordnung.

Und die Unordnung bestand in folgendem: Das Volk umringte in großer Bestürzung eine Tonne mit Kalk, auf der ein magerer, gebückter Mann ohne Mütze stand. Sein Haar – vollkommen verfilzt – fiel in Strähnen auf die Schultern; sein ausgemergeltes Gesicht mit einer Adlernase war dunkel und voller tiefer Falten; die Augen waren eingefallen und leuchteten wild; ein dünner Bart tanzte auf seiner Brust; seine mageren Rippen, denen eines Hundes gleichend, waren durch die Löcher in seinem von einer Bastschnur umgürteten Bauernrock zu sehen. Er erhob die Hände, machte mit zwei Fingern das uralte Zeichen des Kreuzes und schrie durchdringend mit wilder Stimme: »Höret, Christen, heute wurden die Stempel auf drei Schiffen hergebracht. Und diese Stempel sind dazu da, um den Menschen aufgebrannt zu werden; der Kaiser ist sie selber holen gefahren, und sie sind auf die Kotlininsel gebracht worden. Doch sie werden niemandem gezeigt und werden stark und ständig von Soldaten bewacht.«

»Das ist wahr – wahr –«, murmelte die Menge. »Wir haben selbst gehört … Brennstempel sind gebracht worden … Es hat schon gestern einer dasselbe gesagt …«

Zwei Sergeanten mit langen Schnurrbärten begannen schon, das Volk auseinanderzutreiben. Manche gingen fort. Andere drängten sich nur enger am Faß zusammen, wie Schafe … Der abgerissene Mensch aber spreizte die Finger und zeigte schreiend: »Hier zwischen dem Daumen und dem mittleren Finger wird der Kaiser den Stempel aufbrennen, und man wird an ihn glauben. Höret, Christen, höret … In Moskau hat man schon alle gezwungen, in der Fastnachtswoche und in den großen Fasten Fleisch zu essen. Und nach dem Solowezker Kloster sind drei Beamte gesandt worden, um die Mönche zu lehren, Fleisch zu essen. Und der Zar wird allen Menschen beiderlei Geschlechtes den Stempel aufbrennen und den Gutsbesitzern und den Bauern das Brot fortnehmen, und jeder bekommt nur die geringste Menge, alles übrige bekommen aber nur die Gezeichneten, und die Nichtgezeichneten bekommen kein Brot. Fürchtet diese Zeichen, ihr Christen! Flieht, verbergt euch! Die letzte Stunde naht … Der Antichrist ist gekommen … Der Antichrist …«

Die Bauern wichen, sich bekreuzigend und spuckend, zurück. Manche liefen davon. Einige Weiber schrien im hysterischen Anfalle … Man überrannte den Jungen in der Bastdecke und warf sein Kuchenbrett um. An die zwanzig Soldaten schlugen mit Stöcken auf die Köpfe ein. Der Abgerissene stieg von der Tonne herunter und ging gesenkten Kopfes weiter. Die Menge teilte sich vor ihm, und er verschwand hinter den Holzstapeln.

Als Peter, langsam über die Pfützen schreitend, an den Tatort kam, hatten die Soldaten schon die Arbeiter auseinandergejagt, und der Oberpolizeimeister Iwaschin zerrte nur einen elenden Bauern aus Wjatka an den Haaren. Es war der letzte, der noch geblieben war. Dieser Bauer aus Wjatka hielt die Hände auseinandergespreizt und wandte, nach vorne gebückt, den Kopf nach allen Seiten, nach denen ihn die Obrigkeit zerrte; Iwaschin schielte mit Grauen auf den nahenden Zaren, denn es war keine Kleinigkeit: ein Aufruhr und Nachlässigkeit des Polizeimeisters.

»Ich bin verloren, er schlägt mich auf der Stelle tot«, dachte er eilig und drehte den gefügigen Kopf an den Schläfenhaaren hin und her.

»Wer? Was? Warum?« fragte Peter abgerissen, mit zuckendem Mund; er packte selbst den Bauern aus Wjatka am Halbpelz von hinten und näherte dessen hageres Gesicht mit den eingefallenen Wangen, das demütig bereit war, den Tod zu empfangen, seinen wahnwitzigen Augen. Er klammerte sich mit dem Blick an ihm fest, durchbohrte ihn, wie wenn er seine ganze einfache Bauernseele aussaugen möchte.

»Jesus Christus«, flüsterten die blaugewordenen Lippen. Aber Peter schleuderte ihn schon weit von sich fort und wandte sich an Iwaschin.

»Herr Oberpolizeimeister, ich bitte mir über die Ursache der Arbeitsunterbrechung Bericht zu erstatten.«

Das glattrasierte, pockennarbige Gesicht Iwaschins bedeckte sich mit einer fahlen Blässe. Bis zum letzten Grad seine Muskeln anspannend, stand er stramm und berichtete: »Der Bäckerjunge trug Kuchen, das Volk griff nach ihnen ungebührlich, es entstand Streit und eine Balgerei, den Bäckerjungen hat man beinahe erdrückt, die Kuchen sind alle zertreten worden.«

Er log, er log und wunderte sich nachher selber sehr, wie gewandt er sich aus dieser üblen Klemme gerettet hatte ja, er log ganz ausgezeichnet, offen und ehrlich in des Zaren Augen blickend. Peter fragte schon ruhiger: »Womit waren die Kuchen gefüllt?«

»Mit Pilzen, Majestät.«

Iwaschin bückte sich geschwind, den Degen mit der Hand festhaltend, hob einen Kuchen aus dem Schmutz empor und reichte ihn dem Kaiser. Peter zerbrach ihn, roch an ihm und warf ihn fort. »Und dieser da, Majestät«, sagte Iwaschin, den Bauern aus Wjatka mit dem Stiefel stoßend, »dieser da ist der Anführer aller dieser Verbrecher und Radaumacher, er ist ein Aufrührer und Verbrecher.«

»Stöcke!« Peter wandte sich um und ging in seiner ungelenken, aber geschwinden Gangart das Ufer entlang zu den Arbeiten. Iwaschin eilte im Trab, den Dreimaster und den Degen festhaltend, ihm nach.

An das morastige Ufer schlugen Wellen, die schwarzes, zerschellendes Eis herbeibrachten, und auf ihm regten sich an die dreihundert menschliche Gestalten, Leute aus Orjol und Tula in kegelförmigen Filzhüten, Kirgisen in spitzen Mützen, die an ihre Zelte erinnerten, und Ohrenklappen aus Pelz, Küstenbewohner vom Weißen Meer, Sibirier in Hundefellen und sonstiges Wandervolk, die einen in Lumpen, die anderen in Bastdecken gehüllt.

»Nicht umschauen … nicht umschauen … nicht umschauen …«, raunten gedämpfte Stimmen das ganze Ufer entlang. Ohne ihre Hände und Rücken zu schonen, angetrieben durch die Aufseher und mehr noch durch des Zaren scharfen Blick, arbeiteten alle diese skorbutkranken, von Flechten und Ausschlägen bedeckten Erbauer der großen Stadt »frisch und lustig«, wie es im Reglement hieß. Sie rammten Pfähle ein, schleppten im Trab Balken herbei, warfen sie polternd hin, zersägten sie, wälzten sie herauf; an die fünfzig Mann, bis an die Brust im Wasser stehend, behauten Balken. Es roch beißend nach nassem Holz, nach Teer und dem Rauch der angesengten Pfähle.

Alle diese Menschen waren wie Erdgeister aus dem Nichtsein emporgerufen, um ohne Klage und Rast Mauern aufzurichten, Befestigungen und Paläste zu bauen, die Wellen des Flusses zu bändigen, den Wind in die Segel zu zwingen, mit dem Feuer zu kämpfen.

Es genügte ein einziges Wort oder ein Zucken der Wimpern, um die Ufer der Newa um einen Klafter zu heben, sie mit Granit zu bekleiden, Bronzeringe hineinzuschrauben, dort rechts von den drei abgerupften Tannen ein riesiges Gebäude aufzurichten, mit Kanälen, Schwibbogen, Kanonen am Eingang und der hohen goldenen Spitze, auf der einst die Sonne des Nordens aufleuchten sollte.

An den Nägeln kauend und die Stirne runzelnd, blickte Peter auf den Ort, wo das Marinearsenal entstehen sollte. Auf dem niedrigen Ufer standen lange Baracken mit Teer, Hanf, Gußeisen; ringsumher wuchsen Wälder, Wagen zogen über die aus den Kanälen ausgehobene grünliche Erde. Wieviel Zorn, wieviel Ungeduld war noch vonnöten, damit die herrliche Stadt entstehe!

Und da gab es eine Störung wegen irgendwelcher Kuchen! »Wieviel Zeit wurde mit den Kuchen verloren?« fragte Peter schnell, ohne sich umzuwenden, denn er wußte, daß der Gefragte wie ein Heinzelmännchen sofort vor seinen Augen erscheinen würde. Iwaschin sprang vor und berichtete: »Nicht mehr als eine halbe Stunde, Majestät.«

»Komm zu mir am Nachmittag in die Drechslerwerkstatt.«

Am Ende des Baues bog Peter auf den Steg ein, durch dessen Bretter unter seinen Schritten Wasser gluckste. Er nahm hier seine Uhr heraus und hob mit dem schwarzen Nagel den Deckel hoch; es war genau halb elf; nun bestieg er das an den Pfählen schaukelnde und kreischende einmastige Boot.

Ein Matrose mit starken Backenknochen, in einer kurzen gesteppten Jacke und einer in Falten aus ihr herausquellenden braunen Hose sah Pjotr Alexejitsch lustig an, steckte seine Tonpfeife in die Tasche und zog, geschwind die Hände bewegend, das Segel hoch. Sofort legte sich das bis jetzt hilflos schaukelnde Boot, wie wenn es alle Muskeln gestrafft hätte, auf die Seite, und der Mast stöhnte und bog sich im starken Wind. Peter nahm die Hand vom Geländer des Stegs, legte sie an das Steuer, und das Boot sprang auf den Wellenkamm und glitt über die Newa dahin.

Peter sagte zwischen den Zähnen: »Ein Windchen, Stepan, was?«

Der Matrose verzog den Mund zu einem breiten Lachen, blinzelte gegen den Wind und spie aus.

»Frühmorgens gab es Nordwind, und jetzt, als es Tag wurde, geht der Wind nach Nordwest.«

»Du lügst. Nordwest-west.«

Stepan lächelte, nickte mit dem Kopfe, antwortete aber nicht: Er und Pjotr Alexejitsch waren zwar alte Freunde und Seefahrer, doch viel streiten konnte er mit ihm nicht.

Vor dem im Bau befindlichen Marinearsenal, wo sich schon ein hoher, aus festen Balken erbauter, nach Teer riechender Uferdamm von hundertfünfzig Klafter Länge hinzog, sprang Peter aus dem Boot und ging wie immer eilend und mit den Händen fuchtelnd zu den Hanflagern.

Die Matrosen, die Beamten, die Arbeiter und die Soldaten hörten die schweren und ungelenken Schritte des Kaisers nahen und neigten sich, sobald sie sie hörten, über die Papiere und Bücher und taten sehr geschäftig.

 

Die wie eine Fischblase matte Sonne hing den halben Tag über dem armseligen Tannengebüsch und ging dann unter. Der ganze Himmel wurde dunkelrot, wie Kohlenglut loderten die Ränder der bleischweren Wolken, die sich über das Abendrot Tausende von Meilen weit wälzten; Säulen von schwarzrotem Nebel stiegen gen Himmel auf; rot wie Blut strömte die Newa dahin; die Pfützen auf dem Platz, die Räderspuren, die Glimmerfenster der Häuschen und die Fichtenstämme, alles glühte in diesem roten Schein; die großen, funkensprühenden Feuer, die auf den Arbeitsstätten brannten, erschienen dagegen blaß.

Nun blitzte die Kanone auf dem Festungswall wie eine grelle Nadel auf; der Schuß fiel und erweckte ein fernes Echo; Trommelklang erscholl, und lange Arbeiterreihen zogen nach den Baracken.

Neben diesen aus langen und niedrigen Gebäuden mit den hohen Dächern und Wänden aus runden Balken dampften Kessel. Soldaten bewachten sie. Trotz des strengen Verbotes trieben sich Sbitenverkäufer mit starkem Sbiten herum, Diebe, Hausierer und Spitzbuben, die die Leute zum Würfelspiel und zum Tabakrauchen verlockten. Bettler und Krüppel jammerten, und allerhand Leute drängten sich da herum, herangelockt durch die Hoffnung auf Beute, Speise, Wärme. Man jagte sie fort, alle konnte man aber doch nicht verjagen, manche blieben.

In der zweiten Wassiljewskij-Baracke umdrängten ebenso wie überall die müden, erfrorenen Arbeiter den Kessel und reichten ihre Näpfe dem schnurrbärtigen Unteroffizier, der fortwährend wiederholte: »Langsam, Kinder, zurück!«

Wer seine Portion erhalten hatte, schleppte sich in die Baracke, setzte sich auf seine Pritsche und aß schweigend: auf das Essen durfte man nicht schimpfen, denn es kam vom Zaren. Brot kaufte man für eigenes Geld; man sagte, ins zarische werde absichtlich Pferdemist gemischt.

Die an zwei Stellen über den Unratbottichen brennenden Kienspäne beleuchteten schwach die in drei Lagen aufgebauten Pritschen, die spaltenreichen, unbehauenen Wände und eine Menge Lumpen, die auf Bastseilen von der Decke herunterhingen. Mit vollgestopftem Bauch krochen die Leute krächzend und sich bekreuzigend auf die Pritschen, bedeckten sich mit Schafpelzen, Bastdecken und Lumpen und schliefen ein bis zur Morgentrommel. Vor der Tür ging die ganze Nacht ein Soldat in Tschako und Schärpe mit einer großen Hellebarde auf und ab; er hustete, um Angst einzujagen, und steckte von Zeit zu Zeit einen neuen Kienspan an. Es war streng verboten, Unfug zu machen, und strenger als alles andere – zu schwatzen, damit es keine Sünde gäbe.

Doch ohne Sünde kann man ja nicht leben; dem Soldaten kann man eine Kopeke geben, damit er nicht höre, was er nicht hören soll, und der schlimme Mensch dringt in die Baracke hinein. Montanon, ein Ausländer, stieg hoch unter die Decke hinauf und breitete seinen ganzen Reichtum auf einem Tuche aus: eine Flasche Schnaps, Tabak, Würfel, und dann begann er mit dem Nagel zu kratzen: Ich bin da und warte.

Und jede Nacht schlichen zu ihm Semjon der Hase und Mitrofan, ebenfalls Hase, und Semjon der Kurze und Anton der Tscherkesse; sie unterhielten sich flüsternd, spielten Würfel, klimperten mit den Kopeken und hauten vorsichtig, um den Lärm zu vermeiden, Montanon wegen seiner Diebesschliche. So verbrachten sie die Zeit.

Und war es denn nicht ganz gleich – sollte man sie auch erwischen und totprügeln, im Dienste des Zaren hat es doch keiner länger als drei Jahre ausgehalten. So war es denn auch heute. Die Gesellschaft versammelte sich, man zündete einen Talgstumpf an, nahm die Würfel und begann das Spiel. Der Soldat ging beim Lichte des brennenden Kienspans auf und ab und gähnte vor Langeweile. Plötzlich hörte er unten auf einer Pritsche flüstern: »Vater Warlaam, wie wird er uns denn stempeln?«

»Man sagt dir doch, du Schaf, zwischen dem mittleren Finger und dem Daumen.«

»Ist es wahr, Vater Warlaam?«

»Es ist wahr«, antwortete die uns schon bekannte heulende Stimme, »diese Stempel sind aus Eisen, man wird sie glühend machen und auflegen. Sie tragen ein Kreuz, doch nicht das unsrige, christliche.«

»Gott im Himmel, was soll man da tun? Und wenn ich mich nicht hergebe?«

»Zuvor wird man dich aber mit Kräutern berauschen, mit Tabak beräuchern, man wird, um dich zu verführen, in Masken auf Fässern um dich herum reiten und dir nackende Weiber zeigen, und die Weiber werden schwanger sein, die eine wird eine Schlange tragen, eine andere 'nen Frosch.«

»Es stimmt, Kinder, es stimmt, in der vorjährigen Fastnacht habe ich selber gesehen, wie man auf Fässern ritt und Weiber herumsprangen.«

»Dasselbige sage ich ja auch.«

Der Soldat merkte, daß die Stimmen nicht von der Gesellschaft um Montanon kamen und daß das Gespräch höchst verdächtig klang; er kam näher, ließ die Hellebarde fallen und sagte, unter die dunklen Pritschen blickend: »Wer brummt da herum, ihr Teufel? Warum schlaft ihr nicht?«

Die Stimmen verstummten sofort; jemand zog seine nackten Beine ein. Der Soldat stand noch eine Weile, nahm eine Prise und sagte: »Gesindel! Laßt die anderen nicht schlafen. Kennt ihr denn nicht unseres Zaren strengen Befehl: in den Arbeiterräumen keine Unterhaltung, höchstens eine Bitte um Essen oder um eine Nadel oder Salz. Es geht heute streng zu.«

Aber gerade als er sich anschickte, die zweite Prise in beide Nasenlöcher zu stopfen, schrie die heulende Stimme laut durch den ganzen dunklen Raum: »Du lügst! Unser Zar wurde durch die Deutschen vertauscht, dieser ist nicht der Zar, ich habe es neulich selber gesehen – er hat kein Gesicht, sein Gesicht ist kein menschliches, er zuckt mit dem Kopfe und verdreht die Augen, und die Erde will ihn nicht tragen, gibt nach. Unglück, Unglück hängt über ganz Rußland! Man hat uns betrogen, ihr Christen!«

Da warf aber der Soldat sein Tabakshorn und seine Hellebarde zu Boden, schrie »Wache!« und lief dem Ausgang zu, das von den Pritschen herunterkriechende, in Angst geratene Volk auseinanderstoßend. Stimmen brausten auf. Unter einer Bastdecke winselte eine Frau auf; eine andere sprang zum Kienspan und begann in einem Anfalle zu zappeln und quaken. »Haut ihn!« schrien die einen. »Wen soll man schlagen?« – »Man erwürgt mich!« Montanon ließ sein Werkzeug liegen und glitt wie eine Schlange zum Ausgang; man fing ihn und riß ihm sein halbes Haar aus.

Nun wälzte sich die Wache herein mit Fackeln und blanken Säbeln. Alles wurde still. Ein großer, vollwangiger Offizier blickte die Bauern mit ihrem zerzausten Haar und den offenen Mündern an, schob seinen Dreimaster in die Stirne, wandte sich halb um und kommandierte deutlich und scharf: »Alle verhaften! In die Geheimkanzlei!«

 

Die Geheime Kanzlei nahm einen ziemlich großen Platz ein, den ein hoher Zaun umringte. Das Hauptgebäude war aus Ziegeln gebaut, alle Nebengebäude, die Gefängnisse, Speicher, Kasematten und Kasernen, waren aber aus runden Balken und wurden immer noch dazugebaut, denn der Platz reichte für die Staatsverbrecher, die man von überall herbrachte, nicht mehr aus.

Im Hauptgebäude, einem niedrigen roten Hause, mit Dachziegeln bedeckt, mit dicken Mauern und kleinen, nur wenig über der Erde gelegenen vergitterten Fenstern, befand sich vorne ein niedriges Zimmer mit Eichenbänken längs der Wände für die unter Bewachung Wartenden, rechts das Zimmer der Schreiber, links das Zimmer des Chefs der Geheimkanzlei, von wo eine aus Eisen geschmiedete Tür in die Folterkammer führte, einen gewölbten Raum mit Gängen und Zellen. Hinten im Hofe lagen allerhand Instrumente herum, Nötiges und Unnötiges, Bastdecken, Reisigbündel, verrostete Ketten, Leder, Särge, und da standen auch die »Spitzen«, das schrecklichste Foltergerät, selten nur angewandt.

Alle Zimmer hatten getünchte Wände und waren schon von Flecken der Feuchtigkeit und durch die Berührung der Hände und Rücken beschmutzt. Überall ein steinerner Boden mit eingetretenem Schmutz, einfache Eichentische und Hocker.

Der Ort war düster, und nur im Zimmer des Chefs brannte es Tag und Nacht im Kamin, denn Tolstoi fror leicht und rückte oft während der Vernehmung ganz nah an das Feuer heran, schloß die Augen und hörte zu, wie der Gefragte sich in seinen Antworten verwirrte und die Feder des Schreibers kreischte. Um acht Uhr sprang die Eingangstür auf, und in das Zimmer, in dem längs der Wände Soldaten und Arrestanten saßen, trat Peter. Er blinzelte der Stelle zu, wo der Talgstumpf trüb die Glatze des über das Papier gebückten Schreibers und die blassen Gesichter der aufgesprungenen Arrestanten beleuchtete, legte seine Finger an die Nasenlöcher, schneuzte sich laut, wischte sich mit dem Saume seines nassen Pelzes ab, bückte sich und schritt in die Kanzlei des Chefs.

»Nun, bleib nur sitzen«, brummte der Zar in der Richtung, in der Tolstoi saß, setzte sich vor den Kamin und streckte zum Feuer die roten Hände und die riesigen Stiefelsohlen. »Verdammtes Volk, nicht das geringste verstehen sie, nicht einmal die Dachstuhlsparren können diese Narren zusammensetzen«, fuhr er fort, in sichtbarer Absicht zu prahlen. »Schafirow ließ sich einen Ingenieur aus Riga kommen, einen Prahlhans und Dummkopf. Ich stieg auf das Dach und zeigte ihm, wie man es macht. Der Herr Ingenieur winselte: ›Das ist unmöglich, Herr Gott!‹ Und ich packte ihn unter der Perücke an den Haaren und sagte: ›Aber das ist möglich, das ist doch möglich!‹«

Schmunzelnd holte er eine kurze, zerbissene Pfeife hervor, griff mit den Fingern ein Stück Kohle aus dem Herd, warf es in der Handfläche hin und her und schob es in die Pfeife. Tolstoi sagte: »Majestät, die Sache des Kirchendieners Gultjajew, der im vorigen Monat auf dem Glockenturm der Trojiza-Kirche ein Gespenst gesehen und ausgerufen hat: ›Petersburg wird wüst und leer werden‹, ist untersucht und die Zeugen sind alle vernommen worden, Majestät müssen bloß einen Beschluß fassen.«

»Ich weiß, ich erinnere mich«, antwortete Peter, eine Rauchwolke vor sich blasend. »Damit Gultjajew keine dummen Worte mehr schwatzt, soll er gepeitscht und für ein Jahr ins Zuchthaus gesperrt werden.«

»Es wird geschehen«, sagte Tolstoi über die Akten gebückt, »und die Zeugen?«

»Die Zeugen?« Peter gähnte breit, am Kamin warm geworden. »Gib ihnen Pässe und schicke sie nach ihren Wohnorten gegen Unterschrift.«

Es wurde an die Tür geklopft. Tolstoi blickte streng über die Brille weg und sagte, die Lippen verziehend: »Herein!«

Es erschien der früher erwähnte vollwangige Offizier. Er reckte die Brust heraus, hielt mit der einen Hand den Degen, mit der anderen den nassen Dreimaster und berichtete, daß er nach den Gesetzen wegen eines Staatsverbrechens achtundneunzig Männer und Weiber verhaftet habe. Die Gefangenen befänden sich in Haft, und er bitte um weitere Befehle. Tolstoi runzelte die Stirne und schmatzte mit den Lippen; seine große Stirne mit den ungewöhnlich schwarzen und buschigen Brauen legte sich in Falten.

»Gegen wen erhebst du also Anklage? Gegen wen?« fragte er: »Gegen alle achtundneunzig, wenn ich dich recht verstehe? Wie? Ich höre nicht …«

Die Hand des Offiziers zitterte am Rand des Hutes, er schwieg und blieb unbeweglich stehen. Der Zar starrte, die Beine ausgestreckt, mit runden Augen ins Feuer und spie von Zeit zu Zeit. Ein Gerichtsschreiber kam auf den Zehen herein, grüßte den Sessel des Zaren, setzte sich an seinen Tisch und begann sofort zu schreiben, die schiefe Nase über das Papier bewegend. Tolstoi trat in die Mitte des Zimmers, nahm mit Genuß eine Prise aus einer goldenen Tabaksdose, neigte sein schlaues, träges Gesicht zur Seite, beguckte den verlegen gewordenen Offizier und sagte durch die Nase: »Du hast eine große Sache unternommen: achtundneunzig Angeklagte; mit den Zeugen werden es tausend werden. Ein ganzes Regiment. Wieviel Ochsenhäute muß ich da zu Peitschenriemen gerben lassen? Wieviel Papier beschreiben? Eine schöne Arbeit hast du mir da auferlegt. Warum schweigst du denn, mein Freund? Hast du etwa Angst bekommen?«

Bei diesen Worten kicherte er und schielte nach dem Zaren, mit den dünnen Fingern den Tabak von seinem Rock entfernend. Der Offizier murmelte mit abgerissener, aufgeregter Stimme: »Exzellenz, in der zweiten Wassiljewskij-Baracke wurden schimpfliche Worte über den Zaren gesprochen, es sagten sie der Dieb und Landstreicher Warlaam und Genossen …« Der Offizier sprach nicht zu Ende, erbebte und wich zurück: Mit solcher Wucht warf der Kaiser seinen schweren Sessel vom Feuer weg und schnaubte, sich in seiner ganzen Länge erhebend, mit rotem und entstelltem Gesicht, die heiße Asche aus der Pfeife verschüttend.

»Bring ihn her …«

Auch Tolstoi verfärbte sich, als wäre er in einer Sekunde ausgetrocknet, und sagte eilig: »Bringe ihn, vorläufig ihn allein, und nicht hierher, sondern in die Folterkammer. Die Genossen kommen in die Kaserne unter Wache. – Du bist für sie verantwortlich …«, rief er laut, an den Offizier heranspringend. Dieser machte kehrt und ging schnell hinaus.

Peter öffnete den Messinghaken an seinem Pelz und sagte mit schiefem Lächeln: »Ich sagte es Ihnen, Exzellenz, Warlaam ist in Petersburg. Sie glaubten mir nicht.«

»Majestät!«

»Schweig! Dummkopf! Paß auf, Tolstoi, daß auch dein Kopf nicht herunterfliegt.«

Peter stieß kräftig die eiserne Tür auf und ging, sich bückend, durch den schmalen Gang entlang ins Exekutionszimmer. Tolstoi blieb einen Moment unbeweglich, dann strich er sich mit seiner kalten trockenen Hand über die Stirne, ergriff eilig die Akten und folgte trippelnd dem Zaren.

So begann der große und schreckliche Prozeß des Propheten des Antichrist, der viele Monate dauerte, viele Menschen die Köpfe kostete und weit und breit über Rußland erscholl.

 

Warlaam hing schon seit vierzig Minuten an der Wippe. Seine nach hinten ausgerenkten, über dem Kopfe zusammengebundenen Hände waren an den Querbalken mit einem Riemen befestigt; der Kopf war gesenkt, wirre Haarsträhnen bedeckten das ganze Gesicht und vermischten sich mit dem langen Barthaar; der nackte, schmutzige Körper, an dem die Rippen hervortraten, war in die Länge gezogen und mit Rußflecken bedeckt; von der Hüfte strömte Blut: Warlaam hatte soeben fünfunddreißig Knutenhiebe bekommen und war mit Reisigbündeln angeräuchert worden. Seine schmutzigen Füße mit den krampfhaft eingezogenen Zehen waren mit einem Seil an einen Balken gebunden, auf dem ein kräftiger Kerl in einem kurzen Schafpelz – der Henker – stand und den hängenden Körper straffte.

Am Tisch gegenüber saßen beim Lichte zweier Kerzen, die das Ziegelgewölbe beleuchteten, Peter, nachlässig breit, den Kopf in den Nacken geworfen, mit geblähten Halsadern, in der Mitte Tolstoi und rechts von ihm ein riesengroßer, düsterer Mensch mit dem roten Gesicht eines Löwen, Uschakow; er trug keine Perücke, hatte eine Mütze aus Fuchsfell auf und einen Mantel aus Samt mit einem zottigen Kragen an.

»Man sollte ihn vielleicht herunternehmen, sonst kann er sterben?« sagte Tolstoi, das soeben niedergeschriebene Protokoll durchlesend. Uschakow sah unbeweglich den Hängenden an und sagte mit seiner von Tabak und Erkältung rauhen Stimme: »Branntwein geben! Wird schon zu sich kommen.«

Tolstoi richtete den Blick auf den Zaren. Peter nickte. Der Henker sagte flüsternd in die Dunkelheit hinter den Pfählen: »Wassja, Wassja, rechts in der Ecke steht eine Flasche.«

Aus der Dunkelheit erschien ein junger, rundwangiger Bursche mit gelocktem Haar und einem Frauenmund und brachte vorsichtig eine vierkantige Flasche mit Branntwein. Beide bogen den Kopf des Hängenden nach hinten, machten ihre Sache und traten zur Seite. Warlaam stöhnte halblaut, schmatzte und drehte den Kopf. Seine schwarzen Augen starrten wie früher durch die Haarsträhnen Peter an. Tolstoi begann laut das Protokoll des Verhörs zu lesen. Plötzlich sagte Warlaam mit einer schwachen, aber deutlichen Stimme: »Schlagt mich und foltert mich, ich bin bereit, meinen Peinigern vor unserm Herrn Jesu Christo zu antworten …«

»Na, na«, zischte Uschakow, aber Peter ergriff seine Hand, beugte sich über den Tisch und horchte.

»Ich spreche im Namen des ganzen russischen Volkes. Zar, es gab noch grausamere Zaren, als du es bist, ich werde vor deiner Grausamkeit nicht erschrecken!« Nach Atem ringend, wie aus einem schweren Buch vorlesend, fuhr er fort: »Du wirst meinen Körper nehmen, aber ich werde dir entrinnen, Zar. Du wirst mich zwingen, auf allen vieren zu kriechen, und wirst mir die Kandare in den Mund legen und mir die Zunge herausreißen und meine Erde nicht mehr sein heißen, aber ich werde dir dennoch entrinnen. Du stehst hoch, und deine Krone strahlt wie die Sonne, mich wirst du aber nicht verführen. Ich kenne dich. Deine Tage sind gezählt. Ich reiße dir deine Krone vom Haupte, und deine ganze Größe zergeht wie ein stinkender Rauch. Ich sehe dich. Ich schaue dich an im Namen der heiligen Dreieinigkeit!«

Peter öffnete die festgeschlossenen Lippen: »Nenne deine Genossen, nenne deine Genossen!«

»Ich habe keine Genossen und keine Helfer: Ganz Rußland ist mein Genosse.«

Der Mund des Zaren wurde schief vor Wut, die Backenknochen zitterten, der Kopf senkte sich in die Schultern; er atmete laut, preßte die Zähne zusammen und überwand den Krampf; Uschakow und Tolstoi rührten sich nicht. Der Henker drückte den Balken aus ganzer Kraft nieder, und Warlaam warf den Kopf zurück. Man hörte die Kerzen zischen. Peter erhob sich endlich, ging an den Hängenden heran und stand lange vor ihm, wie in Gedanken versunken.

»Warlaam«, sagte er, und alle erbebten. Der Bursche mit dem Frauenmund sah hinter einem Pfahl mit seinem zärtlichen, blauen Blick auf den Zaren.

»Warlaam!« wiederholte Peter.

Der Hängende rührte sich nicht. Der Zar legte die Hand an seine Brust, aufs Herz.

»Herunternehmen!« sagte er, »die Hände einrenken! Für morgen die ›Spitzen‹ vorbereiten!«

 

Beim Durchlauchtigsten, in dem soeben fertiggestellten Festsaal mit den noch feuchten Wänden, den hohen Fenstern, wie man sie noch nie gesehen, tanzte man im Lichte von zweihundert Kerzen den Großvatertanz. Vier Musikanten – eine Geige, eine Flöte, eine Fanfare und ein Kontrabaß – bliesen und kratzten in Schweiß gebadet auf ihren Instrumenten.

Die Bojarenfrauen und -fräulein, zwar in deutschen, aber nach russischer Art schweren Kleidern, die bis zu einem Pud wogen, ohne Schmuck, dessen Tragen damals verboten war, wie Äpfel geschminkt, mit dick in einer Linie geschwärzten Brauen, hielten sich ungeschickt an ihre Kavaliere und hüpften auf dem gewichsten Boden in der allgemeinen Tanzrunde. Inmitten des Kreises stand der Held der Mode und der Trinkgelage, der französische Lebemann Franz Lefort. Sein glattrasiertes, feines Gesicht mit den trunkenen Augen war von einer riesengroßen, fuchsroten Perücke umrahmt; seine Locken reichten fast bis zur Taille. Sein goldgestickter Rock stand an den Hüften hoch ab. Er winkte mit der Hand; aus seinen Manschetten quollen Spitzen hervor; er summte im Takt der Musik und stampfte mit dem roten Schuh.

An ihm vorbei wirbelten hüpfend: ein erschrockener, schwitzender Gardeleutnant, dessen adliges Fleisch eng vom Tuchrock umschlossen wurde; ein langbeiniger, verachtungsvoller Balte mit Fischaugen, eingefallener Brust und riesengroßen Kanonenstiefeln; ein schon seit dem frühen Morgen betrunkener, frecher Ordonnanzoffizier des Zaren; ein Bojare aus altem Geschlecht, der nicht genau wußte, wo er sich befand: in einer Schenke, in der Hölle, oder war das alles nur ein böser Traum?

In den Saal zogen Rauchwolken aus einem niedrigen Zimmer, in dem »Peters Nestlinge« Schach spielten, Pfeifen rauchten, Wein tranken und einander auf die breiten Schultern klopften.

Zwischen den Tanzenden und den Betrunkenen ging ein hageres Männlein mit einem Ziegenbart umher, in ein Chorhemd aus Brokat gekleidet, mit einer Bischofsmitra aus Pappe auf dem Kopfe. Es war der Fürst Schachowskoi, »ein gar weiser Mann und in vielen Büchern belesen, aber ein Gefäß der Bosheit und der Trunkenheit«, der zweite Archidiakonus der höchsttrunkenen Synode und Hofnarr des Zaren.

Es ging sehr lustig zu. Musik, Gelächter und Stampfen vieler Füße auf dem gewichsten Boden. In den Saal trat Peter. Mit einem kurzen Nicken beantwortete er die tiefen Verbeugungen, ging geradeaus auf die Tische zu und legte auf die goldgewirkte Decke die geballten schmutzigen Fäuste. Sein Gesicht war blaß und verachtungsvoll, das schwarze Haar klebte an der Stirne.

Die Gäste schielten auf den Zaren und fuhren in ihrem lustigen Treiben fort, um sich nicht ins Unglück zu stürzen. Nur Schachowskoi ging tapfer auf ihn von rückwärts zu, spitzte die Lippen und fragte näselnd: »Nun, Brüderchen, Pachom-Pichai, was wollen wir trinken?«

Peter zuckte zusammen, wandte sich grinsend um und sagte mit einem trägen, unnatürlichen Lächeln: »Den dreifachen Pfefferschnaps, Eure Heiligkeit.«

 

Es war kein Spaß: dieser dreifache Pfefferschnaps war ein Teufelsgebräu. Er streckte seinen Mann binnen fünfzehn Minuten, sei er auch aus Stein, zu Boden, und Seine Heiligkeit begriff sofort, daß Peter nach diesem Getränk nicht des Spaßes halber, sondern im Zorn verlangte. Sobald er es begriff, richtete er auch sofort sein Benehmen danach ein: Er hob sein Meßgewand hoch, schob die Bischofsmütze in den Nacken, lief zu den Gästen und schrie jedem ins Gesicht: »öffnest dein Geifermaul? Trinkst ungarischen Wein? Fürchtest, dich zu verraten, du Teufelssohn? Du gehst düster umher wie ein Uhu, und ich kenne deine Gedanken nicht … Vielleicht ekelt es dich vor Chmjelnizkij? Vielleicht magst du nicht unsere Synode besuchen? Vielleicht rückst du vom Saufen weg? Vielleicht hast du gar widerliche Gedanken?« Dann prallte er zurück, stieß mit seinem in den Gelenken geschwollenen Greisenfinger in das von diesen Anspielungen blaßgewordene Gesicht des Höflings, lachte durchdringend und lief weiter zu den anderen, sich bückend, Grimassen schneidend und von ungefähr dem Zaren zublinzelnd.

Vor den Zaren stellte man einen großen Krug mit dem braunen Gebräu. Der Durchlauchtigste, mit geschwollenem Mund, aber süß lächelnd, duftend, in Spitzen gehüllt, in einer seidenen, mit Goldflittern bestreuten Perücke, schenkte den Pfefferschnaps in Becher von mächtigem Umfang ein und schickte diese den Gästen, die sich beeilten, wenn auch nur zum Schein, dem Zaren zum Gefallen möglichst schnell zu Schweinen zu werden. Peter nahm, die Augen vor dem Tabakrauch zusammenkneifend, mit den Fingern, was man ihm auf den Teller legte, kaute laut, schob große Stücke Brot in den Mund und schluckte zwischendurch den Schnaps. Er wurde nur schwer satt und noch schwerer trunken. Er konnte viel essen, immer, wenn nur was zu greifen war.

Die Gäste warteten, bis der Zar, gesättigt, zu scherzen beginnen würde, und das war mitunter stärker als der Schnaps. Aber sein rotes Gesicht mit den runden dicken Backen hellte sich nicht auf. Er hatte schon den Teller fortgerückt und die Ellenbogen auf den Tisch gelegt und biß an seinem Pfeifenmundstück aus Bernstein. Des Zaren Augen blieben gläsern, schienen nichts zu sehen. Ein Entsetzen bemächtigte sich der Gäste: Ist etwa ein Kurier aus Warschau mit schlechten Nachrichten gekommen? Oder gärt es in Moskau? Oder hat einer der Anwesenden etwas verbrochen?

Peter nahm die Pfeife aus dem Munde, spuckte unter den Tisch und sagte, die Stirn vor Atemnot runzelnd: »Komm mal her, Archidiakon!«

Der Fürst Schachowskoi blähte sich wie ein Truthahn auf und näherte sich, den Bischofsstab schwingend.

»Im Namen meines Vaters Bacchus und der Bummlerin Venus, der griechischen Dirne: Der mich Anrufende wird satt werden und der mich Anflehende wird trunken werden«, näselte er, die entblößten gelblichen Augen schließend.

»Ich scherze mit dir nicht«, unterbrach ihn Peter, während die Ader an seiner Stirne plötzlich anschwoll; er sah die Gäste mit seinem gläsernen Blick an, der etwas länger am Tische der preußischen Offiziere haften blieb: »Ich habe dich nicht zum Narren gedungen, du hast dich selbst angeboten.«

Er schnaubte mit der Nase und steckte den Finger in die Pfeife. »Du bist allzu eifrig! Du übertreibst! Übertreibst! Das ist die Sache! Ich fürchte, man wird über uns beide Ungebührliches munkeln. Man wird vielleicht sagen – des Zaren Narr …

Er beendete wie so oft den Satz nicht und spritzte Schaum, den Gesichtskrampf zurückhaltend.

»Ich fürchte, daß man mir dank deinen eifrigen Bemühungen …, daß man mir deine Kappe aufsetzt … Mit Hörnern … Man möchte es … Ich weiß … Man spricht darüber, ich hab' es wohl gehört … Die Kappe paßt mir eher als die Krone …«

Und wieder wandte er, durchdringend blickend, den Kopf nach rechts und nach links. Seine unzusammenhängenden, trunkenen Worte und ihr dunkler Sinn vertieften die Angst der Gäste. Es schien, als ob der Zar wieder einer Verschwörung auf der Spur wäre, und jeder sah sich ängstlich um und rückte weiter von seinem Freunde weg. Weniger als andere erschraken der Durchlauchtigste, der an alles gewöhnt war, und Schachowskoi. Seine geheuchelt trunkenen, zusammengekniffenen Augen blickten jetzt klug und folgten jeder Bewegung des Zaren. Er begriff, was für geheime Gedanken den Zaren quälten, und sagte, plötzlich näherrückend, gedehnt auf Bauernart:

»Laß gut sein, Pachom, bist arg böse geworden wegen solch einer Lumperei. Da, nimm, ist mir nicht zu schade für dich!« Er nahm sich mit einem lauten weinerlichen Seufzer die Bischofsmitra vom Kopfe und reichte sie dem Zaren.

Peter lächelte wild und setzte plötzlich mit einem kurzen, einem Husten ähnlichen Auflachen die Pappkappe auf.

»Archidiakon«, schrie er, »verneige dich vor dem Fürsten der Erde, verneige dich, Amen!«

Er packte Schachowskoi am Bart, dicht am Kinn, neigte ihn dreimal vor sich, warf seinen Kopf in den Nacken, ergriff den Krug mit dem Schnaps vom Tisch und begann, ihn dem Fürsten in den offenen Mund zu gießen.

Schachowskoi trank glucksend. Riß sich für eine Weile los, sah den Zaren mit Hundeaugen an und setzte wieder an. Endlich begannen seine Knie zu zittern, die Hände in den breiten Ärmeln erhoben sich, und die Finger bewegten sich hilflos; der dreifache Pfefferschnaps rann am Mund vorüber über das Chorhemd.

»Genug«, flüsterte er und wankte. Man sah, daß auch dem Zaren der Rausch zum Kopfe gestiegen war. Er ließ von Schachowskoi ab, ging in den Saal und rief den Musikanten zu: »Schneller! Schneller!« Er umfing eine Bojarenfrau, legte die Hand auf ihren Rücken, drückte ihre bloße, volle Brust an seinen schmutzigen Rock und begann, mit seinen schweren Kanonenstiefeln den Takt zu schlagen, sich zu drehen und durch den ganzen Saal zu hüpfen. Er schleifte und schwenkte die kaum ihm noch folgende, in Schweiß gebadete Dame – die Fürstin Trojekurowa.

Der Durchlauchtigste hatte inzwischen die Situation überblickt und die Fürstin zweimal um Rat befragt. Dann bereitete er alles vor, was Cupidos Dienste erfordern, und wartete nur den richtigen Augenblick ab. Als Peter still stand und, an eine Säule gelehnt, sich den Schweiß mit dem Ärmel abwischte, kam Menschikow auf den Fußspitzen herangelaufen und flüsterte ihm etwas zu. Man hörte, wie Peter in trunkener Lust ausrief: »Nun, laß uns gehen!« Und er ging, breit ausschreitend und mit den Händen fuchtelnd, vor dem Durchlauchtigsten in die inneren Gemächer.

 

Der Durchlauchtigste geleitete in bloßem Rock, die Hände am Halse, den Zaren hinaus und dankte unter Bücklingen für die Gnade.

»Geh, geh zu den Gästen, ich werde auch ohne dich wegfahren«, brummte Peter, den der Wind zum Husten reizte, und schob den Riemengurt seines kurzen Pelzes zurecht. Die Nacht war dunkel, es schneite schräg scharfen Schneestaub. Vor der Einfahrt schwankten über den hartgefrorenen Räderspuren die Laternen der Stallknechte. In der Ferne gingen sieben Mann in kurzen Pelzen und mit Laternen in den Händen, es war die Nachtpatrouille. Die nach allen Seiten ragenden Hellebarden blitzten schwach auf.

Man mußte den Durchlauchtigsten mit Gewalt zur Tür hineinschieben, damit er dem Zaren mit seinem geheuchelten Süßtun nicht allzusehr zusetzte; hinter den Fensterscheiben erklang noch immer Musik; der Wind pfiff in der abgerupften Tanne vor dem Hause; die Newa murrte und schlug an die jetzt unsichtbaren vereisten Pfähle; nur die Schiffslaternen warfen gelbes, schwankendes Licht; in der Nähe wieherten die Reit- und Wagenpferde, kaum sichtbar im Grau; Peter stand aber noch immer auf der Freitreppe, die Mütze tief in die Augenbrauen gedrückt.

Satt, trunken, durch alles Menschliche ergötzt, hörte der Zar gleichsam seine gierige, waghalsige, unruhige, hungrige Seele aus dieser Sattheit zur Schlafenszeit wieder erwachen.

Kein Schnaps betäubt sie, kein Essen, keine Freude, kein Frauenfleisch. Es gibt für sie keine Ruhe, keine Rast. Und ist es nicht dieser Fluch, der den Zaren zur Winter- und zur Sommerzeit herumjagt, in Wagen, Kutsche, zu Pferd und in bastgedeckten Wägelchen, aus Asow nach Archangelsk, aus den Demidowischen Eisenwerken nach Wyborg, Berlin, in die Heilbäder von Olonez? Und er baut, befiehlt, richtet, straft, führt Regimenter und kreist auf der Erde, ohne diese hungrige Seele zu sättigen.

»Das Pferd!« sagte Peter.

Die Stallknechte mit den Laternen gerieten in Bewegung. Der frühere zweirädrige Wagen mit dem pockennarbigen, vor Frost zusammengeschrumpften Soldaten rollte heran. Peter setzte sich schwerfällig hinein. Der Hengst, der lange stillgestanden hatte und den alten dunkelbraunen von vorhin ersetzte, begann, mit den Füßen ausschlagend, sich auf die Hinterbeine zu hocken und den Wagen hin und her zu werfen. »Laß die Possen!« schrie Peter. Er riß an den Zügeln und peitschte den Hengst, der sich dreimal in der Deichsel hob, dann aber den Wagen im Trab in die Finsternis zog. Die Nachtpatrouille machte erschreckt Platz, und man hörte ein nachträgliches Rufen: »Stillgestanden!« Später in der Schenke erzählten die Soldaten flüsternd: »Das gab eine schöne Angst heute nacht! Da gehen wir, Mitrai und der andere Mitrai und der Unteroffizier Lykow, im ganzen sieben Mann, und plötzlich rast er wie der Sturm auf einem schwarzen Riesengaul an uns vorbei. Ein Riesenpferd, und er sitzt darauf wie ein Berg. Kann ein Mensch so eine Gestalt haben? Er ist gar zu groß, zu dunkel …«

An der Geheimen Kanzlei angelangt, ließ Peter die Zügel los, ging auf das Tor zu, fuhr den Wachtposten an: »Öffne die Augen, siehst du nicht, wer da kommt …«, lief durch den kleinen Hof und schlug die Eingangstür laut zu.

 

Man brachte Warlaam und ließ ihn mit dem Zaren allein. Auf der Ecke des Tisches schwamm in einem Napfe ein Docht. Die Holzscheite im Ofen zischten und brannten mühsam. Peter, in Pelz und Mütze, sank tief in den Sessel, den Kopf mit der Hand stützend, wie wenn er plötzlich zum Sterben müde geworden wäre. Warlaam streckte das Kinn vor und sah den Zaren an.

»Wer hat dir befohlen, solche Worte über mich zu sprechen?« fragte Peter gedämpft, beinahe ruhig.

Warlaam seufzte und trat von einem bloßen Fuß auf den anderen. Der Zar streckte ihm die Hand entgegen: »Hier, nimm, befühle sie – ich bin ein Mensch, kein Teufel.« Warlaam rückte näher, berührte aber die Hand nicht.

»Ich kann die Hände nicht heben, sie sind gefesselt.«

»Seid ihr euer viele, Warlaam? Sag es, ich werde dich jetzt nicht foltern, sag es so.«

»Viele.«

Peter schwieg wieder eine Weile.

»Ihr lest alte Bücher, wollt die Seligkeit durch das altrussische Kreuzeszeichen erlangen? Was steht in euren Büchern? Sag es.«

Warlaam rückte noch näher. Sein trockener Mund öffnete sich unter dem wirren Schnurrbart einigemal wie bei einem Fisch. Er schwieg. Peter wiederholte: »Sprich, warum schweigst du?«

Warlaam räusperte sich wie vor dem Lesen, senkte die Augenlider über seine entzündeten Augen und begann zu erzählen, daß im Buche Kyrills gesagt sei: »Im Namen des Simon Petrus wird ein stolzer Fürst kommen – der Antichrist«, daß auf dem Heilandbilde im Generalshofe die segnende Hand fehle, auf dem Bilde der heiligen Mutter Gottes das Kind nicht dargestellt sei, daß man den Popen nicht erlaube, über fünf Hostien die Messe zu lesen; daß die Popen die handgeschriebenen neuen Breviere, in denen die Worte »und des Heiligen Geistes« fehlen, zerreißen und mit den Füßen treten, daß unter den Laien Unruhe und Ärgernis herrschen, daß der Sohn des Fürsten Golowkin eine rote Wange und Fjodor Tschemodanows Sohn einen schwarzen Fleck mit Haaren auf der Wange habe und daß gesagt sei, daß solche Menschen zu Antichrists Zeiten erscheinen werden.

Peter schien nicht zu hören und saß, die Wange in die Hand gestützt. Als Warlaam zu Ende gesprochen hatte und schwieg, wiederholte er einigemal in Gedanken: »Ich begreife nicht, ich begreife nicht. Ist schon eine böse Sache, ja.« Und dann sagte er mit plötzlich erbebender, fast wilder Stimme: »So bin ich denn der Antichrist in deinen Augen, Warlaam?«

Und er starrte lange in die brennenden Holzscheite. Dann erhob er sich und stand riesengroß und gütig vor Warlaam, der plötzlich mit seinem ganzen gerunzelten, zusammengezogenen Gesichte lächelte und flüsterte: »Ach, du, mein Väterchen …«

Da bückte sich der Zar ungestüm zu ihm, nahm ihn an den Ohren, wie wenn er ihn küssen wollte, hauchte ihm seinen Tabak- und Schnapsatem ins Gesicht, blickte ihm tief in die Augen, murmelte etwas, drückte sich die Mütze tiefer in die Augen und hüstelte: »Nun, Warlaam, wir werden uns nicht verständigen. Morgen komme ich dich foltern. Leb wohl!«

»Leb wohl, Väterchen!«

Warlaam rückte zu ihm heran wie zu einem Verwandten, wie zu einem wiedergefundenen Vater, wie zu einem zu noch größerer Pein verurteilten Bruder; aber Peter schritt schon, ohne sich umzuschauen, zur Tür und verdeckte sie fast gänzlich mit seinem breiten, schweren Rücken.

Draußen hielt er sich eine Weile an der Klammer des Wagens fest und zögerte einen Augenblick beim Einsteigen. Er dachte daran, daß der Tag zu Ende sei, ein Tag voll Arbeit, Mühe, Rausch. Und die Last dieses Tages und aller vergangenen und kommenden Tage legte sich ihm bleiern auf die Schultern, ihm, der sich eine unmenschliche Last auferlegt hatte: Einer für alle zu sein.


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