Ernst Toller
Hoppla, wir leben!
Ernst Toller

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Vierter Akt

Erste Szene

Links vom Hotel. Am Park

Hinter dem Studenten rennt Karl Thomas

Karl Thomas. Du! Du! (Student dreht den Kopf, rennt weiter.) Du, ich will dir helfen, Genosse.

Student. Was Genosse! Bin nicht Ihr Genosse.

Karl Thomas. Aber Sie haben doch auf Kilman...

Student. Weil er ein Bolschewik, weil er ein Revolutionär ist. Weil er unser Land an die Juden verkauft.

(Karl Thomas macht fassungslos einen Schritt auf ihn zu.)

Karl Thomas. Ist die Welt ein Irrenhaus geworden? Ist die Welt ein Irrenhaus geworden!!!

Student. Zurück, oder ich schieße Sie über den Haufen!

(Student rennt davon, springt in ein Auto, das lossaust. Karl Thomas begreift, reißt den Revolver aus der Tasche, schießt zweimal hinterher. Dann besinnt er sich, bleibt vor einem Baum stehen.)

Karl Thomas. Bist du eine Buche? Oder bist du eine Gummiwand? (Betastet sie.) An fühlst du dich wie Rinde, rauh und rissig, und riechen tust du nach Erde. Aber bist du wirklich eine Buche? (Setzt sich auf eine Bank.) Mein armer Kopf. Trommelfeuer. Steigen Sie auf, verehrtes Publikum. Die Glocke schellt. Die Fahrt beginnt. Ein Schuß die Runde. – Du siehst ein Haus brennen, packst den Eimer, willst löschen, und anstatt Wasser gießt du Öl fuderweise in die Flammen... Du läutest Sturm über der Stadt zum großen Wecken, aber die Schläfer legen sich auf den Bauch und schnarchen weiter... Wo die andern Nacht umfängt mit braunen Schatten, seh' ich den Mörder sich ducken, nackt und mit entblößtem Hirn... Und renne als ein Wacher durch die Straßen, mit Gedanken, die im Kegel des Jupiterlichts sich wund stoßen... Ach, warum öffneten sie mir das Tor des Irrenhauses? War es nicht gut drinnen trotz Nordpol und Flügelschlag der grauen Vögel? – Ich bin der Welt abhanden gekommen – Die Welt ist mir abhanden gekommen.

(Während der letzten Sätze sind zwei Kriminalpolizisten gekommen. Beide gehen auf ihn zu, packen ihn bei den Handgelenken.)

Erster Polizist. Na, junger Mann, den Revolver haben Sie wohl eben gefunden?

Karl Thomas. Was weiß ich? Was weißt du? Sogar der Revolver kehrt sich gegen den Täter, und aus dem Lauf spritzt Gelächter.

Zweiter Polizist. Sprechen Sie mal anständig, verstanden.

Erster Polizist. Wie heißen Sie?

Karl Thomas. Jeder Name ist Schwindel... Sehen Sie, ich habe geglaubt, wenn ich den Weg gehe, schnurgerade durch den Park, komme ich ins Hotel. Eine Tasse Kaffee. Fünfzig Pfennige. Wissen Sie, wo man landet? Im Irrenhaus. Und die Polizei paßt auf, daß keiner gesund wird.

Erster Polizist. Das möchte Ihnen so passen. Sie sind verhaftet.

Zweiter Polizist. Leisten Sie keinen Widerstand. Bei Fluchtversuch knallt's.

Karl Thomas. Lassen Sie mich.

Erster Polizist. Im Gegenteil. Seien Sie froh, daß wir Sie beschützen. Das Volk würde Sie lynchen.

Zweiter Polizist. Geben Sie zu, daß Sie auf den Minister geschossen haben?

Karl Thomas. Ich?

Erster Polizist. Ja, Sie.

Zweiter Polizist. Los zur Wache.

(Dunkel. Man hört Geschrei einer Volksmenge.)

Zweite Szene

Polizeipräsidium. Zimmer des Polizeiobersten

Am Tisch Polizeioberst Scharfes Klingeln

Polizeioberst ( am Telephon). Hallo? Was gibt's? ... Was? ... Attentat im Grand Hotel auf Minister Kilman? ... Der Minister tot? ... Grand Hotel absperren ... Straßen säubern ... Ein Verdächtiger verhaftet? ... Hertransportieren lassen ... Ich warte ... (Hängt ab. Zur Sekretärin.) Bleiben Sie. Sie müssen protokollieren. (Telephoniert.) Sämtliche Stationen in Bereitschaft ... Danke ... Anruf bei Zwischenfällen ... Natürlich von links ... Demonstrationen unterdrücken ... Schluß ...

(Inzwischen ist Polizist mit Pickel hereingekommen.)

Pickel (zum Polizisten). Sie haben mich nicht so anzufassen, Herr ... Wer sind Sie überhaupt? Zwar leben Sie in einer Großstadt, wo es Gesindel gibt, jedoch Sie sollten unterscheiden.

Polizeioberst. Was gibt's?

Polizist. Der Mann trieb sich im Korridor des Grand Hotels herum ... Kurz vor dem Attentat war er im Zimmer des Ministers. Er wohnt nicht im Hotel, benimmt sich verdächtig und kann nicht angeben, warum ...

Polizeioberst. Gut. Wie heißen Sie?

Pickel. Zwar heiße ich Pickel, jedoch ...

Polizeioberst. Antworten Sie auf meine Fragen.

Pickel. Ich möchte nämlich ...

Polizeioberst. Sie waren im Zimmer des ermordeten Ministers kurz vor dem Attentat. Was wollten Sie dort?

Pickel. Ich habe ihn ... Zwar, Herr General, ich habe geglaubt, der Herr Minister sei ein Ehrenmann gewesen ... Jedoch, wie ich zu ihm ins Hotelzimmer kam ...

Polizeioberst. Sie geben zu, an der Tat beteiligt zu sein? Sie hatten einen persönlichen Zorn auf den Minister?

Pickel. Ich wollte nämlich ...

Polizeioberst. Was wollten Sie? Sind Sie Anarchist? Gehören Sie einem illegalen Verband an?

Pickel Die ehemaligen Frontsoldaten haben nämlich ... Obschon ich nur in der Etappe ... Dem Kriegerverein. Herr General.

Polizeioberst. Dem Kriegerverein? ... Können Sie das beweisen?

Pickel. Jawohl. Hier ist meine Mitgliedskarte.

Polizeioberst. Ach so ... Sie sind ein Vaterländischer? ... Darum ... Erzählen Sie, warum Sie den Minister ermordeten.

Pickel. Ich glaubte ... Ich wäre durchs Feuer für ihn gegangen ...

Polizeioberst. Achten Sie auf meine Frage.

Pickel. Nämlich ... ich kam doch nur wegen der Eisenbahn ... Und da bin ich in das Ministerium ... Und mehr habe ich nicht ...

Polizeioberst. Zur Sache.

Pickel. Ach, Herr General, lassen Sie mich nach Hause fahren ... Das Wetter ändert sich ... Jetzt könnte ich reisen ... Und meine Kühe ... Meine Frau hat immer gesagt ...

( Telephon klingelt.)

Polizeioberst ( am Telephon). Polizeipräsidium... Sie haben die Tatzeugen vernommen? ... Ein Mann im Kellnerfrack? ... Moment ... Pickel, ziehen Sie Ihren Mantel aus.

Pickel. Ich trage nämlich ...

Polizeioberst. Gehrock ... Aha ...

Pickel. Jedoch nur, weil ich ...

Polizeioberst. Seien Sie ruhig. ( Ins Telephon.) ... Danke ... Sekretärin, nehmen Sie die Personalien Pickels auf ...

Sekretärin. Sie heißen? Vatersname und Vorname?

Pickel. Traugott Pickel heiße ich, mein Fräulein ... Als Knabe hieß ich Gottlieb ... jedoch eigentlich heiße ich Traugott ... Nämlich der Beamte auf dem Standesamt, der sich mit meinem Vater ... als sie noch gut waren, spielten sie jeden Abend. ...

(Kriminalbeamte herein.)

Polizeioberst. Was gibt's?

Erster Kriminalpolizist. Wir haben einen Mann im Stadtpark verhaftet. In der Hand trug er einen Revolver. Zwei Kugeln fehlen.

Polizeioberst. Hereinführen. (Kriminalbeamte mit Karl Thomas herein.) Sie heißen?

Karl Thomas. Karl Thomas.

Polizeioberst. Was wollten Sie mit diesem Revolver? ...

Karl Thomas. Den Minister erschießen.

Polizeioberst. Das geht ja rasch ... Der zweite ... Also Geständnis ... Gehören Sie auch dem Kriegerverein des Herrn Pickel an?

Karl Thomas. Dem Kriegerverein? ...

Pickel. Herr General, ich muß bemerken, daß unser Kriegerverein in Holzhausen ... Zwar wir nehmen überhaupt keine Ausländer auf ... nicht mal die aus dem Nachbardorf ... jedoch nur der Herr Reichspräsident ist Ehrenmitglied ...

Polizeioberst. Schweigen Sie ... (Zum Polizisten.) Wie sieht der Mann denn aus?

Zweiter Kriminalpolizist. Das Volk wollte ihn lynchen. Wir konnten die Menge kaum zurückhalten.

Polizeioberst. Setzen Sie sich. Erzählen Sie, warum Sie den Minister erschossen haben.

Karl Thomas. Ist er tot?

Polizeioberst. Ja.

Karl Thomas. Ich habe nicht geschossen.

Polizeioberst. Sie müssen doch zugeben, daß Sie eben gestanden haben ...

Pickel. Nein, Herr General, da irren Sie sich. Ich kenne ihn. Er ist nämlich ein Freund des Ministers ...

Polizeioberst. Was reden Sie immer dazwischen?

Pickel. Weil Sie mir nicht glauben ... Ich bin nämlich der Kassierer vom Kriegerverein. Und unsere Statuten ...

Polizeioberst. Ich lasse Sie gleich abführen. (Zu Thomas.) Sie sahen in dem Minister einen Schädling, ja? Einen Landesverräter?

Karl Thomas. Der Mörder meinte, er sei es.

Polizeioberst. Der Mörder?

Karl Thomas. Ich lief hinter ihm her. Ich habe auf ihn geschossen.

Polizeioberst. Was reden Sie für wirres Zeug?

Pickel. Wenn er's sagt, Herr General ...

(Kriminalbeamter geht zum Polizeioberst, spricht leise mit ihm.)

Polizeioberst. Den Eindruck macht er auch auf mich. Übrigens der andere, der Pickel auch ... Beide dem Dezernat Eins überstellen ... Ich komme gleich hinüber ... (Am Telephon.) Verbinden Sie mich mit dem Staatsanwalt ...

Pickel. Herr General ... ich möchte nämlich ... ich möchte fragen ...

Polizeioberst. Was gibt's noch?

Pickel. Es ist beschlossen, Herr General? Ich soll ins Gefängnis?

Polizeioberst. Ja.

Pickel. Zwar ... Dann ... Nämlich in Holzhausen ... Und wenn sie erfahren ... Und wenn meine Frau ... Und wenn mein Nachbar ... der mit dem Bürgermeister verwandt ist ... Und wenn der Kriegerverein ... Wissen Sie, was Sie tun? ... Jetzt bin ich vorbestraft. Wohin soll ich, wenn ich aus dem Gefängnis komme? Wohin? Ich darf mich ja nicht mehr sehen lassen in Holzhausen ...

Polizeioberst. Wenn sich herausstellt, daß Sie unschuldig sind, können Sie heimreisen.

Pickel. Jedoch vorbestraft ...

Polizeioberst. Ich habe keine Zeit. (Am Telephon.) Verbinden Sie mich mit dem Staatsanwalt.

Pickel. Auch keine Zeit ... Weiße Handschuhe, schwarze Handschuhe... Woran soll man noch glauben? ...

(Dunkel.)

Dritte Szene

Zimmer des Untersuchungsrichters

Am Tisch Untersuchungsrichter und Schreiber. Vor dem Tisch Karl Thomas gefesselt

Untersuchungsrichter.. Sie erschweren sich nur Ihre Lage. Es haben Zeugen ausgesagt, daß Sie in der Wirtschaft »Zum Bären« die Absicht äußerten, den Minister zu ermorden.

Karl Thomas. Das leugne ich nicht. Aber ich habe nicht geschossen.

Untersuchungsrichter. Sie gestehen die Absicht ein ...

Karl Thomas. Die Absicht ja.

Untersuchungsrichter. Der Zeuge Rand soll eintreten. (Rand herein.) Herr Rand, kennen Sie den Beschuldigten?

Rand. Zu Befehl.

Untersuchungsrichter. Ist das der gleiche Mann, der bei jenem Überfall im Wahllokal Ihren Revolver an sich nahm?

Rand. Zu Befehl.

Untersuchungsrichter. Thomas, was sagen Sie dazu?

Karl Thomas. Ich bestreite es nicht. Aber ...

Rand. Wenn ich mir eine Meinung erlauben dürfte, die Juden stecken dahinter.

Untersuchungsrichter. Sie haben nicht geschossen, Rand?

Rand. Zu Befehl, nein. Es müssen alle Kugeln in der Trommel stecken.

Untersuchungsrichter. Es fehlen zwei. Das ist doch Ihr Revolver?

Rand. Mein Dienstrevolver, Herr Untersuchungsrichter.

Untersuchungsrichter. Wollen Sie die Tat immer noch leugnen, Thomas? Wollen Sie Ihr Gewissen nicht durch ein Geständnis erleichtern?

Karl Thomas. Ich habe nichts zu gestehen, ich habe nicht geschossen.

Untersuchungsrichter. Wie erklären Sie das Fehlen der beiden Kugeln?

Karl Thomas. Ich habe auf den Attentäter gefeuert.

Untersuchungsrichter. So, auf den Attentäter gefeuert. Jetzt fehlt nur noch der große Unbekannte. Kennen Sie vielleicht den geheimnisvollen Täter, der, wie Sie angeben, hinter Sie ins Zimmer trat und schoß.

Karl Thomas. Nein.

Untersuchungsrichter. Na also, der berühmte Herr X.

Karl Thomas. Es war einer von rechts. Er hat's selbst gesagt. Ich lief hinter ihm her. Ich dachte, es wäre ein Genosse.

Untersuchungsrichter. Reden Sie keinen Unsinn. Wollen Sie die Spuren Ihrer Hintermänner verwischen? Wir kennen sie, diesmal gibt's keine Amnestie. Ihre intimeren Genossen stecken hinter Schloß und Riegel ... Der Oberkellner aus dem Grand Hotel soll hereinkommen. (Oberkellner herein.) Kennen Sie den Beschuldigten?

Oberkellner. Jawohl, mein Herr. Er war doch Hilfskellner im Grand Hotel. Wenn ich gewußt hätte, mein Herr, daß ...

Untersuchungsrichter. Hat der Beschuldigte auf Herrn Minister Kilman geschimpft?

Oberkellner. Jawohl, mein Herr, er hat gesagt, ein schöner Volksminister. Nein, ein feiner Volksminister, hat er gesagt.

Untersuchungsrichter. Thomas, haben Sie das gesagt?

Karl Thomas. Ja, aber geschossen habe ich nicht.

Untersuchungsrichter. Frau Meller soll hereinkommen. ( Frau Meller herein.) Sie kennen den Beschuldigten?

Frau Meller. Ja, er ist mein Freund.

Untersuchungsrichter. So, Ihr Freund. Sie nennen sich seine ... Genossin?

Frau Meller. Ja.

Untersuchungsrichter. Sie haben den Beschuldigten dem Oberkellner des Grand Hotel empfohlen?

Frau Meller. Ja.

Untersuchungsrichter. Der Beschuldigte soll zu Ihnen gesagt haben: »Ihr schlaft alle! Es muß einer hinwerden. Dann werdet ihr aufwachen.«

Frau Meller. Nein.

Untersuchungsrichter. Nehmen Sie sich zusammen, Zeugin. Sie stehen im Verdacht der Beihilfe. Sie haben dem Beschuldigten eine Stelle im Grand Hotel verschafft. Die Anklagebehörde nimmt an, daß diese Stellung nur eine Scheinstellung war. Der Beschuldigte sollte Gelegenheit erhalten, in die Nähe des Ministers zu kommen.

Frau Meller. Wenn Sie alles besser wissen, dann verhaften Sie mich doch.

Untersuchungsrichter. Ich frage Sie zum letztenmal: Hat der Angeschuldigte gesagt, es muß einer hinwerden?

Frau Meller. Nein.

Untersuchungsrichter. Der Pikkolo soll hereinkommen. (Pikkolo herein.) Kennen Sie den Angeschuldigten?

Pikkolo. Bitte schön, ja. Er hat gleich, wie er die Teller hereintragen sollte, einen zerbrochen und mir gesagt, ich soll die Scherben verstecken, aber so, daß sie keiner findet.

Untersuchungsrichter. Das ist sehr interessant. Haben Sie das getan?

Karl Thomas. Ja.

Untersuchungsrichter. Das wirft auf Ihren Charakter ein eigentümliches Licht ... Pikkolo, passen Sie gut auf. Haben Sie gehört, wie der Beschuldigte sagte: »Ihr schlaft alle! Es muß einer hinwerden. Dann werdet ihr aufwachen.«?

Pikkolo. Bitte schön, ja, und dabei hat er die Augen gekullert und die Fäuste geballt, ganz blutrünstig hat er dreingeschaut, solche Gesichter habe ich nur im Kino gesehen. Ich hab' mich gegrault.

Untersuchungsrichter. Wo hielten Sie sich denn auf?

Pikkolo. Ich ... ich ... ich ...

Untersuchungsrichter. Sie müssen schon die Wahrheit sagen.

Pikkolo (beginnt zu weinen, wendet sich vom Untersuchungsrichter weg zum Oberkellner). Herr Ober, ich werd's nicht mehr tun, ich hab' Ihnen doch gesagt, ich möcht' mal austreten, ich bin gar nicht austreten gegangen, ich war so müde, ich hab' mich unter den Tisch gelegt und hab' ein bißchen schlafen wollen ... Herr Ober, bitte melden Sie's nicht dem Chef ...

Untersuchungsrichter (lachend). Es wird nicht so schlimm werden ... Thomas, was sagen Sie zu den Aussagen?

Karl Thomas. Daß ich allmählich den Eindruck bekomme, ich befinde mich in einem Irrenhaus.

Untersuchungsrichter. So, in einem Irrenhaus. Die Zeugen können abtreten. Frau Meller, Sie sind vorläufig festgenommen. Führen Sie sie ab. (Zeugen gehen.) Die verhaftete Eva Berg vorführen. (Eva Berg herein.) Sie heißen Eva Berg?

Eva Berg. Guten Tag, Karl ... Ja.

Untersuchungsrichter. Sie dürfen mit dem Beschuldigten nicht sprechen.

Eva Berg. Die Hand kann ich ihm nicht geben, Sie müssen ihm erst die Fesseln abtun. Wozu fesseln Sie ihn? Glauben Sie, daß er fliehen wird? Draußen steht ein Dutzend Wärter. Oder haben Sie Angst vor ihm? Sehr tapfer scheinen Sie nicht zu sein. Oder wollen Sie ihn nur einschüchtern? Sie werden sich täuschen, nicht, Karl?

Untersuchungsrichter. Ich lasse Sie sofort abführen, wenn Sie Ihren Ton nicht ändern.

Eva Berg. Ich zweifle nicht daran, daß Sie dazu den Mut aufbringen ... Ich warte darauf, daß Sie mich freilassen.

Untersuchungsrichter. Dazu bin ich nach dem Gesetz nicht befugt.

Eva Berg. Wo es Ihnen paßt, verschanzen Sie sich hinter das Gesetz. Seit Wochen stecke ich in Haft. Ich habe die Rechte, ausgeübt, die die Verfassung jedem gewährt. Da öffentliche Rechte öffentliche Pflichten sind, müßten Sie eher Ihr Richteramt niederlegen, als zulassen, daß das Gesetz verletzt werde.

Untersuchungsrichter. Ich habe an Sie zwei Fragen zu richten: Wohnte der Beschuldigte bei Ihnen?

Eva Berg. Ja.

Untersuchungsrichter. Standen Sie zu ihm in strafbaren Beziehungen?

Eva Berg. Was ist das für eine lächerliche Frage? Stammen Sie aus dem fünfzehnten Jahrhundert?

Untersuchungsrichter. Ich will wissen, ob Sie in geschlechtlichen Beziehungen zu dem Beschuldigten standen?

Eva Berg. Wollen Sie mir nicht erst erklären, wie ein ungeschlechtliches Beisammensein ausschaut?

Untersuchungsrichter. Sie stammen aus anständiger Familie ... Ihr Vater würde ...

Eva Berg. Meine Familie geht Sie einen Pfifferling an. Und Ihre Frage halte ich für derart unanständig, daß ich mich schämen müßte, würde ich sie beantworten.

Untersuchungsrichter. Auf die zweite Frage verweigern Sie also die Aussage ... Hat der Beschuldigte, während er bei Ihnen wohnte, die Absicht geäußert, den Minister Kilman zu ermorden?

Eva Berg. Ich glaube, wir kennen uns von früher, Herr Untersuchungsrichter ... Sie beliebten daran zu erinnern ... Würden Sie einen Klubfreund, der Kameraden verrät, nicht zu den jämmerlichsten Lumpen zählen? Also ist auch Ihre dritte Frage unanständig, da Sie an die Wahrscheinlichkeit des Gesprächs glauben. Aber ich schwöre, bei jener Ehre, die Sie mir weder nehmen noch geben können, Karl Thomas hat nie die Absicht geäußert, Kilman zu ermorden.

Untersuchungsrichter. Danke. Abführen.

Eva Berg. Leb wohl, Karl. Laß dich nicht unterkriegen.

Karl Thomas. Ich liebe dich, Eva.

Eva Berg. Auch in dieser Stunde darf ich dich nicht belügen.

(Eva Berg wird abgeführt.)

Untersuchungsrichter. Ich habe Ihren Akten entnommen, daß Sie acht Jahre im Irrenhaus waren. Zwecks Feststellung Ihrer Zurechnungsfähigkeit werden Sie der Psychiatrischen Abteilung überwiesen.

(Dunkel.)

Vierte Szene

Die Fassade verwandelt sich in die Fassade des Irrenhauses
Offen
Untersuchungsraum

Professor Lüdin. Sie wurden mir vom Staatsanwalt zur psychiatrischen Behandlung überwiesen ... Bleiben Sie stehen. Puls normal. Hemd öffnen. Tief atmen. Anhalten. Herz gesund ... Sagen Sie mir ehrlich, warum Sie die Tat begingen?

Karl Thomas. Ich habe nicht geschossen.

Professor Lüdin (blättert in Akten). Die Polizei hat Sie zuerst für einen Mann gehalten, der aus nationalistischen Motiven die Schüsse feuerte. Sie glaubte, ein gewisser Pickel sei Ihr Komplice. Die Untersuchungsbehörde kam zu dem Ergebnis, daß diese Annahme falsch sei. Sie vertritt die Auffassung, Sie gehören einem linksradikalen, terroristischen Verband an ... Ihre Gesinnungsgenossen wurden verhaftet ... Ich allerdings meine ... Vertrauen Sie sich mir getrost an, mich interessieren nur Ihre Motive.

Karl Thomas. Ich kann nichts gestehen, wenn ich nicht der Täter bin.

Professor Lüdin. Sie wollten sich rächen, nicht wahr? Wahrscheinlich glaubten Sie, der Minister würde Ihnen eine hohe Stellung geben. Sie sahen, daß die Herren Genossen, wenn sie mal oben sitzen, auch nur die eigene Suppe kochen. Sie fühlten sich enttäuscht, zurückgesetzt? Die Welt sah anders aus, als sie sich in Ihrem Kopf malte?

Karl Thomas. Ich brauche keinen Psychiater.

Professor Lüdin. Sie fühlen sich gesund?

Karl Thomas. Kerngesund.

Professor Lüdin. Hm. Diese Vorstellung beherrscht Sie immer? Ich glaube mich zu erinnern, Ihre Mutter hat auch an diesem Komplex gelitten. (Karl Thomas lacht.) Lachen Sie nicht. Kerngesund ist niemand. (Kurze Pause.)

Karl Thomas. Herr Professor!

Professor Lüdin. Wollen Sie mir jetzt gestehen, warum Sie geschossen haben? Begreifen Sie, nur das Warum interessiert mich. Die Tat geht mich nichts an. Taten sind belanglos. Einzig die Motive sind wichtig.

Karl Thomas. Ich will Ihnen alles genau erzählen, Herr Professor. Ich kenn' mich nicht mehr aus. Was habe ich erlebt ... Darf ich Ihnen erzählen, Herr Professor? ...

Professor Lüdin. Beginnen Sie doch.

Karl Thomas. Ich muß Klarheit haben. Die Tür knallte hinter mir zu, und als ich sie öffnete, waren acht Jahre vergangen. Ein Jahrhundert. Ich besuchte zuerst, wie Sie mir geraten haben, Wilhelm Kilman. Zum Tode verurteilt wie ich. Ich sah ihn als Minister. Versippt mit den Feinden von einst.

Professor Lüdin. Normal. Der war eben schlauer als Sie.

Karl Thomas. Ich kam zu meinem besten Kameraden. Einem Kerl, der mit dem Revolver in der Hand eine Kompanie Weißer zurücktrieb, allein. Mein Ohr hörte ›Man muß warten können‹.

Professor Lüdin. Normal.

Karl Thomas. Und der dabei schwur, er sei der Revolution treu geblieben.

Professor Lüdin. Anormal. Aber nicht Ihr Fehler. Man müßte ihn untersuchen. Wahrscheinlich leichte Dementia praecox in katatonischer Form.

Karl Thomas. Ich war Kellner. Einen Abend lang. Es stank nach Korruption. Die Kollegen fanden es in Ordnung und waren stolz darauf.

Professor Lüdin. Normal. Die Geschäfte blühen wieder. Jeder verdient daran auf seine Weise.

Karl Thomas. Das nennen Sie normal?! Im Hotel traf ich einen Bankier, man sagte mir, er scheffle Geld wie Heu ... Was hat er davon? Nicht mal den Wanst mit Delikatessen füllen kann er sich. Wenn die anderen Fasanen futtern, muß er Brühe löffeln, weil ihn der Magen kneift. Tag und Nacht spekuliert er. Wozu? Wozu?

(Hinter dem Projektionsbild leuchtet das Separé im Hotel auf.)

Bankier (am Tischtelephon). Hallo! Hallo! Börse? Alles verkaufen! Farben und Kali und Röhren... Das Attentat auf Kilman... Chemische Werke schon wieder um hundert Prozent gefallen... Was?... Amt!... Fräulein, warum unterbrechen Sie mich?... Ich werde Sie haftbar machen... Ruiniert durch eine Telephonstörung... Vater im Himmel!

Professor Lüdin. Wozu? Weil er tüchtig ist, weil er etwas leisten will. Lieber Freund, der Bankier, den Sie sahen, ich wünsche mir sein Vermögen, war normal.

Bankier (im Hotelzimmer grinsend). Normal... Normal...

(Hotelzimmer dunkel.)

Karl Thomas. Und der Hausdiener im Grand Hotel? Zwölf Jahre hat er sich jede Woche einen Goldfuchs gespart. Zwölf Jahre! Dann kam die Inflation, ausgezahlt wurden ihm sechshundert Millionen, und kaufen konnte er sich vom Ersparten nicht mal eine Schachtel Zündhölzer. Aber er wurde nicht kuriert, er hält den Schwindel für unabänderlich, heute spart er sich die Brocken vom Mund und verwettet seinen letzten Groschen. Ist das normal?

(Hinter dem Projektionsbild leuchtet das Gesindezimmer im Hotel auf.)

Hausdiener. Wer hat im Pariser Rennen gewonnen? Die schöne Galathee... Schiebung! Schiebung! Ich habe alle meine Ersparnisse auf Idealist gesetzt, und nun bricht sich dieser verdammte Jockei das Genick... Ich will meinen Einsatz wiederhaben! Sonst...

Professor Lüdin. Wer nicht wagt, nicht gewinnt. Der Hausdiener im Grand Hotel, ich habe früher dort gewohnt, ist absolut normal.

Hausdiener (im Hotelzimmer, indem er sich mit seinem Messer ersticht, grinsend). Normal... Normal...

(Hotelzimmer dunkel.)

Karl Thomas. Vielleicht nennen Sie auch eine Welt normal, in der es möglich ist, daß die wichtigsten Erfindungen, die den Menschen das Leben leichter machen könnten, vernichtet werden, nur weil irgendwelche Leute fürchten, daß sie dann nicht mehr so viel verdienen?

(Hinter dem Projektionsbild leuchtet die Radiostation im Hotel auf.)

Telegraphist. Achtung! Achtung! Alle Radiostationen der Welt. Wer kauft meine Erfindung? Ich will kein Geld, allen wird die Erfindung helfen, allen. Schweigen... Keiner antwortet.

Professor Lüdin. Was soll daran anormal sein. Das Leben ist keine Wiese, auf der die Menschen Ringelreihen tanzen und Friedensschalmeien blasen. Das Leben ist Kampf. Wer die stärksten Fäuste hat, gewinnt. Das ist absolut normal.

Telegraphist (im Hotelzimmer, indem er Kurzschluß legt, grinsend). Normal...

(Alle Zimmer des Hotels leuchten auf.)

Chor der Insassen (in hockender Stellung sich ins Untersuchungszimmer hinunterbeugend, grinsend nickend). Normal!... Normal!...

(Explosion im Hotel. – Dunkel.)

Karl Thomas. Wie hätte ich diese Welt weiter ertragen können!... Ich faßte den Plan, die Menschheit aufzuscheuchen. Ich wollte den Minister niederschießen. In gleicher Stunde schoß ein anderer.

Professor Lüdin. Hm.

Karl Thomas. Ich rief hinter dem Täter her. Glaubte, es sei ein Genosse. Wollte ihm helfen. Er stieß mich zurück. Ich sah seine verkniffenen Lippen. Weil der Minister ein Bolschewik, ein Revolutionär gewesen sei, schrie er mich an.

Professor Lüdin. Normal. Relativ würde es stimmen, wenn dieser Unbekannte existierte.

Karl Thomas. Da schoß ich auf den Mörder des gleichen Mannes, den ich selbst ermorden wollte.

Professor Lüdin. Hm.

Karl Thomas. Der Nebel zerriß. Vielleicht ist die Welt gar nicht verrückt. Vielleicht bin ich es ... Vielleicht bin ich es ... Vielleicht war alles nur ein wirrer Traum ...

Professor Lüdin. Was wollen Sie? Die Welt ist nun mal so ... Kommen wir wieder zu den Motiven. Wollten Sie mit diesem Schuß Ihre Vergangenheit abschütteln?

Karl Thomas. Wahnsinn! Wahnsinn!

Professor Lüdin. Spielen Sie nicht Komödie. Einen alten Psychiater können Sie so nicht beeinflussen.

Karl Thomas. Oder gibt es heute zwischen Irrenhaus und Welt keine Grenze? Ja, ja ... wirklich ... Die gleichen Menschen, die hier als Irre bewacht werden, galoppieren draußen als Normale und dürfen die andern zertrampeln.

Professor Lüdin. Ach so ...

Karl Thomas. Und Sie! Sagen Sie bloß noch, daß Sie auch normal seien? Sie sind ein Irrer unter Irren.

Professor Lüdin. Jetzt hören Sie auf mit den Kraftworten! ... Sonst lass' ich Sie in die Isolierzelle bringen. Sie möchten sich wohl mit dem Paragraphen für Geisteskranke retten?

Karl Thomas. Ihr glaubt, Ihr lebt? Bildet Euch nur ein, die Welt werde immer bleiben wie jetzt!

Professor Lüdin. Also Sie sind der Alte geblieben ... Sie wollen immer noch die Welt ändern, Feuerchen anlegen, ja? Wenn die Natur nicht gewollt hätte, daß etliche weniger essen, würde es wohl keine Armut geben. Wer was Tüchtiges leistet, braucht nicht zu hungern.

Karl Thomas. Wer hungert, braucht nicht zu essen.

Professor Lüdin. Mit Ihren Ideen würden die Menschen Schmarotzer und Faulpelze.

Karl Thomas. Sind Sie mit Ihren glücklich?

Professor Lüdin. Was, Glück! Sie leiden an der Überwertigkeit dieser Idee. Hirngespinst. Phobie. Der Glücksbegriff sitzt in Ihrem Kopf wie ein Staubecken. Wenn Sie ihn für sich pflegen würden, meinetwegen. Wahrscheinlich würden Sie lyrische Gedichte schreiben voller Seele, blaue Veilchen lieben, schöne Mädchen ... oder Sie würden ein harmloser religiöser Sektierer mit leichter Paraphrenia phantastica. Aber Sie wollen die Welt beglücken.

Karl Thomas. Ich pfeife auf Eure Seele.

Professor Lüdin. Sie unterminieren jede Gesellschaft. Jede! Was wollen Sie? Das Leben in seinen Fundamenten stürzen, den Himmel auf Erden schaffen, das Absolute, ja? Wahnidee! Wie infiziöses Gift wirken Sie auf die Schwachen im Geiste, auf die Masse!

Karl Thomas. Was verstehen Sie von der Masse?

Professor Lüdin. Meine Musterkollektion öffnet dem Blindesten die Augen. Die Masse, eine Herde von Schweinen. Drängt zum Kober, wenn's zu fressen gibt. Suhlt sich im Dreck, wenn der Wanst vollgeschlagen. Und da kommen in jedem Jahrhundert Psychopathen, versprechen der Herde das Paradies. Die Polizei sollte sie rechtzeitig uns Irrenärzten übergeben, statt zuzusehen, wie sie auf die Menschheit lostoben.

Karl Thomas. Harmlos sind Sie nicht.

Professor Lüdin. Es ist unsere Mission, die Gesellschaft vor gemeingefährlichen Verbrechern zu schützen. Sie sind der Erzfeind jeder Zivilisation! Das Chaos! Sie muß man unschädlich machen, sterilisieren, ausmerzen!

Karl Thomas. Wärter! Wärter! (Wärter herein.) Sperren Sie diesen Irren in die Isolierzelle.

(Professor Lüdin gibt Wärtern ein Zeichen. Wärter packen Karl Thomas.)

Professor Lüdin. Morgen werden Sie ins Gefängnis zurück transportiert.


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