Ernst Toller
Hoppla, wir leben!
Ernst Toller

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Filmisches Vorspiel

Geräusche: Sturmglocken
Streiflichter knapp
Szenen eines Volksaufstandes
Seine Niederwerfung
Des dramatischen Vorspiels Figuren auftauchend ab und zu

Vorspiel

Große Gefängniszelle

Karl Thomas. Verfluchte Stille!

Albert Kroll. Choräle singen gefällig?

Eva Berg. In der Französischen Revolution die Aristokraten tanzten im Menuett zur Guillotine.

Albert Kroll. Romantischer Schwindel. Man hätte ihr Unterzeug untersuchen sollen. Der Duft wird nicht nach Lavendel gerochen haben.

(Stille.)

Wilhelm Kilman. Mutter Meller, Ihr seid eine alte Frau. Ihr schweigt immer oder Ihr lächelt ... Habt Ihr gar keine Angst vor dem ... vor dem ...? Mutter Meller, (rückt an sie heran) in den Beinen, da schüttert es mich vor Hitze, und da, um mein Herz preßt sich ein Eisring ... Versteht. Ich hab' Frau und Kind ... Mutter Meller, ich hab' solche Bange ...

Frau Meller. Ruhig mein Junge, ruhig, das sieht sich nur so schlimm an, wenn man noch jung ist. Später verwischt es sich. Leben und Tod, das fließt zusammen. Aus einem Schoß kommst du, in andern Schoß wanderst du ...

Wilhelm Kilman. Glaubt Ihr an Leben dort?

Frau Meller. Nein, laß. Den Glauben haben mir die Lehrer ausgeprügelt.

Wilhelm Kilman. Keines besuchte Euch. Wolltet Ihr nicht?

Frau Meller. Meinen Alten und meine beiden Jungen stahlen sie mir im Krieg. Weh tat's schon, aber ich dacht' mir, kommen andere Zeiten. Und es kamen ja welche. Verloren ... Werden eben andere kämpfen ...

(Stille.)

Karl Thomas. Hört zu! Ich hab' was gesehen.

Eva Berg. Was?

Karl Thomas. Nein, nicht zusammenrücken. Die Glotzaugen am Spion ... Wir fliehen.

Albert Kroll. Blaue Bohnen gefällig?

Karl Thomas. Seht das Fenster. Der Kalk an den Eisen ist losgebröckelt.

Albert Kroll. Ja, wirklich.

Karl Thomas. Sitzt das große Kalkstück nicht künstlich fest? ...

Albert Kroll. Bestimmt.

Karl Thomas. Seht ihr?

Eva Berg. Ja. Ja. Kinder zum Tollwerden.

Frau Meller. Ja. Wahrhaftig.

Wilhelm Kilman. Da wollte mal einer von draußen die Bude anspucken ... War kurz vorm Ziel ... Na, ich weiß nicht.

Frau Meiler (zu Wilhelm Kilman). Was, Bangbüchs?

Wilhelm Kilman. Ja, aber ...

Karl Thomas. Was gibst da aber?

Albert Kroll. Ihr wißt, daß ich nicht leichtsinnig bin. Doch es ist Nacht. Wie spät?

Karl Thomas. Eben hat's vier Uhr geschlagen.

Albert Kroll. Dann haben die Wachen gewechselt. Wir liegen im ersten Stock. Bleiben wir, können wir uns im Massengrab guten Morgen sagen. Fliehen wir, steht's zehn zu hundert. Und stünde es eins zu hundert, wir müßten's wagen.

Wilhelm Kilman. Wenn nicht ...

Karl Thomas. Tot so oder so ... Du, Albert marschierst Parademarsch, sechs Schritt hin und her, immer vom Fenster auf die Tür zu. Dann wird das Ochsenauge verdeckt für Sekunden, und dem draußen fällt's nicht auf. Beim fünften Male springe ich ans Fenster, brech' mit aller Kraft die Eisen los, und dann ade, Gevatter.

Eva Berg. Ich schrei«! Karl, ich küss' dich tot.

Albert Kroll. Später.

Karl Thomas. Laß sie doch. Sie ist so jung.

Albert Kroll. Erst springt Karl 'raus, als zweite Eva, dann packt Wilhelm Mutter Meller, schiebt sie hoch ...

Wilhelm Kilman. Ja, ja ... ich meine nur ...

Frau Meller. Laß ihn zuerst... Mir braucht keiner zu helfen. Ich nehm' es mit euch allen auf.

Albert Kroll. Maul nicht. Du kommst zuerst, dann Wilhelm, als letzter ich.

Wilhelm Kilman. Wenn die Flucht nicht gelingt. Wir sollten besser überlegen.

Albert Kroll. Wenn die Flucht nicht gelingt...

Karl Thomas. Weiß man je, ob Flucht gelingt? Wagen muß man, Genosse! Ein Revolutionär, der nicht wagt! Hättest bei Mutter Kaffee trinken sollen und nicht auf die Barrikaden gehen.

Wilhelm Kilman. Nachher wären wir alle verloren. Keine Hoffnung gäb's mehr.

Karl Thomas. Hoffnung, zum Teufel! Auf was Hoffnung? Das Todesurteil ist gefällt. Seit zehn Tagen warten wir auf die Vollstreckung.

Frau Meller. Gestern abend haben sie nach den Adressen unserer Verwandten gefragt.

Karl Thomas. Auf was also Hoffnung? Eine Salve und, wenn sie schlecht trifft, als Zugabe den Fangschuß. Guter Sieg oder guter Tod – seit Jahrtausenden hat die Losung nicht gewechselt. Wilhelm Kilman duckt sich.) Oder... hast du um Gnade gewinselt? Dann schwör wenigstens, daß du schweigen wirst.

Wilhelm Kilman. Warum laßt ihr zu, daß er mich beleidigt? Hab' ich nicht geschuftet Tag und Nacht? Seit fünfzehn Jahren schinde ich mich für die Partei, und heut muß ich mir sagen lassen... Mir wurde das Frühstück nicht am Bett serviert.

Frau Meller. Friede, alle beide.

Karl Thomas. Denk doch ans Standgericht. Die und das Todesurteil aufheben... Schlag an eine Betonwand, glaubst du, sie könnte je klingen den Klang entschlackter Glocke?

Albert Kroll. Los! Alle bereit? Eva, du zählst. Achtgeben, Karl... beim fünftenmal.

(Albert Kroll beginnt hin und her zu gehen, vom Fenster zur Tür, von der Tür zum Fenster. Alle in Spannung.)

Eva Berg. Eins... zwei... drei... (Karl Thomas schleicht sich ans Fenster.) Vier...

(Geräusch an der Tür. Tür kreischt auf.)

Albert Kroll. Verdammt!

(Herein Aufseher Rand.)

Aufseher Rand. Ob einer den Pfarrer wünscht?

Frau Meller. Was schämen soll sich der.

Aufseher Rand. Versündigen Sie sich nicht, alte Frau. Werden bald vor Ihrem Richter stehen.

Frau Meller. Die Würmer kennen keine Konfessionen, hab' ich gelernt. Sagen Sie Ihrem Pfarrer, Jesus trieb Wechsler und Wucherer aus dem Tempel mit Peitschenhieben. Das mag er sich in seine Bibel schreiben, auf die erste Seite.

Aufseher Rand (zum sechsten Gefangenen, der auf der Pritsche liegt). Und Sie?

Sechster Gefangener (leise). Entschuldigt, Genossen ... Ich bin aus der Kirche ausgetreten mit sechzehn Jahren ... jetzt ... vorm Tode ... furchtbar ... versteht mich Genossen ... Ja, ich will zum Pfarrer, Herr Aufseher.

Wilhelm Kilman. Revolutionär? Hosenscheißer! Zum Pfarrer! Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm'.

Frau Meller. Willst du dem armen Teufel Vorwürfe machen?

Albert Kroll. Vorm Tod ... Laß ihn.

Wilhelm Kilman. Man darf wohl noch seine Meinung sagen.

(Aufseher und sechster Gefangener hinaus. Tür wird geschlossen.)

Albert Kroll. Er wird uns nicht verraten?

Karl Thomas. Nein.

Albert Kroll. Aufpassen! Jetzt muß er mit dem gehen, kann also nicht spionieren. Karl, los, ich helfe dir. Hier, auf meinen Buckel ...

(Albert beugt sich. Karl steigt auf Alberts gekrümmten Rücken. Wie er beide Hände zum Fensterrand streckt, um die Eisenstäbe zu packen, knattern von unten Gewehre, Scherben und Kalkstücke fliegen in die Zelle. Karl Thomas springt von Albert Krolls Rücken. Alle starren sich an.)

Albert Kroll. Bist du verwundet?

Karl Thomas. Nein. Was war das?

Albert Kroll. Nichts Besonderes. Sie bewachen unser Fenster. Kleine Kompanie.

Eva Berg. Das... bedeutet...?

Frau Meller. Sich bereit machen, Kind.

Eva Berg. Für den... für den Tod...? (Die anderen schweigen.) Nein... nein... (Schluchzt, weint. Frau Meller geht zu ihr, streichelt sie.)

Albert Kroll. Wein nicht, Mädchen. Wir Revolutionäre sind alle Tote auf Urlaub, hat mal einer gesagt.

Karl Thomas. Laß sie, Albert. Sie ist jung. Kaum siebzehn Jahre. Für sie heißt Tod das kalte schwarze Loch, in dem sie liegen muß, ewig. Und über ihrem Grab warmes Leben, berauschend, bunt und süß. (Karl Thomas bei Eva Berg.) Deine Hände.

Eva Berg. Du.

Karl Thomas. Ich liebe dich sehr, Eva.

Eva Berg. Ob sie uns zusammen begraben, wenn wir sie drum bitten?

Karl Thomas. Vielleicht.

(Albert Kroll springt auf.)

Albert Kroll. Verdammte Quälerei! Warum kommen sie nicht! Ich hab' mal gelesen, Katzen quälen Mäuse so lange, weil die so gut riechen in Todesangst... bei uns muß es andere Finessen geben. Warum kommen sie nicht? Warum kommen die Hunde nicht?

Karl Thomas. Ja, warum kämpfen wir? Was wissen wir? Für die Idee, für die Gerechtigkeit – sagen wir. Keiner grub so tief in sich, um vor dem letzten nackten Grund den Kopf zu beugen. Wenn – es letzte Gründe gibt.

Albert Kroll. Versteh' ich nicht. Daß die Gesellschaft, in der wir leben, schmarotzt von unserer Hände Schweiß, wußte ich schon als sechsjähriger Junge, wenn ich morgens um fünf Uhr aus dem Bett gerissen wurde, um Semmeln auszutragen. Und was geschehen muß, damit das Unrecht ein Ende nehme, wußt' ich eher, als ich ausrechnen konnte, wieviel zehn mal zehn ist...

Karl Thomas. Blick dich um, was stürzt sich alles zur Idee, in Revolution, in Krieg. Der läuft seiner Frau weg, weil sie ihm den Tag zur Hölle macht. Der andere wird nicht fertig mit dem Leben und hinkt und hinkt, bis er eine Krücke findet, die wunderbar aussieht und ihm bißchen Heldenschein gibt. Der dritte glaubt, er könne seine Haut, die ihm zuwider ward, wechseln mit einem Schlag. Der vierte sucht Abenteuer. Immer sind es wenige, die müssen aus innerstem Zwang.

(Geräusch. Tür kreischt auf. Herein sechster Gefangener. Stille.)

Sechster Gefangener. Nehmt ihr's mir übel, Genossen? Ich bin nicht bekehrt, Genossen... Aber... es macht ruhiger...

Karl Thomas. Judas!

Sechster Gefangener. Aber liebe Genossen...

Albert Kroll. Wieder keine Entscheidung! Wieder warten! Rauchen möcht' ich, hat keiner einen Stummel?

(Sie suchen in ihren Taschen.)

Alle. Nein.

Karl Thomas. Wart... wirklich... ich habe eine Zigarette.

Alle. Her damit! Her damit!

Albert Kroll. Streichhölzer? Essig.

Wilhelm Kilman. Ich hab' eins.

Albert Kroll. Die müssen wir uns teilen, versteht sich.

Wilhelm Kilman. Wirklich?

Eva Berg. Ja, bitte.

Karl Thomas. Mein Teil kann Eva haben.

Frau Meller. Meinen auch.

Eva Berg. Nein, jeder einen Zug.

Albert Kroll. Gut. Wer fängt an?

Eva Berg. Wir losen.

Albert Kroll (zerreißt ein Taschentuch in Stücke). Wer das kleinste Stück zieht. (Alle ziehen.) Mutter Meller fängt an.

Frau Meller. Man zu. (Raucht.) Jetzt kommst du dran. (Gibt die Zigarette Wilhelm Kilman.)

Wilhelm Kilman. Hoffentlich überrascht uns keiner.

Albert Kroll. Was wollen sie uns antun? Vier Wochen Einzelhaft als Strafe! Hahaha. (Alle rauchen, jeder einen Zug. Beobachten sich scharf.) Karl, du darfst nicht zwei Züge rauchen.

Karl Thomas. Red nicht so Zeug.

Albert Kroll. Hab' ich etwa gelogen?

Karl Thomas. Ja.

Wilhelm Kilman (zu Albert). Du hast viel länger gesaugt als wir.

Albert Kroll. Halt's Maul, Feigling.

Wilhelm Kilman. Feigling nennt er mich.

Albert Kroll. Wo verkrochst du dich in den Tagen der Entscheidung? Wo rutschtest du deinen Hosenboden blank, als wir das Rathaus stürmten – im Rücken den Gegner, vor uns das Massengrab? Wo stecktest du?

Wilhelm Kilman. Hab' ich nicht zu den Massen gesprochen vom Balkon des Rathauses?

Albert Kroll. Ja, als wir die Macht hatten. Vorher nicht für, nicht wider. Dann mit Wuppdich zum Futtertrog.

Karl Thomas (zu Albert Kroll). Du hast kein Recht so zu sprechen.

Albert Kroll. Bürgersöhnchen!

Frau Meller. Pack, euch zu zanken, fünf Minuten vor der Mauer...

Wilhelm Kilman. Feigling nennt er mich! Ich habe fünfzehn Jahre...

Albert Kroll (äfft ihn nach). Fünfzehn Jahre... Bonze... Keine große Ehre, mit euch zusammen ins Gras zu beißen.

Eva Berg. Pfui!

Karl Thomas. Ja, pfui.

Albert Kroll. Was pfui! Leg dich mit deiner Hur in die Ecke und mach ihr ein Kind. Das kann dann im Grabe auskriechen und mit den Würmern spielen.

(Eva Berg schreit auf. Karl Thomas springt Albert Kroll an.)

Sechster Gefangener (aufspringend). Himmlischer Vater, das ist dein Wille?!

(Wie sie beide sich an der Gurgel halten, Geräusch. Tür kreischt auf. Sie lassen sich los.)

Aufseher Rand. Gleich kommt der Herr Leutnant. Sie müssen sich bereit halten. (Geht.)

(Albert Kroll geht auf Karl Thomas zu, umarmt ihn.)

Albert Kroll. Man weiß nichts von sich, Karl. Das war ich nicht eben, das war ich nicht. Gib mir die Hand, kleine Eva.

Karl Thomas. Seit zehn Tagen warten wir auf den Tod. Das hat uns vergiftet.

(Geräusch. Tür kreischt auf. Herein: Leutnant mit Soldaten.)

Leutnant Baron Friedrich (zu Albert Kroll). Stehn Sie auf. Im Namen des Präsidenten. Das Todesurteil wurde rechtskräftig gefällt. (Pause.) Als Zeichen seiner Gnade und seines Willens zur Versöhnung hat der Präsident das Urteil aufgehoben. Die Verurteilten werden in Schutzhaft behalten und sind sofort ins Interniertenlager zu überführen. Ausgenommen Wilhelm Kilman.

(Karl Thomas lacht wiehernd auf.)

Eva Berg. Du lachst so entsetzlich, Karl.

Frau Meller. Die Freude.

Leutnant Baron Friedrich. Lachen Sie nicht, Mann.

Eva Berg. Karl! Karl!

Albert Kroll. Der lacht nicht aus Spaß.

Frau Meller. Sehn Sie ihn doch an. Den hat's geschmissen.

Leutnant Baron Friedrich (zum Aufseher). Führen Sie ihn zum Arzt.

(Karl Thomas wird abgeführt. Eva Berg begleitet ihn.)

Albert Kroll (zu Wilhelm Kilman). Du allein bleibst. Verzeih mir, Wilhelm. Wir vergessen dich nicht.

Frau Meller (im Hinausgehen zu Albert Kroll). Gnade. Wer hätte gedacht, daß die Herren sich so schwach fühlen.

Albert Kroll. Schlimmes Zeichen. Wer hätte gedacht, daß die Herren sich so stark fühlen.

(Alle hinaus, bis auf Leutnant Baron Friedrich und Wilhelm Kilman.)

Leutnant Baron Friedrich. Der Präsident hat Ihr Gnadengesuch bewilligt. Er glaubt Ihnen, daß Sie gegen Ihren Willen in die Reihen der Aufrührer kamen. Sie sind frei.

Wilhelm Kilman. Danke gehorsamst, Herr Leutnant.

Filmisches Zwischenspiel

Hinter der Bühne:

Chor (rhythmisch anschwellend, rhythmisch verebbend).

Prost Neujahr! Prost Neujahr! Extrablatt! Extrablatt! Große Sensation! Extrablatt! Extrablatt! Große Sensation!

 

Auf der Leinwand: Szenen aus den Jahren 1919–1927

Dazwischen: Karl Thomas im Anstaltskittel hin und her gehend in einer Irrenzelle

1919: Vertrag von Versailles

1920: Börsenunruhen in New York
Menschen werden irrsinnig

1921: Faschismus in Italien

1922: Hunger in Wien
Menschen werden irrsinnig

1923: Inflation in Deutschland
Menschen werden irrsinnig

1924: Lenins Tod in Rußland
Zeitungsnotiz: Heute nacht starb Frau Luise Thomas...

1925: Gandhi in Indien

1926: Kämpfe in China
Konferenz europäischer Führer in Europa

1927: Zeigerblatt einer Uhr
Die Zeiger rücken vor. Erst langsam... dann rascher und rascher...

Geräusche: Uhren


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