Ludwig Tieck
Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben
Ludwig Tieck

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Siegmund war fast schon wieder nüchtern, als er vor seinem Gasthofe stand und sich wunderte, als er die Tür verschlossen fand; er klingelte, es öffnete jemand das Fenster, und bald darauf hörte er Pantoffeln auf der Treppe und die Tür mühsam und tiefatmend aufschließen; sie öffnete sich, und eine alte Frau leuchtete ihm die Treppe hinauf. Noch ehe er sich besinnen konnte, stand er in einem fremden Zimmer, wo das ofterwähnte Mädchen mit dem hübschen Gesicht in einem Sofa saß.

Es wäre unschicklich gewesen, sich zu entschuldigen und wieder fortzugehen; die Alte war verschwunden, und Siegmund nahm nach einer freundlichen Einladung Platz zur Seite des Mädchens.

Siegmund wollte seinem fröhlichen Taumel die Krone aufsetzen, und erstaunte sehr, als er seine dreisten Liebkosungen nicht so erwidert fand, wie er nach allen Umständen erwarten konnte, sondern die Schöne machte sich im Gegenteil von ihm los, und bat ihn mit so vielem Anstande, sich gesitteter zu betragen, daß er rot ward und verschämt um Verzeihung bat. – Das Gespräch nahm nun eine andere Wendung; man sprach von gleichgültigen Dingen, und Siegmund, der eine mit Achtung vermischte Zuneigung zu dem Mädchen fühlte, war endlich schwach genug, ihr seine ganze Geschichte zu erzählen. – Sie gestand ihm im Gegenteil, daß er ihr gleich beim ersten Anblick auf eine sehr vorteilhafte Art aufgefallen wäre, daß sie sogleich seine Bekanntschaft gewünscht, daß sie aber nach dem Blick, den er ihr heut vormittag zugeworfen habe, gänzlich daran verzweifelt sei.

Siegmund erinnerte sich nun, was ihm der Wirt am Morgen von diesem Mädchen gesagt hatte, und er fand sich jetzt schon aufgelegt, ihm kein Wort zu glauben.

»Man hat gewiß von mir nachteilig zu Ihnen gesprochen«, fuhr die unbekannte Schöne fort, »aber ich versichere Sie, es ist Verleumdung gewesen.«

Siegmund bestätigte alles, was sie sagte; beide schimpften mit vereinigten Kräften auf die Bosheit der Welt, daß gerade die schlechtesten Menschen am schlechtesten von andern redeten. »Hüten Sie sich besonders vor Ihrem Wirte!« sagte die Schöne sehr eifrig; »er ist der größte Betrüger in der ganzen Stadt, ziehn Sie sobald als möglich von ihm aus, sonst wird er Ihnen eine ungeheure Rechnung machen!«

Siegmund erschrak nicht wenig über diese Nachricht; er glaubte schon die geschriebene Summe zu sehen, die er dem wohlbeleibten Manne auszahlen solle.

Man sprach noch viel über die mannigfaltigen und zusammengesetzten Charaktere der Menschen, über Bosheit und Niederträchtigkeit, Edelsinn und Rechtschaffenheit – Siegmund hatte es ganz vergessen, in welchem Hause er sich befand, und moralisierte tapfer darauf los.

»Ich glaube nun Sie zu kennen«, fuhr die Schöne fort; »jetzt will ich Ihnen auch etwas von meiner Geschichte ganz aufrichtig erzählen, damit Sie sehen, wie sehr man sich in manchen Leuten irren kann.

Ich bin ein armes Mädchen, meine Eltern sind früh gestorben, meine Erziehung war nicht die beste; was ich ohngefähr weiß, oder von Bildung erhalten habe, habe ich mir ganz allein zu danken. Man hat mich von Jugend auf ziemlich hübsch gefunden, und ich bin am Ende überredet worden, es selbst zu glauben.

Da ich kein Vermögen hatte, suchte ich meinen Unterhalt durch Sticken, Putzmachen und andere dergleichen Beschäftigungen zu erwerben; meine Anbeter verfolgten mich unaufhörlich, und ich überlegte mir meine Situation etwas vernünftiger, und seit der Zeit lebe ich vergnügter, und bin nicht so sehr, wie vordem, dem Mangel ausgesetzt.

Man darf nur um sich her die Beschäftigungen der Menschen und das Triebwerk ihrer Tätigkeit betrachten, so findet man sehr bald, daß nichts als Eigennutz alle Maschinen in Bewegung bringt, und forscht man nach dem reellen Nutzen bei den meisten Beschäftigungen, so ist es kein anderer, als daß der Magen der Arbeitenden angefüllt wird. –

Gelehrte, schöne Geister, Musiker, alle Arten von Menschen leben von den Talenten, die ihnen die Natur mitgegeben hat. – Warum soll es denn nur erlaubt sein, mit geistigen Schätzen oder körperlichen Kräften zu wuchern? – Warum soll man nicht auch andre Vorzüge geltend machen dürfen? Wenn die Menschen närrisch genug sind, ihr Vermögen einem Mädchen aufzuopfern, das sie für schön halten, warum sollte man nicht aus dieser Narrheit Nutzen ziehn, so wie Marktschreier, Doktoren, Seiltänzer und Schriftsteller die Schwächen der Menschen nutzen? Ich fand, daß es kein Gewerbe gebe, bei welchem nicht eine Art von Betrug stattfände, und daß die Dummheit, sich betrügen zu lassen, die List des Betrügers gewissermaßen rechtfertigt. – Sie lächeln über meine Geständnisse, und werden gewiß in Ihrem Herzen glauben, daß ich recht habe.«

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, meine schöne Freundin«, antwortete Siegmund, der eben daran dachte, wie er noch gestern die Schmeichler verteidigt hatte.

»Jeder«, fuhr die Rednerin fort, »sucht die Armseligkeiten seiner Nebenmenschen dazu zu brauchen, sich einen ebnen Weg durchs Leben zu bahnen; der eine kleidet sich, wie sein Gönner es gern sieht; ein anderer hat dieselbe politische und philosophische Meinung, die man von ihm fordert; ein dritter heiratet, um reich zu werden; ein vierter übervorteilt im Handel; jeder lügt, hintergeht, spielt den Scharlatan; die ganze Welt maskiert, und nur die Macht der Schönheit soll von dieser allgemeinen Sucht, andre zu beherrschen, ausgeschlossen bleiben?

So lebe ich angenehm und im Wohlstande. Fremde, die, wenn nicht mir, einem andern Mädchen ihren Reichtum hingetragen haben würden, vermehrten mein Vermögen; Narren verfolgten mich, und drangen mir, sosehr ich mich weigerte, ihre Börse auf. – Aber ich wähle auch aus; ich bin, so wie Sie mich hier sehn, aufs eifrigste Demokratin, und hasse und verachte alles, was sich Edelmann nennt; so habe ich Ihren Präsidenten immer mit dem größten Spott abgewiesen, sosehr er sich mir aufgedrängt hat. – Ich habe schon manchen Armen unterstützt, und mancher Familie aufgeholfen, und so kann ich nicht einsehn, warum ich nicht mit mir zufrieden sein, sondern mich für ein verworfenes Geschöpf halten sollte?«

»Sie sind die liebenswürdigste Philosophin von der Welt!« rief Siegmund aus. »Ich habe noch kein Frauenzimmer gefunden, deren Seelengröße sich mit der Ihrigen messen dürfte.«

Die Schöne drückte einen zärtlichen Kuß auf die schmeichelnden Lippen. – »Ich habe Sie heut abend kommen sehn«, sagte sie, »und Ihnen bloß die Tür eröffnet, weil Sie mir gefallen, und weil ich Sie jetzt sogar liebe, ohne Vorteil von Ihnen zu hoffen. Ich denke, meine Liebe ist uneigennütziger, als die anständige Zärtlichkeit mancher Ehefrau.«

Siegmund ward immer mehr bezaubert; er schloß sie an sein klopfendes Herz und überdeckte Wangen und Busen mit feurigen Küssen.

»Ich habe einen Einfall!« rief die Geliebte wie begeistert aus, »ich habe einen Einfall, für den Sie mir gewiß danken werden. – Sie sollen sehn, daß ich nicht nur uneigennützig bin, sondern daß ich mich auch aufopfern kann, wenn ich mich jemandes Freundin nenne. – Ich habe mir einmal vorgesetzt, daß Sie hier in der Stadt bleiben sollen, und ich will für Sie den unangenehmsten Schritt tun: ich will mich nämlich mit dem Präsidenten in Kapitulation einlassen.«

Siegmund konnte nicht Worte genug finden, ihr zu danken. – Sie gab ihm in derselben Nacht noch zu mehrerem Dank Gelegenheit, und er verließ sie, um sich in seinem Gasthofe von dem philosophischen Räsonnement zu erholen, das ihn ermüdet hatte.

Es ward sogleich zum Präsidenten geschickt, der nicht zu kommen ermangelte. – Als sich Siegmund auskleidete, um zu Bette zu gehen, sagte er zu sich selbst: »Einem Freudenmädchen soll ich also vielleicht mein Glück verdanken? Nicht meinen Talenten und Kenntnissen? – Aber ich verdanke es mir ja doch selbst; meine Gestalt hat dies Mädchen ja so für mich eingenommen. Es hätte mir wahrhaftig weniger Ehre gemacht, wenn ich bloß dem vornehmen Fürwort des langweiligen Generals, der mich nicht kannte und nicht besonders leiden mochte, alles schuldig geworden wäre. – Ich bin nicht der erste, und werde auch nicht der letzte sein, der durch ein Frauenzimmer eine Stelle erhält; sie geben uns als Säugling Milch und als Männer Brot, und es ist gewöhnlich noch anstößiger, wie viele durch eine verheiratete Frau oder durch Heirat versorgt werden.«

Er schlief bald ein und lag noch in süßer Ruhe, als ihn der Markör weckte und ihm ein Billet vom feinsten Postpapier überreichte. Noch schlaftrunken erbrach er es. Es war eine außerordentlich höfliche Einladung vom Präsidenten, ihm die Ehre seines Besuchs zu gönnen; er habe gestern vergessen, sich nach manchen Umständen zu erkundigen, die ihn sehr interessierten.

Siegmund sprang schon aus dem Bette, ehe er noch zu Ende gelesen hatte, seine gestrigen Skrupel fielen ihm gar nicht einmal ein. Er rief den ersten vorübergehenden Friseur hinauf, zog sich so eilig an, daß es dadurch eine Viertelstunde länger währte, und lief trabend zum Präsidenten. Der Bediente führte ihn in das Schlafzimmer des gnädigen Herrn, der um Verzeihung bat, daß er ihn schon so früh inkommodiert habe. Siegmund wußte gar nicht, wie er die großen und ausgesuchten Höflichkeiten beantworten sollte. Der Präsident erklärte, daß er den Brief des Generals noch einmal überlesen und sich gestern aus Zerstreuung in der Person geirrt habe, er habe schon seit lange so viel von der Geschicklichkeit und den unbeschreiblich großen Talenten des Empfohlenen rühmen gehört, daß er ihm die verlangte Stelle unmöglich, ohne die größte Ungerechtigkeit zu begehen, abschlagen könne.

Kurz, alles ward in dieser Unterredung berichtigt; Siegmund war Rat, und mietete sich sogleich, als er den Präsidenten verließ, seine künftige Wohnung, forderte im Wirtshause die Rechnung, und erschrak zwar nicht, aber erstaunte doch ein wenig über die große Summe.

Alles schien hier in der Stadt sein Gewerbe philosophisch zu treiben, denn als der Wirt das langgezogene Gesicht des Bezahlenden sah, sagte er ganz kalt: »Man kann es unsereinem nicht übelnehmen, wenn man den Vorteil nimmt, wo man ihn findet; ich lasse mir auch dafür etwas bezahlen, daß mein Gasthof der beste ist, und jeder Eingehende kann doch nachher erzählen, daß er hier logiert habe. Über fünf Jahre ungefähr wird es auch bei mir etwas wohlfeiler sein, denn ich denke, daß ich dann die Summe wieder erübrigt habe, um die mich einmal ein verkleidetet Herzog betrog.«

»Der Bürger muß also auch bei Ihnen die Schulden der Fürsten bezahlen?« fragte Siegmund lachend.

»Zum Glück ist mein Gasthof hier in der Stadt der einzige recht gute«, fuhr der dicke Mann ungestört fort; »ich habe daher die Summe, auf die ich hoffe, schon so gut wie in der Tasche. Der Goldschmied ist ein Narr, der das abfallende Silber nicht sammelt.«

Die Rechnung ward quittiert, Siegmund zog aus und in seine neue Wohnung.

Als er auf den Mittag wieder im Gasthofe aß, sprang ihm der kleine Bellmann in die Arme, und freute sich, daß ein so würdiger Mann die erledigte Stelle erhalten habe. Seine Freude war ungeheuchelt, denn er hatte die Aussicht, in wenigen Wochen mit einer andern ebenso einträglichen Würde bekleidet zu werden.

Der Zeitungsschreiber machte in seinem Blatte einen großen Artikel aus der Ankunft und Einführung des neuen Rats.

Siegmund, der Präsident und das Mädchen lebten seit der Zeit in der größten Eintracht; die Schöne stimmte ihr demokratisches Gemüt etwas aristokratischer, und schon am folgenden Tage sah man den Präsidenten in der Gesellschaft Siegmunds reiten. Siegmund tat ihm den Gefallen, nur wenig zu schließen, und mit dem Pferde etwas ungeschickt umzugehen. Der Präsident gab ihm viele Regeln; Siegmund dankte und lernte besser reiten.

Der General antwortete auf das Danksagungsschreiben des Rats: er habe wohl gewußt, daß der Präsident nicht unterlassen könne, seine Empfehlung zu beachten. –

Dies sind die beiden merkwürdigsten Lebenstage aus Siegmunds Geschichte. – Der Leser, der nur ein halb gutes Buch über die Moral gelesen hat, wird leicht die schnell erfundene sophistische Scharade auflösen können; folglich braucht sieh der Verfasser gar nicht weiter darüber zu erklären, daß er die aufgestellten Personen nicht für Ideale auszugeben gesonnen sei.


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