Ludwig Tieck
Die beiden merkwürdigsten Tage aus Siegmunds Leben
Ludwig Tieck

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»Muß man denn, meine Herrn, immer nur Vorteil suchen«, fing er an, »wenn man der Meinung eines klugen angesehenen Mannes beitritt? Soll man ihm der Höflichkeit, der Freundschaft, ja seiner eigenen Überzeugung zum Trotz nur stets widersprechen, bloß um der Welt zu zeigen, daß man unabhängig von ihm leben könne? Nur der Egoismus kann in allen Schritten Eigennutz entdecken. – Und warum soll ich auch nicht die unschädliche Schwachheit eines Vornehmen auf eine unschädliche Art benutzen dürfen? Wir sind selbst gegen unsere vertrautesten Freunde nie ganz aufrichtig, wir geben ihnen manches zu, wovon wir nicht überzeugt sind, wir behalten in den herzlichsten Stunden eine gewisse Lebensart bei, wir schonen ihrer Schwachheiten, um sie nicht gegen uns aufzubringen, und damit sie wieder andere Schwächen an uns übersehn. Hanc veniam damus petimusque vicissim.«

»Schön«, rief der Mann aus, der den Traktat geschrieben hatte – »Schade, daß Sie ein Sophist sind, und für Sophistereien einen Spruch des redlichen Horatii zitieren.«

»Machen wir es in unserm ganzen Leben anders?« fuhr Siegmund fort, »und machen sich wohl die edelsten Menschen Vorwürfe darüber? – Wer gibt dem Müller das Recht, einem Wasserfalle sein Mühlenrad unterzustellen, so daß die Wellen, statt frei und ungehindert fortzufließen, erst angespannt werden, um mit Mühe ein ungeheures Rad zu drehen?«

»Eine seltsame Ideenkombination!« rief der Traktatenschreiber.

»Nicht so seltsam kombiniert«, antwortete der Mann, der in Verlegenheit gewesen war, und dessen Gesichtswellen sich jetzt zur Ruhe legten: – »nicht so seltsam, als Sie die Ode Justum et tenacem etc. erklärt haben.«

» Sutor ne ultra crepidam!« antwortete kaltblütig der Gelehrte, und warf sein Motto wie einen Fehdehandschuh über den Tisch hinüber. Der Gegner hatte eine außerordentliche Fertigkeit im Rotwerden, denn schneller als in einem erhitzten Thermometer stieg nun das Blut wieder in die aufgedunsenen Wangen. Er schöpfte frischen Atem, als Siegmund wieder von neuem anfing:

»Wenn wir die Schwäche eines Menschen ertragen, so ist dies nichts als eine Pflicht der Menschenfreundlichkeit; bringt es aber der Zufall mit sich, daß wir durch diese Schonung irgendeinen Vorteil erlangen können, so sind wir große Toren, wenn wir uns nicht an dem Geländer festhalten, das uns einen steilen Pfad hinauf begleitet. Wer wird nicht bergunter langsam gehn, und einem bergabrollenden Steine aus dem Wege treten?«

Der Freund des Präsidenten ward ein Freund Siegmunds, und bekräftigte alles, was dieser sagte, mit sehr gewichtvollen Blicken, die er langsam in der Gesellschaft herumgehn, und dann an dem überwundenen Gelehrten hängen ließ. Siegmund war ohne es zu wollen der Sprecher in diesem langweiligen Parlamente geworden, und alle Augen waren nach seinem Munde gerichtet. Man fragte den Wirt heimlich, wer der verständige Fremde sei; dieser aber wußte es selber nicht, und man hatte von Siegmund nur eine desto größere Hochachtung, da man seinen Namen und Charakter nicht kannte.

Die Gäste zerstreuten sich nach und nach, nur der kleine dicke Mann blieb mit Siegmund im Zimmer; dieser spürte jetzt einen weit größeren Mut, da er mit seinem Verteidiger das Feld behalten hatte. Er wagte es jetzt dreister, sich in philosophischen Sentenzen zu ergießen, und Siegmund war gutmütig genug, alles zu bestätigen, da er einmal sein Sekundant geworden war. Beide versprachen es sich, Freunde zu bleiben und sich öfters zu besuchen. – Man trennte sich und Siegmund ging schlafen.

Er wachte mit den angenehmsten Vorstellungen auf, die Sonne schien hell in sein Zimmer, und die freundlichen Tapeten und ihre Kupferstiche lachten ihm entgegen; er ließ sich frisieren und zog sich an. – Das hübsche Mädchen lag wieder im gegenüberliegenden Fenster, er grüßte, sie dankte, er sah noch einigemal hinüber, und stellte sich dann vor den Spiegel, um seinen Anzug und Anstand zu mustern. Dann ging er gedankenvoll im Zimmer auf und ab, und sagte zu sich selbst:

»Es kann mir nicht fehlschlagen, meine Empfehlungen sind zu gut und dringend; es wäre Beleidigung des Generals, wenn man mir die Stelle versagte: Und warum sollt ich eine unnütze und lächerliche Deutschheit und Biederkeit und wie die närrischen Titel weiter heißen mögen, affektieren? Man empfiehlt sich den Menschen immer auf das vorteilhafteste, wenn man recht demütig erscheint, und sich gar nicht zu empfehlen sucht; man darf nur die Leute selber sprechen lassen, und sie finden, daß man ganz außerordentlich vernünftig redet. – Bis jetzt haben die eingebildeten Weltreformatoren noch nichts genützt, aber wohl sich und andern geschadet. – Wenn es in unserer Welt dazugehört, daß man schmeichelt um ein Amt zu bekommen, ebenso, wie man sich examinieren läßt – je nun, so kann ich nicht begreifen, warum ich nicht etwas schmeicheln sollte, um in einen Zustand zu geraten, daß ich mir kann schmeicheln lassen. Das Ganze ist doch wahrhaftig nicht unangenehmer, als wenn ich auf der Hieherreise mit dem Wagen umgeworfen und einen Arm gebrochen hätte, und doch wäre es wahrlich auch nur geschehn, um hier Rat zu werden. Der Präsident hat viele Schwächen, sie sollen mir ebenso viele Haken werden, um mein Glück zu ergreifen.«

Als er diese Rede geendigt hatte, ging er zum Wirt hinunter, um sich jemand von seinen Leuten auszubitten, der ihn zum Präsidenten führen könne. – »Was ist das für ein Mädchen, die dort drüben wohnt?« fragte er den Wirt zu gleicher Zeit ganz vorübergehend.

Der Wirt schüttelte bedenklich den Kopf. – »Es ist eine von denjenigen«, sagte er halb lächelnd und halb böse – »nun, Sie verstehen mich wohl; sie lebt so auf ihre eigne Hand, wie man so zu sagen pflegt. Eine niederträchtige Kreatur! sie hat schon manchen jungen Mann ausgezogen. – Nehmen Sie sich nur vor der boshaften Person in acht«, setzte er spottend hinzu, »sie kann sich so fromm und unschuldig stellen: ein wahres Krokodil, ein Ungeheuer!«

Siegmund hatte nicht Zeit, um den Schmähungen des Wirts noch länger zuzuhören, er ging und sahe nach den Fenstern des Mädchens hinauf, sie blickte ihm nach, und er schickte ihr nach dem, was er soeben gehört hatte, einen sehr verächtlichen Blick zu, und ging in die nächste Quergasse, ohne sich noch einmal umzusehn.

Nachdem sie durch mehrere Straßen gegangen waren, zeigte ihm der Bediente gerade vor ihm ein sehr ansehnliches Haus, dessen vornehme Treppe, die großen Fenster und alles von dem aristokratischen und reichen Besitzer zeugten. Das Herz fing ihm an etwas zu klopfen, da er nun in kurzem den Mann persönlich vor sich sehen sollte, der seinem Glücke den Ausschlag geben konnte. Er hatte sich den Präsidenten so viel als möglich gedacht, aber es war doch immer ein fremder Mensch, mit dem er jetzt in Unterhandlungen treten sollte; sein Anzug erschien ihm jetzt bei weitem nicht so vorteilhaft, und auf dem hallenden, mit Marmor gepflasterten Flure schien es ihm sogar, als wäre er nicht Menschenkenner genug, um den Präsidenten so ganz in seine Gewalt zu bekommen, als er sich erst eingebildet hatte.

Er ward in das Vorzimmer geführt, um auf die Ankleidung des Präsidenten zu warten, er schickte ihm die Briefe des Generals hinein, und hatte Muße genug, um die ängstlich prächtige Möbilierung des Zimmers zu mustern.

Als er in Gedanken seine Komplimente wiederholt, mehrmals leise und zahm auf dem getäfelten Boden auf und ab gegangen war, seine Uhr aufgezogen, ob es gleich noch nicht Zeit war, Tabak aus einer recht eleganten Dose, einem Präsente, genommen hatte, um es sich von neuem ins Gedächtnis zu rufen, daß er doch auch schon ehemals mit vornehmen Leuten, und zwar auf einem ziemlich vertrauten Fuße, umgegangen sei, trat der Präsident endlich zu ihm in das Zimmer, und hielt nachlässig den Brief des Generals in der Hand.

Verbeugungen, gnädig und demütig, und von beiden Seiten ein Schritt plötzlich zurück, Verlegenheit, besonders auf Siegmunds Gesichte, indem man sich gegenseitig erkannte: denn der Präsident war niemand anders, als der alte Mann, den er gestern im Mondenscheine vor der Tür seines Gasthofs so derb ausgelacht hatte.

Das Benehmen des Präsidenten setzte sich leicht wieder zu einer zurückstoßenden Kälte, die den vornehmen Leuten so leicht zu Gebote steht. Siegmund war in einer Verwirrung, die alles konfundierte, was er dachte und was er sagen wollte, die prästabilierte Harmonie war auf einige Minuten in ihm gestört, und er stammelte dem Präsidenten eine unzusammenhängende Entschuldigung ins Gesicht, daß er ihn gestern abend unbekannterweise in der bewußten Gegend ausgelacht habe. Der Präsident fragte sehr ernsthaft und wie verwundert, was er meine, und Siegmund vermochte es kaum, sich auf seinen Beinen aufrecht zu erhalten.

Als er sich etwas erholt hatte, sah er ein, daß ihm unter diesen Umständen nur zwei Wege offenständen, entweder sogleich den Präsidenten zu verlassen, Pferde zu nehmen, und nach seiner Geburtsstadt zurückzureisen, oder den Versuch zu machen, alles auf eine feine Art wieder ins Geleise zu bringen. Er entschloß sich zum letzten, da er sich erinnerte, daß er die gehoffte Stelle schon immer als sein Eigentum angesehen und darnach alle Einrichtungen getroffen habe. Er fiel sich in den Zügel, und suchte bei der Dämmerung aller Sinne und Begriffe den rechten Weg wiederzufinden. Aber ich möchte den Mann sehn, der nach so vielen Unglücksfällen noch fein sein kann und doch ein Deutscher ist.

Der Präsident war verstockt genug, dem armen Sünder auch nicht einen einzigen Schritt entgegenzutun, oder ihm Pardon anzubieten; er hatte vielleicht ein Wohlgefallen an den Krümmungen und wunderbaren Windungen des Supplikanten, der die Füße in alle mögliche Tanzpositionen brachte, der die Uhrkette und die Augenbraunen kniff, und nichts sehnlicher wünschte, als der Präsident möchte seine goldene Dose zur Erde fallen lassen, um sie ihm mit der demütigsten Behendigkeit wieder reichen zu können.

Nach den gewöhnlichen Eingangsredensarten, von – »Leidtun« – »wünschen, ein andermal dienen zu können« – den Trauerkutschen, die unsre Hoffnungen so oft zu Grabe begleiten, kam endlich die abschlägliche Antwort zum Vorschein, die schon lange den armen Kandidaten wie ein herannahendes Gewitter geängstigt hatte. Siegmund war ohne Trost, als jetzt der kleine Bellmann durch den Saal ging und ihn der Präsident sehr freundlich in sein Zimmer beschied, in welches er ihm sogleich folgen würde. Es fiel ihm schneidend ein, wie er gestern den Gönner des kleinen Mannes gespielt habe, und dieser heut mit einem Menschen so vertraut umging, der ihm fürchterlich war. Der Präsident suchte jetzt absichtlich die Visite abzukürzen, so wie Siegmund sie verlängerte, ohne eigentlich zu wissen, warum er es tat. – Der Präsident sagte ihm endlich, daß der Mann, den er eben gesehn habe, derjenige wäre, dem die Stelle schon versprochen sei, auf die er gehofft habe. Siegmund fiel aus den Wolken.

Es gibt Momente im Leben, wo die Verlegenheit Stoß auf Stoß so auf uns einstürmt, daß wir uns endlich in blinder Verzweiflung widersetzen. Dies ist der Augenblick, wo alles Tierische im Menschen gewöhnlich die bessere geistige Materie zu Boden ringt, der gefährliche Augenblick, in welchem der Mensch allen feinern Empfindungen Abschied gibt, wo er in seinem Gegner den fühlenden Menschen verkennt und bloß den Feind wahrnimmt. In diesem stürmischen Augenblicke entdeckte Siegmund dem Präsidenten seine ganze Lage; wie er seinen vorigen Posten aufgegeben habe, weil er die hiesige Ratsstelle gewiß geglaubt, wie er Geld aufgenommen und nun nicht wieder zu bezahlen wisse, wie ihn jetzt plötzlich tausend Unannehmlichkeiten bestürmten, an die er bis dahin gar nicht gedacht habe.

Der Präsident zuckte die Schultern, eine Mitleidsbezeugung, mit der die Leute noch freigebiger sind, als mit Seufzern. Es kam ihm sogar ein Einfall, den er für witzig hielt, so daß er ihn unmöglich unterdrücken konnte.

»Sie glaubten«, sagte er mit sehr spitzigem Munde, »daß guter Rat hier so teuer sei, daß man Sie auf den Händen tragen würde.«

Man sieht, es war ein Wortspiel, die verschrieenste Abart unter den verschiedenen Arten des menschlichen Witzes; daß es außerdem noch unartig war, bedarf gar keiner Erwähnung.

»Sie bringen mich zur Verzweiflung!« rief Siegmund so aus, als wenn er schon wirklich verzweifelt wäre; der Präsident erschrak bei diesem Sprunge über die gewöhnliche Lebensart hinweg, er sicherte sich hinter einen prächtigen Sessel, vor dem Siegmund wie ein begeisterter Prophet stand und Reden führte, wie die verfolgte Tugend.

»O wehe mir, daß ich sah, was ich sah«, fuhr er fort zu klagen, und wandte eine Stelle aus dem Ovidius Naso auf seine Umstände an. »Was konnte ich dafür, daß man Sie nicht in das bewußte Haus hineinlassen wollte? Was konnte ich dafür, daß ich Sie dort traf und wider meinen Willen lachen mußte? Ist Ihnen das Glück eines Menschen nicht teurer, als daß Sie es ganz so vom Zufalle und Ihren Launen abhängen lassen? – Oh, widerrufen Sie Ihr Urteil und verhöhnen Sie mich nicht in meinem Unglücke, denn ich hab es nicht verdient, schicken Sie mich nicht so ohne Trost fort, und bestrafen Sie, wenn Sie können, den Zufall, nicht mich.«

»Mein Freund«, antwortete der Präsident mit einer unausstehlichen philosophischen Kälte – »Ihr Unglück besteht ja eben darin, daß Sie mit diesem Zufall zusammengetroffen sind. Ist dies nicht vielleicht ein Wink des Verhängnisses, daß Sie unglücklich sein sollen? Ja, es ist Ihr Verhängnis, denn Sie sind ja unglücklich und haben nicht die Kunst verstanden, mein Herz zu Ihrem Vorteil einzunehmen, weil es das Schicksal nicht so haben will. Bewundern Sie die Anzahl von Zufällen, die sich gleichsam mühsam aneinandergereiht haben, um diese Wirkung hervorzubringen.«

»Ich sehe nichts als Ihren Zorn und Unwillen, Ihre Hartherzigkeit mit meinem Unglücke«, antwortete Siegmund. – »Können Sie, ohne Reue zu fühlen, so ungerecht sein?«

»Ungerecht?« Der Präsident fing unwillig dies Wort auf. – »Und wo liegt denn, mit Ihrer Erlaubnis, die Ungerechtigkeit? – Wenn ich einen Freund habe, der mir schon seit lange eine Menge von Gefälligkeiten erzeigt hat, und ich finde nun endlich Gelegenheit, ihm wieder etwas Vorteilhaftes zuzuwenden, sollt ich es da unterlassen, und diesen Nutzen einem Menschen gönnen, der mir fremd ist? Warum soll ich meinem Freund nicht nützen, wenn ich die Gelegenheit dazu in Händen habe? – Ich halte es nicht für ungerecht, sondern für meine erste Pflicht. – Sie können nicht für den Zufall, aber ich ebensowenig für den, daß die Stelle schon meinem guten Freunde versprochen ist. – Leben Sie wohl.«

Der Präsident machte ihm eine nachlässige Verbeugung, und der kleine Bellmann trat wieder aus dem Zimmer des Präsidenten; der Beschützer zog sich zurück, und der kleine Mann begleitete unsern Helden bis an die Treppe. Siegmund machte den Versuch, diesem wieder wie gestern zu imponieren; aber alle seine Kunst war vergebens, der kleine Mann kannte jetzt das Verhältnis, in welchem sie beide standen, und war fast ebenso unhöflich als der Präsident selbst. Er bot ihm ein kaltes Lebewohl, und ging dann hochmütig wieder in die Tür zurück.


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