Johann Ludwig Tieck
Die Ahnenprobe
Johann Ludwig Tieck

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Der Oberkammerherr hatte sich einige Tage in seinem Zimmer verschlossen gehalten. Es hieß, Elisabeth sei zur Tante auf einige Wochen gereist, und im Hause herrschte ein dumpfes Schweigen, eine stille Trauer. Edmund sah die Mitglieder der Familie nur selten, am meisten den General, der ihn oft zu sich bat, um mit ihm Schach zu spielen oder etwas vorzulesen. Indessen war auch der Bräutigam Katharinens aus Italien zurückgekommen, ein feiner Weltmann, der durch ein gewandtes Wesen wieder einige Heiterkeit in dem verstimmten Kreise verbreitete.

So waren Tage verstrichen, als Edmund an einem Morgen früh ein Billet von fremder Hand und ohne Namen erhielt, welches ihn nach einem bekannten Gasthofe beschied. Als er sich dorthin begeben wollte, begegnete ihm der alte Baron auf der Straße, welcher ihm meldete, daß sein Sohn fortgelaufen sei, Niemand könne ihm Nachricht geben, wohin. Ich dachte den jungen Menschen, fuhr er fort, nun endlich zum Mitglied unsers Clubs vorzuschlagen, damit er sich beschäftigen lerne, aber ich sehe wohl, daß er unfähig ist, unter gebildeten Menschen zu leben. Unsern Wendelbein haben wir nun auch verloren. Er soll drüben im Herzogthume Finanzrath geworden seyn, eine Stelle, für welche er auch ganz und gar paßt. Man will behaupten, er habe nunmehr doch wirklich die junge Comtesse entführt. Der fehlt nun auch, dieses belebende geistreiche Prinzip, unserem Zirkel. Ich entbehre ihn aber ganz vorzüglich, denn in der letzten Zeit hat er mir häufiger als sonst seine Gesellschaft gegönnt, und er wäre noch viel interessanter, als er schon ist, wenn er nicht die lästige Idiosynkrasie hätte, immerdar borgen zu wollen. Diese Vorschläge und Anmuthungen mischt er jedem Gespräch ein, der Gegenstand desselben mag betreffen, was er immer wolle. Ich habe aber gesehen, wie sehr er Sie schätzt, mein junger Freund, denn er hat sich neulich alle Billette und Briefe von Ihrer Hand von mir geben lassen, zum Andenken Ihrer. Sie werden nun in Ihrer unglücklichen Leidenschaft natürlich sehr traurig und verstimmt seyn. Dergleichen, wenn man alt wird, sieht man aus einem gar sonderbaren Gesichtspunkte an. Es ist fast mehr komisch als trübselig, und giebt eigentlich dem Humor seine beste Nahrung. Sie werden noch Vieles erleben und nachher über Ihre jetzige Leidenschaft selber lächeln. Der Mensch muß Alles durchmachen und überstehen, und je mehr, je besser, denn seine Reife ist nachher um so edler und gediegener. Ich könnte von meinen Erfahrungen, wenn es sich der Mühe verlohnte, ein großes Buch schreiben. Alles ist eitel!

Edmund war froh, als der Lästige sich endlich von ihm entfernte. Im Gasthofe ließ er sich nach dem Zimmer führen, das der Fremde bewohnte, der ihn zu sich beschieden hatte. Wie erstaunte er, als ihm seine Mutter, die er seit Jahren nicht gesehen hatte, entgegentrat. Nun wahrlich, rief er mit Verwunderung und Rührung aus, indem er vor der hohen Gestalt sich neigte und sie dann umarmte, jeden andern Sterblichen hätte ich eher zu sehen erwartet als Sie! Was bringt Sie uns hieher nach der Stadt? Was vermochte Sie, Ihren ruhigen Wohnsitz zu verlassen?

Die Mutter war sehr erschüttert, als sie den wohlgebildeten Sohn wieder vor sich sah und in Ihren Armen hielt. Ja, mein Kind, rief sie aus, wir sehen uns wieder, und zwar unter sonderbaren Verhältnissen, durch Veranlassungen, die ich niemals ahnden konnte. Weißt Du denn, wer mit mir gekommen ist? Wer sich im nächsten Zimmer befindet? – Niemand anders als die junge Gräfin Seestern, die so unbesonnen die Stadt verließ und jetzt zittert, dem gekränkten Vater wieder vor das Angesicht zu treten.

Edmund sprang auf und wollte die andere Thür eröffnen, doch die Mutter hielt ihn zurück und sagte: Nicht also, mein Sohn, störe sie nicht, sie hat ihr Vergehen und das Thörichte ihrer Leidenschaft erkannt, sie hat den Gedanken an Dich völlig aufgegeben, um sich ganz und herzlich mit ihrem Vater zu versöhnen. Du darfst sie nicht in ihren edlen Vorsätzen stören, wenn Du sie wahrhaft geliebt hast. Sie ist jetzt durch sonderbare Schickung einem großen Unglück entronnen, und wilde Leidenschaftlichkeit darf das Leben dieses schönen Gemüthes nicht noch einmal verwirren.

Aber wie, rief Edmund aus, wie hängt das Alles zusammen? Wie und warum ist sie entflohen? Wie kommen Sie, theure Mutter, in ihre Gesellschaft? Wenn sie mich liebte, wie konnte sie, ohne mein Wissen, diesen Schritt thun und mir diese namenlose Angst bereiten?

So höre denn, fing die Mutter an, wie die Sache sich verhält. Einige Tage vor der Flucht der lieben Elisabeth erhielt sie durch das Fräulein Wilhelmine diesen langen, leidenschaftlichen Brief von Dir.

Von mir? rief Edmund aus, ich habe ihr niemals geschrieben. Die Mutter übergab ihm ein Schreiben, über welches Edmund in Verwunderung gerieth, da seine Hand täuschend nachgeahmt war. Dieser Brief erzählte in leidenschaftlichen und gutgestellten Ausdrücken, wie unglücklich der Schreiber desselben sei, wie verhaßt ihm das Dasein würde, da sich keine Aussicht zeige, mit Elisabeth das wahre Glück des Lebens zu finden. Der Oberkammerherr habe ihn schnöde und verächtlich behandelt und ihm verboten, die Tochter jemals wiederzusehen, oder nur an sie zu denken. Er habe ihm angekündigt, daß er sie nächstens mit dem Grafen Bentling, dem reichsten und häßlichsten Manne der Stadt, vermählen wolle, einem alten Hagestolze, der nur den Einfluß des Oberkammerherrn benutzen wolle, um seine Reichthümer zu vermehren. Man beschwor also die Geliebte, sich diesem fürchterlichen Schicksale zu entziehen, welches nur durch die Flucht geschehen könne. Elisabeth solle sich also unbedingt dem jungen Fräulein, ihrer Wilhelmine, die ja schon um ihr Geheimniß wisse, anvertrauen. Der intimste Freund des Schreibenden, ein Herr Wendelbein, werde behülflich seyn, die Flucht zu bewerkstelligen. Dieser habe im benachbarten Lande große und einflußreiche Verbindungen, durch diese angesehenen Männer und Familien sei eine Aussöhnung mit dem Oberkammerherrn leicht zu bewerkstelligen. –

Und auf dieses verruchte Blatt hin, rief Edmund aus, ist die Unglückliche wirklich mit diesem Elenden entflohen? Und sie konnte glauben, daß ich in dieser Art jemals an sie schreiben würde? Auf so grobe Weise konnte sie sich täuschen lassen?

Dieser Brief, fuhr die Mutter fort, der Dir meine Verachtung zugezogen hätte, wenn er wirklich von Dir herrührte, ängstigte das arme Mädchen so, daß Schlaf und Ruhe von ihr wich. Wilhelmine vermehrte durch ihre Erzählungen noch diese Angst und steigerte sie auf den höchsten Grad, als sie Elisabeth ein neues Blatt überreichte, wieder von Deiner Handschrift, worin Du drohtest, daß, wenn sie nicht in wenigen Stunden den Entschluß, der für Euch Beide unerläßlich sei, fassen könne, Du noch in derselben Nacht durch eine Kugel Deinem lästigen Leben ein Ende machen wollest. Von einem tyrannischen Vater in ihrer Neigung bedroht, in Gefahr, auf eine ihr schreckliche Art vermählt zu werden, bestürmt von einem Liebenden, den sie in ihrer Phantasie schon sterbend sieht, ohne Rath und Hülfe, ohne einen verständigen Vertrauten, wagt sie endlich und entschließt sich zum Aeußersten, das ihr als das Einzige und Nächste erscheint, da ihre einsame, vornehme Erziehung sie immer von allem Verkehr mit der Welt entfernt gehalten hat. Sie hat nicht nöthig, Wilhelminen zu bereden, denn diese ist es, die sie am meisten antreibt, die ihr die furchtbarsten Schreckbilder vormalt. So geht sie mit dieser verkleidet, nachdem man das Nöthigste vorher aus dem Hause geschafft hat, in dunkler Frühe an den verabredeten Platz. Der Elende, ein gewisser Wendelbein, findet sie dort, er hilft ihnen in den Wagen, und sie verlassen eilig Stadt und Land. Da Du Dich nicht auf der nächsten Station einfindest, fragt und forscht Elisabeth nach Dir, der Entführer weicht aus, giebt Nachrichten vor, empfängt scheinbar Briefe und vertröstet die arme Unbesonnene von einer Meile, von einer Stadt zur andern. Sie ahndet jetzt, welchem Nichtswürdigen sie ihr Schicksal anvertraut hat; das gemeine Wesen des Elenden beschämt sie, und er wagt es endlich, in einsamen Augenblicken, wenn Wilhelmine sie nicht beobachtet, ihr von seiner Leidenschaft und Liebe zu sprechen. Sie sieht zugleich, daß ihre Gefährtin für jenen Verführer entflammt ist, und da Du nirgend erscheinst, wird sie an sich und Dir völlig irre, indem sie ihren Begleiter fast schon durchschaut hat. Sie sind über die Grenze, sie fahren in die kleine Stadt ein, wo ich wohne, die Dein Geburtsort ist.

Ich gehe eben über den Markt, um eine kranke Freundin zu besuchen, da schreien Männerstimmen: Frau Frimann, um Gottes Willen, nehmen Sie sich in Acht! Es war ein Wagen dicht hinter mir, den ich nicht beachtet hatte. Der Kutscher hält an, und ein junges schönes Frauenzimmer ruft laut: Frimann heißen Sie? Sie macht Anstalt, den Wagen zu verlassen, ein Mann hält sie zurück. Helfen Sie mir, meine Herren, ruft sie noch lauter, ich muß diese Frau nothwendig sprechen. – Der junge Mensch ist erschrocken, sie steigt mit Hülfe der Herbeigekommenen aus und fragt mich, ob ich den Frimann dort in der Residenz kenne. Sie fällt mir weinend und schluchzend um den Hals, da sie hört, daß ich Deine Mutter bin. Sogleich folgt Sie mir nach meiner Wohnung, wo sie mir Alles erzählt. Die beiden Andern sind im Gasthofe abgestiegen. Nun entwickelt sich das ganze armselige Gewebe, die gemeine List, deren Opfer das arme schöne Wesen wurde. Ein Abentheurer, der Nichts zu verlieren hat, hört von einem alten, charakterlosen Manne von Deiner Leidenschaft, er schafft sich Briefe und Zettel von Dir, hat im Hause des Grafen schon seit einiger Zeit ein Verständniß mit Wilhelmine, einem unklugen Kinde, die ihm jede Lüge glaubt und die er zu Allem bewegen kann. So schreibt er jene Briefe in Deinem Namen und freut sich, ein Aufsehen zu erregen, ja vielleicht die Neigung der Gräfin für sich selbst zu gewinnen, auf jeden Fall aber Wilhelminen zu entführen und dem alten Grafen eine Kränkung zuzufügen. Als wir uns wiedersahen, mußte er uns Alles bekennen, und er wartet noch in jener kleinen Stadt, um zu erfahren, was hier geschieht. Wilhelmine rechnet darauf, seine Frau zu werden. Er hat geglaubt, durch diese Unternehmung und Frechheit den Grafen in seine Gewalt zu bekommen, daß dieser ihm, wenn alles Andere mißglückt wäre, die Tochter für eine große Summe oder irgend eine einträgliche Stelle abkaufen solle. –

Edmund umarmte wieder seine Mutter und rief: O wie glücklich muß es sich fügen, daß meine Mutter so das edelste Wesen retten, und ihrem Vater wieder zuführen darf! Ja, ich kann ihr entsagen, da ich jetzt weiß, daß sie edel und gut ist. Die Qual war unerträglich, mir Elisabeth schlecht und leichtsinnig zu denken. Jedes Opfer, Liebste, kann ich jetzt bringen, das Dein Glück und Deine Ruhe von mir fordert.

Aber jetzt, sagte die Mutter, gehe zum Grafen und erleichtere das Herz des tiefbekümmerten Vaters.

Edmund eilte zum Hause des Grafen zurück und ließ sich sogleich bei diesem melden. Der Graf ließ ihn lange auf Antwort warten, und die Ungeduld des jungen Mannes ward auf eine schlimme Probe gestellt, da sein Gemüth so bewegt war, dem gekränkten Vater Alles mitzutheilen, ihn zu überzeugen, daß die Schuld der Tochter nicht so groß sei, als sie erscheinen konnte, ihm anzukündigen, daß er alle Ansprüche aufgebe, und daß Elisabeth durch die Vorstellungen seiner Mutter gerührt, ihm ebenfalls entsagt habe. Es kränkte ihn, daß der Alte, der freilich von seinen großmütigen Entschlüssen nichts wissen konnte, so lange anstehe, diese Opfer anzunehmen. Als er endlich gerufen wurde, fand er den Oberkammerherrn völlig angekleidet; noch ehe der Graf fragen konnte, rief Edmund, fast ohne zu grüßen: Ihre jüngste Tochter, Excellenz –

Ist bei meiner Schwester, sagte der Alte; schweigen wir von diesem Kapitel, junger Mann. Was haben Sie mir sonst zu sagen?

Wenn nicht von ihr, sagte Edmund etwas empfindlich, dann Nichts. Aber, es muß mir erlaubt seyn, diese Maske, verehrter Mann, nicht anzuerkennen. Er erzählte ihm hierauf Alles in begeisterter Eile, was er so eben von seiner Mutter vernommen hatte. Das Antlitz des Greises, welches, so sehr er sich bezwang, Spuren des tiefsten Kummers trug, wurde mit jedem Worte heiterer, seine Augen glänzten wieder, und eine sanfte Röthe durchfloß die gebleichten Wangen. Als Edmund geendigt hatte, fragte der Graf mit bewegter Stimme: Und Sie haben sie dort im Gasthofe nicht gesehen? – Nein, antwortete Edmund, ich habe mich ganz dem Willen meiner Mutter unterworfen, und dasselbe hat Fräulein Elisabeth gethan. – Ihre Mutter, sagte der Graf, muß eine vortreffliche Frau seyn. Mein Kind hat wie eine Unbesonnene gehandelt, sich wie eine Thörin schrecken lassen, und in dieser Uebereilung vergessen, was sie einem liebevollen Vater schuldig ist. Sie selber aber sind ein braver junger Mann, dem ich das Unrecht abbitte, was ich ihm bis jetzt im Stillen gethan habe, denn ich glaubte dennoch, daß Sie um diese Flucht gewußt hätten, und deshalb verlangte ich Ihr Versprechen, mein Haus nicht zu verlassen. Nehmen Sie jetzt meine Hand noch einmal darauf, daß, wenn jenes alte Vermächtniß sich so ausweisen sollte, wie wir es Beide hoffen können, wenn Sie auch nicht den größten Familien angehören sollten, wenn Sie nur irgend einen Anspruch auf den Adel haben, Sie mein Eidam werden sollen. Wenn mein Kind auch unbesonnen und in ihrer Leidenschaft leichtsinnig war, so können Sie am wenigsten ihr diese Flucht übel ausdeuten, da es ja nur verblendete Liebe zu Ihnen war, die sie dem väterlichen Hause entführte. Insoweit also nehme ich die beiderseitige Entsagung nicht an, die ich aber, wenn unsere Erwartung nicht erfüllt wird, als ein Zeichen edler Empfindung anerkenne. Die anberaumte Zeit, jenes Document einzulösen, wird, wenn ich nicht irre, in wenigen Tagen eintreten, dann, junger Freund, sprechen wir uns wieder, aber früher nicht.

Er winkte mit der Hand und Edmund entfernte sich, um auf seinem Zimmer seinem Schicksale nachzudenken. Der Oberkammerherr ließ anspannen und fuhr mit seiner Equipage und seinen Dienern vor den Gasthof, in welchem Elisabeth mit Frimanns Mutter abgestiegen war. Elisabeth erschrak, als sie die Livree ihres Hauses erblickte, und die alte Freundin hatte Mühe, sie zu beruhigen. Sowie der Graf in das Zimmer getreten war, fiel ihm die Tochter laut weinend und halb ohnmächtig in die Arme, der Vater küßte sie und sagte scheinbar ohne Rührung: Du bist wieder da, ich habe Dir vergeben, und so wollen wir die Sache nicht erwähnen, da ich schon Alles weiß. Kein Wort mehr davon, auch nicht zu meinen Hausgenossen. Dein Betragen, seit Du im Schutze dieser würdigen Frau standest, macht Dir Ehre, und Deine Entsagung nehme ich an; doch sei es ferne von mir, Dich zu irgend einer Heirath zwingen zu wollen. Daß Du mich so verkennen mochtest, hat mich am meisten gekränkt. – Ihnen, geehrte Frau, fuhr er fort, indem er sich an Frimanns Mutter wendete, bleibe ich für mein ganzes Leben verpflichtet. Folgen Sie mir, daß ich Sie meiner Familie vorstelle; auch habe ich Ihnen einige Zimmer in der Nähe Ihres Sohnes einrichten lassen, damit Sie ihn, bis sich sein Schicksal entschieden hat und er zum Ort seiner künftigen Bestimmung abreisen kann, recht ungestört sprechen und seinen Umgang genießen können.

Er gab der Alten die Hand und führte sie und die Tochter aus dem Zimmer. Vor dem ernsten Blicke des Herrn hatten die Diener, die außen warteten, nicht den Muth, ein Erstaunen zu äußern, daß sie so plötzlich die junge Gräfin wiedersahen. Ehrerbietig halfen sie ihr, der Mutter und dem Grafen in den Wagen, und so wie dieser in seinem Hause angekommen war, ließ er durch den Kammerdiener schnell seine Töchter, den General, so wie den Baron, den Bräutigam Katharinens, auch den Haushofmeister berufen. Als Alle gekommen waren, sagte er mit fester Stimme: In Familienangelegenheiten, die ein großes Geheimniß betrafen, sendete ich meine Tochter Elisabeth eiligst zu meiner Schwester; das Geschäft konnte nur gelingen, indem Niemand in der ersten Zeit von dieser Reise etwas wußte. Meine Tochter hat Alles, wenn es ihr auch Opfer gekostet hat, zu meiner Zufriedenheit geendigt. Madame Frimann, die würdige Mutter meines Secretairs, hat auf mein Ersuchen die Güte gehabt, meine Tochter zurückzubegleiten, da Fräulein Wilhelmine bei ihren Verwandten geblieben ist.

Alle waren zufrieden und gaben sich die Miene, als wenn sie den Worten des Grafen unbedingt glaubten. Die Schwestern umarmten die Zurückgekommene, und der Vater ersuchte die Mutter seines Secretairs, ihm nach seinem Zimmer zu folgen.

Lange war ich nicht so heiter, sagte er, als sie hier angelangt waren: setzen Sie sich zu mir, geehrte Mutter, und erzählen Sie mir noch etwas umständlicher, wie Sie die Bekanntschaft meiner Tochter machten, was sie Ihnen entdeckt hat, wie jener elende Abentheurer sie behandelte und wie Sie Ihren Sohn erzogen haben, wie dessen Vater war und dergleichen mehr, denn Alles interessirt mich, was diesen wackern jungen Mann betrifft. Auch ist es mir noch nie geschehen, daß Jemand mir in so kurzer Zeit so wichtig und bedeutend erschienen ist, als Sie.

Die Alte trug dem Grafen Alles umständlich vor, was er zu wissen begehrte. Als sie geendigt hatte, fragte er: Wie kamen Sie, theure Frau, dazu, da Sie gebildet sind und ohne Zweifel schön waren, sich in diesen engsten Umfang des bürgerlichen Lebens zu begeben? Ihre Schicksale müssen sonderbare gewesen seyn, wenn nicht Zwang und Tyrannei der Aeltern Sie so beschränkten.

Nichts weniger als das ist geschehen, versetzte die verständige Alte; meine Aeltern, ob zwar bürgerlich und Handwerker, waren ziemlich vermögend und ließen mir meinen freien Willen. Aus eigner Wahl verheirathete ich mich mit einem jungen Manne, dessen frommes stilles Wesen, dessen edler Charakter meine ganze Achtung verdiente. Er starb, nachdem ich nur wenige Jahre mit ihm verbunden war, seine Gesundheit war schwach; keine Leidenschaft, keine Vorliebe hatte dieses Band geknüpft, sondern Vernunft und Pflicht; um mein Schicksal nicht zu verwirren, zog ich es vor, die Alltäglichkeit des Lebens, die am Ende doch die wahre Aufgabe unseres Daseins ist, mitzumachen.

Sie hatten also, fragte der Graf, andere Aussichten? Sie hätten also auch einen Andern, als diesen Tischlermeister, glücklich machen können?

Er machte, antwortete sie, keine Ansprüche auf Das, was die Menschen Glück nennen; ihm war es nur um die eheliche Verbindung mit einem ehrbaren Mädchen zu thun, die seine Wirtschaft führte und seine Kinder fromm und tugendhaft erzöge. Er gehörte zu jenen Leuten, die man auch wohl die Stillen im Lande nennt; er hielt sich einsam, vermied Gesellschaften und frohe Gelage, und hatte sich ganz der Religion gewidmet. War es sein früher Tod, der ihn so stimmte und den er vorausfühlte, oder war es wirklich ein höheres Gefühl, das ihn der Welt abwendig und früh für ein besseres Dasein reif machte, aber ich war gezwungen, ihn als ein feineres, geistigeres Wesen anzusehen und so zu behandeln.

Wohnten Sie immer dort? fragte der Graf.

Nein, erwiederte sie, meine Aeltern waren hier in der Residenz, wo sie ein bürgerliches Geschäft trieben. Jetzt habe ich die Stadt nach vielen, vielen Jahren zum ersten Male wiedergesehen, und nicht ohne Rührung. In meiner Jugend kannte ich hier viele Familien, die nun wohl ausgestorben sind oder andere Wohnplätze gesucht haben. Mit manchen Kaufleuten waren meine Aeltern verbunden, und da ich auch wohl Festlichkeiten besuchte, lernte ich manche Person kennen, so frei und leicht wie der Umgang hier war, die über meine Sphäre war. – Lebt vielleicht noch ein Graf Andreas von Winterfeld? –

O ja! sagte der Graf sehr lebhaft, indem er die Sprechende noch schärfer ansah, noch lebt er, er hat aber schon seit vielen Jahren, weil ihm das Majorat der Familie nach dem Tode eines Vetters zufiel, seinen Namen geändert.

Wirklich? sagte Frimanns Mutter, und sein jetziger Name?

Der Graf stand auf, näherte sich ihr, betrachtete sie prüfend und setzte sich zitternd wieder in den Sessel. Dann schlug er sich beide Hände vor die Stirn und bedeckte seine Augen. Man hörte ihn schluchzen. O Jakoba! rief er dann in der höchsten Bewegung, wo waren meine Sinne, daß ich Dich nicht gleich erkannt habe? Siehst Du denn keine Spur mehr an mir von Dem, was ich war?

Ach Gott! rief sie aus, ist es denn möglich, daß wir uns noch einmal wiedersehen? Und hier? In Ihrem Hause? Und Sie, gerade Sie, der Gönner und Beschützer meines Sohnes?

Der Graf bezwang sich länger nicht, sondern verhüllte sein Haupt und ließ seinen Thränen freien Lauf. Lange konnte er vor Schluchzen nicht zu sich kommen, und als er sich endlich am Weinen gesättigt hatte, sagte er unendlich weich: So ist mir denn doch noch der liebste Wunsch meines Lebens in Erfüllung gegangen, Dich, Dich noch einmal zu sehen, bevor ich verscheide! O gute, liebe, herzliche Jakoba, kennst Du mich denn noch, kannst Du Dich denn noch an einem Zuge meines Angesichts meiner erinnern? Ja, Liebe, Treue, alt sind wir geworden; aber wir waren damals jung; ich habe Dich gekannt, und Das war der Inhalt meines schönsten Lebens. Ich habe späterhin der Welt und ihren Bedingungen gelebt, aber in jenen Tagen lebte ich Dir und mir.

Die Mutter war heftig erschüttert, so sehr sie sich auch zu bezwingen suchte. Andreas! Graf! O mein Theurer! rief sie aus, ach! was ist das Leben für ein seltsamer Traum! Oft habe ich Ihrer gedacht, lieber Andreas, immer glaubte ich, ich könne nicht sterben, wenn ich Dich nicht noch einmal gesehen hätte. Und nun ist es mir auch so gut geworden.

Und Du, liebstes Wesen, fing der Graf wieder an, Du hast mir meine Tochter retten müssen, ihr Hülfe bringen, sie zur Vernunft und Wahrheit zurückführen. Du hast den Sohn geboren, der mich mit unerklärlicher Liebe gefesselt hält. – Und damals – ach Gott! Was ist doch die Jugend so schön, ehe man noch so gar vernünftig geworden ist!

Er umarmte zitternd die Alte, die jetzt, nachdem sie den Kuß des Greises geduldet hatte, sich in Thränen tröstete. O Jakoba, sagte er dann, bleibe ein Weilchen bei mir, laß uns recht viel von unsern Kinderjahren und wunderlichen Empfindungen schwatzen: erzähle mir, daß Du mich nicht ganz vergessen hattest, daß Dein Herz immer noch an mir hing, und ich spreche Dir dann auch von der Sabbathfeier meiner Schmerzen, wenn ich in so vielen Stunden, ohne daß es ein Sterblicher merkte, mein ganzes äußeres Leben, Hof, Verwandtschaft und Familie vergaß, und mein Herz vor Deinem heiligen Bilde niederkniete. Wund ward es in dieser Andacht. Sage mir, ach! sage mir, Geliebteste, was ist die Liebe?

Unser unverschleiertes Selbst, sagte sie, indem sie den thränenfeuchten Blick erhob. Nein, nicht Stand, Pflicht, Amt, nicht diese Kleider unseres Lebens sind wir. Unsere Seele hat sich damals Auge in Auge gesehen, und wir haben erfahren, was Ewigkeit und Gott ist. O verehrter, lieber, alter, längst gekannter Freund, warum kann man nicht in solchen Stunden sterben?

Sterben wir denn nicht im Leben? antwortete er; sind wir denn nicht in dieser sogenannten Wirklichkeit schon oftmals gestorben? Warum soll denn das Ende mehr, oder nur etwas Anderes seyn als der Anfang? – Der Schmerz ist die Grundlage, wenn nicht der Zweck unseres Lebens, und nur Derjenige erlebt ihn nicht, der niemals Glück und Freude gefunden hat. – –

Noch Vieles erzählten sie sich von den Begebenheiten und Empfindungen ihrer überstandenen Jugend. So schmerzlich diese Wiedererkennung auch war, so schwelgten sie doch in diesen bittersüßen Gefühlen. Endlich ermannte sich der Greis und sagte: Es ist ein wunderbarer Reiz, das ganze Leben mit allen seinen Felsen und schroffen Ecken so in Traum und weiche Sehnsucht verschwinden zu sehen; aber Jakoba, Deine Tugend, Dein Muth, Dein großes Gefühl und Deine Fähigkeit, Dich aufzuopfern, sind etwas viel Edleres und Größeres als diese zarten Phantasien, als diese schwärmenden Rückerinnerungen. Lebe wohl und heiter, bald sehen wir uns wieder. Vielleicht genießen wir noch mit einander die letzten Reste unseres Lebens. Sage aber jetzt noch Deinem Sohne nichts von unserer früheren Verbindung; zwar kennt er die Geschichte meiner Leidenschaft, denn er hat kürzlich Deine und meine Briefe gelesen, die ich ihm selbst gegeben habe; aber es ist besser, wenn er erst später erfährt, daß Du es warst, die mich damals so glücklich und elend gemacht hat.

Jakoba versprach, das Begehren des Grafen zu erfüllen. Dieser begab sich auf sein Zimmer und dann zu seiner Familie. Er war aber, so sehr er sich auch hatte sammeln wollen, noch so aufgeregt, daß der General ihn mit Erstaunen betrachtete. Der Alte merkte es, und dachte: Kann man denn Geister sehen, ohne erschüttert zu werden?



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