Johann Ludwig Tieck
Die Ahnenprobe
Johann Ludwig Tieck

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Oft schon hatte Edmund in verschiedenen Gesellschaften einen Baron von Werden gesehen, der ihm wegen seiner Seltsamkeit aufgefallen war. Jetzt ging er zu diesem, weil er ihm eine kleine Summe vom Oberkammerherrn zu überbringen hatte. Der Baron war in vielen Gesellschaften nur ungern gesehen, und zwar aus derselben Ursach, um welche er in einigen andern um so lieber aufgenommen wurde. So alt er auch schon war, so bemühte er sich doch, noch jung zu erscheinen. Er verachtete das Herkömmliche und alle Förmlichkeit. Hielt sich der Graf an Stunde und Zeit gebunden und war ein Sklave der Ordnung, so meinte der Baron im Gegentheil, der Mensch könne sich nur als freies und selbstständiges Wesen empfinden, wenn er vergesse, daß es Uhren oder Tag und Nacht gebe. Früher waren er und der Graf Freunde gewesen, aber seit vielen Jahren schon sahen sie sich kaum, sie vermieden sich Beide mit gleich starkem Widerwillen, und wenn der Oberkämmerer niemals von seinem ehemaligen Freunde sprach, so suchte der Baron jede Gelegenheit auf, den alten Grafen zu verlästern oder lächerlich zu machen.

Als Edmund in das Haus trat, welches abgelegen in der Vorstadt zwischen Gärten lag, hörte er oben einen lauten Wortwechsel. Es war der Baron, der mit seinem Sohne zankte, der sich ebenso heftig verantwortete. Edmund ging zögernd hinauf, und sowie er nur die Thüre öffnete, wendete sich der Baron zu ihm und rief: Sie kommen gerade recht, lieber junger Mann, helfen Sie mir der Range da den Kopf zurechtsetzen. Er ist nun schon achtzehn Jahre alt und will immer noch nichts lernen. Alles Geld, was er mir abzwackt, verspielt er und macht mir dann noch Vorwürfe.

Ja, rief der ungezogene Jüngling, denn hätte ich nur einige Thaler mehr gehabt, so hätte ich Alles wiedergewonnen. Aber so ist es immer, daß ich aufhören muß, gerade dann, wenn sich das beste Glück wieder melden will.

Und wovon geben, antwortete der Vater, wenn ich selbst nichts habe? Aber ich versichere Dir, ich werde andere Maßregeln ergreifen. Bisher habe ich Dich als einen freien Menschen behandelt, aber wenn Du mir wieder Streiche spielst, so werde ich Dich ins Zuchthaus bringen lassen.

Der Sohn sprang auf, ging davon und warf die Thüre donnernd hinter sich zu. Das hat man davon, sagte der Baron, wenn man gegen seine Kinder zu gütig ist. Uebrigens ist die Drohung mit dem Zuchthause nicht mein Ernst, wie Sie wohl denken können; Sie sehen aber selbst, wie tief dieses einzige Wort auf den Burschen eingewirkt hat. Er ist erschreckt. Ja, mein junger Freund, was hilft es mir nun eigentlich, daß ich den Emil von Rousseau, sowie alle spätern berühmten Erziehungsschriften studirt habe! Die menschliche Natur läßt sich nicht bändigen, und alle sogenannte Erziehung ist nur Einbildung und Gaukelspiel, das sehe ich jetzt am Ende meiner Tage.

Edmund wußte nicht, was er dem Baron antworten sollte. Er händigte ihm die Summe und den Brief des Grafen ein und wollte dann seinen Abschied nehmen. Bleiben Sie noch, sagte der Baron, indem er den jungen Mann zum Sitzen nöthigte, ich habe Sie lieb und möchte Ihnen gern Beweise davon geben; aber Sie sind mir immer ausgewichen, und das sollten Sie nicht thun, denn durch meine Verbindungen, meine Menschenkenntniß, durch meinen Einfluß und meine Erfahrungen kann ich Ihnen nützlich seyn. Ich habe schon manchen jungen Mann gebildet, schon manchen glücklich gemacht, und wenn ich meistens auf Undankbare gestoßen bin, so ist das nur eine Erfahrung, die nothwendig ist, da der Undank in der Natur des Menschen liegt.

Edmund betrachtete die bleiche Gestalt, die ohne Haltung und Kraft ihm gegenüber saß; er verwunderte sich über den Mann, der, selbst ohne Vermögen, im ärmlichen Anzuge, von Dürftigkeit umgeben, ihm solche Anträge zu machen wagte. Ja wohl, fuhr der redselige Baron fort, war dieser Graf einst mein vertrauter Freund, aber seine Einfalt und noch mehr sein Mangel an Charakter, seine elende Höflingsnatur haben mich gezwungen, mich ganz von ihm zurückzuziehen. Seinen Vorurtheilen opfert er alles, Gewissen und Pflicht, Religion und Tugend. Wir lesen in der alten Geschichte von den grauenhaften Menschenopfern, und diese grau gewordenen Staatskünstler, diese von allen Thorheiten und der Verderbniß der Welt aufgesäugten Adeligen, was thun Sie anders, als Freunde, Brüder, Kinder und Aeltern, wenn die Umstände dringen, einem Moloch aufopfern? – Darum habe ich schon seit lange gewünscht, Sie, junger Freund, im Vertrauen zu sprechen, um Sie zu warnen. Hüten Sie sich vor dieser kalten Schlange, die Eiswasser in ihren Adern hat. Er wird Sie mißbrauchen, Zeit und Jugend und Gesundheit werden Sie in seinem Hause verlieren, und dann wird er Sie wie eine ausgepreßte Citrone wegwerfen.

Bei dieser kalt ausgesprochenen Behauptung erschrak Edmund. Sein Gehalt war bedeutend, ihm war Hoffnung auf eine ansehnliche Stelle gemacht, er hatte, von seiner Liebe geblendet, nur wenig an seine Zukunft gedacht, und plötzlich ward ihm die Möglichkeit ausgesprochen, daß er auch in seinen billigen Erwartungen getäuscht werden dürfte. So sehr ihm alle Klätschereien verhaßt waren und er alles Geschwätz dieser Art, das ihm gemein erschien, vermied, konnte er doch nicht umhin, zu fragen, indem er dem Redenden fest in die Augen sah: Sie glauben also, daß der Graf zu jenen Egoisten gehöre, die im Stande sind, nur ihrem Eigensinn oder ihrer Verblendung zu folgen?

Junger Mann, sagte der Baron mit dem Ausdrucke der Herzlichkeit, indem er ihm die Hand reichte, – würde ich so sprechen, wenn meine Worte nicht die ausgemachteste Wahrheit wären? Vor mehr als dreißig Jahren war mir dieser Graf der nächste und vertrauteste Freund, unsere Verbindung schien für eine Ewigkeit auszureichen, ich kannte jeden seiner Gedanken, und wir waren in gegenseitiger Liebe höchst glücklich; wir schwärmten für alles Edle und schwuren uns einen hohen Eid, nur der Tugend zu leben und alle Vorurtheile stürzen zu helfen. Poesie, Natur, Philosophie und Kunst, so wie das Wohl der Menschheit, die Verjüngung und Veredlung der Zeiten, diese waren unsere Götter, die wir anbeteten. So wie er aber in die Nähe des Hofes kam, erstarben alle edeln Vorsätze in seiner Brust. Um eine reiche Gräfin aus einem alten Hause heirathen zu können, um Einfluß zu gewinnen, brach er das Herz eines höchst edeln Wesens, deren Liebe er mit allen Künsten der Schmeichelei gewonnen hatte. Als ich mich unzufrieden zeigte und ihn an seine Pflicht erinnern wollte, sagte er auch mir seine Freundschaft auf; seinen neuen Verwandten zu gefallen, wurde er ein Frömmler und schalt auf Philosophie und Aufklärung. Er zog sich von allen Vernünftigen zurück, viele Einsichtsvolle vermieden ihn von selbst, den kräftigen Gemüthern ward er ein Spott, den Edeln ein Abscheu, und so consumirt er jetzt in trauriger Einsamkeit ein gedankenleeres Dasein und freut sich seufzend über jeden Tag, den er zurückgelegt und mit ihm die gehörige Portion der drückendsten Langeweile überstanden hat.

Nein, bei Gott, rief jetzt Edmund aus, diese Schilderung paßt nicht auf ihn, und er wird von Ihnen verkannt. Der Graf ist unterrichtet, beschäftigt sich auf edle Weise und ist in vielen Stunden im Kreise seiner Familie höchst glücklich. Hat er sich fast ganz von der Welt zurückgezogen, so ist das seine freie Wahl. Seine Kinder lieben ihn von Herzen, und an allen erlebt er Freude.

Auch an der jüngsten Tochter, Elisabeth? fragte der Baron mit spitzigem Tone.

Wie meinen Sie das? sagte Edmund erstaunt und verwirrt.

Nun, fuhr jener höhnisch fort, sie hat ja einen Liebhaber, bürgerlichen Standes, einen ausgelassenen, aber höchst geistreichen Menschen, der die Ehre dieser alten Familie mit Skandal bedecken wird.

Edmund war aufgestanden. Herr Baron! rief er, zitternd in Zorn und Schreck, Sie sagen da etwas, das Sie niemals gut machen können, und ich bitte mir darüber eine nähere Erklärung aus.

Gut, wenn Sie wollen, antwortete der Alte ruhig genug, übermorgen, wenn es Ihnen gefällt. Im rothen Löwen kommt an dem Tage eine Gesellschaft aufgeklärter Menschenfreunde aus allen Ständen zusammen, man ist geistreich, witzig, selbst ausgelassen, und da sollen Sie die Bekanntschaft von dem jungen Wildfang machen, der sich für den Liebhaber der Gräfin Elisabeth erklärt hat.

Also, fuhr Edmund schnell heraus, haben Sie mich nicht gemeint?

Sie? rief der Baron eilig, indem er seinerseits erstaunte und sich wieder niedersetzte. – O Jugend! Jugend! sagte er dann nachdenkend und seufzend; immerdar bist Du doch so höchst unbesonnen und giebst dich in die Gewalt eines Jeden; jetzt, junger Herr; bin ich also im Besitze eines Geheimnisses, das Sie vielleicht dem Himmel selbst gern verschwiegen hätten. Nun, das muß uns noch fester aneinander binden, denn Sie sehen wohl, wenn ich nicht Ihr Freund bleibe oder noch inniger mich mit Ihnen vereine, daß Sie mir unbesonnen die gefährlichste Waffe gegen Sie in die Hand gegeben haben.

Doch nicht, sagte Edmund, der sich wieder gefaßt hatte, denn in diesen Tagen wollte ich dem Oberkammerherrn selbst meine Leidenschaft gestehen.

O! sagte der Baron lachend, setzen Sie sich noch ein Weilchen hin, damit ich erst mit Ruhe lachen kann. – Er erschütterte sich durch ein heftiges Gelächter, welches nicht enden wollte; endlich sagte er mit Thränen in den Augen: Nun, bei der Scene möchte ich zugegen seyn, das muß das ehrbarste Lustspiel auf Erden abgeben; Sie, ein Bürgerlicher, von unbekanntem Herkommen, und dieser Graf! In einem solchen Gespräch sich gegenüber! – Da ich aber dies Verhältniß weiß, muß ich heute Mittag eine Flasche mehr als gewöhnlich trinken.

Edmund beschwor ihn, sein Geheimniß wenigstens nicht kund zu machen; dies versprach ihm der lachende Baron, wogegen Edmund geloben mußte, ihn morgen zu jener Gesellschaft zu begleiten, wo er seinen Nebenbuhler kennen lernen sollte, der die Absicht habe, Elisabeth heimlich zu entführen. Und dies, schloß der Baron, ist auch das einzige Mittel, durch welches Sie, mein guter Frimann, die junge Person erlangen können; alles Andere taugt nichts und führt zu gar nichts. Aber zur Entführung bieten ich und meine Freunde Ihnen unsere Hülfe an.


Edmund war nachdenkend nach Hause gekehrt. Er hatte an diesem Tage die Familie seines Beschützers nicht mehr gesehen. Eine unruhige Nacht quälte ihn mit verwilderten Träumen, und wenn er wachte, gingen ihm die Worte des Barons wie böse Geister durch seine Seele. Oft glaubte er dem Bericht und der Schadenfreude des Alten; dann erklärte er Alles für Verleumdung. Er erinnerte sich dann, wie er vor zwei Jahren in das gräfliche Haus gekommen sei, von einem Freunde und Beschützer empfohlen, der ihn in seiner Geburtsstadt liebgewonnen hatte. Dieser Adelige stand mit dem Oberkammerherrn in Verbindung und hatte sich, da er seit lange die Rechtlichkeit des jungen Mannes, so wie dessen Gelehrsamkeit kannte, da er wußte, wie fleißig er auf der Universität gewesen war, seiner angenommen. Schüchtern war der junge Frimann in das große gräfliche Haus getreten, und es verflossen Monate, bevor er seine Verlegenheit überwinden konnte. Die jüngste Comtesse, Elisabeth, faßte gleich vom ersten Tage Zutrauen zu ihm. Sie erleichterte und erheiterte sein Leben, und bald war er an die Eigenheiten des Grafen gewöhnt. Jetzt arbeitete er gern mit dem alten Herrn, sang und musicirte mit Elisabeth, war oft zugegen, wenn Katharine vorlas, auch übernahm er selbst zuweilen dieses Amt des Recitirens, und der Graf lobte dann seine Stimme und seinen Ausdruck. Der Vater aber liebte es nicht, sich Romane oder poetische Sachen vortragen zu lassen, er wählte ernste Bücher, meist geschichtliche; doch traf es sich zuweilen, daß er in den Lesestunden anders beschäftigt war, und dann forderten die jungen Mädchen, sowie die schöne Frau den Secretair wohl auf, auch einmal eine Tragödie oder eine poetische Erzählung vorzulesen. Vorzüglich war es dann der General, wenn dieser zugegen seyn konnte, der diese Ergötzung mit Eifer betrieb, er selbst wählte die Trauerspiele aus, und Edmund konnte dann nicht stark und rührend genug im Ausdrucke seyn, indem er ihn wiederholt ermunterte, ganz mit der vollen Empfindung des Herzens zu declamiren.

Man hatte in einer Woche, als der alte Graf verreist war, schon den Wallenstein, die Maria Stuart und den Egmont gelesen, als der muntere General, der an allem Großen und Phantasiereichen eine fast übertriebene Freude hatte, dem Vorleser Romeo und Julie überreichte. Lesen Sie aber heute, rief er aus, die Liebesscenen so, als wenn Sie selber ein Verliebter wären. Bei diesem Worte ward Elisabeth plötzlich roth, und ihr Auge, das eben noch klar in den freundlichen Blick Edmunds gesehen hatte, fiel plötzlich zu Boden und erhob sich dann mit einem fremden, seltsamen Glanze wieder zu ihm empor. Tausend Gefühle, Gedanken, Erzählungen und Phantasien, Vergangenheit und Zukunft lagen in diesem Blick. Edmund las an diesem Abend so schlecht und ohne Ausdruck, wie noch niemals, so daß der General verstimmt ward und endlich selbst den Vorleser machte. Sein scharfer Provinzialdialekt aber, verbunden mit seinem falschen Accent, brachte die jungen Frauenzimmer zum Lachen, und so endigte die Lectüre dieses Abends in Thorheit und Scherz. Edmund hatte immerdar über diesen Blick gegrübelt, er hatte weder vom Vortrage des Generals, noch von seiner eigenen Stimme etwas vernommen. Immer wieder begegnete sein Auge dem der Gräfin, und ihm war, als würde ihr Blick mit jeder Minute herzlicher und vertrauter. Als die Vorlesung geendigt war und er beim Abendessen neben ihr saß, berührten sich ihre Hände einige Mal zufällig. Er hatte noch niemals diese Finger so schön gefunden; er hörte das Gespräch der Gesellschaft nur wie aus einer weiten Ferne, und es wurde ihm schwer, Fragen zu beantworten, denn er mußte seine ganze Aufmerksamkeit zusammennehmen, um nur zu verstehen, was man fragte. Als die Gesellschaft sich trennte, war Elisabeth einen Augenblick zurückgeblieben; sie reichte ihm die Hand zum Kusse und drückte die seinige sanft.

Nach einer schlaflosen und seelig verträumten Nacht, nach einem wunderbar verlebten Tage bemächtigte er sich am Abend des Buches, um seine gestrige Versäumniß wieder gut zu machen. So sehr sich die Damen anfangs sträubten, so mußten sie die Tragödie Shakspeare's doch noch einmal hören, und er las nun so ausdrucksvoll, daß Keiner die Thränen zurückhalten konnte und selbst der General in heftiger Rührung schluchzte. Ohne das Wort Liebe zu nennen, waren Elisabeth und Edmund auf das Innigste verbunden.

Auf Spaziergängen, bei kleinen häuslichen Festen, fanden die Liebenden manchen Augenblick, sich in der Einsamkeit und ungestört zu besprechen. Jetzt war es seit fünf Monaten geschehen, an einem schönen Sommertage, daß er in der Laube eines Gartens den ersten Kuß gewagt hatte. Nachher redeten sie sich mit dem vertraulichen Du an und sprachen oft von ihrer Zukunft. Den Geschwistern blieb diese Liebe ein Geheimniß, auch meldete Edmund seiner Mutter, die noch lebte und mit der er viele Briefe wechselte, nichts von diesem glücklichen Unglück.

Denn welche Qualen hatte ihm im süßen Gefühle seiner ahnungsvollen Jugend diese Liebe schon gegeben. Hoffnung und Verzweiflung wechselten oft in seinem Busen. Jetzt überdachte er in der Nacht die Geschichte und das Wunder dieser Liebe; alle die bittersüßen Gefühle zogen wieder durch seinen Busen, und er gestand sich, daß diese Pein, sich seine Geliebte als eine unwürdige zu denken, schärfer sei, als alle andere Schmerzen. Jener erste Blick, der Händedruck, das Gespräch und so viel später der Frühlingskuß waren bis jetzt in der Erinnerung das höchste Glück seines Lebens gewesen; in Nächten, unter dem bestirnten Himmel oder im Walde hatte er oft über die Wonne und das Wunder dieser Sympathie geträumt, die die Geliebte ihm entgegengeführt und sie diesen ewig unergründlichen Blick hatte blicken lassen. Zuweilen, wenn es die Einsamkeit erlaubte, stritten sie, wer den Andern zuerst geliebt habe, jeder wollte alsdann den Freund einer Säumniß oder Unentschlossenheit anklagen, und doch tröstete sich Edmund im Stillen mit der Ueberzeugung, sie sei ihm zuerst, vom Geheimniß des Lebens bezwungen, entgegengekommen, denn er war überzeugt, daß durch jenen seltsamen Blick seine Liebe aus ihrem Schlafe erwacht sei und sich zum Bewußtsein verklärt habe. Freilich dünkte ihm wieder, diese Bestimmung seines Lebens, dieses Mädchen zu lieben, sei längst als ein verschlossenes Geheimniß in seiner Seele versiegelt gewesen. War ihm bisher dies Entgegengehen als sein höchstes Glück erschienen, so raunte ihm jetzt sein böser Geist zu, Alles sei nur Gefallsucht in dem angebeteten Wesen, die mit seinem Wohl spiele, ihn bethöre und sich ihrer Gewalt über seine Seele frevelhaft freue; sie sei ohne Gefühl und würde selbst seinen Untergang mit Leichtsinn betrachten; sie habe ebenso jenen übelberüchtigten Jüngling in ihr Netz gezogen, mit dem es ihr vielleicht sogar mehr Ernst sei.

Unter diesen Phantasien brach der Morgen an, Edmund setzte sich an seine Arbeit, er sah dann den Grafen zur gewohnten Stunde nach der Frühmesse gehen, er wollte die Gräfinnen besuchen, die ihn aber nicht annahmen, weil sie sich beide unwohl fühlten. Nach einer Stunde ward er zum Oberkammerherrn gerufen. Er stieg mit klopfendem Herzen die breite Treppe herunter, um sich in das abgelegene Studirzimmer des Grafen zu begeben. Er ging an Elisabeths Zimmer vorüber, die Thür war halb geöffnet, er sah sie im Sessel mit rothen, verweinten Augen ruhen; ihr thränenvoller Blick, den er nur im Vorübergehen erhaschen konnte, sagte ihm Alles und schlug beschämend seinen Argwohn zu Boden.

Die Thür des Grafen, vor der er jetzt stand, war ihm heute eine ganz andere als am vorigen Tage, er betrachtete sie mit ahnungsvoller Scheu und zögerte ein- und noch einmal, bevor er sie eröffnete. Im Zimmer saß der Graf an seinem Schreibtische im weiten Schlafrock. Da der Tag finster war und es draußen regnete, hatte er die schweren dunkeln Vorhänge vor den Fenstern heruntergelassen, und die geschirmte Lampe, die ihn nur erleuchtete und seinen Tisch, brannte matt, das Zimmer war dunkel.

Auf einen Wink des Alten mußte sich Edmund ihm gegenübersetzen. Feierlich war das bleiche, tief gefurchte Antlitz des Grafen; sein weißes Haar, nach ehemaliger Weise in Locken auf der Seite zusammengelegt und durch Puder glänzender, gab dem klugen feinen Angesicht etwas von einem geschnitzten Bilde. Edmund fühlte, daß er mit einer Gestalt aus einem andern Jahrhunderte und aus einer fremden Welt zu thun habe, und daß er niemals zu diesem seltsamen Wesen ein wahres Zutrauen fassen könne.

Nachdem ihn der Graf lange stillschweigend betrachtet hatte, sagte er endlich mit ruhiger Stimme: Es thut mir leid, mein junger Freund, daß wir uns trennen müssen, und zwar recht bald, in diesen Tagen noch, ich erwarte nur die Antwort auf einen Brief, den ich eben abgeschickt habe. Es war nicht meine Absicht und mein Wunsch, daß wir uns so früh entfremden sollten; indessen ist es ein Schicksal, dem wir Beide gehorchen müssen.

Ich soll, sagte Edmund stammelnd, Excellenz und dieses Haus verlassen?

Nicht anders, erwiederte der Alte, denn nach dem Geständniß, welches mir meine jüngste Tochter heut früh gemacht, mit einer Freimüthigkeit gemacht, die ich, da ich mir der guten Erziehung bewußt bin, die sie genossen hat, noch nicht begreifen kann, ist es von der bestimmtesten Nothwendigkeit, daß Sie sich entfernen, je früher, je besser. Denn Trennung und Entfernung ist nach Erfahrung und Beobachtung das sicherste, oft einzige Mittel, um derlei Seelen- und Herzenskrankheiten zu heilen.

Sie wissen Alles, Herr Geheimrath? fragte Edmund wieder.

Wie Sie sehen, antwortete der Graf; und fern sei es von mir, mit Ihnen zu schelten, oder zu rechten, oder Sie bekehren zu wollen. Denn wie dergleichen bei einer physischen Krankheit zu gar nichts führen würde, so erleidet Ihr Liebeszustand auch keine vernünftige Einrede. Hätte die Leidenschaft nicht damit angefangen, die Vernunft völlig zu unterjochen und ihr Fesseln anzulegen, so säßen wir Beide nicht hier, um uns so zu besprechen, wie wir es thun, und mein ehemals verständiges Kind hätte den Muth nicht gehabt, mir die Eröffnungen zu machen, die sie mir heute früh, noch in der Dämmerung des Tages, mittheilte.

Jetzt faßte in seiner hoffnungslosen Lage Edmund aus der Verzweiflung einen plötzlichen Muth und sprach gefaßt: Wollen mir Eure Excellenz erlauben, etwas zu erwiedern, und frei, aus voller Seele zu Ihnen zu sprechen? Ist es denn unerhört, daß ein Bürgerlicher, ohne Ahnen und Reichthümer, ohne Familienverbindung und Ansehen, ein solches Glück erlangt, wie mir aus dem Herzen Ihrer angebeteten Tochter winkt? Alte Geschichten erzählen dergleichen; arme Jünglinge sind so emporgestiegen und haben Geschlechter gegründet, die nachher mit dem Ruhm und der Würde der Vorfahren wetteifern durften. Sie haben keine Söhne, verehrter Mann, des Königs Gnade hat dem Herrn General, Ihrem Eidam, das Majorat Ihrer Familie verliehen, Ihre zweite Tochter, sagt man, ist die Braut eines reichen Erben eines großen Hauses, der jetzt noch in Italien verweilt. Die jüngste Gräfin wird, wie ich glaube, keine Ansprüche auf Ihre Güter und Ihr Vermögen machen, sie wird mit einem bescheidenen Glücke zufrieden seyn, da sie Einsamkeit und Zurückgezogenheit liebt. Wenn der Glanz Ihres Hauses also nicht leidet, wenn Sie jedes Ihrer Kinder das Glück finden lassen und ihm gewähren, welches seiner Eigenthümlichkeit zusagt, handeln Sie dann unrecht? Ist es Ihnen Schande oder Kränkung, einen Sohn zu erhalten, der Sie um so mehr ehren und lieben wird, wenn er Ihnen Alles zu verdanken hat, wenn er sich stündlich sagen muß, daß er ohne Sie und Ihre Güte ein Nichts, ein Unglücklicher wäre? Der General und Ihr zweiter Eidam können im Stillen die Meinung hegen, sie hätten auch eine feste Stellung im Leben, ihre Dankbarkeit wird also immer nur eine beschränkte bleiben, wenn ich ohne Bedingung und Einrede des eignen Verdienstes nur das Geschöpf Ihrer Güte und Liebe würde. Und sehen wir auf die Welt und unsere Zeit – wie hat sich seit mehr als zwanzig Jahren Alles verwandelt! Wie sind die Säulen gefallen, von denen man wähnte, daß sie Reiche und Welttheile stützten! Sie sind gefallen, und die Geschichte geht ihren Gang, und die neuen Geschlechter gedeihen. Ein unbekannter Emporkömmling beherrscht die mächtigste Nation von Europa, und durch sie unsern Welttheil, unser Deutschland wenigstens. Sein gestifteter Adel hat sich unter die ältern Familien gemischt und gilt neben diesen. Unser deutsches Vorurtheil ist von ihm gestürzt und hat in dem wahrhaft aristokratischen England niemals gegolten. Ja, ist es nicht vielleicht die sicherste Erhaltung und Wiederherstellung des deutschen Adels, wenn die jüngern Söhne, vorzüglich aber die jüngern Töchter nicht auf den Adel der Familie Ansprüche machen und nicht in das Erbe eintreten? O ehrwürdiger, edler Mann, geben Sie mit freiem Herzen Ihrer Umgebung ein Beispiel, bringen Sie das Opfer eines veralteten deutschen Vorurtheils, um zwei Herzen wahrhaft glücklich zu machen, die keine Begier nach Reichthum fühlen oder als Adelige glänzen wollen.

Der alte Graf betrachtete seinen Secretair lange mit scharfem, prüfendem Blicke und sagte dann mit fester Stimme: Ich habe Sie ausreden lassen, junger Mann, um mich ganz von dem Zustande Ihrer Krankheit zu überzeugen, denn daß Sie im Fieber sind, weiß ich ganz gewiß, ohne Ihren Puls zu fühlen. Es ist dieselbe Fieberhitze, die jetzt die Welt umtreibt und alles Leben und alle Gesundheit zu zerstören droht. – Haben Sie in dem lehrreichen Briefwechsel des großen Friedrich von Preußen niemals die Stelle gelesen: »Ich habe die Gesinnungen meines Standes«? Mit den wenigen inhaltschweren Worten konnte er jene Sophistereien niederschlagen, die ihm aus der Erfüllung seiner Pflicht einen Vorwurf machen wollten. Wir lachen, wenn wir hören, daß es Einsiedler giebt und gab, welche trinken und sich berauschen, die sich von Zeit zu Zeit in die weltlichen Zerstreuungen drängen. Warum wählte dieser gestörte Mann diesen Beruf? fragen wir mit Recht. Und diese Fragenden sind meistentheils eben so verirrt. Der Gelehrte klagt über seine einsame, abstumpfende Beschäftigung; er möchte in das Staatsleben eingreifen. Der Geschäftsmann schämt sich seiner Bestimmung und jammert, daß er nicht Dichter seyn darf, ohne daß er noch weiß oder erfahren hat, ob ihn die Natur mit Talenten ausstattete. Der Dichter fühlt sich zurückgesetzt, weil ihm nicht die weltliche Ehre eines Ministers oder Generals erwiesen wird. Der Militair möchte Prediger und Apostel seyn, er weissagt und steht geistlichen Zusammenkünften vor. Der Geistliche verachtet seinen Beruf und sehnt sich in das Getümmel der Welt hinaus. Feldherr möchte jener kleine, dürftige Mann seyn, den die Natur und sein Studium zu gelehrten Forschungen anwies. Der Bürger verwünscht sein Handwerk, und der Bauer sieht mit Neid den Städter an. So ist Alles aus seinen Fugen, und Jedermann ist unzufrieden, eben nur deshalb, weil er unzufrieden seyn will. Diese Verstimmung nennen die Verblendeten den Fortschritt des Zeitalters und verlästern alle Diejenigen, die von der Treue zu ihrem Beruf begeistert sind, als Beschränkte, Armselige, vom Vorurtheil Befangene. Ihre scheinbare Philosophie möchten sie mit Gewalt ausbreiten, und Jeden als Blödsinnigen unwirksam machen, der sich ihrem Thun widersetzt. Ist ein Jüngling an diesem Zeitgeist erkrankt, zugleich noch von der Liebe begeistert, so nennt er seinen Wahn göttliche Eingebung, und möchte sich und das Theuerste seinen Hirngespinsten aufopfern. Nein, mein junger Freund, kehren Sie um, wenn es noch möglich ist. Denn diese Grillen von Gleichheit der Stände und was damit zusammenhängt, sind allzu unhaltbar. Erlaubt es sich der Mensch erst, sich gegen die Bedingungen seiner Natur aufzulehnen, so muß er im Wahnsinn endigen. Denn keine Grenze, keinen Halt giebt es für dies Bestreben. Sollen mich Leidenschaft, Grille und Willkühr regieren, so muß ich mich gegen Alles auflehnen, was da ist, denn mein Dasein fängt mit Resignation an und ist auf diese gegründet. Diese Lebens-Bedingnisse, ohne welche es keine Freiheit giebt, fordern von mir die Aufopferung vieler sogenannten Freiheiten. Das innerste geheimste Leben der Natur webt in Zahlenverhältnissen und mathematischen Gesetzen. Das System unserer Erde, der Sonne und der Planeten, ja die ganze denkbare Welt ist ein unermeßliches Uhrwerk, das ohne Tact und Ordnung nicht da seyn könnte. Diese Ordnung und Kraft der Zahl ist das innerste Grundwesen unserer Seele; und das Erringen der Freiheit, das Vernichten oder Hemmen der Ordnung, die sich in unserem Leben auch äußerlich gestalten muß, ist nichts als ein Streben, das Chaos und das Nichtsein wiederherzustellen.

Hier machte der Graf eine Pause, indem er sich eine Tasse Thee einschenkte. Edmund wußte nichts zu erwiedern, denn die sonderbare Stimme des Alten scholl ihm wie aus einer weiten Ferne. Nach einer Pause fuhr der Graf fort: Ein Staat, wenn er irgend von Umfang ist, wenn er diesen Namen verdient, kann nicht ohne Unterschiede des Volkes, ohne Stände seyn. Im Nächsten bildet sich hier das ewige Grundgesetz der Sterne und aller Naturen wieder ab; das Niedere existirt nicht ohne das Höhere; es Ist! und nur der Wahnsinnige fragt: Warum? Denn diese Frage ist keine Frage, und nur einem Aberwitzigen kann es einfallen, darauf antworten zu wollen. Der Adel, der angeerbte, ist von allen Einrichtungen die mildeste, um das Wohlbefinden der unteren Stände möglich zu machen. Wie er sich vergangen hat, wie man sich an ihm versündigt hat, wie er ausgeartet ist, wie ihm wieder könnte geholfen werden: diese Aufgaben sind zu ungewiß und weitsehend, um sie eilig erörtern zu können. Wenn wilde Eroberer ihre usurpirte Kraft daran sehen, zu zerstören, so kann doch auch ihr Reich nicht auf Vernichtung gegründet seyn, sondern sie müssen wieder bauen und jene unverrenkbare mathematische Ordnung auf ihre Weise wiederherzustellen suchen. Wer den Adel vernichtet, muß einen andern wieder aufbauen, sei es aus Geld, oder roher Soldatenkraft, oder Gunst. Auch das haben wir erlebt, und nicht zu unserer Freude.

Es entstand wieder eine Pause, und da sich Edmund ruhig verhielt, fuhr der Alte, nachdem er seine Tasse geleert hatte, fort: Je mehr in unsern Tagen alle jene ehrwürdigen Anstalten der Vorzeit unterzugehen drohen, um so mehr ist es die Aufgabe und die höchste Ehre Derjenigen, die von dem Werthe dieser Einrichtungen durchdrungen sind, sie aufrecht zu erhalten. Diese, die am Alten festhalten, sind Streiter für das Göttliche, sie kämpfen für die ewigen Rechte. Wer nachgiebt, diese überkommenen Vorrechte wissentlich oder leichtsinnig schmälert, seinen Nachkommen die angestammte Herrlichkeit verkümmert, ist ein Frevler und Sünder. Was fabeln manche christliche Secten von der Gnadenwahl! Daß ich Der geboren bin, der ich bin, mit diesem gesunden Körper, unter diesen Umständen, in dieser Zeit, nicht unter Lappländern, Hottentotten oder Türken, mit Geist, Verstand und Glaubensfähigkeit ausgestattet, – das ist die Gnadenwahl, die unbegreifliche, für die ein Jeder, in seiner Stellung, dem Himmel danken muß. Noch mehr Derjenige, der zu allen diesen Vorzügen noch den zählt, einer alten, berühmten Familie anzugehören.

Edmund hatte es nun schon aufgegeben, seine Bitten und Wünsche auf irgend eine neue Weise vorzutragen; die Worte des Alten hatten ihn so zerstreut gemacht, daß er den Redenden nur wie einen wunderbaren Ueberrest aus einer uralten, längst verflossenen Zeit betrachtete.

Der Graf fing, nachdem er den jungen Mann ebenfalls eine Weile starr betrachtet hatte, von neuem an: Nichts in der Welt hat an und für sich und von den Augen der sogenannten Vernunft betrachtet, einen wahren Werth: ein Vorurtheil, eine liebende Ehrfurcht, die sich eben so willkührlich als nothwendig an die Sache heftet, giebt ihm erst eine heilige Weihe. Und indem wir Menschen diese wahre Liebe, die schönste Kraft unserer Natur, dieses Vorurtheil, daran heften, wird die Sache etwas, und wir als Menschen wachsen mit dem Gegenstande, den wir geweiht und groß gemacht haben. So entsteht die wahre Geschichte, so bauen sich Völker und Staaten, Sitten und Gesinnungen auf, und ein mächtiger Baum des Lebens erwächst und giebt Tausenden Schatten und Erfrischung. Der Holzhändler, der aus Eigennutz, eines vorübergehenden Gewinnstes wegen, diese tausendjährige Eiche fällt, thut nichts Sonderliches, obgleich es jetzt an der Tagesordnung ist, diese Trödler und Höker als die Helden der Menschheit zu bewundern. Sie können also jetzt vielleicht begreifen, warum ich Ihre Wünsche und Absichten als sündliche ansehe, und von einer Einwilligung meinerseits niemals die Rede seyn kann.

Edmund wollte sich jetzt entfernen, aber der Alte winkte ihm, sitzen zu bleiben, indem er fortfuhr: Wenn ich so viele Bücher der neuern Zeit ansah, wenn ich sah, was um mich vorging, so habe ich die Kräfte und Leidenschaften bedauern müssen, die sich so vielfältig an Irrthümern und Schattengebilden zersplittern. Ein Baron oder Graf aus einer alten Familie, der ein Bürgermädchen heirathet, handelt viel schlimmer und liebloser als Derjenige, der sie in seinem unmoralischen Taumel verführt und erniedrigt, oder der sich heftig seinen jugendlichen Leidenschaften und Lüsten auf eine Zeitlang in der schlechtesten Gesellschaft überläßt. Dann wenigstens untergräbt er doch die Ordnung des Staates nicht, und seine Sünde fällt nur auf sein Haupt, das Unglück trifft nur Einige, die es oft durch Leichtsinn verschuldet haben. Aber auf jenem scheinbar tugendhaften Wege macht er sich und das Mädchen unglücklich; wenn sie Aeltern und Verwandte hat, auch diese; mit seiner eignen Familie, Aeltern, Oheim, Basen, geräth er in das traurigste Mißverhältniß; seinen Kindern raubt er die Auszeichnung und Vorzüge, zu welchen das Schicksal sie bestimmt hatte; er giebt andern Leichtsinnigen Beispiel und Rechtfertigung, und verschuldet es, daß noch in später Nachwelt sein heilloser Irrthum traurige Früchte trägt. Und ein Mädchen, die sich, ihre Familie verleugnend, erniedrigt! Welch ein elendes Loos steht ihr bevor? Nicht lange, so wird sie sich zurücksehnen nach jenen Geschwistern und Verwandten, von denen sie sich muthwillig getrennt hat; der Mann genügt ihr nicht, der alte Stolz ihres Blutes erwacht, und sie muß dieselbe Liebe Thorheit schelten, die ihr vor Kurzem noch als das glänzendste Kleinod ihres Lebens erschien.

Jetzt stand er auf und schloß einen Schrank auf; Edmund hatte sich auch erhoben. Bleiben wir noch etwas beisammen, fing der Graf wieder an, denn ich habe Ihnen noch einiges zu sagen. Er faltete ein Papier zusammen und legte es vor sich; mit einem andern, viel freundlichern Tone sprach er dann: Lieber Edmund, Sie sind mir sehr werth, sehr theuer gewesen, ich habe Sie wahrhaft geliebt, und daß wir uns auf solche Weise und durch diese Veranlassung trennen müssen, schmerzt mich innigst. Der Himmel hat mir keinen Sohn geschenkt; als Sie nun das erste Mal zu mir durch diese Thür hereintraten, fiel mir Ihr Wesen, Gang, Antlitz, der Ton Ihrer Stimme, alles so auf, daß ich tief gerührt war. Einen solchen Sohn möchte ich wohl haben! sagte ich zu mir selbst, so hätte ich ihn mir gewünscht, so hat ihn meine Phantasie mir so oft vorgemalt. Täglich wurden Sie mir lieber, so sehr, daß ich immerdar über mich wachen mußte, um nicht mit Ihnen in den vertraulichsten Ton zu fallen. Aber freilich, so oft es mir beifiel, daß Sie durch meine Tochter mein Sohn werden könnten (wie man denn viel Thörichtes in den Stunden schlafloser Nächte zusammenphantasirt), so hatte ich Augenblicks einen Widerwillen, ja einen Abscheu vor Ihnen, wie es Ihnen vielleicht auf ähnliche Art ergeht, wenn Sie mit jenem Simonssohn beisammen sind, mit welchem ich Sie recht vertraulich habe wandeln sehen, und es fällt Ihnen plötzlich ein, daß dieser Mann ein Jude ist. Sehen Sie, dergleichen, was die Seele unseres Blutes ist, was wir weder vergessen können noch sollen, sind unsere Vorurtheile. Sie werden, wenn ich Sie jetzt auch von mir entferne, darum nicht von mir gehaßt. Hier ist die Eingabe, daß Sie die Hofrathsstelle dort in jener angenehmen Stadt erhalten mögen, die Sie lieben; der Gehalt ist sehr bedeutend, mehr als Sie gewünscht haben, dort können Sie Ihre Mutter zu sich nehmen; es fehlt Ihnen nicht, bald höher zu steigen, wozu ich meinen Einfluß und die Gnade unsers Königs nicht verabsäumen werde. Eine reiche Gemahlin kann Ihnen, wie liebenswürdig und gut Sie sind, nicht entgehen, und so genießen Sie eines wahren irdischen Glücks, indem Sie jenes phantastische aufgeben, welches doch früher oder später eine Quelle der Trübsal für Sie geworden wäre.

Edmund konnte sich einer seltsamen Empfindung nicht erwehren, die aus Rührung und Bitterkeit gemischt war. Auch eine Art Schadenfreude überschlich ihn, wenn er an jenen unwürdigen Nebenbuhler dachte, dessen Aussage doch vielleicht keine Lüge seyn könnte. Freilich, sprach er zu sich selber, wird ein solcher Lump, falls er nur Edelmann ist, dem ehrwürdigen Thoren immer noch lieber seyn, als ich Aermster.

Excellenz, fing er zögernd an, ich habe jetzt von Ihren Lippen viel Böses, viel Gutes, Kränkendes und Erhebendes hören müssen; ich bitte Sie um die Erlaubniß, noch eine Zeitlang in Ihrem Hause verweilen und die Gräfin sehen und sprechen zu dürfen. Ich bin überzeugt, unser Beider Gemüth findet sich leichter und edler in Das, was durch Ihre Grundsätze und Überzeugungen ein Unabänderliches geworden ist. Unsere Trennung wird uns dann weniger gewaltsam erscheinen, unsere Seelen gewöhnen sich allgemach an den ewigen Abschied. –

Nein! rief der Graf, dazu kann ich meine Erlaubniß niemals geben. Bis Ihre Bestallung ausgefertigt ist, mögen Sie, wenn es Ihnen bequemer ist, in meinem Hause bleiben, aber Sie geben mir Ihr Ehrenwort, die Comtesse in der Zeit nicht zu sehen und zu sprechen, denn ich werde ihr den Befehl ertheilen, ihr Zimmer nicht zu verlassen. Ich bin überzeugt, Ihre Stimmung und Liebe ist jetzt die lauterste und heiligste; oft vergessen sogar die jungen Leute in ihrer hochgestimmten Leidenschaftlichkeit, daß die körperliche Vereinigung in der Ehe das Ziel ist, wohin die Natur alle diese überirdischen Schwärmereien führen muß. Ich traue Ihnen selbst und halte Sie für edel, aber ich vertraue der menschlichen Natur nicht, die in ihrer höchsten Verstimmung sich nur zu leicht überspringt und auch das Niedrige umarmt und sich ihm verbrüdert. Vielleicht lasse ich meine Tochter zu ihrer Tante, meiner Schwester, verreisen, um vor allen Thorheiten so mehr gesichert zu seyn.

Der alte Mann ging jetzt zu einem andern Schranke, schloß ihn bedächtig auf und öffnete dann ein geheimes Fach. Edmund wollte sich nähern, aber der Graf wies ihn stumm mit der Hand zurück, und bei dem ungewissen Schimmer der Lampe schien es dem Jüngling, als wenn er den Greis eine Thräne vom Auge trocknen sähe. Der Graf verschloß das Fach und den Schrank wieder sorgfältig, nachdem er einige versiegelte Papiere herausgenommen hatte. Diese betrachtete er lange und näherte sich dann dem jungen Manne, welcher ungewiß war, ob er gehen, ob er bleiben solle. Nehmen Sie hier, fing er an, einige Briefschaften, die ich Ihnen vertrauen will, sehen Sie sie durch, doch mit der Bedingung, daß Sie gegen Niemand, auch meinen Schwiegersohn nicht, davon sprechen. Die Papiere betreffen und erörtern ein altes Verhältniß, eine Epoche meines Lebens, die mir sehr wichtig war. Sie werden mich aus ihnen näher kennen lernen, und ich vertraue sie Ihnen, damit Sie daraus ersehen, wie edle Seelen sich fassen, wenn sie in Lagen und Stimmungen sind, der Ihrigen ähnlich.

Edmund empfing die vielfach versiegelten Blätter aus der zitternden Hand des Greises. Wenigstens, sagte er dann, bleiben Sie in meinem Hause, bis Sie dieses durchgesehen haben, lesen Sie aber bei verschlossenen Thüren, und wenn Sie ausgehen, rechne ich darauf, daß Sie diese Blätter jedem Auge entziehen. Haben Sie geendigt, so senden Sie sie mir im versiegelten Umschlage zurück, denn es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß sich unsere Augen nicht wieder begegnen, am wenigsten möchte ich Sie unmittelbar nachher sprechen, wenn Sie diese Papiere angesehen haben. Und nun, mein junger Freund, den ich wie einen Sohn geliebt habe, umarmen Sie mich zum Beschluß unserer Bekanntschaft recht herzlich. Dieses körperliche Zeichen des Wohlwollens und Vertrauens ist mir, mir selber unbegreiflich, bei Ihnen nothwendig: eine Berührung, die ich seit dreißig Jahren immer geflissentlich vermieden habe.

Er drückte den jungen Mann wiederholt herzlich an seine Brust, er war so bewegt, daß er sich nur mit Mühe losmachen konnte. Endlich setzte er sich wieder in seinen Armstuhl, winkte mit der Hand, und Edmund entfernte sich mit den seltsamsten Gefühlen.


Frimann eröffnete, in seinem Zimmer verschlossen, die vielfach versiegelten Blätter, aber er war so zerstreut und aufgeregt, daß er den Inhalt nicht fassen konnte; die Buchstaben blieben ihm nur todte Zeichen. Er verbarg Alles, ging dann im Zimmer umher, sah auf die Straße hinaus und überdachte sein Schicksal. Bald zeigte sich ihm das Bild des Grafen in einer ehrwürdigen Gestalt, bald erschien es ihm gespenstisch und fratzenhaft. Das Leben selbst drohte ihm in ein unzusammenhängendes Possenspiel zu verrinnen; er zweifelte selbst an der Wahrheit seiner Liebe und der Tugend seiner Geliebten. Wie sein Blick den dunkel schwebenden Wolken nachzog, war es ihm, als sei es ein Glück, daß seine Leidenschaft auf diese Art gestört sei, indem er nun wieder ein freieres, glücklicheres Leben beginnen könne. Dann fiel ihm jener erste Blick wieder in die Seele, die holden Worte folgten, das Gepräge ungefälschter Wahrheit, alle jene Wonnestunden erhoben sich wieder im vollsten Glanze, und sein Wunsch nach Freiheit erschien ihm als Frevel und Lästerung.

Er verließ das Haus und die Stadt, er aß in einem fernen Gasthofe, weil er die Menschen und ihre Gespräche vermeiden wollte. Dann streifte er durch den nahen Wald, und kam am Abend zur Stadt zurück, um den alten Baron nach jener Gesellschaft abzuholen, wo er seinen seltsamen Nebenbuhler finden sollte. Der Baron erwartete ihn schon und sagte, indem sie fortgingen: Sie müssen nur, mein junger Freund, nicht Das erwarten, was man gemeinhin eine reputirliche Gesellschaft nennt, denn wir humoristische Köpfe haben uns vereinigt, uns eben einmal in der Woche das vollständige Gegentheil von dieser darzustellen. Darum darf auch ein Mitglied nur einen Freund an jedem Abend mitbringen, für dessen Verstand und Bildung er sich verbürgt, daß dieser nicht zu den Prüden oder Frömmlern gehört, damit der harmlose Spaß, zu welchem wir zusammenkommen, nicht bei den Tugendhaften der Stadt ein übles Gerede und schlimme Verleumdung der unschuldigen Mitglieder zuwege bringe. Sie finden also allerlei Menschen in unserm humoristischen Klub, denn Stand und Würde, Niedrigkeit oder Höhe schließen keinen aus; nur irgend eine Seltsamkeit, Caprice oder Thorheit muß Jedermann, der aufgenommen zu seyn wünscht, aufweisen können. Ich wüßte an Ihnen, geehrter Freund, nichts von dieser Art zu nennen, und darum können Sie wohl mein Gast, aber nicht leicht ein Mitglied werden. Jede Gesellschaft muß irgend eine Ordnung, ein waltendes Gesetz beobachten, wenn sie sich nicht selber zerstören will. Der Präsident wird alle Monate neu gewählt; jetzt ist es ein Schuster aus der Vorstadt, ein kleines, bucklichtes Männchen, der aber Jedermann Rede und Antwort zu geben weiß. Der Küster von Lambertus ist auch in der Regel zugegen, so wie der Glöckner von St. Peter. Sie werden sie ja selbst sehen und sich auswählen können, wer Ihnen am meisten zusagt.

Ich gehe nur wegen jenes verworfenen Menschen mit Ihnen, antwortete Edmund, der sich gerühmt hat, der begünstigte Liebhaber der Gräfin Elisabeth zu seyn. Ist er auch ein Mitglied Ihres Kränzchens?

Gewiß, antwortete der Baron; aber warum wollen Sie ihn schelten, ehe Sie ihn näher kennen? Der junge Herr Wendelbein ist nicht so ganz übel und ruchlos, er hat neben seinem Leichtsinn und seinen drückenden Schulden auch seine guten Qualitäten, und für unsern Zirkel ist er einer der belebendsten Geister, denn er erfindet immer etwas Neues und Behagliches, bringt Gespräche und Untersuchungen, Dispute und Gleichnisse auf die Bahn, die kein Anderer so in Bewegung setzen könnte. Ich bin nur neugierig, welchen Gast er heute herbeischleppen wird, denn er weiß stets die seltsamsten Originale aufzutreiben. Man sollte es nicht glauben, wie viele unkluge und sonderbare Menschen in jeder Stadt leben; man bemüht sich nur zu selten, sie aufzufinden. Das ist aber auch ein Vorzug unserer Akademie, daß man Charaktere in ihr kennen lernt, die man sonst wohl nicht so leicht sehen würde.

Sie waren durch mehre dunkle Gassen geschritten und standen jetzt vor einem unansehnlichen Hause, in welches der Baron einging und an der Hand seinen Begleiter über einen dunkeln Gang nach sich zog, der fast gar nicht von einer unscheinbaren Lampe erleuchtet war. Sie stiegen eine enge Treppe mühsam hinauf, ein Krüppel kam ihnen entgegen, der als Aufwärter die Thür öffnete, und jetzt stand Edmund im Saal, in welchem schon der größte Theil der Gesellschaft versammelt war.

Oben an einem Tische saß der Schuhmacher als Vorsteher, eine breite, etwas gekrümmte Figur; neben ihm der Küster, ein hageres, langes, blasses Männchen, welches eine politische Miene machte und immerdar mit Feinheit lächelte. Noch einige Gesellen, unansehnlich genug, saßen nach ihrer Ordnung, und der Baron nahm jetzt seinen jungen Freund bei der Hand, führte ihn vor den Präses, verneigte sich und sprach, indem die Uebrigen aufstanden: Ein junger, trefflicher Mann, für dessen Bildung und Diskretion ich einstehe, wünscht unsere Societät kennen zu lernen, und ich habe ihm seinen Wunsch, sich zu erheben und zu verbessern, nicht verkümmern mögen.

Er ist willkommen, sagte Knorr, der Schuhmacher; es ist uns heilige Pflicht, Denjenigen, welcher nach Wahrheit dürstet, brüderlich aufzunehmen. Zugleich gab er dem Eingetretenen die harte Hand, und Edmund fühlte die seine so heftig gedrückt, daß er hätte aufschreien mögen. Dann mußte er sich neben dem Küster niedersetzen, der ihm lächelnd seinen Platz anwies. Ein dicker Mann, mit aufgeblasenem rothen Gesicht, welcher unten an der Tafel saß, dem Präsidenten gegenüber, rief mit heiserer Stimme: Obgleich der Name eines Menschen nur Schall und Rauch ist, und niemals zu der Wesenheit der Schöpfung gerechnet werden kann, so müssen wir den neuen Gast doch schwarz auf weiß in unsere Chronik eintragen, damit die lesebegierige Nachwelt wissen könne, er sei heut, den vierzehnten November, im Jahre 1810, in unserer Mitte gewesen, oder vielmehr am obern Ende des Tisches, neben dem wohlgelehrten Herrn Kustos Ehrenfried.

Verzeihung, Herr Sekretair, rief der Baron, der sich neben den Präsidenten gesetzt hatte, daß ich meine Pflicht verabsäumt habe; dieser junge hoffnungsvolle Schüler der Weisheit benennt sich Edmund Frimann und steht als Privatsekretair bei Sr. Excellenz dem Herrn Oberkammerherrn Seestern in Diensten; er bewohnt in dessen Palast eine Stube, zwei Treppen hoch gelegen, nach vorn heraus, geht des Morgens gewöhnlich, wenn er nicht den Gräfinnen seinen Besuch macht, in einem blauen Oberrock und hat die Eigenheit, daß er diesen niemals, es müßte denn sehr kalt seyn, zuknöpft. Auch will man von ihm sagen, daß er in den Zeitungen die nach den Weltgeschichtsartikeln folgenden Anzeigen fast mit derselben Begier als die Politik liest; wenigstens ist allgemein von ihm bekannt, daß er oft die eine und andere bedeutende Nachricht laut und mit Ausdruck vorgelesen habe, sogar mit Rührung jüngst die bekannte wehmüthige Nachfrage nach jenem Mops, der sich verlaufen hatte. Die ganze Familie des Oberkammerherrn war von dieser Lektüre so tief erschüttert, daß sie sich noch nicht völlig von dieser schmerzensreichen Stunde erholt hat.

Der Freund hat also Gaben, rief der dicke Sekretair. Ich werde diese höchst interessanten biographischen Notizen, die mir so eben vom Forscher mitgetheilt worden sind, nicht verabsäumen, unserem Buche und der Geschichte unserer Akademie einzuverleiben.

Der Graf, schmunzelte der Küster, ist in der That unermüdlich, die Memoires unserer Sozietät gründlich auszuführen. Er widmet sein Leben der Aufgabe und opfert alle seine Kräfte diesem unsterblichen Streben. Aber wie wird ihm auch die Nachwelt staunend danken, wie wird sein Name und sein Werk glänzen, wenn Eroberer längst vergessen sind und die Urenkel unserer Urenkel ihre ungeputzten Schuhe oder Stiefel vom Staube manches längst eingestürzten Palastes und Tempels bepudern lassen.

Edmund, der sehr verstimmt war, fragte den hagern Küster: Wie heißt der Herr Graf dort unten?

Es ist der Graf Krusing, sagte der Geistliche; er hat einmal ein Freibataillon kommandirt, dann hat er große Reisen gemacht, er wollte dann wieder in Dienste gehen, aber die Welt verkennt seine Größe und ließ ihn warten und warten, bis er endlich, jetzt sind es zehn Jahre, die Geduld verlor, und nun sein undankbares Vaterland wieder auf sich warten läßt, denn er hat geschworen, nunmehr sich dem Müssiggange zu ergeben. In seinem Hause steht in einigen Folianten ein ungeheuer gelehrtes Werk, welches er auf seinen Reisen ausgearbeitet hat. In diesem finden Sie die authentischen Nachrichten, immer mit den eigenhändigen Rechnungen der Gastgeber belegt, vom Preise der Lebensmittel, der Wohnung, der Weine etc. in den meisten Wirthshäusern und Ländern von Europa. Der Mann, wie Sie ihn da vor sich sehen, hat sich die Mühe nicht verdrüßen lassen, in die tiefsten Weinkeller mit seiner Korpulenz hinunterzusteigen, nach den Austern zu forschen an der Stelle, wo sie gefangen werden, den Aalen wie den Aalpasteten nachzugehen, wie oft, um nur seiner Pflicht, die er mit Enthusiasmus erfüllt, genug zu thun, Indigestionen nicht gescheut, Kopfschmerz und Gicht, damit nur endlich der Irrthum und das leere Wortgeschwätz verschwinde und die Welt nach Jahrhunderten mit Sicherheit wisse, dort sind die und die Weine, so und so, an jenem Ufer kriecht die Schnecke, die auf diese Art verspeiset werden muß, der Hummer sieht so aus, wenn er eben frisch aus dem Meere ans Land steigt. Aber nicht allein hat er alle Naturreiche so durchforscht, daß er jeden Geschmack wirklich zu erleben suchte, und sich nicht mit Hörensagen begnügte, indem er tausend Gerichte prüfend und als Denker verspeiste, die ihm nicht oder nur wenig mundeten; er hat sogar alle jene noch lieber in sich aufgenommen, die er wohlschmeckend fand und die er mit einem gewissen einseitigen Eifer verzehrte. Und sollten Sie's glauben? Sein Wahrheitstrieb ist so unermeßlich und erstaunenswürdig, daß er noch täglich dieselben Prüfungen anstellt und wiederholt, weil ihm immer wieder ein philosophischer Zweifel kommt, ob er auch die Wahrheit, und die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit in seinem Werke ausgesagt habe: so forscht er denn Tag und Nacht von Neuem und ist nicht selten ein Märtyrer seiner Gründlichkeit. Sagen Sie selbst, wo bleibt ein Buffon, ein Linné, ein – etcetera bei solchem?

Küster! rief der Graf, macht mich nicht schamroth; die Röthe auf meiner Nase inkommodirt mich schon außerdem; alles Lob, auch das verdienteste, muß sich in den Schranken einer gewissen Mäßigkeit erhalten. Die Griechen scheuten es, ihr Verdienst zu hoch anzuschlagen, um die Götter nicht zu erzürnen. Soll uns das Schicksal der Arachne nicht abschrecken, welches uns Ovid, nebst manchen andern Verwandlungen, so rührend schildert? Wißt Ihr nicht mehr, Freunde (aber Ihr vergeßt Alles, obgleich ich unter Euch am meisten esse), wie ich noch neulich, da ich auch meinem Enthusiasmus zu edel folgte, an dem unüberwindlichen Magenkrampf litt?

Der Präses erhob sich jetzt und sagte mit einer polternden Stimme: Meine Herren und Brüder! Edle! Biedre! dem Zeitalter Voreilende! Nur wenige Worte, die aber dennoch, wie ich im Voraus versichern kann, überflüssig und höchst unnöthig seyn sollen, wie es stets bei dergleichen aufmunternden Anreden gebräuchlich und herkömmlich gewesen ist. Wir kommen hier zusammen, theils um bei einander zu seyn, hauptsächlich aber, weil wir an diesem Tage nichts anders zu thun wissen. Die Menschheit will vorschreiten, das ist gar keine Frage. Es ist wie beim Komödienhause in Drury-Lane in London und im Covent-Garden, wo ich auch gewesen bin. Im Anfange ist der Eingang breit, breit; wohl fünfzig, sechzig können in Einer Reihe stehen. Das scheint ein ganz bequemes Leben. Man schiebt, drängt, stößt vor; hinter mir haben sich schon neue Sechzig angefügt. Immer schmäler wird's, denn die Anstalt, wo man sein Zeichen löst, ist ein Triangel, der in einer Spitze endigt, wie die weltberühmten Pyramiden so nach oben schließen. Nun bin ich schon in der Mitte eingeklemmt, wo etwa nur noch Zehn neben einander stehen können. Tausend, das drückt und arbeitet mit den Ellenbogen in meine Rippen hinein! Ich ginge gerne zurück, das ist aber völlig unmöglich, ich muß und muß vor, ob mir gleich der Athem vergeht. Dazu kommt, daß, wenn Alles im qualvollen Vorschreiten ist, sich hinten an die äußerste Reihe eine Menge unnützen Gesindels schließt, die gar nicht vorschreiten wollen und können, weil sie keinen Schilling besitzen, um einen Einlaß zu kaufen. Diese machen sich den Spaß, von hinten mit aller menschenmöglichen Gewalt die arme vorschreitende Menschheit nachzuschieben, daß Mancher gerne so, wie ich, wieder draußen stände. Der dumme Zuschauer, der die Geschichte nicht kennt, sollte meinen, diese Habenichtse hätten den größten Trieb, in das Heiligthum einzudringen; es ist aber buchstäblich nichts dahinter, denn sie sind die letzten und schieben nur, um zu schieben und die vorderen Schillingsfürsten zu ängstigen. Endlich, mit schmerzenden Seiten und Hüften, bin ich die Spitze, die Eins, der Vorderste geworden, der man nur einen Augenblick seyn kann; man giebt sein Geld eiligst, tritt eiligst in das angefüllte Haus, und nun ist noch die Frage, welche Dummheit das weltberühmte Kunstwerk seyn mag, so daß ich doch noch vor dem Schlusse mich wieder in die freie Luft begebe. – Sehen Sie, meine Herren, dieser Eingang sollte Sie nur darauf aufmerksam machen, wie man wohl etwas höchst Ueberflüssiges beibringen kann, wenn die Umstände dazu nöthigen. Ich wollte nur sagen, daß wir unsere edlen und heiligen Vorsätze nicht vergessen sollen, nehmlich: Nichts zu thun; – nicht den Nachbar zu kneifen und mit dem Ellenbogen zu stoßen, unter der Ausrede, man müsse mit der Menschheit vorschreiten. – Nicht wahr, meine verehrten Freunde, es lebt sich eigentlich erbärmlich draußen in der Masse? Die Gottesfürchtigen klagen über Laster und Bosheit, über den Abfall von Gott, über die Ränke des Teufels, und welche ungeheuere Sünden im Schwange gehen. Das, ihr Auferbauten, stört mich nicht; nein! Die Tugend, das Vortreffliche, Vollendete ist es, wogegen ich allenthalben schmerzhaft anrenne. Jedermann ist edel, patriotisch, keusch, verschämt, der beste Sohn, der edelste Vater und Gatte; Kindesliebe, Aufopferung, Bescheidenheit von allen Sorten, Uneigennützigkeit, Fleiß, Tiefsinn, religiöse Gesinnung, Freundschaft, – o, wie sie nur alle heißen mögen, diese Tugenden unseres Jahrhunderts, Einsicht in Politik und Staaten, Rathgeben in der höchsten Angelegenheit und die Allwissenheit unserer Jünglinge gar nicht einmal mitgerechnet, alle diese großen Eigenschaften, die alle Menschen fast ohne Ausnahme schmücken, sind meinen hausbackenen Empfindungen und Handwerksfühlereien so völlig entgegen und contrair. In keine Bierstube trete ich, über den Markt gehe ich nicht, zu mir kommt Keiner, daß nicht alle, alle, ohne Ausnahme, so verdammt tugendhaft und so verflucht zart und anmuthig sind, daß mir Hören und Sehen darüber vergeht. Soll mir Einer ein Paar Stiefel bezahlen, die er mir schon seit einem Jahre schuldig ist, so kann er nicht dazu kommen, weil er sich aufopfern muß; meistenteils hat er's für die Menschheit gethan, und die Stiefeln sind auch schon wieder zerrissen, weil er so sehr mit dem Geiste der Zeit hat fortschreiten müssen. Geh ich einmal für mein weniges Geld in die Komödie, um aus all dem Tugendgesindel herauszukommen, so muß ich hier auch von ungeheurer Kindesliebe und von so zarter Keuschheit und feinraffinirter Unschuld hören, daß ich alter Kerl mich vor Scham nicht zu lassen weiß. O ihr goldenen Tage des spaßhaften Hanswurstes, wo seid ihr geblieben! Sagte der alte Freund auch einmal eine Zote und Dummheit, so litt er doch wenigstens an dieser Ueberfülle von Tugend nicht. Freilich kann man jetzt die tragischen Heldinnen und Väter, wenn man will, die Hofräthe, die Jünglinge und zarte Mädchen, auch als etwas verkleidete Hanswurste ansehen, die im Grunde alle jene Tugenden, von denen sie schwatzen, lächerlich machen; die Jünglingshelden sind auch meistentheils fast wie der alte Hanswurst bunt genug angezogen, doch dies Alles nur im Vorbeigehen, wie Jener sagte, der eine Semmel vom Bäckerladen nahm. Ich denke nun, unsere Einsiedelei, die wir hier gestiftet haben, um uns hier wenigstens, in diesem Zimmer des rothen Löwen, von der Tugend rein zu erhalten, verdient einiges Lob, denn sie bietet eine Zuflucht den alten Curiern mit ungekämmten Haaren aus der alten Zeit an, und wie man denn nicht leben kann, ohne geboren gewesen zu seyn, so kann man auch gewiß unsern stillen Umgang nicht schätzen, wenn man nicht eine Zeitlang in den Stricken der Tugend gelegen hat, und darum haben wir es zum Bedingniß unserer Loge gemacht, daß auch selbst als Gast kein Tugendhafter hier eintreten darf; denn wie unser Horaz schon damals ausrief: Odi profanum vulgus et arceo, das heißt auf deutsch: Kein Tugendknauser komme zu uns in den rothen Löwen!

Man klatschte dem nicht ungelehrten Schuster, der in seiner Jugend die Welt gesehen hatte, Beifall zu, und Edmund war unschlüssig, ob er sich in einer guten oder schlechten Gesellschaft, behaglich oder verdrüßlich fühlen sollte. Ein stammelnder Leineweber, der ihm gegenüber saß, nahm jetzt das Wort und sagte stotternd: Wenn man den meisten Völkern, vor allen aber den Franzosen, vorwerfen kann, daß alle Menschen des Landes zu sehr Ein Gepräge haben, und daß namentlich von den Pyrenäen bis Calais dieselbe Meinung über Theater, Philosophie und Galanterie herrscht, so giebt es in Deutschland gewiß kein so kleines Nest, in welchem nicht Ein Mensch wenigstens denken sollte: Gerade darum, weil Alle das und das glauben, will ich es bezweifeln! Derselbe verehrungswürdige Separatist setzt dann seinen dreieckigen Hut schief auf ein Ohr, wenn alle seine Landesgenossen schon längst runde Hüte tragen. Das ist aber die wahre deutsche Freiheit, die wir nie aufgeben dürfen, daß, wenn Alles klug wird, Der und Jener mit Vorsatz dumm bleibt. Sollen wir uns denn beherrschen und zu Sklaven machen lassen? Sei es von einem Kaiser, einem System, einem Dichter oder einer Wahrheit? Nein! Wie meine Landsleute aus Instinct geborene Schüler jeder nur auftauchenden Narrheit sind, so sind auch wieder andere, die sich hartnäckig auch dem Edelsten und Besten entziehen, und mit ächtem deutschen Sinn das Große verkennen und verlästern. Wir wollen und müssen zu Zeiten Hussiten und Bilderstürmer seyn. Wer kriecht dagegen wieder mit solchem Eifer unter den Mantel eines neuen Doktors und Professors, als eben der Deutsche? Ist das nun nicht vortrefflich und vielseitig?

Jetzt traten zwei Männer zur Gesellschaft, ein junger und ein alter. Der Baron winkte Edmund, und dieser erkannte daraus, daß der Jüngere jener Nebenbuhler sei, den er hatte kennen lernen wollen. Aha! rief der Graf, da kommt der durchlauchtige Herzog! – Ja, rief der Präsident, der Regent des großen Reiches Nichtsnutzigbengelland. Seht Euch, Durchlaucht, wir haben Eure Herrlichkeit schon seit Stunden vermißt. Aber, wen bringt Ihr uns da, höchst excellenter Wundermann?

Der junge Mensch, aus dessen bleichem Gesicht und matten Augen die Zügellosigkeit predigte, sagte mit frechem Wesen, welches unbefangen seyn sollte: Ich komme etwas später, weil ich erst diesen großen Mann abholen mußte, der gern unsern erleuchteten Zirkel wollte kennen lernen. Er war noch nicht angekleidet, und das hat unsere Ankunft verzögert. Er ist jener berühmte Dichter und Volkslehrer, dessen neu erschienene Tragödien uns Alle vor ewigen Monaten so tief erschüttert haben.

Man bewillkommnete den Fremden, der nur von geringem Ansehen war und sich mit linkischen Manieren für die gütige Aufnahme bedankte. Beide setzten sich, und als ihn Edmund beim Lichte genauer betrachtete, glaubte er jenen gemeinen trunkenen Kesselflicker wieder zu erkennen, der neulich den Auflauf erregt hatte. Wie er damals schon am frühen Morgen berauscht war, so war er jetzt am späten Abend nüchtern, und da die Uebrigen sich nicht viel um ihn kümmerten, so verlor sich seine Verlegenheit bald. Die Andern schienen ihn nicht zu kennen, nur der Küster grüßte ihn mit einem vertraulichen Kopfnicken und sagte dann: Es freut mich, Dero Bekanntschaft zu machen, hochberühmter Mann. Wie denken Sie aber über jene Reinigung der Leidenschaften, welche Aristoteles der Tragödie für unerläßlich hält? –

Es war jetzt die Zeit gekommen, in welcher Jedem der Societät ein Maß leichten Weins vorgesetzt wurde; der angebliche Tragiker schenkte sich ein, trank wohlgemuth und sagte dann: Diese Reinigung, mein Bester, wird auf verschiedene Art bewerkstelligt; ist das Fundament und die Materie tüchtig, so ist Kratzen und Schaben immer das Beste; bei gebrechlichen Sachen muß man mit der Verdünnung und dem einfachen Waschen sich behelfen.

Der junge Mensch, der Wendelbein genannt wurde, freute sich über diese Erklärung, der Küster lächelte, und die Uebrigen schienen von diesem Gespräche nichts zu verstehen. Edmund aber war unwillig, daß man den gemeinen Trunkenbold eingeführt hatte; auch betrachtete er den jungen verwilderten Wendelbein mit Haß und Verachtung, er fühlte sich aufgereizt und bereuete es jetzt, daß er sich in diese schlechte Gesellschaft hatte einführen lassen.

Dieser Tragödiendichter, sagte Wendelbein jetzt, der, wie Sie gehört haben, nicht nur eine, sondern sogar verschiedene Arten in seiner Gewalt hat, die Leidenschaften zu reinigen, ist aber auch außerdem ein Säuberer der Staaten, ein Held, wie Hercules. Wir alle kennen die herrlichen Stellen in seinen Tragödien, in welchen er so groß und wohllautend für Recht und Freiheit spricht, den Despotismus schilt, und Fürsten und Ministern mächtige Wahrheiten kühn und deutsch sagt; aber das wissen Sie vielleicht nicht, daß seine That so viel gilt als sein Wort. Er befindet sich erst seit einigen Tagen in unserer guten Stadt, und schon hat er etwas Außerordentliches gethan. Alle guten Bürger, ich aber am allermeisten, haben Ursache, über die Tyrannei des Grafen Seestern, des Oberkammerherrn, zu klagen. Er unterdrückt das Gute, beschützt das Böse, so weit er nur reichen kann, und er ist um so gefährlicher, weil er das Ohr unseres gütigen, arglosen Königs besitzt. Nun hat diese Excellenz einen lieben guten Secretair, einen Mann des Volkes, der, weil er die ganze Korrespondenz seines Herrn kennt und großentheils selbst führt, auch in alle die Bosheiten und Schlechtigkeiten seines Gebieters eingeweiht ist. Dieser adelige Bürger hat, vom vielfältigen Unrecht empört, dem Oberkammerherrn gedroht, dem Könige alle die Abscheulichkeiten anzugeben. Was geschieht? Er jagt, der Graf, diesen edeln jungen Mann, ohne ihm nur sein Gehalt auszuzahlen, ohne ihm selbst seine Kleider verabfolgen zu lassen, aus dem Hause, will ihn sogar aufheben und auf die Festung setzen lassen. Ist die Verruchtheit nicht ganz so, wie sie uns unsre edlen deutschen Dichter, Kotzebue und Iffland, und ihnen ähnliche, mehr wie einmal auf dem Theater gezeigt haben? Aber, was geschieht? Dieser edle Deutsche hier, unser großer Poet, den ich Ihnen heut einzuführen die Ehre gehabt habe, erfährt von dieser Unthat, und sein tragisches Gemüth wird bis zum Erhabenen darüber entrüstet. Er läßt sich beim Grafen melden, als dieser eben die große Treppe heruntersteigt, um in die Frühmesse zu gehen, die dieser Frömmler an keinem Tage versäumt. Er stellt sich dem Grafen vor, und dieser, wie es so die Art der herzlosen Aristokraten ist, wirft sich in die Brust, behandelt ihn wie einen Menschen aus der Hefe des Pöbels, schimpft ihn, nennt ihn Papierverderber, Hungerleider, und belegt ihn mit noch schlimmeren ehrenrührigen Schimpfnamen. Umher stehen die Bedienten und Hausleute, oben auf der Treppe die Töchter. Alles freut sich, daß der edle Dichter so behandelt wird. Dieser aber, seiner wohlverdienten Lorbeeren, seines europäischen Ruhmes eingedenk, erwiedert mit noch härteren Redensarten, und da jener Elende hierüber noch mehr in Zorn geräth, nimmt unser Schicksalsdichter das spanische, goldknopfige Rohr aus den Händen des Verräthers, und prügelt ihn, der mit dem Scharlachmantel geziert ist, auf der Diele seines eigenen Hauses weidlich herum, und keiner der Gegenwärtigen wagt es, der Hand, welche die Nemesis selber zu regieren scheint, Einhalt zu thun. Ist das nicht groß?

Eine große, niederträchtige Lüge ist es! rief Edmund ganz im Zorn, indem er aufsprang und heftig mit der Faust auf den Tisch schlug. Er erzählte nun die seltsame Begebenheit, die er selbst mit angesehen hatte, und schloß dann: Dies, meine Herren, ist der trunkene, elende Kesselflicker, den jener Lügner wagt in Ihre Gesellschaft einzuführen.

Ein Kesselflicker? riefen Alle. – Nichts anders, erwiederte Edmund, Sie können ihn selbst täglich in den Straßen und in Ausübung seines Gewerbes sehen. Ich zweifle jetzt keinen Augenblick, daß Sie ihn und den saubern Herrn, der so frech seine abscheuliche Lüge vorgetragen hat, aus Ihrer Gesellschaft entfernen werden.

Junger Mann, sagte der Graf mit dem rothen Angesichte, ich begreife gar nicht, in welcher schlechten Gesellschaft, unter welchen Philistern Sie bisher gelebt haben müssen, daß Sie sich so gar nicht in den Ton der größern Welt zu finden wissen. – Also, ein Kesselflicker sind Sie in der That? So sein Sie mir von Herzen begrüßt, denn Sie sind der Erste dieser Art, der in unserm Kreise erschienen ist.

Er stand auf und umarmte ihn herzlich, die Uebrigen folgten seinem Beispiele, und alle sahen mit einer gewissen Geringschätzung auf Edmund hinab, indem der alte Baron sagte: Es bleibt wahr, keiner von uns Allen weiß uns immer so angenehm zu überraschen als unser Wendelbein, er ist unerschöpflich an neuen sinnreichen Erfindungen, und das Tollste und Wildeste wird in seinen Händen natürlich und anmuthig.

Eigentlich, sagte der Präsident mit lauter Stimme, nachdem sich Alle wieder niedergesetzt hatten, steht eine schwere Strafe auf diese moralische Erhitzung und Vergehung, die wir so eben zum allgemeinen Scandal haben erleben müssen; indessen da dem jungen Fremdling, der sehr zum Aristokratischen zu incliniren scheint, unsere Gesetze und Statuten unbekannt sind, so mag es ihm und dem Herrn Baron, der den ungezogenen Jüngling eingeführt hat, für diesmal verziehen seyn. Indessen soll der Baron doch, damit er fühle, wie er sich vergangen und wie er seine Bürgschaft etwas zu übereilt gegeben hat, den achtzehnten Artikel unserer Gesetztafel dem jungen Menschen laut vorlesen. Sekretair! reichen Sie ihm einmal das ehrwürdige Document.

Der Graf erhob sich, öffnete einen Schrank und nahm ein Buch heraus, welches in rothen Sammet gebunden und mit Gold verziert war. Er küßte den Band und überreichte ihn mit tiefer Verbeugung dem Baron, welcher aufschlug und las:

Item, soll es die Pflicht und die Obliegenheit eines jeden Mitgliedes seyn, so viel zu lügen, als es nur immer mag und kann, und nur im äußersten Nothfalle die sogenannte Wahrheit zu sprechen; damit wir nicht in das Laster der Weltmenschen fallen, die unter dem Namen der Wahrheit ihre Heuchelei, Unsitte, Verfolgung und Bosheit schadenfroh an den Mann bringen. Wer noch das Bedürfniß hat, Wahrheit zu sprechen, findet in den übrigen Gesellschaften dazu hinreichende Gelegenheit. Hier fällt Derjenige, der sich für Wahrheit ereifern sollte, in die Strafe des Tabakrauchers oder eines sonst moralischen Menschen.

Das Buch wurde zugemacht und wieder in den Schrank geschlossen. Sie sehen, mein junger tugendhafter Herr, sagte der Präsident hierauf, wie milde wir mit Ihnen verfahren, weil es uns Freude macht, uns als humane, gebildete Wesen zu zeigen. – Ich glaube übrigens, meine verehrten Herren Collegen, daß der Jüngling niemals auf die Ehre wird Anspruch machen dürfen, ein wahres Mitglied unseres Clubs zu werden, da er in den Anfangsgründen noch so außerordentlich zurück ist; auch trage ich darauf an, daß es unserm verehrten Herrn Baron in einem ganzen Monate nicht vergönnt seyn soll, einen Fremden einzuführen, weil er diesmal mit seiner Bürgschaft so voreilig gewesen ist.

Alle stimmten für diesen Vorschlag, und als Edmund gereizt und beleidigt sogleich die wunderliche Versammlung verlassen wollte, wurde ihm angedeutet, daß dergleichen nicht erlaubt sei, weil es auch gegen die Statuten laufe; er müsse bis zur aufgehobenen Sitzung verharren. Es thut mir leid, meine Freunde, sagte der Baron, daß der junge Mann, den ich immer geliebt und hochgeachtet habe, mir gewissermaßen Schande macht. – Schreiten wir nicht vielleicht zur Lectüre?

Der Küster nahm einige Blätter aus der Tasche und sagte: Ein guter Freund vom Lande, ein denkender Amtmann und Pachter, hat mir folgenden Aufsatz gesendet, um ihn unserer verehrten Akademie mitzutheilen, da er die Ehre genießt, ein geehrtes und gelehrtes Ehrenmitglied unseres von aller Welt hochgeehrten Kreises zu seyn. – Er las:

Mein geehrter Freund, Küster bei St. Lambert, wirkliches Mitglied der Gesellschaft für Humanität zum rothen Löwen, Vorsänger der Gemeine, Katechet u. s. w., auch Schulhalter u. s. w., Freund der Aufklärung u. s. w., Professor der Kalligraphie u. s. w., Expectant der goldenen Medaille u. s. w., Mitglied der Schützengesellschaft in Kundorf u. s. w., Abonnent im Lesezirkel u. s. w. – Meine Herren, wendete sich der Küster an die Gesellschaft, ich lasse lieber meine noch übrigen Titel aus, weil die Sache und Anrede in der That zu weitläufig ausgefallen ist. Man muß einem vertrauten Freunde, der uns durch dergleichen zu ehren glaubt, schon verzeihen. Ich wende mich nunmehr zur Lectüre selbst.

Werthgeschätzter Gevatter und mein Bruder im Christentum, aufgeklärter Dogmatiker, wie nicht weniger verehrlicher Vorleser im Kreise vertrauter Freunde, Corrector der Neujahrsgedichte, wohlbestallter Censor der Kirchennummern, welche die Gesänge beim Gottesdienste anzeigen, Doublüre des künstlichen Orgelspielers, Tacttreter und dritte Untervioline beim jährlichen Concert –

Der Küster unterbrach sich wieder und sagte: Ich sehe, mein Freund kann es nicht unterlassen, mich zu ehren, und bei dieser Gelegenheit fällt es mir selber erst recht auf, welche wichtige Person ich in unserem Jahrhunderte vorstelle. Also:

Ihr seht, Freund (so las der Küster jetzt), wie ich ohne Vorbereitung gleich zur Sache schreite, von der ich Euch Meldung thun wollte. Man spricht hier auf dem Lande viel von einer alten, aber erneuerten Entdeckung, die Euch Großstädtern fast den Verstand und die Beurtheilung rauben soll. Ich meine jene Geschichten mit dem thierischen Magnetismus, dem Somnambulismus, oder jener Hellseherei, in welcher die Menschen im tiefen Schlafe denken, prophezeien, in die Ferne sehen und dergleichen mehr. Was die Application dieser Entdeckung betrifft, was Magistrat, Ministerium, Goldmacherei, Politik und Wahrsagerkunst, nebst der Religion und allen ähnlichen Behörden aus dieser Entdeckung für Nutzen ziehen werden, das Alles lasse ich dahingestellt seyn und wende mich nur an die Kraft selbst, diesen hellsehenden Schlaf hervorzubringen, der mir und vielen in unserer Gegend etwas Längstbekanntes und ganz Alltägliches scheint, so daß wir uns hier nur verwundern, wie man in Eurer großen Stadt ein so mächtiges Aufheben hat machen können.

Die Gabe und die Kraft, die Menschen in diesen künstlichen und heiligen Schlaf zu versetzen, ist nicht Allen, selbst nicht Vielen mitgetheilt, auch hat sie Ein Auserwählter stärker als ein anderer. Das will ich wohl glauben. Ich habe sie zum Beispiel gar nicht, wüßte auch nicht, was ich mit einem so sonderbaren Talente anfangen sollte. Im Gegentheil muß ich des Morgens früh herumlaufen und mit meiner starken Stimme und nach Gelegenheit mit einem hülfreichen Instrumente die faulen Knechte und Mägde aus ihren Betten wecken. Das fehlte noch, daß ich diese einschläferte, da sie schon ohne Nachhülfe zum Schlaf und Schnarchen incliniren. Wenn das also für mich eine völlig brotlose Kunst wäre, so will ich doch nicht in Abrede seyn, daß sie in andern Verhältnissen ihren großen Nutzen haben könne.

Und das haben wir Alle hier in unserem Kirchspiele auch schon seit vielen Jahren erlebt, denn beiläufig gesagt, es ist kein so kleiner Ort, wo man nicht Etwas erlebt. Also, aus der nächsten Hand haben wir hier etwas Wunderbares erlebt, und nicht etwa seit gestern, sondern schon seit zwanzig, dreißig Jahren, und die ganze Gemeinde zu Ulndorf, so wie das zweite Filial, Almenberg, sind immer Zeuge davon gewesen, so wie jeder Fremde, der sich nur um die Sache hat bekümmern mögen. Verstehen Sie mich jetzt, verehrter Custos. Seit fünfundzwanzig Jahren steht ein Herr Rathmann der hiesigen Gemeinde vor, als Prediger, Seelsorger, Pfarrer, oder wie man ihn nennen will. Nun habe ich schon viele Geistliche gesehen, die es wohl dahin bringen können, daß einige ihrer Zuhörer nach und nach in Schlummer oder Schlaf gerathen, oder mindestens gähnen, zerstreut sind und eben nicht hinhören, welche Ermahnungen und Ermunterungen zur Tugend ihnen vorgesprochen werden. Es war auch vormals in Eurer Residenz ein Seelenhirte, der gewiß in dieser schönen Gabe, die Gemüther zu beruhigen, nicht zu verachten war. Unser Rathmann aber, sehen Sie, Freund, so wie er die Kanzel bestiegen hat und das Vater unser gebetet, so lehnt er sich über das Pult mit seinem wohlmeinenden Gesicht, macht zwei oder drei Striche mit den Händen, die Kunststriche und Strichkunst aller psychischen Aerzte, und sagt etwa nur: Meine andächtigen Zuhörer, – und Alles, Alles schläft, vom Schulzen bis zum Nachtwächter, und zwar einen derben, gesunden Schlaf. Nun kommt der Kanzelvers, die Gemeine singt (Sie wissen ja, daß wir hier nicht, wie Ihr Heiden in der Residenz dort, katholisch, sondern rechtgläubig protestantisch sind), und so wie der Vers oder das Lied geendigt ist, und Alles noch eben aus voller Kehle mit aller Macht geschrieen hat – und Er, seine zwei, drei Striche mit den kraftbegabten Händen machend, meine andächtigen oder christlichen Zuhörer sagend – und schon bei der letzten Sylbe schläft die ganze Gemeine so fest, daß nicht ein Londoner, sondern der ordinärste kleinstädtische Taschendieb sie alle mit der größten Bequemlichkeit ausrauben könnte. Wenn das keine Zaubergaben sind, verehrter Küster, so giebt es keine mehr. Ich traue Euch und Euerm weltberühmten Probst ganz außerordentliche Talente zu, uns Menschen zu langweilen oder zu ennuyiren, aber das solltet Ihr einmal versuchen, und Ihr würdet Euch nur Schand' und Spott zuziehen. Und glaubt Ihr etwa, die Hellsehenden schnarchten nun? Den Schulzen ausgenommen, der es noch vom Chorsingen in der Jugend an sich hat, und es unmöglich lassen kann, kein einziger. Man könnte die Fliege summen hören, in dem sanft einförmigen Wellenschlag der frommen Worte des geistlichen Ermahners. Was also Eures Gleichen oder selbst die besten Magnetiseurs und Manipuleurs nach und nach erreichen müssen, indem sich die prosaische Wachsamkeit des Kranken gegen den einschläfernden Einfluß stemmt und wehrt, und erst mit vielen wunderlichen Strichen bezwungen wird, das richtet unser kleiner Prediger in dieser weiten Entfernung oben auf seiner Kanzel mit zwei, drei Strichen aus, die er herabfallen läßt, und zwar nicht auf ein nervenschwaches, confuses Frauenzimmer, sondern auf Hundertsechsundsechzig derbe, robuste Menschen, die gar nicht wissen, daß sie Nerven haben. Wundert Ihr Euch in Eurer Stadt, so kommt einmal auf unser Dorf heraus, um erst mit viel größerer Ursach in Erstaunen zu gerathen.

So geht nun die Predigt fort und dauert wohl eine Stunde. Keiner hört äußerlich ein Wort, denn sie sitzen alle da, die Männer mit geblümten Westen, die Weibsleute mit ausgewaschenen, aufgesteiften Hauben, alle fest versiegelt, der Welt und dem Irdischen entrückt; aber innerlich vernimmt ihr Geist die geistigen Worte, und das edlere, unsichtbare Wesen des Schulzen, seiner Frau, der Bauern, Cossäthen und Knechte wird gebessert; denn auferbaut, christlich, tugendsam sind sie auf einige Tage. In diesem unerschütterlichen, gesunden, heilsamen Schlafe sind sie befangen, und unser zauberbegabter Seelenhirt sagt am Schlusse seiner Predigt nur »Amen« und macht einen einzigen Gegenstrich – und alle fahren auf, sind so munter wie die Wiesel, und schreien und brüllen den Gesang, mit dem der Gottesdienst beschließt, so fürchterlich, daß die Todten in den Gräbern des Kirchhofes davon erwachen möchten.

Noch mehr. Ich behaupte, die hölzernen Bänke und Kirchenstühle sind von dem geistlichen Zauber unsers Rathmann so imprägnirt, daß auch ohne alle Predigt aus ihnen und dem so oft magnetisirten Mauerwerk der Schlaf unüberwindlich herausquillt. Ich habe wohl bemerkt, daß, wenn einmal junge Candidaten bei Krankheitsfällen oder Reisen den Alten ablösen, die Gemeine Anfangs, vielleicht selbst einige Minuten, mit sich kämpft, sie können den Anfangspunkt ihrer gewöhnlichen Schlafgerechtigkeit nicht gleich finden; aber bald ist Alles in Ordnung und das liebliche Vergessen der Gegenwart behauptet seine Rechte.

Ich ersuche Euch nun, Küster, dem es um Aufklärung wie mir zu thun ist, diese uralte hiesige Erfahrung Euerm Medicinalcollegium oder dem Ministerio der jahrhundertlichen Fortschritte mitzutheilen, damit man nicht länger eine Trivialität, über welche sich seit dreißig Jahren hier im Dorfe kein Mensch mehr wundert, eine neue Entdeckung schelte. Wollen jene Magnetiseure aber einmal was Außerordentliches thun, welches Epoche macht und künftigen Jahrtausenden noch blendend in die Augen leuchtet, so sollen sie Euch und andere Küster einmal in den prophetischen Schlaf zaubern, denn da Ihr immer singen, die Orgel spielen, oder den Blasbalg treten müßt, so seid Ihr gegen alle jene Stricheleien gepanzert, die niemals in Euer Herz oder Gangliensystem dringen können.

Bitte, diesen Aufsatz aber nicht unter den Schriften Eurer Hofakadamie abdrucken zu lassen, damit er der Lesewelt nicht völlig und auf immer entzogen werde.

Kallmus, Amtmann.

Die Heiterkeit der Versammlung war durch diese Vorlesung erhöht, und Edmund mußte sich nur darüber wundern, wie diese Gesellschaft und ihre Unterhaltung aus guten und ganz verwerflichen Elementen so seltsam gemischt sei. Jetzt ließ sich auch der Kesselflicker vernehmen, indem er sagte: Was ich auch in meiner zurückgezogenen Lebensweise von diesem Magnetismus gehört habe, so sehe ich doch ebenfalls nicht, was dabei zu verwundern ist, denn Alles in der Welt geschieht so mit Streichen und Stricheln in verschiedener Manier. Wenn man die großen unbehobelten Kupfersteine sieht, wie sie aus der Erde kommen, wer sollte wohl denken, daß sich aus dem Unfug ein vernünftiger Kessel erziehen ließe? Das kommt nun ins Feuer, und dann wird mit Hämmern so lange an dem Dinge geklopft und überredet, bis es sich fügt und brauchbar wird. Was die Drahtzieherei für eine Bildungs- und Streckanstalt ist, ist bekannt. Das Gold läßt sich durch Klopfen verflachen, wie es kaum mit dem Menschen möglich ist, wo auch, wenn die Bildung gut ist, am Ende zehntausend Seelen mit ihrer Vernunft kein Loth wiegen. Dies Hämmern, was sonst mit Stäben auf dem menschlichen Rücken geschah, um Gelehrsamkeit, Tugend, Gedächtniß, Religion und Soldatenmuth in Kopf und Herz zu bringen, ist neuerdings, als eine barbarische Methode, verworfen worden.

Ihr habt Gedanken, Freund Frimann, sagte der Küster, und darum hättet Ihr höher steigen und Euch nicht am Ausbessern und Flicken der Kessel begnügen sollen.

Das Flicken, rief Jener, ist die wahre Schöpferkraft. Aus einem großen und mächtigen Stück Kupfer oder Messing so ein rundes Ding nach und nach mit Hülfe von Feuer, Hammer und Zange zusammenzukneifen, ist nichts Besonderes, denn die Masse ist da und fügt sich, wenn man sie recht behandelt; aber einem schadhaften, ein- und ausgebeulten, verlöcherten und zerschabten Kesselwesen wieder zu einem Ansehen zu verhelfen, daß es wie neu aussieht, das ist eine Kunst, der nur wenige Menschen gewachsen sind. Und nun vollends die an sich zerbrechliche irdene Waare! Und doch macht hier der gutgeführte Draht das Mährchenhafte möglich. Denn ein gutumsponnener Topf ist besser als ein neuer, und widersteht allen Fügungen des Zufalls mit mehr Kraft. Und so ist eigentlich alles Bessere in der Welt, alles Aufstreben, Bekehrung, Lernen, die Erhebung zum Göttlichen, oder wie es heißen mag, nur Flickerei. Die alten Schaden bleiben und sind unverbesserlich; man sucht nur zu heilen, zu verkleistern, zuzustopfen, und Feuer, Wasser, Alles, was Anstoß erregt, setzt den veredelten und frommgewordenen Töpfen und Tröpfen doch immer von Neuem wieder zu, so daß die flickende Hand mit der wohlthätigen Hülfe niemals ausbleiben darf.

Frimann heißen Sie? fragte Edmund erstaunt.

Ja, junger Herr, erwiederte der Kesselflicker; Frimann, Freimann, wie Sie wollen; Frank ist wohl dasselbe Wort. Seltsam genug, daß die Kirche von unserm Küster ein altes Vermächtniß, eine uralte Stiftung von einem Frimann in Verschluß und Verwahrung hat, welches schon 1510 ist gemacht worden. Daran hängt eine Geschichte und eine vielleicht höchst merkwürdige Entdeckung. Ich habe nachgeforscht und dachte von diesen Frimanns abzustammen und so vielleicht durch die Eröffnung was Besonderes zu gewinnen, aber mein Vater war oben aus Norddeutschland und hieß zu Zeiten Fragmann, oder Fraymann, und er arbeitete, wie ich zu meinem Leidwesen erfuhr, seinen Namen in späteren Jahren um und erzählte mir noch auf seinem Sterbebette, daß er von dieser Familie Frimann nichts wisse.

Wie? rief Edmund bewegt; was ist das für ein Vermächtniß oder Geheimniß? Sie wissen, Herr Baron, daß Frimann mein Name ist, mir kann vielleicht – oder ist alles dies nur wieder, nach den Gesetzen und Freiheiten dieser Gesellschaft, Spaß und Lüge, um den gutmüthigen Fremden zu hänseln und zu beschämen?

Der Präsident erhob sich und sagte: Für die nächsten fünf Minuten ist hiermit das Lügen verboten, und die Wahrheit ist erlaubt und selbst anbefohlen für diesen Zeitraum. Redet, Freund Küster, sprecht kurz und bündig, was Ihr von dieser Sache wißt, die dem jungen Manne wichtig scheint.

In unserer Kirche, sagte der Küster, steht in einem nie besuchten Winkel hinter der Sacristei eine uralte Truhe, die mich immer an jenen berühmten Kasten in der Ratcliff-Kirche in Bristol erinnert hat, die, seiner Aussage nach, dem unglücklichen Chatterton jene alten Gedichte lieferte. Sie besteht aus zwei Abtheilungen. Die zweite ist immer versiegelt und verschlossen geblieben, und soll nach jenem Vermächtniß des ersten Frimann 1810 am dreizehnten December eröffnet werden, dem dann lebenden Abkömmling, wenn er sich als solchen ausweisen kann. In dem ersten Schubfache liegen die Zeugnisse der verschiedenen Frimanns, wer sie waren, was sie erlebten, nebst einem Zeugniß des Propstes, daß Alles Wahrheit sei. So ist es fortgegangen seit diesen dreihundert Jahren. Die meisten Frimanns, wie mir unser achtzigjähriger Probst erzählt hat, waren hier in der Stadt ansässig, der Letzte, von dem man weiß, lebte 1750 in Schwäbisch-Hall. Seitdem hat sich Keiner gemeldet, und der Probst ist Willens, mit dem neuen Jahre, wenn Niemand erscheint, die etwanigen Nachkommen in den öffentlichen Blättern aufzurufen. Vielleicht ist die Familie ausgestorben. Sprechen Sie aber, geehrter Herr Frimann, selber mit unserm Probst, um die Umstände vielleicht noch genauer zu erfahren.

Edmund wurde sehr nachdenkend. Er hatte von seinem Vater gehört, daß seine Vorältern in der Residenz gewohnt hätten, daß sein Großvater ein Bürger in Schwäbisch-Hall gewesen sei. Sein Vater war plötzlich gestorben, und als er selbst noch jung und unmündig war, so daß dieser eine deutliche Nachweisung nicht hatte geben können.

Ich danke Ihnen, sagte er gegen den Küster gewendet, und wenn ich auch nicht die Verwandtschaft unsers gelehrten Kesselflickers annehmen kann, so habe ich von dem zufälligen Besuch dieser gelehrten Gesellschaft doch vielleicht den allergrößten Vortheil.

So geht es immer im Leben, sagte der Graf; vielleicht ist dieser unscheinbare Abend die Ursache, daß Sie mit den größten Familien hier im Lande, wohl gar mit mir selbst in nahe Verwandtschaft treten. Und wäre ich nicht so klug gewesen, schon vor Jahren meine weitläufigen Güter zu verkaufen, so müßte ich besorgen, daß Sie mit gegründeten Ansprüchen hervortreten dürften. Ich werde aber in unsere Chronik eintragen, daß wir heute mit einem verhüllten Souverain in Gesellschaft gewesen sind.

Ihrem Herrn Principal, fing jetzt der verwilderte Wendelbein wieder an, wird aber eine elende Geschichte zubereitet. Sie wissen, meine verehrten Herren, auf welchem vertrauten Fuß ich schon seit lange mit seiner jüngsten Tochter Elisabeth stehe. Das Mädchen nun liebt mich mehr, als jemals Julie ihren St. Preux. Sie ist keine Spröde, keine gezierte Tugendheldin; indem sie liebt, hat sie sich dieser edeln Leidenschaft ganz und ohne Rückhalt ergeben. Wenn ich nicht der vorzügliche Mensch wäre, der ich bin, so könnte ich sie nun sitzen lassen; aber fern sei von mir ein solcher Leichtsinn, ich betrachte sie im Gegentheil schon jetzt als meine rechtmäßige Gemahlin. Uebermorgen in aller Frühe wird sie also von mir entführt. Alle Anstalten sind getroffen, und so wie wir über die Grenze sind, lassen wir uns trauen. Dann muß der Alte uns, er mag wollen oder nicht, sein großes Gut Rosenheim abtreten, und wir leben so glücklich wie Adam und Eva im Paradiese. Schade, daß die Fundamentalgesetze unserer Societät die Weiber ausschließen, sonst würde meine Elisabeth gewiß mit Freuden diesen geselligen Kreis verschönern helfen.

Edmund zitterte vor Wuth. Er sprang so schnell auf, daß einige Weinflaschen umstürzten und zerbrachen. Himmel und Erde! schrie er, sich ganz vergessend: diese Lügen – und er hätte gewiß die leidenschaftlichste Rede und eine zornige Ausforderung seinem vorgeblichen Nebenbuhler entgegen geschleudert, wenn ihn nicht ein unmäßiges lautschallendes Gelächter der ganzen Gesellschaft unterbrochen und so in Erstaunen gesetzt hätte, daß ihm alle Worte auf der Zunge liegen blieben. Verwirrt sah er umher, und als die Lachlust der frohen Gesellen sich endlich gestillt hatte, sagte der Präsident kopfschüttelnd: Ei! ei! junger Mann! Sie sind wahrhaft unverbesserlich. An Ihnen fruchtet keine Ermahnung. Sie haben schon wieder vergessen, daß es uns hier nicht um Wahrheit zu thun ist; der interimistische Bann war ja schon längst aufgehoben, die Freiheit war wiederhergestellt. Wie wollen Sie es denn in der Welt zu etwas bringen, wenn Sie sich immer so vergessen? Als wenn dort weniger gelogen würde! Nur mit mehr Salbung und Anstand geschieht es dort! – Meine Herren, ich trage darauf an, daß dieser Tugendhafte niemals wieder unter uns erscheine. Stimmen wir ab.

Es kam aber nicht zur Entscheidung dieser Frage. Der Baron war eilig abgerufen worden und trat jetzt erschreckt herein, indem er Edmund winkte und ihn bat, ihn zu begleiten, weil er schnell einen Besuch machen müsse. Als sie im Freien waren, sagte der Baron: Der Geheimerath Brockes schickt zu mir, ihn jetzt, schnell, noch in der Nacht zu sprechen. Ich kenne diesen Mann nicht und erinnere mich nicht, auch nur je seinen Namen gehört zu haben. Helfen Sie mir dies Abentheuer bestehen; der Bediente, der mich in meiner Wohnung aufgesucht hat, ist, da sein Auftrag dringend war, mir hieher nachgefolgt.

Edmund begriff ebenfalls nicht, was diese Sendung bedeuten könne, und folgte dem alten Freunde durch die finstern Gassen in gespannter Erwartung. Mitternacht war schon vorüber. Der Regen strich dünn und kalt, von einem schneidenden Frostwinde getrieben, ihnen entgegen. Sie kamen an ein großes dunkles Haus. Eine erleuchtete Treppe und dann ein anmuthig durchwärmtes großes Zimmer empfing sie. Hier saß ein freundlicher alter Mann, welcher sogleich aufstand und sich an den Baron wandte: Vergeben Sie, wenn ich Sie in so später Nacht gestört, vielleicht erschreckt habe. Sie kennen mich nicht; ich bin Vorsteher der Irrenanstalt, mit welcher zugleich das Zuchthaus für Verbrecher verbunden ist. In der Nacht hörten wir unvermuthet die große Glocke des Hauses anziehen, man öffnete, so ungewöhnlich die Stunde auch war, und meldete mir einen jungen Menschen, der mich durchaus sprechen wolle. Er ward zu mir geführt und trug mir zu meinem äußersten Erstaunen mit kaltem Blute die Bitte vor, ich möchte ihn doch in die Strafanstalt des Zuchthauses aufnehmen. Ich glaubte erst, daß er auf falsche Fährte geriethe und vielleicht bei den Gestörten ein Unterkommen suchen müßte. Er blieb aber auf seiner Bitte, und da ich sie ihm von Neuem abschlug, sagte er ganz ruhig: Es ist Nacht, es regnet draußen, mein Weg ist weit und wenn Sie mich auch fortschicken, läßt mich mein Vater doch morgen früh wieder herbringen. Er erzählte mir nun, ohne sonderliche Rührung, wie er Ihre goldene Repetiruhr entwendet und verspielt habe, und wie Sie ihm längst gedroht hätten, ihn unserm Hause zu übergeben. Er nannte mir Ihren Namen, Herr Baron, und ich ließ Sie eiligst aufsuchen, um mit Ihnen selbst wegen dieser traurigen und sonderbaren Begebenheit Rücksprache zu nehmen.

Der Baron sah abwechselnd den Rath und Edmund mit großen Augen an, endlich sagte er: Lassen Sie den Burschen hereinkommen.

Der Sohn erschien: Bösewicht! fuhr der Vater ihn an, also weder Furcht noch Schande kann Dir etwas anhaben? Lauf nach Hause, auch diesmal sei Dir noch vergeben, das heißt, ich will Dich nicht Deines letzten Verbrechens wegen strafen und Dich hier einsperren lassen, aber darauf kannst Du sicher rechnen, daß ich Dich enterben, daß ich Dir keinen Thaler nachlassen werde!

Ohne nur zu grüßen, ging der Ungezogene trotzig fort, der Rath aber erging sich in einer weitläufigen Rede, er bat, er beschwor den Alten, ein ungerathenes Kind, welches vielleicht noch in sich gehen könne, nicht so gar hart zu strafen, wodurch der Arme nachher nur um so mehr durch Mangel aller Versuchung ausgesetzt sei. Der redselige Mann ließ nicht nach, bis der Baron ihm versprach, es sich noch besser zu überlegen, bevor er zur Enterbung schritte. So nahm der Rath vergnügt von dem Vater Abschied, daß seine Redekunst so viel vermocht hätte. Auf der Straße sagte der Baron: das sind doch alles dumme Menschen! Die Enterbung wird sich ganz von selbst machen, denn wo nichts ist, hat selbst der Kaiser, wie vielmehr ein ungezogener Bengel, sein Recht verloren. Die Kunst wäre, ihm etwas zu vermachen. Dazu gehörte Ueberredung.

Edmund ging tiefsinnig und mit quälenden Gefühlen in seine Wohnung. Sohn und Vater, Elisabeth und Oberkammerherr, Ernst und Spaß, das Niedrige und Hohe, Alles verwirrte sich auf widrige Art in seinen wilden Träumen.



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