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Die Liebeswahl

. Es war in einem ziemlich bevölkerten Kirchspiel. Doch lagen die Höfe weit auseinander, denn viele kleine Gehölze und etliche Flußläufe schnitten in das Land ein, sodaß sich um die Wohnstätten noch immer Einsamkeit ausbreitete. Der bessere Teil der Bewohner war sich trotzdem näher gerückt; verschiedne Zeiten haben eben verschiedne Sitten: die Gegenwart lebte geselliger, die ältere Zeit hatte es mehr in zurückgezogner Abgeschlossenheit gethan.

In Westdorf, wie der Ort hieß, lag der Schulzenhof in einer solchen vornehmen Abgeschlossenheit. Zwischen ihm und der Kirche war eine gewisse Ähnlichkeit, die sie einander ebenbürtig machte; denn sie waren von gleichem Alter und teilten sich nach Ansicht des Volks in die höchste Macht: der Schulzenhof, indem er Recht sprach nach dem Gesetz, die Kirche, indem sie Gnade für Recht ergehn ließ.

Zu der Zeit, wo sich die nachfolgende Geschichte zutrug, herrschte der Vogt Jörgen Bork auf dem Schulzenhof als die höchste richterliche Gewalt im Kirchspiel. Er war mehrere Jahre über das sogenannte Mittelalter hinaus, aber er war noch immer ein stattlicher Mann, dem die Leute unwillkürlich drei Schritt vom Leibe blieben. Das geschah jedoch nicht nur infolge seines Äußern, er hatte auf der Grundlage seiner akademischen Bildung ein tüchtiges geistiges Gebäude aufgebaut und stand in der That über den meisten seiner Umgangsgenossen.

Er war seit zweiundzwanzig Jahren Witwer. Man wußte, daß er seine Frau geheiratet hatte, als sie fast noch das reine Kind gewesen war, und daß ihr die Geburt eines Töchterleins das Leben gekostet hatte. Darin war etwas, was einigen Unwillen gegen ihn erregt hatte, weil er zu der Zeit schon ein gereifter Mann gewesen war, aber sein einsames, zurückgezognes Leben hatte diesen Unwillen längst wieder ausgelöscht, und wenn er auch nicht zu denen gehörte, an die sich die Leute in blinder Zuneigung anschlossen, so war er doch jemand, dessen Rechtschaffenheit unbestechlich war, und auf den man sich verlassen konnte.

Mit dieser Tochter, Ahlet mit Namen, hatte Vogt Bork nun seit zweiundzwanzig Jahren gelebt, und sie war fast sein einziger Umgang gewesen. Nicht, daß er sich ihr anvertraut hätte, aber sie hatte ihm geholfen, die Einsamkeit zu ertragen, die Einsamkeit, in der er absichtlich seine Tage verleben wollte. So war sie eigentlich nicht mehr gewesen, als jemand in seiner Nähe – eine stumme Mitwisserin, die, wenn man sie lieb hat, bei Seelenkämpfen oft eine größere Hilfe ist als viele beredte.

Ahlet hatte große Ähnlichkeit mit dem Vater. Wie er hatte auch sie einen Hang zu grüblerischem Schweigen, aber sie hatte doch den Drang der Jugend, Erfahrungen zu machen, und auch das sehnsüchtige Verlangen der Jugend, zu wissen, was das Leben eigentlich bedeute. Und dadurch wurde der Vater, von dem sie glaubte, daß er im Besitz aller Wissenschaft sei, zu etwas ganz anderm für sie. Er wurde das verschlossene Buch, zu dem sie sich unaufhörlich hinstahl, um einen Blick hineinzuwerfen, und dem sie mit ihrem merkwürdigen Instinkt so manchen verborgnen Gedanken ablistete.

Neben dieser altklugen Richtung hatte sie doch auch einen hellen Zug in ihrer Natur, der oft wie ein Sonnenblitz aus einem Regenhimmel hervordrang und ihr ganzes Wesen verwandelte. Dann ging sie weder überlegend noch schwerfällig zu Werk, alles kam und verlief wie in einem Spiel. Allerdings blieb der Ernst überwiegend, aber in diesen Lichtblitzen hatte sie doch ein goldnes Hilfsmittel, das ihr mannigfaltig zu gute kam. Ohne sie wäre ihre starke Natur dürr geworden wie der nadelbestreute Boden des Tannenwalds, während er nun mit seinem frischen grünen Moos bedeckt dastand, aus dem die kleinen glänzenden Sternblumen wie Kinderaugen hervorlugten.

Merkwürdig genug schien dieser Zug zum Heitern den Vater nicht zu erfreuen, ja es hatte sogar den Anschein, als hätte er ihn gern unterdrückt, obgleich man hätte glauben sollen, daß er selbst noch mehr als sie ein wenig Sonnenschein über dem Dasein hätte brauchen können – das hatte jedoch seine Gründe.

Das Licht und das Dunkel, die abwechselnd ihre Seele beherrschten, waren nämlich nicht nur Stimmungswechsel, sondern jedes der beiden war ein Grundton für sich, der sie in zwei Menschen teilte.

Der Vater hatte gehofft, daß dieses Doppelwesen mit der Zeit zusammenwachsen und eine gleichmäßige Grundkraft schaffen würde, aber das geschah nicht, und er war bange. Er wußte aus Erfahrung, daß in beiden Richtungen der Keim zu Unglück liegen konnte – hinter dem Ernst lag Schwermut, hinter der auflodernden Freude Leichtsinn –, welche der beiden Richtungen würde über ihr Leben bestimmen?

Bei dieser Frage, die er sich in der letzten Zeit öfters gestellt hatte, stieg unabwehrbar die Vergangenheit vor ihm auf, nicht in Bruchstücken von da und dort, sondern wie eine Reihe von Bildern in geschlossener Ordnung, wovon das eine auf das andre hinwies.

Da war seine kecke ehrgeizige Jugendzeit – der Jüngling mit dem ernsten Blick in das Leben und mit der stolzen Aussicht vorwärts auf die Wege des Mannesalters, denn er gehörte zu den Auserwählten! Der Staat, der sonst so viele mit leeren Worten hinhielt, hatte ihn früh für die Höhen bestimmt.

Er sah die herrlichen Frauen, die dahin gehörten, vor allem sie mit der scheuen Miene und der vornehmen Art. Es war, als wüßte sie, daß sie allein ihm gleich war, daß sie das Herz von dem reinsten Gold hatte, das sein hochstrebender Geist begehrte. Ach, wie wurde er noch jetzt bis ins Mark von dem Beben durchdrungen, das wie eine Glücksbotschaft schon bei ihrem Anblick allein seinen starken Körper erschüttert hatte. Er hatte begriffen, daß dies das große Angebot des Schicksals war – das, was einem nur einmal im Leben gemacht wird.

Aber gerade als er zugreifen und als der Liebling des Glücks das strahlende Kleinod an seine Brust befestigen wollte, gerade als die Welt bereit war, ihm ihre Huldigung darzubringen, da that er einen Fehltritt. Es war glatt auf den Höhen, und leicht stellte sich der Schwindel ein.

Natürlich bekam er zugleich eine ganze Menge kleinerer Angebote des Glücks, warum sollte er sie nicht mitnehmen? Er war ja der Mann der Zukunft, und er sah mit Vergnügen, daß ihm zu Ehren Festflaggen aufgezogen wurden. Es gab ihm einen Vorschmack der sieghaften Popularität, die nur ein Mann mit unbeflecktem Charakter erreichen kann – der Erwählte des Volks.

Dann kam ein ländliches Fest. – Ach, daß er das alles sehen mußte! – Da kam eine kleine blondgelockte Sirene auf ihn zugetanzt – sie war kaum fünfzehn Jahre alt, eben erst konfirmiert und schon auf dem Wege nach dem Wunderland der Liebe. Sie war zart wie eine Blumenknospe, die im Aufbrechen ist, und doch lag, ohne daß sie selbst es wußte, das Locken des berauschenden Liebeslebens in ihrem Auge, in ihrem Lächeln und in ihrer Gestalt.

Er öffnete die Arme wie zu einem Spiel, und sie flog hinein, doch noch wie ein Schmetterling, der mit den Flügeln schlägt, da ließ er sie wieder los.

Aber der Tag ging zur Rüste, der lange glühende Sommertag.

Da begannen Spiel und Tanz aufs neue – fangen mochte, wer da konnte! Und er fing sie, denn sie wollte gefangen werden. Er hob sie auf wie ein Kind, und als sie lachend in seinen Armen lag, bedeckte er ihr erglühendes Gesicht mit Küssen – aber noch immer war alles nur Spiel.

Später als Nacht und Tag sich schieden, trug er sie auf seinen Armen durch den Wald nach ihrem Heim, als ein sichrer Begleiter. Und als er müde wurde, denn der Festtag war lang und aufregend gewesen, setzten sie sich am Waldrand nieder und lauschten auf all die Vöglein, die einander den weckenden Morgengruß schickten. Und sie war noch weiter das verlockende Kind, jagte ihn von sich, wie man eine Mücke wegjagt – aber die Mücke kam wieder.

Einige Zeit nachher gingen sie weiter – warum trug er sie nun nicht mehr? Nun hätte sie es so besonders nötig gehabt. Warum begegnete er ihren bangen Augen mit einem so finstern Blick? Jetzt war ja die Ausgelassenheit vorbei, und sie bat so innig für sich.

Da leuchtete ihnen das Haus der Eltern entgegen mit der aufgehenden Sonne über dem Dach. Ein kalter Schauder erfaßte ihn, und er blieb plötzlich stehn. Sie schmiegte sich erschrocken an ihn – was war es? – Da beugte er sich nieder und sah ihr forschend in die Augen – der Kindesstern war erloschen.

Wenn Himmel und Erde plötzlich mit Nacht überzogen worden wären, hätte er keinen solchen Schrecken empfinden können. Er ließ sie los und wich zurück. Todesblaß und zitternd stand sie vor ihm. Würde er nicht mit ihr zu Vater und Mutter hineingehn? Sie sagte dies nicht mit Worten, aber ihr Gesicht sprach, und er verstand es. Eine Empfindung davon, was man ewige Schande nennt, durchfuhr ihn: Wie sollte er, der von allen hochgeehrte Mann, Angesicht in Angesicht mit einem Vater und einer Mutter stehn, deren Kind er den Stern des Lebens geraubt hatte – denn das war ja die kindliche Unschuld –; wo der ausgelöscht war, würde bald alles andre verdunkelt stehn – und im Dunkel vollzog sich ja die schnelle Zucht von Sünde und Schande.

Da war es, daß er, gottlob! sich zusammengenommen und sein Gewissen wach gerüttelt hatte, denn es galt ja sofort das richtige zu thun.

Noch einmal betrachtete er das bleiche Gesichtchen mit den erloschnen Kinderaugen, und da schien ihm der Herr selbst entgegenzutreten: dachte er daran, zu lügen und sich darüber hinweg zu täuschen – oder wollte er seine Schuld bezahlen?

Er schaute in das Waldesdunkel hinein – es war ihm, als höre er einen Baum fällen, und als sehe er den hochgewachsenen Stamm stürzen. Dann wandte er sich zu ihr, ergriff ihre Hand und strich ihr zärtlich über die Wange: Geh lieber allein hinein, Kind – später – im Lauf des Tags komme ich wieder, sei ruhig!

Darauf war er weggeeilt – durch den Wald und über die Äcker, bis er sich erschöpft am Fuße eines einsamen Baums niedergeworfen hatte und eingeschlafen war. Der letzte Eindruck, den er gehabt hatte, war ein herrliches Bild der Natur gewesen, die aus dem Tau der Nacht wie aus einem Verjüngungsbad emporstieg und von der strahlenden Morgensonne den Segen des Tages empfing, und da war der Gedanke ihm durch den Sinn gegangen: Könnte auch ein Menschenleben auf diese Weise verjüngt und gesegnet werden? Tief drin in der Seele, ganz tief, dort, wo das Zeitliche und das Ewige im Menschen sich begegnen, hatte er ein Ja gehört. – Dann hatte er einen Seufzer ausgestoßen, und der Schlaf hatte ihn übermannt.

Es war spät am Tag, als er die Augen aufschlug und die jungen Glieder nach der stärkenden Ruhe streckte. Seine Gedanken klärten sich rasch, und der Entschluß machte ihn froh. Eine Stunde später hatte er sich den nichtsahnenden Eltern als Freier vorgestellt. Aber obgleich er sich gut gewappnet hatte, hatte er sich doch gegen die brennende Wunde nicht zu wehren vermocht, die ihm die Ehrenbezeugungen und die Bewundrung dieser Menschen schlugen.

Wie deutlich hatte er sich allezeit ihr Antlitz vorstellen können – die kindliche Braut, die an den Vater angeschmiegt dastand und mit erschrocknen Augen den ernsten Freier ansah. Er begriff, daß sie trotz ihrem Kinderverständnis doch eine Ahnung hatte von der Unfreiwilligkeit, die ihn leitete, und daß sie sich wegen ihrer schämte. Er begriff auch, daß sie verstand, warum er ihr bei dem hastigen Abschied nur die Hand küßte – sie hatte ihm ja keinen Brautkuß mehr zu bieten!

Ach, wie sein Herz bei ihrem Anblick litt!

Gerade einen Monat später war die Trauung. Das, was geschehn mußte, sollte gleich geschehn. Kein Wenn und kein Vielleicht durfte ihn in Versuchung führen, er war ja der Mann dazu, der Eile eine passende Form zu geben.

Dann nahm das Alltagsleben seinen Anfang. Wie deutlich erinnerte er sich an die erste Zeit seines Zusammenlebens mit dem armen thörichten Kinde, das nun unabänderlich seine Gefährtin war. Er sah sich vor der langen offnen Lebensbahn – und war schon müde zum Tod.

Da faßte er den Entschluß, seinen Weg von den Höhen hinab in die Ebene zu verlegen – die Stelle des Vogts in Westdorf war frei, er meldete sich und bekam sie. Damit war die Wendung geschehn. Als das Jahr bald verflossen war, gebar ihm die Gattin ein Töchterlein. Gerade als sie ihr sechzehntes Jahr vollendet hatte, und in der zartesten Zeit des Wachstums mußte sie zu der Geburt des Kindes ihre ganze Lebenskraft dransetzen, und der Tod blieb der einzige Ausweg – vielleicht das Glück, das ihr das Schicksal schuldig war, nachdem es ihr einen Kampf, der über ihre Kraft ging, zu bestehn gegeben hatte.

Da wurde ihm mitten in der Qual eine gute Stunde zu teil. Der Tod ist grauenvoll, wo er die frische Lebenskraft gewaltsam anfällt, aber er hat auch die Macht, alles zu versöhnen.

Als ihr Lebenslicht so schwach brannte, daß alle, sie selbst mit, verstanden, daß es bald erlöschen würde, brachte der Schmerz eine Wiederholung seines kurzen Liebesrauschs. Noch einmal nahm er sie in seine Arme und trug sie wie in einer Wiege vom Sterbebett hinaus in die Frühlingsluft unter die knospenden Bäume. Da bekam ihr verzognes Gesicht plötzlich den alten Kinderausdruck wieder, und sie lächelte ihn an, lächelte wie die Geliebte, die den Kuß erwartet. Und er gab ihn ihr. Er küßte die blassen Lippen, bis der Tod ihr die Augen schloß, und sie dalag wie ein schlafendes Kind.

Glückselige Erinnerung! Gedankt sei Gott, und gedankt sei auch dem Tode! Dem konnte er sich nicht verschließen: sie trugen beide dem Ideal gegenüber eine Schuldenlast, nun hatte sie bezahlt, und er wollte dasselbe thun. Vor den verführerischen Bildern der Welt wollte er die Augen schließen – hier in der Einsamkeit wollte er mit seinem Kinde wohnen und bauen, und bis an seinen Tod wollte er der Bräutigam der toten kindlichen Braut bleiben.

Und dieses Gelübde hatte er gehalten. Durch mannigfache Anfechtungen hatte er sich ein Friedenszelt in der Seele erkämpft, wo er seine Abendruhe genießen konnte. Aber nun kam die Angst um die Tochter und brachte Friedlosigkeit. Was würde ihr Schicksal sein? Welche der beiden Richtungen in ihrer Natur würde bei der Wahl ihres Herzens den Ausschlag geben – wenn sie vor eine solche gestellt würde? Würde sie vielleicht für die Sünde büßen müssen, die die Eltern aneinander gebunden hatte – das Ungleiche in deren Ehe? Hatte die Nemesis vielleicht noch eine Forderung an ihn?

Da wurde die Thür zu seinem Arbeitszimmer rasch geöffnet, und Ahlet trat ein.

Ein Brief an dich, Papa! rief sie lebhaft.

Und als er den Brief nahm und sogleich den Umschlag öffnete, stellte sie sich neben ihn, um hineinzusehen.

Er ist von deinem Vetter Niels Bork, sagte er und gab ihr den Brief. Du kannst selbst lesen, was darin steht – und das Übrige erraten.

Bei der letzten Äußerung verzogen sich seine dünnen Lippen zu einem spöttischen Lächeln.

Er will uns besuchen, sagte sie und legte den Brief weg.

Ja, es scheint so, antwortete er, während er sich ruhig dem Genuß einer frischgestopften Pfeife hingab.

Er ist flott geschrieben, fuhr sie fort.

O ja.

Wie alt ist er?

Ich denke, Niels wird wohl im Anfang der Zwanziger sein.

Also so ein richtiger kleiner Stutzer von einem Leutnant.

Das ist nicht unwahrscheinlich.

Was meintest du damit, daß ich das Übrige erraten könne, Papa?

Der Vogt dampfte sich in eine Rauchwolke hinein und antwortete nicht. Eine Weile nachher setzte er die Unterhaltung fort mit einigen kurzen Bemerkungen über das Gastzimmer, den Wagen und die Anordnungen im Haus, um die er sich in seinem einsamen Stand selbst bekümmerte.

Ich muß auf das »Übrige« zurückkommen, Papa, sagte sie mit einer Bestimmtheit, die er von sich selbst gut kannte, und die sich nicht mit leeren Worten abspeisen ließ. Ist es, daß er um mich freien will?

Ahlet begriff sofort, daß hier auch etwas war, worüber nicht gesprochen werden sollte, aber da sie ahnte, daß sie jedenfalls persönlich an der Sache beteiligt sein werde, war sie entschlossen, sich eine Erklärung zu erzwingen.

Das ist nicht unwahrscheinlich, antwortete der Vogt. Mein Bruder ist immer ein guter Rechenmeister gewesen, und er weiß, daß ich das bin, was man einen wohlhabenden Mann nennt.

Es ist also auf Onkel Frithjofs Befehl, daß Niels sich hier in Westdorf einfindet?

Du könntest es eher eine Aufmunterung nennen. Übrigens hat der Schulzenhof keinen schlechten Ruf. Es sind ab und zu Gäste hier gewesen, und sie haben sich wohl gefühlt. Niels ist eine lustige Haut, er wird sich schon da und dort ein Vergnügen verschaffen.

Zum Beispiel seiner alternden Base den Hof zu machen.

Du meintest wohl gleichaltrigen, verbesserte der Vogt. Übrigens dauert das Hofmachen eines Mannes nur so lange, wie ein Weib will.

Dann glaube ich, daß Niels überhaupt nicht zum Anfangen kommt, fügte sie stolz hinzu und ging ihrer Wege.

Mit einem wehmütigen Lächeln sah ihr der Vater nach. So stolz und sicher war er auch gewesen. Aber es gab eine Macht im Leben, die Verführung hieß, eine Macht, die von dem Allerschwächsten ausgehn und doch das Starke und das Hohe wie eine Binse biegen konnte – eine Kraft unbewußter Schönheit und doch ein Betrug – eine bezaubernde Verschlagenheit, ein Simili mit dem verführerischen Farbenspiel der Echtheit. Mußte sie mit ihrer strengen Natur dennoch unter deren Macht kommen – er wußte ja, wie stark er gewesen war, als sie ihn beugte –, oder mußte sie kraft ihrer mütterlichen Erbschaft selbst die Verführende werden? Es lag Unsicherheit auf beiden Seiten.

*

Dann kam ein schöner, frischer, luftiger, sonnenheller Tag, und an diesem Tage kam Niels Bork an. Vom Schulzenhof war ein Karriol nach der nächsten Poststation geschickt worden, um ihn abzuholen, und der Vogt und Ahlet standen draußen auf dem Hofplatz, um ihn nach Gebühr willkommen zu heißen.

Das war ein erfreulicher Anblick, als der Gast angefahren kam – so recht ein Bild der Jugend. Ein hellgelbes, kräftiges Gebirgspferd mit schwarzem, wehendem Schwanz und flatternder Mähne griff aus, als ob es einen Wettlauf gelte, und der jüngste Knecht des Hofs, blondhaarig und stramm wie eine junge Birke, stand hintenauf und hielt die Zügel, während der Leutnant dasaß wie ein Schmetterling mit erhobnen Flügeln, auf dem Sprung, das schaukelnde Sitzbrett zu verlassen und sich in die Arme des Onkels zu werfen.

Er wagte auch den Sprung, ehe das Pferd stillstand, und während die natürliche Folge gewesen wäre, daß er hintenübergeschlagen wäre, riß er sich durch eine geschmeidige Biegung seines Körpers aus der unvorteilhaften Situation und lag nun auf die Hände gestützt vor Ahlet auf den Knieen.

Ich traf das Ziel! rief er lachend und sah Ahlet mit strahlenden Augen an, indem er die Mütze herunterriß und den Wind sein lockiges Haar zausen ließ.

Jedenfalls hast du Glück gehabt, sagte der Onkel etwas trocken.

Könnte es besser sein, Onkel? Man reist dem Glücke nach, und man hat es bei sich auf dem Wagen!

Frage und Antwort folgten einander nun auf beiden Seiten, und da nur Gutes zu berichten war, so führte es nur zu Fröhlichkeit.

Seit Menschengedenken war kein solches Jugendleben auf dem Schulzenhof gewesen als das, das nun jeden Tag seine Festkränze band und das Alte und das Neue schmückte. Und Niels Bork machte seiner Cousine den Hof, ging all die verlockenden Tonleitern dieser Kunst von oben bis unten durch, und wie es schien, ohne sie zu langweilen. Ja, es schien ihr sogar zu behagen. Jedenfalls strahlte ihre Gestalt in einem Verjüngungsglanze, der ihr gut stand.

Das sei ein schönes Paar, urteilten die Leute. Allerdings hatten sie sich Ahlet nicht mit einem solchen jungen Leichtfuß, der noch voller Knabenstreiche war, verheiratet gedacht, aber schön war er, das konnte nicht geleugnet werden. Außerdem: er war ja ein Leutnant, und was ihm an klingender Münze mangelte, konnte der Vogt zulegen. Damit war also die Sache in Ordnung.

Aber es ist doch ein Unterschied zwischen der Ordnung, die vor dem Hause gekehrt und mit Sand gestreut hat, und der, die hinter den geschlossenen Thüren den Staub aus den Winkeln gefegt hat.

Und da saß der Vogt Bork ab und zu mit viel Kehricht vor sich, den er nicht wegzuschaffen vermochte. Er wollte ja dem Neffen seine Zuneigung nicht versagen. Niels war ein kluger Junge, aber er war leichtsinnig. Er war unleugbar schön, aber ohne eine andre Schönheit als die der Lebenslust, sodaß er, wenn der Ernst einmal kam, umhergehn würde wie jemand, der sich schämt, weil er sich von einem Charlatan hat zum besten haben lassen. Und Ahlet? Wie ihr erklären, daß das Ganze eine Illusion sei? Wie es ihr klar machen, daß sie von einer Verführung fortgerissen werde – einem Abgrund zu. Sie war eben doch ein starker Geist, und sie würde ihren Fehlgriff als eine Erniedrigung empfinden. Ihr edler Stolz, der sie eigentlich erheben und ihr ein reiches Leben sichern sollte, würde dann nur wie ein vornehmes Kleidungsstück von ihr getragen werden, das die Armut zu bedecken hätte.

Aber konnte es etwas nützen, den Verblendeten zu sagen, daß sie falsch sähen? In dem Blendwerk lag ja gerade das Verführende.

Mittlerweile war Niels Borks Ferienzeit abgelaufen. Er mußte die Flügel des herumflatternden Amors ablegen und sich in das schwere Habit der Pflicht kleiden. Nun muß ich dich also verlassen, Ahlet! seufzte er. Wie soll ich das ertragen?

Es klang etwas Gemachtes durch den Ton, das sie betroffen machte, und sie sah ihn prüfend an.

Wirst du an mich denken? fuhr er mit einem neuen Seufzer fort. Aber das Ganze endete doch in einem liebenswürdigen Lachen, das zeigte, daß er seiner Sache zu sicher war, als daß er nötig hätte, zu fragen und zu seufzen: sie würde es schon bleiben lassen, ihn zu vergessen!

Ahlet atmete etwas schwer. Das zielte auf eine Entscheidung hinaus – und sie war ihrer selbst ungewiß.

Aber im nächsten Sommer! jubelte er und wollte sich mit ihr im Kreise drehn. Das hat mir auf alle Fälle dein Vater geantwortet.

Was hast du ihn denn gefragt? unterbrach sie ihn, und sie stieß ihn von sich.

Natürlich, ob ich dich zum ewigen Eigentum bekommen würde, antwortete er strahlend von Selbstvertrauen.

Und wenn ich nun nein antwortete?

Aber das thust du nicht, Ahlet! Als Dame mußt du natürlich stillschweigen, da ja wir Herren es sind, die das Wort führen. Aber Amor ist ein kleines Klatschmaul, das schon Bescheid geben wird.

Aber kann er nicht auch narren?

Narren? Haha! O nein. – Man bebt in der Nähe des andern, als stünde man neben einem Eisberg, und dabei ist das Herz doch so brennend heiß, daß man nahe daran ist, zu verbrennen. Ist das vielleicht Narrerei? Keine Rede. Du und ich, wir sind ganz gleich jung und gleich verliebt, alle beide. Onkel redete etwas von Unbesonnenheit – Philisterschnack! Als ob junge Liebe Krücken brauchte! Nein, denn sie geht nicht, sie fliegt – vom Lächeln zum Kuß und vom Kuß zum Lächeln! – Sie seufzt, und es wird zum Gesang; sie weint, und es wird zum Regenbogen – sie scheut zurück, und sie verbirgt sich in einer Umarmung, sie wird übermütig, und sie kommt gekrochen wie ein Würmchen – Glückseligkeit nach allen Seiten! Und das sollte Narrerei sein? Ist etwas wahrhaftiges Erlebnis, so ist es das!

Ahlet stand von seiner lebhaften Begeisterung ganz überwältigt da – das war ganz gewiß Wahrheit! Und ihr Herz klopfte heftig.

Dein Vater war bange, es könne vorübergehn – wie eine andre Kinderkrankheit. Gut, mag es vorübergehn, aber das, was ich wirklich erlebt habe, kann mir niemand nehmen. Daß ich bei dem Feste der Götter gewesen bin, daran werde ich mich mein ganzes Leben lang erinnern dürfen, auch wenn ich dann die Hand an den gemeinen Pflug legen muß – was? Und er neigte sein glühendes Gesicht ihr zu.

Ich weiß nicht – warte, warte, Niels! sagte sie und legte die Hand über die Augen, als ob ihr schwindle.

Ach, was weißt du nicht, Ahlet? Gieb mir einen Kuß – dann weiß ich es für uns beide.

Auf nächsten Sommer, Niels!

Das sagte auch dein Vater – Unsinn!

Hat der Vater dasselbe gesagt, dann soll es gelten, unterbrach sie ihn und drängte ihn von sich.

In diesem Augenblick kam der Vogt dazu und mischte sich in das Gespräch. Geht hier etwas vor, was ich nicht wissen darf? fragte er lustig.

Hier wird jemand auf den nächsten Sommer vertröstet, lieber Vater, antwortete Ahlet, indem sie ihren Arm in den seinigen legte und ihm mit ihrem leuchtenden Blick in die Augen schaute.

Ich verstehe, antwortete er. So soll es auch sein. Ich will nur als Geschäftsmann die Bemerkung hinzufügen, daß diese Verabredung in keiner Weise als eine Verpflichtung betrachtet werden darf. Ihr sollt euch beide für frei halten. Freiwillig sollt ihr im nächsten Sommer zusammenkommen, oder es sein lassen, wie sichs trifft.

Dein Wort soll gelten, Onkel! Freiwillig wähle ich Ahlet, und freiwillig wählt sie mich. – Wir können nämlich Amors Tyrannei zufolge nicht anders! Was sagst du, Ahlet?

Aber Ahlet sagte nichts, sie nickte ihm lächelnd zu und begleitete dann den Vater auf seinem gewohnten Spaziergang hinüber nach dem Kiefernwald, der die Felder des Schulzenhofs abschloß.

Niels Bork schlug unterdes eine andre Richtung ein. Es wurde ihm verdammt schwer, das altmodische Wesen des Onkels zu verdauen – was sollte diese Überlegenheit? Waren es nicht die Jungen, die die Welt regierten? Wollten sie sich mit lauter solchen Bedenken quälen, so richteten sie nichts aus – in unsrer Zeit muß man, bei Gott, frisch drauf los gehn, wenn was werden soll!

Und mit diesem erleichternden Grundsatz schlug er die Richtung nach einem schönen Wiesengrund ein, wo die Arbeitsleute in muntrer Thätigkeit waren; welche mähten das Gras, andre rechten es zu Haufen zusammen. Unter diesen letzten war eine junge, schöne Magd, die es in der Lustigkeit allen andern zuvorthat. Rot wie eine reife Preißelbeere stand sie da, die Arme voll duftendes Gras, bereit, es dem ersten, der herankäme, über den Kopf zu werfen.

Das war etwas für Niels Bork! Er ging mit dem für die Eroberung der Zukunft notwendigen Elan drauf los und erreichte es auch richtig, der zu werden, der das Gras über sich bekam. Es wurde zu einem wilden Spiel mit Gelächter und Übermut, die weithin Wiederhall gaben, und der flotte Leutnant bewies schnell, daß er in dieser Art ländlichen Sports nicht ohne Übung war.

Inzwischen waren Vater und Tochter schweigend Arm in Arm auf den stillen Waldpfaden dahingewandert. Aber als der Wiederhall der lustigen Possen bis zu ihnen drang, ließ Ahlet den Arm des Vaters los, und während er weiter ging, kehrte sie an den Waldsaum zurück, wo sie freie Aussicht über die Felder hatte.

Es war ein keckes Spiel ausgelassener Jugend, das sich hier entfaltete. Es hatte Farbe und Charakter zugleich, und ein leichter Sinn hätte ihm wohl mit Vergnügen folgen mögen. Aber Ahlet war nicht leicht, wenn sie auch schnell bereit war, froh zu sein. Alles, was ihr widerfuhr, prüfte sie genau von der Wirkung auf die Ursache.

In dieses Mannes Armen also, der mit so viel Leichtigkeit die mutwillige Magd packte und wieder losließ, sollte sie das Glück finden – finden das Paradies des Lebens?

Ahlet zog sich schnell zurück und eilte heim; niemand sollte ahnen, was sie gesehen hatte – es sollte zu näherer Überlegung aufbewahrt werden. Sie zögerte auch nicht lange, sondern machte sich sofort ans Werk. Sie konnte sich nicht verbergen, daß der Anblick sie gekränkt hatte. Der Jubel, der aus jedem Wort hervordrang, die brausende und schäumende Lebenskraft, die sich um keine Formen kümmerte, und die ihr Herz in Aufruhr gesetzt hatte, war also nicht eine gesammelte Kraft, die ihren Ursprung allein in der Liebe zu ihr hatte, es war nur ein gewisses Übermaß von Lebenslust, das zu nichts anderm führte, als zu Gärung und Überschäumen – und mußte nicht notwendigerweise darauf eine Leere folgen?

Sie ließ sich aber nichts anmerken. Doch als das Essen vorüber war, und die Abreise vor sich gehn sollte, gelang es Niels Bork, es geschickt so einzurichten, daß er mit ihr allein war. Rasch machte er einen Versuch, sie in seine Arme zu ziehn, aber das, was vorhin so ausgezeichnet mit der Magd geglückt war, glückte hier nicht. Ahlets leuchtende Augen hatten nicht allein Sonnenstrahlen, sondern auch Gewitterblitze in ihrer Gewalt, und diese bekam er zu spüren.

Ahlet, stammelte er etwas verwirrt. Mein Herz liegt dir doch zu Füßen, bis wir uns wiedersehen.

Da lachte sie überlegen: Ach nein, nimm es nur mit, Niels. Du wirst es drinnen in der Stadt schon brauchen können.

Brauchen können – wieso?

Jawohl. Du kannst doch gewiß nicht herzlos an all dem Schönen vorübergehn, das dir dort begegnen wird.

O – das mit dem Herzen kann auf verschiedne Weise genommen werden.

Du meinst wohl, daß man die eine Hälfte zum Scherz und die andre zum Ernst brauchen könne?

Ja – so ungefähr.

Aber glaubst du nicht, daß das Leben ein ganzes Herz verlangt, und daß, wenn das halbe weggetändelt ist, das Leben auch nur noch einen halben Wert hat?

Niels Bork machte ein verzweifeltes Gesicht. Meinst du, das sei eine Frage, die man einem so unbändig verliebten Menschen stellt, wie ich einer bin?

Aber darauf erhielt er keine Antwort. Die Stunde der Abreise war gekommen, und der Wagen fuhr vor. Als der unbändig Verliebte küßte er wiederholt Ahlet die Hand – umarmte den Onkel wie zu einem Abschied fürs Leben, sprang resolut in den Wagen, und fort führte ihn dieser auf dem staubigen Wege. Wieder und wieder winkte er zurück, bis das Gebirge dazwischen trat, und Niels – sich nach etwas anderm umsah.

So wäre also dieser Champagner getrunken, sagte der Vogt lächelnd. Ich denke, es wird gut schmecken, ein Glas frisches Wasser darauf zu trinken.

Damit ging er seines Wegs, und Ahlet, die in Gedanken versunken war, ging einen andern. Und merkwürdig genug gingen sie von jetzt an und noch längere Zeit nachher jedes seinen eignen Weg, was für beide ein Bruch mit der alten Gewohnheit war. Es richtete jedoch keine Grenze zwischen ihren Herzen auf, sondern das eine stand am Eingang des Lebens, und das andre an dessen Ausgang – das brachte ja verschiedne Gedanken.

Für Ahlet war dieses Zusammentreffen zu einer Sache geworden, die sich klären mußte. Obgleich die Jahre vorbei waren, wo das Leben Knospen ansetzt, und sie schon in der Blütezeit stand, hatte sich ihr Herz bis jetzt doch nur in dem einfachen Takt der Güte und Hingebung bewegt. Aber jetzt war die Gleichmäßigkeit unterbrochen, ihr Sinn war unruhig geworden, und sie hatte nie geahnt, daß Gedanken einem Menschen so viel zu schaffen machen könnten.

Daß Niels Borks – nach seiner eignen Meinung – verführerische Person die Ursache war, die in ihrer starken Natur die Veränderung hervorgebracht hatte und sie in ein andres Dasein hinein versetzt hatte, konnte nicht geleugnet werden. Er war der erste Mann, der ihr auf diese Weise näher getreten war, und seine stürmische Werbung hatte das schlummernde Verlangen nach Liebesleben geweckt.

Aber weiter ging ihre Gemeinschaft auch nicht. Er hatte sie bis zu dem Eingangsthor des neuen Lebens begleitet – hinein in den großen Gemäldesaal der Zukunftsbilder kam er nicht. Natürlich war auch die Gestalt eines Mannes auf den Bildern, aber es geschah niemals, daß er Niels Borks jugendliche Züge getragen hätte. Der war der wichtigen Rolle, die er in ihrem neuen Leben spielte, zum Trotz weiter nichts als ein Strohmann.

Mit diesen Zukunftsbildern bevölkerte sie von nun an ihre Einsamkeit, und sie hatte sich trotz des hochgestimmten Gemütslebens, das sie mit dem Vater geteilt hatte, doch niemals vorher so reich gefühlt.

Groß und wunderbar mußte es ja sein, das Leben der Gatten zu leben, so wie es von der Natur angeordnet war, denn Gott selbst war ja der große Ordner in der Natur. – Das reiche Leben der Ehegatten! Zwei Menschen, die sich unter Tausenden gefunden und gewählt hatten, um eine Verbindung einzugehn, die die größte Verantwortung der menschlichen Gesellschaft Gott gegenüber enthielt – die heiligende Macht der Liebe in Treue und Reinheit.

Das wurde der Grundgedanke in ihrem neuen Leben, die Nahrung, aus der ihre Phantasie ein so starkes Wachstum sog, daß sie alle ihre Tage darauf verwenden mußte und viele Nächte dazu. Natürlich erschien es andern so, als täusche sie alle Erwartungen, zu denen sie früher ihre Mitmenschen veranlaßt hatte, als lebe und atme sie nur für sich selbst – und da keine andre Erklärung dafür gefunden wurde, nannte man es Heiratsgedanken – sie trug sich mit Heiratsgedanken! Damit wurde sie gewissermaßen außerhalb der Regel gestellt – bis auf weiteres!

Inzwischen fuhr Ahlet fort, ihren eignen Weg zu gehn. Zum erstenmal hatte sie eine Offenbarung des Geistes der Natur. Sie suchte sie nun nicht mehr auf, nur um Gesundheit und Kraft aus ihrem frischen Odem zu schöpfen, sie war allmählich die Vertraute ihres Herzens geworden, die alle ihre Gedanken teilte und auf alle Antwort gab. Dadurch wuchs und reifte ihr Geist heraus aus dem Boden der Kindheit, und was sie nun auch immer dachte und träumte, kein unreines, schleichendes Gift kam in ihr Herz – sie träumte wohl auch vom Brautfest, aber in Seele und Geist wob sie ein Festkleid, wie Gott der Herr es verlangte.

*

Auf diese Weise vollendeten die wechselnden Zeiten ihren Kreislauf, und wieder stand der Sommer mit Sonnenschein und hoher Luft über der Aue. Der Frühling war regnerisch gewesen, und als nun die Wärme dazukam, entwickelte sich eine Fruchtbarkeit in der Natur, wie man sie lange nicht gesehen hatte.

Das Laub hing in üppiger Fülle an den Bäumen, und die Zweige senkten sich nieder zu duftenden Wandelgängen – das war ein Gesumme von Bienen und Mücken, ein Gebrüll von Kühen auf den Bergen, ein Gezwitscher von Vögeln außer all den andern Lauten der Natur, und alles das erweckte ein so wunderbares Gefühl von Reichtum, daß es sich ganz von selbst den Menschen mitteilte, und alles Leben war voll Gedeihen und Freudigkeit.

Sogar die Amsel, die Sängerin mit den tiefen Herzenstönen, hatte schon lange ihren Sang nicht so hoch gestimmt, so aus der Tiefe heraufgeholt. Ich liebe dich! erklang es unaufhörlich wie ein sehnsüchtiger Seufzer, der zu einem jubelnden Willkommen aufstieg.

Mitten in all dieser Herrlichkeit wanderte ein Mann vom Walde her auf den Schulzenhof zu. Er hatte ein finstres, fast unheimliches Aussehen, ein hartes, abstoßendes Wesen und sah aus wie ein Zerrbild der Natur.

Da haben wir gewiß unsern neuen Amtmann, sagte der Vogt zu seiner Tochter, als sie in der behaglichen Wohnstube, die auf zwei Seiten sonnenhelle Fenster hatte, beisammen saßen.

Zugleich klopfte es an, und der Vogt rief: Herein!

Der Mann hatte ein ungewandtes Auftreten. Ich habe mich als der neue Amtmann zu melden – und mein Name ist Gram, sagte er; er blieb an der Thür stehn.

Das war kurz und gut! sagte der Vogt lächelnd, indem er ihm die Hand reichte und ihn zum Sitzen einlud.

Wie auf Befehl nahm er auf einem Stuhl Platz und übersah Ahlets Gegenwart vollständig.

Ich habe gestern abend einen Arrestanten aufgegriffen, der aus dem Amtsarrest in Ostdorf ausgebrochen war, berichtete er.

Ach, den Gauner, der Olaus Jonsons Pferden die Schwänze abgeschnitten hat. Das war ja ein guter Anfang! sagte der Vogt.

Das Gesicht des Amtmanns nahm einen ironischen Ausdruck an. Ich fürchte, ich kann mir das Lob des Herrn Vogts nicht aneignen. Ich habe ihn nämlich wieder laufen lassen – gewissermaßen.

Wenn Sie ihn haben laufen lassen, so giebt es wohl nur eine Art und Weise? fragte der Vogt und sah ihn verwundert an.

Doch nicht. – Ich habe mir von ihm das Wort geben lassen, daß er freiwillig in den Arrest zurückkehrt.

Und Sie glauben, daß er es thut?

Ich hoffe es – und übrigens glaube ich es auch. Es ist eine eigne Sache, wenn man sein Wort gegeben hat. Ein Wort, das ein Versprechen giebt, ist ein Ehrenwort.

Ja ja. – Wir können ja auf diese Weise eine neue Kategorie Strafgefangne schaffen: Gauner, die auf »Ehrenwort« frei herumgehn. – Darf ich fragen: Sind Sie Sozialist?

Ich bin es vielleicht – zur Hälfte. Jedenfalls bin ich es aber nicht mehr, als es das Gesetz erlaubt. Der genannte Bursche – denn er ist nicht über zwanzig Jahre – ist übrigens kein so großer Gauner, wie es aussieht. Ich habe ihn lange vorgehabt, und wie ich mit ihm sprach, habe ich einen Blick in seine gute Natur gethan. Sein Vater ist tot, und die Mutter kränklich. Er hat einen kleinen Bruder gehabt, der an einer Halskrankheit schwer danieder lag; da ging er zu Olaus Jonson und bat ihn, ihm ein Pferd zu leihen, daß er den Arzt holen könnte. Darauf bekam er ein Nein. Da ging er denn zu Fuß, aber es waren zwei Meilen – und als er im Lauf des Tags zurückkam, war der Bruder tot. Dafür hat er sich rächen wollen, als er den beiden Pferden die Schwänze abschnitt.

Ja – aber damit hat das Recht nichts zu thun. Das, was er gethan hat, ist ein Verbrechen, ergo bekommt er seine Strafe dafür.

Ganz richtig, antwortete der Amtmann. Das Recht ist eine Idee – aber der Richter ist ein Mitmensch! – Ich weiß es natürlich, daß ich dadurch, daß ich den Burschen los ließ, etwas riskiert habe, aber entweder oder! Wollte ich ihn vor etwas retten, was schlimmer ist, mußte es auf diese Weise geschehn.

Nun, wir werden sehen. Das ist so eine Sache, die nur nach dem Erfolg beurteilt werden kann. Ich werde Sie mit Vergnügen unterstützen, wo ich kann. Was den Amtshof anlangt, so weiß ich ja, daß die Wohnung ziemlich verfallen ist, und daß Sie mit Recht verlangen können, daß sie hergerichtet wird.

Ich danke, Herr Vogt! Aber bemühen Sie sich nicht, das Haus ist gut genug für mich.

Nun nun, mein lieber Amtmann, Sie sind doch noch ein Mann in den besten Jahren.

Der Amtmann sah finster vor sich hin und antwortete nicht.

Jedenfalls haben Sie das Leben noch vor sich, und ich weiß nicht, warum man es sich schlechter machen sollte, als es ist. Das Schicksal sorgt ja in der Regel schon dafür, daß wir nicht verwöhnt werden.

Als der Amtmann auch darauf nicht antwortete, lenkte der Vogt das Gespräch auf die und jene kommunale Frage, und da entstand eine kleine Meinungsverschiedenheit. Der Vogt hielt sich an das Traditionelle, und der Amtmann, der ganz auf dem Boden der Gegenwart stand, griff der natürlichen Entwicklung vor und stellte als einen Mangel hin, was einfach Unreife war.

Der Vogt brauchte das alte Schlagwort: Norwegen sei ein armes Land – da müsse gespart werden.

Der Amtmann verfocht kräftig den Satz, daß die Sparsamkeit bei einem Volke niemals die Wege der Kleinlichkeit gehn dürfe. Von Klein zu Klein komme man nicht weiter als wieder zu Klein – ein größeres Maß verlange größere Umsicht, und man dürfe sicher sein, daß man bei dem Wort »Fortschritt« immer gerade die kleinen Leute auf seiner Seite habe. Im Grunde möchten alle in größere Verhältnisse. Es komme nur darauf an, ihnen den rechten Führer zu geben. Der, der sich mit der Fahne in der Hand den Weg bahne, bekomme immer mutige Leute hinter sich, und wenn es nur wenige wären; aber wer nur krieche, bekomme nie andre zum Gefolge als Kriecher. Für diese bleibe Norwegen ein armes Land – für die andern dagegen sei es in seiner Art ebenso reich wie die andern Länder Europas.

Der Vogt ging im Zimmer auf und ab, als überlege er das Gesagte, und der Amtmann saß die Hand unter dem Kinn da, als dächte er weiter darüber nach. Keiner von beiden gab acht auf die dritte Person, die doch mit lebhaftem Interesse ihren Worten folgte.

Und mit solchen Grundsätzen begraben Sie sich hier in dieser Kleinstadt! rief der Vogt lebhaft. Sie sind ja ein Fortschrittsmann, Herr Gram! Ja, Sie sinds mit Leib und Seele! Warum in aller Welt haben Sie sich hier niedergelassen, wo nichts zu machen ist? Sie gehören ja gerade hinaus auf die Außenwerke!

Der Amtmann sah ihm einen Augenblick fest in das Gesicht, und es schien, als wolle er mit einer Erklärung kommen. Aber ein müder Gedanke bekam schnell Macht über ihn, und mit einem Ausdruck, als wollte er sagen: Was nützt das alles! räusperte er sich und stand auf, um zu gehn.

Es ist ja wahr, sagte der Vogt rasch. Ich muß Sie doch meiner Tochter vorstellen – meine einzige, und zugleich die Herrin des Hauses. Nun – Weiteres ist ja überflüssig.

Der Amtmann wandte sich verwirrt nach der Seite, wohin der Vogt deutete, und sah nun erst die dritte Person im Zimmer. Er brachte aber auch jetzt kein Wort hervor, sondern stand wie von Überraschung gelähmt da.

Ahlet trat mit ausgestreckter Hand auf ihn zu und begrüßte ihn.

Aber es wurde doch nichts andres daraus als ein steifes Kompliment; denn als sie sich Angesicht in Angesicht standen, war es, als ob ihr inneres Wesen sich begegne und sich verstünde.

Plötzlich zog ein Schatten über das Gesicht des Mannes, als sei er bei einem Unrecht ertappt worden. Unwillkürlich schlug er die Augen nieder, und als er sich zwang, wieder aufzusehen, und er in dem klaren Blick ihrer schönen Augen den Ausdruck der Verwundrung sah, wich er zurück, tastete nach seinem Hut und Stock und wurde schließlich soweit wieder Herr seiner selbst, daß er sich verabschiedete, worauf er zur Thür hinauseilte.

Das war, so wahr ich dastehe, der merkwürdigste Auftritt, wovon ich jemals Zeuge gewesen bin! sagte der Vogt lachend. Er stand ja vor dir, als seist du des Königs oder besser gesagt unsers Herrgotts besonders bestallter Detektiv.

Wer – war dieser – Mensch? sagte Ahlet vor sich hin und blieb noch immer auf derselben Stelle stehn.

Am ehesten wohl ein Phantast, sagte der Vogt.

Ach, sah er danach aus, daß er Luftschlösser bauen könnte? Nein. Es war etwas ganz andres an ihm. Er sah eher aus, als habe er sich verbaut.

Du meinst, daß er ein größeres Bauwerk habe aufführen wollen, als wozu sein Material gelangt hätte? fragte der Vogt.

Er kann gut das Material gehabt haben, Vater – aber niemand kann ganz allein bauen – gesetzt, daß er einen schlechten Mitarbeiter gehabt, oder was schlimmer ist, daß er bösen Willen zum Ratgeber gehabt hätte. Denk an das Märchen von dem Kobold, der jede Nacht das wieder einriß, was der Meister bei Tageslicht aufgebaut hatte.

Aber das war, weil er die Grundmauer an der falschen Stelle aufgerichtet hatte.

Er hätte sich natürlich zuerst kniefällig bei den alten Zunftmeistern der Genossenschaft Rat holen sollen, wie und in welcher Art und Weise er hätte bauen sollen.

Der Vogt sah sie etwas erstaunt an. Er hatte sie noch nie Worte des Spotts brauchen hören. – Auch das, sagte er einlenkend. Es kann ja nie etwas schaden, wenn man sich bei der Erfahrung Rat holt.

Aber du nanntest ihn selbst einen Fortschrittsmann. – Solche Leute müssen doch wohl etwas auf eigne Rechnung wagen? sagte sie.

Das räume ich ein. Aber wenn sie zu scharf drauf los gehn – dann giebts Püffe! Und das hat er vielleicht erfahren. Er hatte entschieden etwas Hochmütiges an sich.

Ich meine, daß es nicht gerade auf Hochmut hinweist, daß er, der doch gewiß ein gebildeter Mann ist, sich um die Amtmannsstelle hier beworben hat. – Es war, als fühle sie sich durch die Art des Vaters in ihrem eignen Herzen gekränkt.

O, fuhr er mit großer Ruhe fort. Es giebt manchen stolzen Nacken, der sich in der Not gebeugt hat, und dieser Amtmann sieht mir gerade so aus wie einer von denen, die sich mit der bürgerlichen Gesellschaft überworfen haben und sich haben zurückziehn müssen.

Natürlich! denn Stolz wird ja nicht geduldet. Wir dürfen gern stolz sein auf alles, worauf nichts ankommt, aber darauf stolz sein, was wir in unserm Herzen tragen, nein! Und doch, wie sehr kann ein Mensch in der Stille und in seinem eignen Gemüt für die Sache Gottes streiten!

Fast versteinert hörte der Vogt die Worte der Tochter – woher hatte sie diese Gedanken? Hatte sich da ohne sein Wissen und Wollen und aus sich selbst eine geistige Kraft in seiner Nähe entwickelt, vollständig fertig, auf dem Boden des Menschenrechts einen Kampf mit der Gesellschaft zu beginnen?

Lange saßen sie still da, allzusehr überwältigt, als daß sie das Gespräch auf so schwierigen Bahnen hätten weiterführen können. Es ist ja nicht so schwer, sich auf eine Höhe zu schwingen, als sich einen Weg hinauf zu bahnen.

*

Endlich kam die Anmeldung von Leutnant Borks wiederholtem Freierbesuch. Das Haus wurde deswegen zwar nicht von oberst zu unterst gekehrt, aber es verursachte doch Unruhe. Es waren auch nicht die dabei Beteiligten allein, deren Gedanken aus diesem Anlaß in Spannung gesetzt wurden, sondern es gab Bekannte fern und nah, die erwartungsvoll der Verlobung entgegensahen. Ahlet stand in hoher Achtung bei den Leuten, und obgleich die allermeisten gedacht hatten, sie werde bei ihrer Verheiratung höher hinaufkommen, waren doch ziemlich alle einig darüber, daß ein verliebtes Paar immer Leute ersten Rangs seien! Und da sich durch die Verlobung Aussicht auf eine Reihe fröhlicher Feste eröffnete, wurden keine Einwände von Bedeutung gemacht.

Als dann Niels Bork schließlich dieselbe lebhafte Persönlichkeit präsentierte wie im vergangnen Jahre – sich wiegend wie eine sonnenbestrahlte Salweide im Winde –, erweckte er förmliche Begeisterung. Und das verstand er, denn er schwamm in dem Festtaumel mit einer bewundernswerten Leichtigkeit, ja man konnte fast sagen Unschuld. Er hatte von Natur die Fähigkeit, die Leute für sich einzunehmen, und die nützte er aus – war er nicht in seinem guten Recht dazu?

Für Ahlets kühles Benehmen, das mehr von der Nachsicht einer Schwester als von der Befangenheit einer Braut hatte, war er ganz blind. Er machte ihr unbeirrt auf seine stürmische Art den Hof, und daß sie im Grunde nicht darauf einging, bemerkte er gar nicht. Er sagte ihr die schönsten Worte, die in der Sprache der Liebe zu finden waren, sodaß sie bald darüber lachte, bald den Kopf darüber schüttelte. Das war nun ihre Art! Er war ihrer eben so sicher wie seiner selbst, das stand ja felsenfest.

Außerdem, er hatte so vieles andre, das besorgt werden mußte. Er mußte sich bei dem Onkel lieb Kind machen – der Vater hatte ja zu ihm gesagt: Zuerst und vor allem mußt du dafür sorgen, daß du dich mit Onkel Jörgen gut stellst. – Ja, dafür wollte Niels schon sorgen! Er hatte darauf angespielt, daß er ein schönes Reitpferd haben möchte, weil er Hoffnung habe, in die Artillerie versetzt zu werden – o nein, er würde schon nichts versäumen! Aber außerdem mußte eine Menge Verbindlichkeiten nach allen Seiten ausgeteilt werden. Hier ein Kniff in die Wange eines schönen Bauernmädchens, dort ein Händedruck einem flinken Burschen – überall mußte aufgepaßt werden, daß das Feuer nicht ausging! Man wurde nicht so ganz von selbst der Liebling aller.

Darauf gab nun der Vogt genau acht, obgleich es gar nicht so aussah, und mehr und mehr ängstigte er sich um Ahlet, denn es schien ja, als wäre sie es zufrieden. Wie konnte sie mit ihrem hochstrebenden Geist auf dergleichen eingehn, war es vielleicht darum, weil sie gar nichts merkte? Aber wenn sie ihm angehören wollte, so mußte sie auch mit ihm übereinstimmen, und das war sicher, machte die Verliebtheit sie auch jetzt blind, die Ernüchterung müßte doch auf dem Fuße folgen.

Aber er ließ sie gewähren. Das Feuer anzurühren, sei es nun, um es auszulöschen oder es anzufachen, das hatte schon oft genug Unheil angerichtet – den jungen Leuten sollte nach beiden Seiten hin die Wahl frei bleiben.

Aber die Tage vergingen und wurden zu Wochen, und die Erwartung, die in der Luft lag, wurde allmählich zur Verwundrung, die Zweifel zeugte. War denn das Ganze nur ein Narrenspiel gewesen? Das schien doch wenig zu den Leuten auf dem Schulzenhof zu passen.

Endlich faßte der Vogt den Entschluß, dem Neffen zu Ehren ein Fest zu geben, und das half der gesunknen Stimmung blitzschnell wieder auf die Beine. Eine Gesellschaft unter diesen Umständen konnte nur eine Bedeutung haben.

Ich kann es ja nicht umgehn, die Leute einzuladen, wenn mein Neffe hier zu Besuch ist, sagte er zu der Tochter. Obgleich ich es ungern thue.

Sie sah ihn fragend an.

Ja, die Sache ist doch die, daß alle unsre Bekannten – und übrigens Niels dazu – glauben werden, daß es eine Verlobungsfeier sein soll.

Ja – das ist wahr, flüsterte sie ängstlich.

Ja – aber sag mir, da wir nun einmal an diesem Punkt angekommen sind: habt ihr jungen Leute euch denn noch nicht mit Gott und mit euern eignen Herzen beraten?

Ahlet saß einen Augenblick mit geschlossenen Augen da, ohne zu antworten. Dann schlug sie sie plötzlich voll auf und sah ihn mit ihrem forschenden Blick an. Ach, Vater! Wenn du mich verstehn könntest.

Versuche es, Kind, bat er. Niemand kann wissen, welches Verständnis da ist, ehe es auf die Probe gestellt wird. Daß ich dich verstehn möchte, daran kannst du doch nicht zweifeln.

Ahlet schwieg wieder eine Weile; es war, als sammelte sie sich. Hör, Vater, begann sie dann; ich glaubte, meine Liebe sollte imstande sein, mein ganzes Leben auszufüllen. All mein Thun und Denken müßte in ihr aufgehn, sodaß ich erst durch sie zu einem ganzen Menschen würde. – Ach, wie habe ich mich nach der Liebe gesehnt – dem großen Licht, das die ganze Welt erhellt! – Den ganzen langen Winter habe ich nur daran gedacht. Rastlos habe ich daran gearbeitet, im Geist und in der Wahrheit zu wachsen, um ihr Raum zu schaffen –

Und was hast du da über Niels gedacht? fragte der Vogt zögernd.

Sie seufzte tief auf. Über Niels – ja, Vater – ich bin in ihn verliebt gewesen, aber, ich bin es nicht mehr. Wäre es im vorigen Jahre zu einer Entscheidung gekommen, hätte ich mich gewiß mit ihm verlobt – jetzt kann ich es nicht mehr. Ich habe nun Zeit gehabt, die Größe meiner Ansprüche zu messen, und das Maß paßt nicht auf ihn.

Nun erkenne ich dich wieder! rief er erleichtert. Aber Niels, was fangen wir mit ihm an? Er ist doch ganz gewiß sehr verliebt in dich.

Ach, nur gewissermaßen, Vater. Er plappert eine Menge leidenschaftlicher Worte ohne Leidenschaft her – er sieht mich verliebt an, ohne Liebe in seinem Herzen. Hätte ich mich mit ihm verlobt, so wäre seine größte Freude die gewesen, daß wir uns gut zusammen ausgenommen hätten. Nein – er liebt nur sich selbst, und deshalb sollen auch alle andern in ihn verliebt sein – ich natürlich mit! Ich soll nur an der Spitze des Schwarms von Bewundrern gehn, die er nicht entbehren kann.

Seine Ansprüche sind nicht groß, unterbrach sie der Vogt.

Das ist gerade das Unglück. Erinnerst du dich daran, lieber Vater, was der neue Amtmann neulich sagte? Mit kleinen Ansprüchen geht man von Klein zu Klein, und das endigt in Ärmlichkeit – mit großen Ansprüchen kommt man vorwärts, und Fortschritt soll doch sein.

Ja, bei einem Volk, das gebe ich zu – aber in der Ehe?

Ach, Vater! gerade da sollen die Ansprüche groß sein. Laß nur den Mann große Ansprüche an seine Frau und Gattin stellen, dann wächst sie hinaus über die Geringschätzung und wird fähig, Großes um sich zu schaffen. Nichts macht die Frau so stolz und frei als die Liebe eines Mannes, die in dem Wesen des Weibes für Zeit und Ewigkeit festen Grund gefunden hat. Da kann das Schicksal sie wohl schlagen, aber das, was die Welt heißt, wird sie trotz aller Fangarme nicht erreichen. Aber das ganze Volk besteht doch aus Familien, also gilt für die einzelne Ehe dasselbe wie für das Volk.

Ja ja, mein Kind, du hast Recht. Ich merke überhaupt, daß ich ein alter Philister bin – die Zeit hat mich überflügelt, darüber werde ich von meiner eignen Tochter belehrt.

Ach lieber Vater! Wo große Fragen beantwortet werden sollen, hast du gewiß noch nie geschwankt.

Vielleicht hast du Recht. Aber im Augenblick bist du es, die die Hauptsache entschieden hat, für mich sind nur noch ein paar Sachen übrig, die man eigentlich Nebensachen nennen könnte, aber es hält doch schwer, sie abzumachen – es geht nicht so im Handumdrehen mit ja und nein – aber du verstehst mich – anständig soll es sein.

Lieber Vater, wir wollen unser bestes thun.

Ganz gewiß, wir müssen ja unser bestes thun. Übrigens habe ich eine Idee –

Wegen Niels?

Ja, mein Kind. Bei ihm ist es die Hauptsache, daß wir der Geschichte die beste Seite abgewinnen. Was andre urteilen und untereinander schwatzen, ist mir einerlei; aber er ist der Sohn meines Bruders. Ganz sicher hat sein guter Vater bei dieser Freierei nicht so ganz wenig an meine bekannten guten Verhältnisse gedacht – aber er ist nun einmal mein einziger Bruder, und sein Sohn muß honett behandelt werden. Ich bin übrigens sicher, daß du Recht hast, wenn du denkst, daß seine »unbändige« Verliebtheit nicht so sehr tief sitzt, und daß seine Selbstgefälligkeit viel zu groß ist, als daß er in seinen Gefühlen für jemand anders aufgehn könnte. Und da die Art Selbstgefälligkeit sehr an Eitelkeit zu leiden pflegt, müssen wir sehen, daß wir ein Mittel dagegen finden. – Aber für dich, Ahlet, mein einziges Kind! Wo wird sich Rat für dich finden? Du sehnst dich nach Liebe – nach der Liebe, die ein ganzes Leben auszufüllen vermag – die fällt ja nicht vom Himmel und schießt nicht aus der Erde auf, da gehört ein Mensch dazu, der sie bieten kann – ein Mann – ja, mein Kind, ein Mann, das ist das Wort ohne Umschweife – aber wo finden wir ihn? Der läuft wahrlich nicht unter den Dutzendmenschen herum – ich sehe ihn auf alle Fälle nicht, und wenn ich auch zwei Brillen aufsetzte.

Gott segne dich, Vater! unterbrach sie ihn halb weinend, halb lachend. Sei du nur ganz ruhig. Wenn ihn jemand finden soll, glaube ich, daß ich es selbst thun muß. – Und wenn ich ihn nicht finde, will ich doch dem Traum meines Herzens treu bleiben. – Und nun, Vater, sprechen wir nie wieder davon.

Das sei dir heilig gelobt, mein Kind!

*

Einstweilen ging Ahlet auch ferner unangefochten ihren eignen Weg. Sie setzte ihre träumerischen Wanderungen im Walde fort, bald mit dem Vater und bald allein, so wie sie es gewohnt war, und hier war der einzige Punkt, wo sie den Vetter bestimmt abwies. Auf offnem Weg und Steg, wo die Tageshelle auf manche Weise wirkte, durfte er sich seiner jugendlichen Huldigung, die ihm selbst so offenbar Vergnügen machte, frei hingeben, aber auf den einsamen halbdunkeln Waldpfaden wies sie ihn von sich – einfach als einen Friedensstörer, und er war trotz allem so kindlichen Sinnes, daß er sich pünktlich danach richtete. Sein Respekt vor Base Ahlet war im Grunde viel aufrichtiger als seine Verliebtheit.

In den ersten Tagen nach seinem Besuch auf dem Schulzenhof kreuzte der Amtmann ein paar mal Ahlets Weg, und wenn der Vater dabei war, kam es meistens zu einem kleinen Wortwechsel, einer Frage und einer Antwort im Vorbeigehn. Aber wenn sie allein ging, bekamen die Begegnungen einen ganz andern Charakter; obgleich er wie von Schrecken gejagt an ihr vorübereilte, heftete er doch einen heißen und flehenden Blick auf sie, der mehr sprach als viele Worte.

Ahlet erbebte vor Gemütsbewegung – was meinte er damit? Drückte ihn ein Unglück, das einem andern Menschen zu offenbaren ihm Bedürfnis war, und war es vielleicht etwas, das er dem Vogt nicht gerade heraus zu sagen wagte, das er aber durch sie ihm gern mitgeteilt hätte? Warum sprach er dann aber nicht? Sie zeigte ihm ja durch ihr ganzes Benehmen, daß sie Teilnahme für ihn hege. – Hoffte er vielleicht darauf, daß sie zuerst das Wort ergreifen würde? Ja, warum nicht? Sicherlich konnte für eine Frau das erste Wort eben so berechtigt sein wie für einen Mann. – Sie wollte es wagen. Dieses Menschen Blick wurde immer flehender – es war fast wie Hungersqual, die um Brot bat.

Aber als sie bei diesem Schlusse ankam, hatte auf einmal all ihr unbestimmtes Sehnen ein Ziel – einen Gegenstand gefunden, und während sie sich mit ihrem hochsinnigen Vorsatz vorbereitete, den Hunger eines andern zu lindern, stillte sie in Wirklichkeit ihren eignen.

Sie haben doch Blumen gern, Herr Amtmann? sagte sie schnell zu ihm, und obgleich sie bis ins Innerste erbebte, klang es doch so leicht wie Vogelzwitschern.

Er wich zur Seite und sah sie erschrocken an. – Ich weiß nicht, Fräulein – ich glaube schon.

Seine Verwirrung machte sie ein wenig mutiger, und indem sie im Sprechen weiterging, zwang sie ihn, mitzukommen. Es gehört ja ein gutes Gartenstück zum Schulzenhof, fuhr sie fort. Der verstorbne Amtmann ließ freilich das Unkraut darauf wuchern, aber das könnte ja ausgereutet werden.

Das glaube ich gern, antwortete er, aber ich bin eben kein rechter Gärtner. Da gehört Glauben und Liebe dazu – ich passe am besten in eine Wildnis.

Wollen Sie damit sagen, daß Sie keinen Glauben und keine Liebe hätten?

Das ist wohl so.

Ohne Schönheitssinn – und ohne Schaffenslust?

Leider!

Und da haben Sie sich mit Ihrer Sehnsucht nach Wildnis diesen einsamen Ort gewählt?

Ich hatte keine andre Wahl, gnädiges Fräulein. Die Stelle wurde mir angeboten – wollte ich, so konnte ich sie haben – wollte ich nicht, nun, so konnte ich es bleiben lassen.

Mit andern Worten – Sie bekamen das Gnadenbrot?

Ja.

Das hätte ich an Ihrer Stelle nicht angenommen.

Sind Sie dessen sicher, mein Fräulein?

Ja, dessen bin ich vollkommen sicher, antwortete sie und sah ihm stolz und fest in die Augen.

Es flog ein schmerzlicher Zug über sein Gesicht, und er senkte die Augenlider. Dann grüßte er ehrerbietig und ging. Sie sah ihm einen Augenblick nach. Es war ja, als strauchle er bei jedem Schritt über eine Unebenheit des Wegs, und doch eilte er wie ein Flüchtling davon.

Sie wollte ihn zurückrufen, aber sie vermochte es nicht. Verstand er denn nicht, daß sie ihm von ganzem Herzen ihre Teilnahme entgegengetragen hatte – und nun hatte es damit geendet, daß sie ihn gekränkt hatte? Anstatt ihm Balsam auf die Wunde zu träufeln, hatte sie sie aufgerissen. Was wußte sie eigentlich davon, wie weit ein Mensch unter Zwang handeln konnte? Wie konnte sie ein verständnisvoller Tröster sein, sie, die selbst nicht gelitten hatte?

Unter diesem schmerzlichen Selbstverhör war sie zu Hause auf dem Schulzenhof angekommen. Hier traf sie Niels Bork im vergnügtesten Spiel mit dem Hofhund, den er aufsitzen und das Gewehr präsentieren lehrte.

Ach, du Göttliche, endlich kommst du! rief er ihr entgegen. Immer, wenn ich gern mit dir sprechen möchte, bist du fort. Und nun haben wir nur noch so kurze Zeit, daß wir bei einander sein können!

Glaubst du nicht, Vetter, daß du mir ungefähr alles gesagt hast, was du zu sagen hast? fragte sie, indem sie weiter ging.

Weit entfernt davon! rief er und sprang ihr nach. Aber warte nur, ich werde dich schon dazu bringen, mich anzuhören!

Und aufzuwarten und dir das Gewehr zu präsentieren – mein ganzes Leben lang – da irrst du dich, Niels, ich bin lange nicht so gelehrig wie Paßauf.

Die Liebe ist immer gelehrig, Ahlet.

Ja, sie ist freilich gelehrig, mehr als alles andre hier auf Erden – aber von dir lerne ich doch niemals, Niels. Und damit trat sie in den Söllergang.

Niels sah ihr etwas unsicher nach, denn sie hatte die Thür hinter sich zugemacht, dann richtete er sich keck auf, pfiff in die Luft hinein, nahm dem aufwartenden Paßauf seinen Stock weg, gab ihm einen kleinen Klaps zur Ablösung – und marschierte siegesgewiß auf das Dorf zu. So waren alle Frauenzimmer! Es sollte scheinen, als seien sie uneinnehmbare Festungen, und doch wollten sie nichts lieber als kapitulieren – nur drauf losgehn! – Aber sie sollte ihn zu Pferd sehen! Den Teufel auch, daß er den Onkel nicht so mürbe machen konnte, daß er den Geldsack aufmachte! Ihm mußte er wohl ein wenig stärker einheizen und es mit ihr dafür etwas kühler nehmen. Sie war zu sicher geworden, und daß das abschwächend wirkte, wußte er aus Erfahrung.

Während nun Niels Bork auf diese Weise mit der leichtfertigen Taktik der Verliebtheit sein Ziel auf Umwegen zu erreichen suchte, wurde Ahlet durch den geheimnisvollen Zug der Teilnahme geradeswegs an die Pforte des reichen Landes der Liebe geführt.

Da sie sich in der Stille der Nacht unverhohlen der Betrachtung ihrer kurzen Begegnung mit dem rätselhaften Manne hingeben konnte, und sie sich nochmals zurückrief, was sie gesagt hatte, und was sie hatte sagen wollen, empfand sie ihr Unrecht so tief, daß ihr ganzes Gefühl sie zu einer Abbitte drängte, die sie ihm schuldig zu sein glaubte. Und in dem warmen Strahl dieses Gefühls bekam auch sein finstres Gesicht einen andern Ausdruck und seine Gestalt ein edleres Gepräge. Immer mehr wurde sie von dem Geiste gefangen genommen, der aus seinen strengen Zügen leuchtete, von der Innigkeit seiner Stimme, ja sogar von der hochmütigen Kälte, mit der er sie von sich gewiesen hatte, denn das war ja eigentlich der Charakterstolz, mit dem sich jeder Mann und jedes Weib die drei Schritt vom Leibe zu halten berechtigt war, die ohne Hilfe zu bringen sich in ihren persönlichen Kampf mit der Gesellschaft mengen.

Aber sie wollte ja Hilfe bringen!

Da stieg eine leise tönende Stimme in ihrer Seele auf und sagte: Die Hilfe des Weibes ist die Liebe.

Sie erbebte – Liebe? Ja – sie könnte ihn lieben! Und plötzlich stand der ganze Liebesstoff, den sie in ihrem langen Wintertraum gesammelt hatte, in hellen Flammen. Mit ihm könnte sie ein Seelenleben leben, mit seiner Liebe könnte sie wachsen, vor Gott und vor den Menschen.

Und immer sicherer und entzückter folgte sie den Träumen, die in der Stille der Sommernacht und in dem dämmernden Licht einen Weg fanden für alle ihre Wünsche – bis der Schlaf sie endlich in das reiche Land des Glücks hinübertrug.

Als sie erwachte und sich in der Tageshelle umschaute, war die Phantasie verstummt, und die Vernunft hatte das Wort ergriffen: Was war das für ein Wahnsinn, dem sie sich hingegeben hatte? War sie denn so sicher, daß sie recht gesehen habe, wenn sie meinte, daß sein Benehmen eine wachsende Leidenschaft verraten habe? Vielleicht war der Mann verheiratet und hatte anderswo Frau und Kinder? Konnte es nicht auch sein, daß er unglücklich verheiratet war, und daß seine Schwermut gerade darin ihren Grund hatte?

So wanderten ihre Gedanken die kreuz und quer – von dem, was sie wußte, zu dem, was sie ahnte und fürchtete, aber schließlich wurde sie in ihrem Herzen doch darüber mit sich einig, daß sie sich vor ihm rechtfertigen mußte. Wer er auch war, und welcher Art seine Verhältnisse auch sein mochten, das stand fest: er war in Unfrieden mit sich selbst, und solchen Leuten gegenüber mußte man behutsam sein – denn es waren schwer Leidende.

Sie war sich darum, als sie im Lauf des Tages ihren gewohnten Waldspaziergang machte, vollständig klar darüber, was sie zu ihm sagen wollte, ja sie war sogar so froh und freudig, daß sie, wenn er sich scheuen sollte, mit ihr zusammenzutreffen, selbst eine Begegnung mit ihm herbeizuführen entschlossen war, und wenn sie geradeswegs auf den Amtmannshof gehn und ihn um eine Unterredung bitten müßte.

Dieses ganze Einüben in Recht und Vernunft hätte sie sich aber ersparen können.

Wenn es ihr in der vergangnen Nacht mit Hilfe der Phantasie gelungen war, in den Armen des Glücks einzuschlafen, so hatte sich der Amtmann ohne deren Hilfe mühselig nach der entgegengesetzten äußersten Grenze durchgearbeitet.

Wie auf einem Wege voll zerbrochner Scherben war er in seinen Gedanken umhergeirrt. Bei den stummen Begegnungen mit Ahlet war etwas in ihm erwacht, das bis jetzt noch nicht lebendig in ihm gewesen war – das war die Achtung vor dem Weibe. Er erschrak fast darüber, denn er hatte das Gefühl, als lockerte sich etwas in seinem Wesen. Das konnte also ihm begegnen, ihm, dem Libertin, für den man ihn aus der Entfernung gehalten hatte, daß er bei einer einsamen Begegnung mit einem begehrenswerten Weibe das Gefühl der Scham gehabt hatte, und daß er einen Drang in sich fühlte, sich mit männlicher Kraft zu erheben und seine Fähigkeiten geltend zu machen?

War es denn möglich, daß all das Unkraut, das er gesammelt und in seiner Seele hatte wuchern lassen, daß dieses mit der Wurzel ausgerissen werden konnte, und daß sein Leben Wachstum hervorbringen konnte?

Aber lag nun nicht alles, das Böse und das Gute, nach dieser Begegnung mit ihr in der alten Verwirrung durcheinandergeworfen da? Sie war ihm offenbar mit einer guten Gabe entgegengetreten, und er hatte sie ihr mit seinen bittern Antworten sozusagen aus der Hand geschlagen. Es war in der vergangnen Zeit so vieles für ihn in Stücke gegangen, mußte nun auch diese Freude wie ein Scherben zu Boden fallen?

Es war deshalb auch nicht, um mit ihr zusammenzutreffen, daß er am nächsten Tage wieder den bekannten Weg im Walde ging; denn er hatte keine Hoffnung, er ging ihn nur, weil er es anderswo nicht aushalten konnte. – Und da kam sie ja, dort drüben zwischen den dunkeln Tannen, daher gegangen, wunderbar licht – ein echtes Weib! Und er erriet, daß sie kam, um mit ihm zusammenzutreffen. – War er denn eines solchen Vertrauens würdig? Ach, welche Heilkraft strömte ihm von diesem Anblick entgegen! Nichts auf der Welt war doch imstande, dem zerrissenen Herz solche Lindrung zu bringen, als das Vertrauen.

Fräulein Bork! rief er und eilte ihr mit ausgestreckter Hand entgegen. Und als sie mit ruhiger Besonnenheit ihre Hand in die seinige legte und ihm hell in die lichtscheuen Augen schaute, da mußte er, und wenn es sein Leben gekostet hätte, doch ihre feine Hand küssen und sie an seine glühende Stirn drücken.

Verzeihen Sie, bat sie und wollte einen Schritt zurücktreten.

Ach, lassen Sie mich Ihre Hand behalten! bat er. Ich bin in dieser Stunde wie jemand, der wieder gehn lernen soll – lassen Sie mich Ihre Hand behalten. Was war es, das ich gesagt habe – daß ich mich am wohlsten in einer Wildnis fühle; glauben Sie es nicht, Fräulein! Ich habe noch immer meinen Schönheitssinn, und ich kann noch immer zittern, wie ich es in diesem Augenblick thue, wenn ich vor weiblicher Hoheit stehe.

Aber denken Sie daran, unterbrach sie ihn halb erschrocken halb erfreut, Sie behaupteten, daß Sie weder Glauben noch Liebe hätten – wie sie ein guter Gärtner haben müßte.

Das that ich, und ich meinte es auch – es war aus alten Erfahrungen heraus geredet. Aber das Herz ist ein betrügerisches Ding, Fräulein. Es kann uns jahrelang glauben machen, daß wir mit dem Leben fertig seien – es kann den Anschein haben, als sei dieses ein leeres und zersprungnes Gefäß, und doch kann es in einem einzigen Atemzug bis zum Überlaufen reich werden.

Sie sah ihn an – hatte er noch immer den lichtscheuen Ausdruck in den Augen? Nein! – Es war das Leuchten einer Feuerseele, das ihr entgegenflammte, und da war sie es, die die Augen senkte. Und bei dieser Vertauschung der Rollen trat die leise Frage der Vernunft aufs neue vor sie: Wer war er? Wie hieß die Klippe, an der sein Lebensschifflein gescheitert war?

Fühlte auch er vielleicht in diesem Augenblick den kühlen Hauch der Vernunft, die gegen ihn sprach? Mit einem Seufzer ließ er ihre Hand los, und das Licht in seinen Augen erlosch. Es war, als verliere er Leben und Hoffnung auf einmal.

Sie verstand es und sah ihn lächelnd an. Sie sind also doch ein guter Gärtner?

Ja! Ich werde es sein, wenn Sie sich auf mich verlassen können und wollen, Fräulein!

Das kann und will ich, antwortete sie und schaute ihm mit ihrem klaren Blick voll ins Gesicht.

Hierauf gaben sie sich die Hand und trennten sich. Aber so getröstet er auch von ihr ging, die friedlosen Gedanken bekamen doch bald wieder die Oberhand. Ganz gewiß wollte er ein guter Gärtner sein, wie er es ihr versprochen hatte, aber er kannte den Weg, er wußte, er würde harte Schollen zu durchbrechen und schwer zu kämpfen haben, ehe er den Boden für neues Wachstum gereinigt hätte.

Er würde es auch nicht allein vollbringen können. Er müßte Hilfe haben! Nicht eine Handreichung, sondern die Hilfe, die lebendig von Geist zu Geist kam. – Gab es vielleicht doch einen Gott im Himmel?

Diese Frage hatte er sich in vielen verzweifelten Stunden gestellt, aber alles, was sich in ihm und um ihn regte, hatte ihm eine entmutigende Antwort gegeben. Aber jetzt leuchtete es licht aus den Tiefen zu ihm empor, und der Abgrund wollte sich schließen. Und wie hart er auch noch kämpfen mußte, so ging er nun doch nicht mehr ganz in der Irre, denn ihre Gestalt begleitete ihn, und ihr sonniges Lächeln winkte ihm vorwärts.

Es mußte ja einen Gott im Himmel geben!

Warum wäre sonst der Gedanke an Gott zugleich mit der Liebe zu ihr in ihm erwacht?

Der Greis, der in der Stunde des Verderbens sein Retter geworden war, hatte gesagt, es würden dem Menschen drei große Offenbarungen von Gott zu teil. Die erste, wo er auf dem Schoße der Mutter das Weihezeichen aus dem Himmel des Kinderglaubens erhält, die zweite, wo er Hand in Hand mit der Herzensgefährtin das Himmelreich auf Erden gründen soll – und die dritte, wenn er vor dem dunkeln Eingang des Todes den Himmel offen sehen wird. Kann er von einer dieser Offenbarungen zur andern seinen Lebensfaden so fest spinnen, daß er nicht zerreißt, dann hat er die Pilgerfahrt des Lebens so vollendet, wie es Gott gewollt hat. Wird aber der Faden zerrissen, sodaß der Mensch den geraden Weg verliert, dann soll ihn das Schicksal die Kunst und den Fleiß lehren, ihn wieder zusammenzubinden.

Es that ihm gut, über diese Worte nachzudenken die er bei so vielen schmerzlichen Zusammenstößen mit dem Leben nicht aus dem Gedächtnis verloren hatte, obgleich er oft ihren Wert verachtet hatte. Nun traten sie ihm von dem hellen Grund entgegen, auf dem ihre Gestalt stand, und zum erstenmal bekam er offne Augen und einen offnen Sinn für ihre Bedeutung.

Ja, der Faden seines Lebenslaufs war an mehr als einer Stelle zerrissen – ausgefasert und brüchig hielt er ihn in der Hand. Hatte er nun wohl vom Schicksal die Kunst und den Fleiß gelernt, wie er wieder zusammengefügt werden konnte? Diese Frage verursachte ihm solche Angst, daß sein Herz erbebte.

Daß er Mißmut, Haß und Verachtung gelernt hatte, war gewiß nicht das, was ihm die rechte Kunst und den rechten Fleiß geben konnte – an ihrer Hand mit ihrem leuchtenden Blick vor Augen würde er es vielleicht lernen.

Aber war er nicht verrückt, wenn er es wagte, so weit zu denken? Wie sollte er vor sie hin treten mit seinem verpfuschten Leben? Vor der Welt konnte er schon auf seine Mannhaftigkeit pochen, sie aber ihr zur Seite stellen – nein! Ihre Weiblichkeit war nicht die hergebrachte mit dem halbschüchternen Augenniederschlag und der Miene des Sichunterwerfens, die nichts andres waren als ein Fanggarn, in das sich der Mann mit seiner Selbstherrlichkeit so leicht verwickeln ließ, und ebensowenig war es der freche Anspruch der Neuzeit auf Gleichberechtigung, es war das reine, menschliche Bewußtsein, das sich mit dem Manne eins weiß in gottgewollter Gleichheit und Ehre.

Und sie wagte er sich als seine Lebensgefährtin zu denken, er war ja toll! – Er brach in ein Hohngelächter über sich selbst aus, das in Weinen endigte. Und er weinte lange, bis die Spannung allmählich nachließ, und er eine Lindrung fühlte, die ihm Trost gab.

Da erklang das wunderbare Flüstern in der Tiefe der Seele, das der Unglückliche plötzlich vernimmt, wenn er in sich selbst ganz in die Tiefe taucht, dahin, wo keine Ausflüchte mehr zwischen die Wahrheit und ihre Erkenntnis treten können – ist das Gottes Stimme?

Es flüsterte: Nur echte Weiblichkeit kann dem Manne das wahre Heil bringen.

Er atmete auf bei diesem Gedanken wie ein Kranker, der nach schwülen Tagen den ersten Hauch der frischen Luft der Gesundheit spürt. Es gab also eine Möglichkeit, die nicht trog – aber sie hing noch von einer Frage ab: Liebte sie ihn, oder war es nur ein großes edles Mitgefühl?

Zwischen diesen beiden Möglichkeiten war Raum genug für angstvoll schweifende Gedanken, denn in beide war ein Schicksal eingeschlossen.

*

Mittlerweile gab es Leben und Trubel auf dem Schulzenhof, und obgleich Ahlets Gedanken beschäftigt genug waren, daß die Hausfrauensorgen sie nicht auch noch hätten plagen sollen, war sie doch überall bei der Hand. Eine Gesellschaft bei dem Vogt war natürlich eine Sache von großer Wichtigkeit und verlangte selbstverständlich viel Umsicht.

Der Vogt kümmerte sich selbst fleißig um die Vorbereitungen, und obgleich er sonst nicht das war, Was man einen Küchenmichel nennt oder gar einen Topfgucker, verlangte er doch genauen Bericht über die Gerichte und ihre Zubereitung. Niemand wurde auf die Finger gesehen, ob auch nicht zu viel verbraucht werde, aber er wachte streng darüber, daß das, was gebraucht wurde, von der besten Sorte war.

Bei dieser gemeinschaftlichen Thätigkeit wurden Lächeln und Händedrücke zwischen Vater und Tochter gewechselt, denn in solchen Dingen waren sie ganz einig. Sie war dazu erzogen worden, in Haushaltungsfragen ganz seinen Anordnungen zu folgen, und sie hatte auch lange genug gelebt, daß sie deren Zweckmäßigkeit kennen gelernt hatte.

Aber nun rief er sie zu sich in sein Arbeitszimmer; es gab noch eine Sache, die erledigt werden mußte, und obgleich er ihr vollkommen gewachsen zu sein glaubte, wollte er doch auch Ahlets Meinung darüber hören.

Ich überlege eben, wie wir uns dem Amtmann gegenüber verhalten sollen, ob wir ihm eine Einladung schicken sollten, oder –

Oder was? fragte Ahlet.

Oder ihn ignorieren.

Wäre das nicht Unrecht?

Ja – die Sache ist die, daß ich gestern abend einen Brief erhalten habe, der offenbar in der Absicht geschrieben ist, mich wegen des Amtmanns zu warnen. Besagter Herr soll einen ziemlich zweifelhaften Ruf haben.

Das glaubst du nicht, Vater! rief sie.

Ich weiß wirklich nicht, was ich glauben soll! Er ist mir auf alle Fälle eine etwas unklare Persönlichkeit.

So hilf du ihm, daß er Klarheit über sich schafft, Vater! Bedenke, wie viele, viele es giebt, die durch die Macht der Verhältnisse gezwungen worden sind, sich in den Schatten zu stellen. Natürlich bleiben sie dann da stehn – wer giebt sich die Mühe, sie ans Tageslicht hervorzuziehn? Und so wird es dunkler und dunkler um sie her – ach, Vater, glaubst du nicht, daß viele dieser verdüsterten Menschen es zeigen würden, daß sie gut und schön sind, wenn plötzlich helles Licht auf sie fallen würde, sodaß die Leute einen Eindruck davon bekämen, wie sie eigentlich aussehen?

Ich glaube schon, daß du Recht hast, meine Tochter. Da ist nur eins – wenn der Mann wirklich etwas hinter sich hat, was eigentlich verborgen bleiben müßte, dann thäte er wohl am besten daran, wenn er für sich bliebe – was er ja offenbar auch selbst will.

Ich meine, Vater, daß das beste wäre, wenn er dagegen anginge.

Du kennst die Welt nicht, Kind – sie vergiebt niemals.

Aber die Welt will doch den Fortschritt, lieber Vater! Und aller wahre Fortschritt ist doch, daß man vom Schlechten zum Guten kommt. Aber da dies nicht immer im Sprunge geht, muß die Welt Zeit und Raum geben.

Und gerade das thut sie nicht.

Ach, Vater, das muß auf Unverstand beruhn! Unter allen Umständen ist doch aber Feigheit das, was die Gesellschaft am wenigsten verzeihn dürfte. Wenn sich ein Mensch vergangen hat, und er verkriecht sich an irgend einen verborgnen Ort – um der Züchtigung zu entgehn, da hat er doch der Welt die Möglichkeit geraubt, ihm zu geben, was ihm gebührt. Die Welt ist wohl als eine Art Schule zu betrachten – aber geht es denn in einer Schule an, einen der Schüler allen Unfug treiben zu lassen, den er will, ohne ihn zu strafen? Da würden die andern Schüler mit Recht denken, es habe wenig Wert, sich gut aufzuführen. Nein, wenn er nur nicht lügt oder sich davonschleicht, sondern seine Schuld frei bekennt, dann hält er seine Strafe auch aus.

Auch daß er fortgeschickt wird? fragte der Vater mit einem leichten Lächeln.

O ja, Vater, auch das. Wenn die Strafe schwer ist, hat er sich wohl auch schwer vergangen, und die Kraft, die er zu dem Fehltritt gebraucht hat, muß er dann auch anwenden, ihn wieder gut zu machen.

Summa summarum: der Amtmann Gram soll eingeladen werden, sagte der Vogt lachend.

Nicht wie ich will, sondern wie du willst, Vater.

Was in der Umgangssprache des Schulzenhofs so viel heißt wie: Was die Tochter wünscht, das will der Vater. Nun gut. Er soll meine Einladung bekommen. Daß er ein gebildeter Mann ist, daran zweifle ich nicht. Und schließlich: sein Ruf geht uns nichts an. Was ein Mensch gewesen ist und was er werden kann, gehört andern Zeiten an – für das, was er ist, soll die Gegenwart ihr Honorar zahlen.

Vater! jubelte Ahlet, indem sie blitzschnell seine Hand ergriff und einen Kuß darauf drückte. Das ist mein Honorar für dich.

Du bist eine Schmeichelkatze, Ahlet, und du machst mit deinem alten Vater, was du willst. – Jetzt soll ich also Menschheitserzieher werden. Ich fürchte aber, daß der gute Amtmann über die Lehrjahre hinaus ist.

Ich glaube, die dauern, solange wir leben, Vater! Ja, du schüttelst den Kopf – aber glaubst du nicht, daß das Gewissen ebenso lange aushält wie der Verstand? Und ich denke, daß es ein ebenso guter Lehrmeister ist, wie irgend ein andrer.

Das ist es, Gott sei Dank! antwortete er mit einem Seufzer.

Du seufzst, Vater – du bist doch nicht in diese Schule gegangen?

Doch, mein Kind, das bin ich, und ich habe eine so schwere Lektion aufbekommen, daß ich mein ganzes Mannesalter dazu gebraucht habe, sie zu lernen. Und ich habe noch in dieser Stunde zu lernen gehabt, daß man denen seine Hilfe nicht versagen soll, die sich an derselben Arbeit abmühn und sich vielleicht in einem Satze verrannt haben. Nun, also die Einladung! Sie muß dann heute fort, wenn es nicht aussehen soll, als käme sie hinterdrein.

Das soll sie! rief Ahlet und atmete erleichtert auf. An deiner Stelle würde ich sie so abfassen – als ob er es sei, der dir mit seinem Kommen eine Ehre erwiese.

Der Vogt nickte verständnisvoll und machte sich ans Schreiben. Kurz nachher las er ihr das Geschriebne vor. Es ist fast zu viel – nicht? fragte er.

Schick es nur so fort, Vater. Wenn das, was bei so vielen andern nichts ist als Bodensatz, bei ihm edle Hefe ist, die nach oben drängt, dann wird sie auch aufschäumen, glaube es mir.

Ja – er soll mich nun aber nicht narren! sagte der Vogt und legte sein altes Gesicht in die pfiffigsten Verhörsrichterfalten. Recht muß Recht bleiben – aber das Unrecht muß verdammt werden.

Ahlet strich ihm mit ihrer weichen Hand über die Stirn und lächelte fein: sie war ganz sicher, daß sich der Amtmann in derart Schlingen nicht fangen ließ.

*

Der Tag war im Sinken, als der Amtmann die schmeichelhafte Einladung des Vogts Bork erhielt. In diesem Augenblick hatte er das Gefühl, als sei alles in Ordnung. Seine begabte Natur richtete sich auf und trug den Kopf hoch. Er sah nicht, was er war, sondern was er hätte sein können. Ach, wie ihm diese Ehrenbezeugung wohlthat! Statt des sauern Tranks von dünnen Molken, der seinen Durst nie gelöscht, sondern nur noch mehr verschärft hatte, war ihm in dieser Stunde ein Festpokal voll duftenden Weins gereicht worden.

Heil dir, mein Jugendtraum! Dir, mein geflügelter Fuß auf der Bahn der Ehre und des Ruhms! Heil dir, mein Glück, so freigebig mit Versprechen, daß die Hälfte gern scheitern mag – heil euch, meine Gesundheit, mein Mut, meine Lust – hier sind Hände, kräftig genug, die Freude zu erfassen und sie festzuhalten. Ach! wie es in die Weite klingt wie ein tausendstimmiges Arbeitslied! Heil der Arbeit! der befreienden, die das Leben trägt. Da hat es keine Not! Der arbeitsstarke Mensch findet seinen Weg überall. Es ist groß, ein Mensch zu sein!

Und weiter von Möglichkeit zu Möglichkeit flog sein Geist, der in der neuerwachten Freude die ganze Frische und Unbefangenheit der Jugend wieder gewonnen hatte. Zwanzig Jahre seines Lebens waren verweht wie ein Traum. Der frühe Sommermorgen leuchtete schon über den Bergen, und noch immer ging er mit kräftigen elastischen Schritten im Zimmer auf und ab, und es schien, als wären alle seine Glieder gespannt, eine Kraftprobe abzulegen.

Währenddem schlich sich ein Mensch auf der Hinterseite des Hofs heran. Er schien nicht ganz sicher zu sein, denn er schaute sich fortwährend um, und als er an dem Vorderhaus entlang schlich, duckte er sich unter den Fenstern nieder, bis er den Söllergang erreicht hatte; dann trat er ein.

Der Amtmann blieb plötzlich stehn und lauschte. Es gehörte nichts weiter dazu, als ein schwaches Tasten an der Thürklinke, ihn in die Wirklichkeit zurückzurufen – in demselben Atemzug war er auch wieder der, der er war, und nicht der, der er hätte sein können.

Schnell öffnete er die Thür, wich aber betroffen zurück, denn vor ihm stand der Bursche, den er frei gelassen hatte – auf Ehrenwort.

Wo kommst du her? fragte er streng und winkte ihn herein. Aber der Bursche war nicht imstande zu antworten, er schnappte ein paarmal nach Luft, dann brach er in Weinen aus. – Du bist also wieder durchgegangen? fuhr der Amtmann fort.

Ja, schluchzte der Bursche. Ich erfuhr, daß ich in einigen Tagen in das Bezirksgefängnis gebracht werden sollte – und das konnte ich nicht ertragen.

Ja – so seid ihr! rief der Amtmann. Ihr habt Mut wie die Bären, wenn ihr Schaden anrichten wollt, aber feige wie die Hasen seid ihr, wenn ihr dafür büßen sollt. Was ist das nun für eine Freiheit, die du gewonnen hast – sie ja ist zehnmal schlimmer als Gefangenschaft. Du schaffst dir doch nicht einen Augenblick Frieden, denn dein Gewissen schlägt dich jedem Menschen gegenüber, dem du begegnest.

Ich war auch nahe daran, in den Fluß zu gehn, flüsterte der Bursche.

Natürlich! Und du meintest noch dazu, das sei recht mutig? Nein, mein Junge, da wäre nur eine Dummheit größer gewesen als die andre. Du hast dein Leben von unserm Herrgott ohne Schaden und Flecken erhalten, und nun, wo du es verdorben und befleckt hast, wolltest du es von dir werfen, als ob du Gott nicht Rechenschaft dafür abzulegen hättest. Nein, nimm du die Buße auf dich, die das Gesetz befiehlt, dann erlangst du Frieden und kannst wieder von vorn anfangen.

Niemand würde mir nachher wieder trauen, seufzte der Bursche.

Der Amtmann gab keine Antwort. Er wußte aus eigner bittrer Erfahrung, daß der Bursche darin Recht hatte. Die Kirche teilte die Vergebung der Sünden in reichlichem Maße aus, und die Welt errichtete ein Denkmal nach dem andern zum Beweis für ihre humane Bildung – aber im Grunde wußten Kirche und Welt gut von einander, daß sie niemals vergaben, daß erst dann, wenn die Demütigung die ganze Persönlichkeit unter ihren eisenbeschlagnen Fuß getreten hatte, sie volle Vergebung erteilten, denn dann war aus der Individualität ein Schatten geworden.

Höre mich an, sagte der Amtmann schließlich. Wenn du dich der Forderung des Gerichts beugst und deine Strafe aushältst, dann kannst du wieder zu mir kommen und bei mir in Dienst treten. Hier ist ein großes Ackerland umzuarbeiten, und das erfordert Jugend und frischen Mut. Jugend hast du, und Mut wirst du wieder fassen. Was du bis jetzt an Mut gehabt hast, war nichts als Übermut, nun mußt du dir eine andre Art Mut anschaffen, einen solchen, der daraus erwächst, daß man seine Schuld gesühnt hat. Thust du es, so gebe ich dir hier meine Hand darauf, daß du in mir einen Freund haben sollst.

Der Bursche flog auf ihn zu und ergriff die ausgestreckte Hand; es leuchtete eine solche Freude aus seinem Gesicht, daß er ganz hübsch wurde, obgleich er totenbleich war, und sogar seine Lippen kreideweiß waren.

Ja ja ja! rief er. Das soll geschehn, seien Sie unbesorgt!

Vorläufig kannst du ja deinen Arrest bei mir absitzen, tröstete ihn der Amtmann, denn er sah, daß der Bursche zitterte wie ein junger Baum im Sturm. Das ist vielleicht auch dein Gedanke gewesen, als du hierher auf den Amtshof kamst.

Ach nein – daran habe ich nicht gedacht, seufzte der Bursche. Aber ich war über mich selbst betrübt, weil ich nicht Wort gehalten hatte – ich wollte den Herrn Amtmann um Verzeihung bitten – und sagen, wie es gekommen war.

Ja ja, mein Junge, nun wurde es ja ein wenig anders, als du dachtest.

Ach, es ist gut so, wie es ist. Lassen Sie mich nur in den Arrest bringen, jetzt gleich. –

Wie du siehst, ist es hier so verfallen, daß du dir ohne auszubrechen durch Fenster und Thüren einen Ausgang schaffen kannst, sagte der Amtmann, als er den Burschen in das alte Arrestlokal gebracht hatte.

Wenn ich in Ketten und Banden läge, könnte ich nicht fester sitzen, antwortete er und setzte sich zufrieden in eine Ecke des unbehaglichen Raums. Von der Thür aus nickte ihm der Amtmann zum Abschied noch einmal zu – aber es war etwas mehr als ein einfacher Abschiedsgruß, er sagte zugleich: Ich verlasse mich auf dich! Und der Bursche verstand es, denn als auch er nickte, lag ein festes Versprechen darin.

Als der Amtmann wieder allein war, nahm er die Einladung des Vogts wieder zur Hand. Aber obgleich er dieselben ehrenden Worte las, boten sie ihm nicht mehr denselben berauschenden Trank wie zuvor, bei dem er sein ganzes Leben vergessen hatte; im Gegenteil, jetzt war es, als habe das Gewissen jedes Wort mit unbarmherziger Korrektur unterstrichen.

Durfte er es wagen, eine so ehrenvolle Einladung anzunehmen? Würde das nicht eine Erschleichung sein, wenn er als geehrter Gast in das Haus des hochgeachteten Beamten träte?

Aber wenn es nun so wäre, daß das Glück sich gewandt hätte – wenn es eine Botschaft war, die dieses ihm brächte? Wäre es da nicht wahnsinnig, ja sogar undankbar, nicht zuzugreifen? Außerdem – es war ja der Weg zu ihr! War da noch etwas zu überlegen? Mußten nicht alle die kleinen Rücksichten wie Staubkörner verwehn, wenn es die Wiederaufrichtung und Rechtfertigung eines Menschen galt? Denn das wußte er, wenn er ihre Liebe hatte, dann würde er es wagen, es wieder mit dem Leben aufzunehmen, und keine Macht der Welt sollte ihn dazu bringen, sein Recht aufzugeben.

Gut – er wollte zu dem Gastmahl des Vogts! Stolz und mutig wollte er den Leuten entgegentreten – es war feig von ihm, seine Fähigkeit zu unterdrücken und sein Leben wie einer zu verbringen, der das Maß nicht hat, wo er doch das Bewußtsein in sich trug, daß er zur Führerschaft geboren war.

Aber auf diesem Höhenflug kam er nicht weit, ehe er die Stirn an eine Mauer stieß. Plötzlich war es, als hielte ihm ein Dämon einen Spiegel vor, und darin sah er sich selbst als das Zerrbild des stolzen Führers!

Da fiel er aufs neue in seine qualvollen Zweifel zurück, und die zwanzig Jahre, die er vorhin mit so großer Leichtigkeit aus seinem Dasein hatte verschwinden lassen, stiegen eins nach dem andern in seiner Erinnerung auf und nahmen den alten Platz wieder ein. Auf die Weise entging man dem Erlebten nicht, daß man that, als ob es gar nicht da sei. Nein, es auf sich nehmen, und dann vorwärts! Und wenn es auch noch so schwer war, und wenn er sich daran zu Tode schleppte, es mußte mit. Das Erlebte hatte sich ja an sein Leben gehängt wie eine Verwandtschaft, und ob sie nun hoch oder niedrig war, er mußte sie anerkennen, denn sie verleugnen war Feigheit – und Feigheit war Untergang.

Während sich diese Gedanken in seinem Gehirn kreuzten, kam eine Verzweiflung über ihn, in der er nur noch einen Ausweg vor sich sah, und das war der Tod. Aber das Verlangen wollte das Leben doch nicht loslassen – und das Verlangen ist doch immer noch von einem Funken Hoffnung begleitet.

Was sollte er thun? Freilich konnte er dem Vogt eine dankende Absage schreiben – aber was dann? Die großen leuchtenden Augen waren auf ihn gerichtet, und es war, als winkten sie ihm zu kommen. Was sollte er thun? Schon wiederholt hatte er früher vor schicksalsschweren Entschlüssen gestanden, und immer hatte das Los zu seinem Unglück entschieden. Das hatte ihn stumpf gemacht gegen Gott und gegen die Ehre. Aber das neue Leben, das sich nun vor ihm aufthat und eine Entscheidung verlangte, das trieb ihn endlich aus seinen Ausfluchtswinkeln heraus und stellte ihn vor die Wahl zwischen Wahrheit und Lüge.

O wie es auf ihn eindrang, wie er zwischen Angriff und Verteidigung kämpfte – immer mit der erbärmlichen Gestalt der Demütigung vor sich, ekelhaft wie aus dem Schlamm gezogen! Aber er mußte durch, und endlich begann er auch Erleichterung zu fühlen. Durch sein zermartertes Bewußtsein zog es wie ein erfrischender Hauch – er hatte ja selbst vor einer kurzen Weile erst seinem Gefangnen vorgehalten, wie notwendig es zur Erlangung der Freiheit sei, daß man seine Schuld sühne. Diese Rede, mit der er den Burschen überzeugt hatte, sodaß der wirklich Mut gefaßt und sich fast vergnügt in seinem Gefängnis zurecht gesetzt hatte, war das nur ein leeres Geschwätz, eine Redensart gewesen, die ihm von den Lippen gefallen war, ohne Herzensüberzeugung? Dann war es ja so gut wie eine Lüge, auf jeden Fall ein verlognes Gebaren, das, wie er wohl wußte, die Menschen nur anwandten, um ihre Gebrechen zu verkleiden.

Und nun fühlte er sich im Ernst erleichtert! Es war merkwürdig, wie die Gestalt des Gefangnen fortwährend deutlich vor ihm stand! Die blauen Augen, die zuerst so angstvoll auf ihn gerichtet gewesen waren, daß sie wie blind zu sein schienen, und die allmählich immer mehr Licht bekommen hatten, sodaß sie förmlich einen Glanz ausstrahlten, als er mit seinem Abschiedsnicken zu erkennen gegeben hatte, daß er sich auf den Amtmann verlasse wie auf Gott im Himmel. Und ein solches Vertrauen wollte er sich durch Erschleichung gewinnen – durch eine falsche Aufschrift? Nein – in Gottes Namen! Auch nicht einmal wieder – er wollte bekennen, was geschehn war.

*

Es war ein wunderbar schöner Abend. Die Sonne war untergegangen, aber der Himmel war noch hell und klar, und ringsum am Horizont lag ein goldfarbiger Saum, der zwischen den Bergen und durch die Baumgruppen schimmerte, sodaß es ganz so aussah, als wüchsen sie aus einem Goldgrund heraus. Jeder Zug in der Natur ruhte wie von Schönheit und Frieden gesättigt.

Der Vogt hatte einen Spaziergang gemacht und war dann in sein Arbeitszimmer gegangen, um noch eine Abendpfeife zu rauchen, ehe er zu Bett ging. Das war so seine Gewohnheit, und niemand störte ihn darin ohne eine dringende Veranlassung. Es geschah aber nicht selten, daß er über der Pfeife einnickte und einen kleinen Vorschmack des guten Nachtschlafs genoß, und das war ihm an diesem Abend passiert.

Da klopfte es an seine Thür, und ohne die Aufforderung abzuwarten, trat ein Mann in das Zimmer.

Ah, mein lieber Amtmann! rief der Vogt, indem er aus dem Schläfchen auffuhr. Warum in aller Welt kommen Sie um diese Zeit – was ist geschehn?

Aber auf seine Anrede erfolgte keine Antwort. Es war, als habe der Eintretende ihn nicht gehört oder bemerke seine Gegenwart gar nicht, denn er ging durch das Zimmer und wieder zurück, ehe er sprach, dabei geschah das nicht in gewöhnlicher Weise, denn er stöhnte ein: Um Vergebung! und griff sich an die Stirn, als ob er einen Schmerz lindern wollte.

Der Vogt hatte sich unterdes auf seinem alten Abendplatz zurechtgesetzt und seine Pfeife wieder angezündet. Lassen Sie sich Zeit, Mann! sagte er in seiner beruhigenden Art. Ich verstehe ja, daß Sie mir etwas zu sagen haben, das nicht leicht herauswill. Seien Sie nur ganz beruhigt. Ist es etwas, das verschwiegen werden soll, so bin ich wie ein Grab.

Nein! unterbrach ihn der Amtmann hart und stellte sich auf einmal gefaßt vor ihn hin. Aber es sah ganz so aus, wie wenn ein Pferd, das durchgegangen war, nun plötzlich von allen Seiten gepackt in jeder Muskel zitternd dasteht. Es war deutlich zu sehen, daß er von einem Entschluß beherrscht und festgehalten wurde, stark und trotzig in seiner kräftigen Männlichkeit, obgleich jeder Nerv in seinem Körper wie eine angespannte Saite bebte.

Ich stehe hier vor Ihnen – an einem Wendepunkt meines Lebens, sagte er. Nun sollen Sie – wenn Sie wollen – mein Führer sein. Sagen Sie mir dann: Es ist auf offnem Wege kein Vorwärtskommen möglich – dann bin ich – fertig mit dem Leben. Sagen Sie das Gegenteil, dann will ich weitermachen. Es giebt für meinen Charakter absolut nur noch zwei Wege, die ich einschlagen kann – geradeaus hinein in den Tag, oder hinunter in die Dunkelheit. Seitenwege kann ich nicht gehn – ich habe es versucht, aber es ist unmöglich.

Gut, so verlassen Sie sich auf mich, sagte der Vogt.

Ich muß aber von Anfang an beginnen, wenn es mir gelingen soll, die ganze Wahrheit aufzudecken.

Das ist recht. Fast alles, was uns widerfährt, hat seinen Anfang in uns selbst. Aber setzen Sie sich, Mann. Sie zittern ja wie ein Baum im Sturm.

Ich danke Ihnen, Herr Vogt. Aber wie ich jetzt stehe, stützt mich der Wille und hält mich aufrecht. Jetzt lasse ich nicht los, ehe das letzte Wort gesagt ist – also:

Meine Eltern waren Kaufleute auf dem Lande, und ich war ihr einziges Kind. In meine Erziehung kam ein Zwiespalt – wenn der Vater mich strafte, so gab mir meine Mutter Recht, und wenn sie mich tadelte, legte er sich dazwischen und schob die Schuld auf sie. In beiden Fällen bekam ich nie das rechte Schuldbewußtsein und hatte folglich auch keine Reue. Ich sollte studieren, ich hatte ja die Begabung dazu, und mein Vater hatte das Geld. Es zog sich lange hin, aber schließlich machte ich doch mein Examen und bekam die Eins – nicht weil ich Lust am Lernen gehabt hätte, sondern weil ich ehrgeizig war. Das ist das richtige Wort, denn ehrliebend war ich nicht – und das ist ein großer Unterschied.

Nun, so zeigte sich mein äußeres Leben – aber dahinter erhob sich allmählich ein Haufen von tollen Streichen. Ein Bewußtsein davon, daß ich an meinem eignen Untergang arbeite, hatte ich wohl, aber es saß nicht tief. Geld hatte ich immer in der Hand, denn was ich meinem Vater nicht abdrücken konnte, würde mir, das wußte ich, in doppelter Menge von meiner Mutter zufließen. Ich hatte also keinen Grund, zu sparen. Außerdem träumte ich von einer großen Karriere, und ich dachte: Wie man schmiert, so fährt man. Ich lebte also wie der Sohn des reichen Mannes und hatte demzufolge einen ganzen Anhang von guten Freunden. Ich war hübsch, und die Frauen brachten mir schnell eine hohe Meinung von mir selbst bei – einen festen Halt hatte ich nirgends.

Um diese Zeit traf mich die Nachricht von dem Tode meines Vaters. An einem schönen Tage war er auf Fischfang hinaus gewesen, gar nicht weit vom Land entfernt. Als es schließlich bemerkt wurde, daß niemand im Boot war, ruderte man hinaus und fand die Leiche meines Vaters daneben. War er hinausgefallen? Niemand konnte es verstehn.

Ich eilte so schnell wie möglich nach Hause. Natürlich war ich betrübt – aber ich hatte ja noch eine Mutter, und meine Lage war nicht verändert. Die Thränen, die ich weinte, brannten nicht in meinen Augen, und mein Blick in die Zukunft flog noch ebenso hoch wie vorher.

Als ich heim kam, fand ich meine Mutter bei dem Toten sitzen. Tag und Nacht hatte sie so gesessen, und nun war es der vierte Tag. Ich weinte verzweiflungsvoll und suchte sie zu trösten, aber es war kein Mark in meinem Schmerz, und meine Trostgründe wurden zu leeren Redensarten.

Es war merkwürdig. Bis dahin hatte meine Mutter mich nur im Lichte der Vollkommenheit gesehen, aber durch ihren schweren Kummer war sie klarsehend geworden, und nun stiegen Zweifel in ihr auf. Sie erhob sich von der Leiche und starrte mich an – ich fühlte, daß sie mich vollkommen durchschaue, und ich schämte mich vor mir selbst. Trotzdem griff ich nach einem gleichgiltigen Worte und warf es hin. Aber sie gebot mir zu schweigen. Weißt du, was hier geschehn ist? fragte sie. Vor acht Tagen sagte dein Vater zu mir: Ich bin ein ruinierter Mann. Auch ist er nicht aus dem Boot gefallen – er hat sich selbst den Tod gegeben. Ich will ihm nun nachfolgen, und ich brauche keinen Trost. Der Kummer mag nun an jeder Lebensfiber zehren, die ich habe – bis er satt ist – und dann bin ich tot.

Es kam nun etwas mehr Aufrichtigkeit in meine Betrübnis, und ich bat sie, sich wenigstens um meinetwillen zu trösten.

Um deinetwillen habe ich deinen Vater um viel Geld betrogen, antwortete sie. Ich bin ihm eine ungetreue Haushälterin gewesen, nur um dir das zu verschaffen, was du zum Verschwenden brauchtest – und nun sehe ich, daß du Leib und Seele zu Grunde gerichtet hast. Gehe du jetzt hin und thue etwas zu seiner Ehre – ich habe ihm keine andre Sühne zu bieten als meinen Schmerz bis zum Tode.

Von dieser Stunde an sprach sie mit niemand mehr. Aber trotz meiner Schwäche war doch so viel Ähnlichkeit unter uns, daß ich sie verstand. Sie konnte nichts von der Schuld auf einen andern abwälzen, die sie ihm gegenüber hatte, sie mußte sie selbst abtragen – und da war der untröstliche Schmerz ihr einziges Vermögen.

Vierzehn Tage nach meines Vaters Begräbnis wurde sie neben ihm beerdigt. In meiner Verzweiflung suchte ich nach keiner Beschönigung, die Wirklichkeit stand zu klar vor mir – aber einen neuen Menschen machte sie nicht aus mir.

Es lebte noch ein Halbbruder meines Vaters, der in guten Verhältnissen war. Er war unverheiratet und hatte keinen nähern Verwandten als mich; folglich durfte ich hoffen, sein Erbe zu werden. Ich versuchte einen guten Eindruck auf ihn zu machen, und das glückte mir. Er versprach mir eine vorläufige Unterstützung, bis sich mir eine Aussicht für die Zukunft eröffnen würde – es wurde aber nur ein Taumeln aus der Scylla in die Charybdis!

Als ich wieder in die Stadt zurückkehrte, konnte ich nicht mehr leben wie vorher, und dadurch wurde alles anders. Ich war der Anführer gewesen, der Tonangebende, der das Geld in seinen Taschen klingen lassen konnte, nun war ich bloß einer vom Troß, auf den man nicht mehr achtete und hörte. Es war mir nicht möglich, das auszuhalten. Da lieber noch ein paar Stufen weiter hinab auf der Leiter – es gab auch dort Leute von Begabung.

Jawohl – es gab Talent und Originalität dort, aber es war die rohe ungezügelte Naturkraft, und wer sich im Weine berauschen wollte, mußte die Hefe mittrinken.

Sie, Herr Vogt, nannten mich an dem ersten Tage, wo ich die Ehre hatte, Sie zu sehen, einen Anführer. Ja, das war das Unglück! Ich konnte nicht hinter dem Trupp laufen, ich mußte an der Spitze sein. Mit diesem Streben kann man ein großer Mann werden, aber ebensogut ein Vagabund, und das wurde ich.

Immer an der Spitze! Fand sich keine Gefolgschaft auf dem Wege der Ehrenhaftigkeit, so wurde man bescheidner in seinen Ansprüchen und nahm mit einer andern vorlieb. Wenn es abwärts geht, darf man sicher sein, auf jeder Stufe eine Horde Nachzügler zu treffen, die nicht höher hinaufmag, und die mit Begeisterung die Gefallnen aufnimmt und Hurra zu ihrem Fehltritte schreit.

Als ein paar Jahre vergangen waren, sah ich mich schließlich an der Spitze von drei bis vier Tagedieben und ebenso vielen verkommnen Genies. Wir waren alle gleich lebenshungrig, und keiner von uns war ein Kostverächter – ich am wenigsten –, je leichter die Nahrung, desto größer der Hunger!

Da ist das alte Wort: »Des Teufels, der Welt und unsers Fleisches Reich« – dieses Reich ist noch immer da, für alle Zeiten. Es winkt und es lockt, und es ist ebenso leicht hineinzukommen, wie auf einem offnen Weg zu gehn – aber wieder herauszukommen, das ist fast unmöglich – denn es zeichnet seine Leute!

Ich glaube nun – in dieser Stunde, wo ich hier stehe und zwischen Leben und Tod schwanke –, daß es vielleicht einen Gott giebt, nein nein, daß ein Gott ist! Ich habe ja sein Bild in dem Antlitz eines Weibes gesehen – sie sei auf ewig dafür gesegnet!

Hier verlor er seine Fassung vollständig, und er warf sich schluchzend auf einen Stuhl. Noch war der Vogt jedoch nicht imstande, ihm ein Wort zu sagen – er wußte ja nicht, wohin das nächste führen würde – er konnte ihm nur schweigend Zeit lassen, sich zu sammeln.

Kurz darauf richtete er sich auch wieder auf und stellte sich wieder hin wie vorher. Ja – sie sei ewig geliebt und gesegnet! rief er, denn nun weiß ich, wie es auch immer gehn mag, daß es einen Gott giebt – aber damals glaubte ich es nicht. Ich war dafür bekannt, daß ich das war, was man begabt nennt. Das giebt ja noch immer eine Art Ansehen, aber es ist nur ein Deckmantel. Es sieht aus, als segle man vorwärts, und man treibt doch nur auf einem Wrack ohne Steuer umher. Schließlich war die Geduld meines Onkels zu Ende. Ich hätte ja mein siebenundzwanzigstes Jahr vollendet und müßte nun für mich selbst sorgen können.

Hätte ich mich damals fest an die Arbeit gemacht! Aber das, was sich mir bot, verschmähte ich auf Grund meiner vorhin genannten Begabung – diese schämte sich, das tägliche Brot zu verdienen, während sie ziemlich willig auf jede Unlauterkeit einging – die sie einfach einen Ausweg nannte!

Geld mußte ich aber haben – es mußte herbei geschafft werden. Eine Zeit lang ging es mit Anleihen, die ich auf meines Onkels Namen machte, denn noch wußte niemand den wahren Sachverhalt. Aber die Darlehen mußten zurückbezahlt werden, daß sie wiederholt werden konnten, und ich brauchte jedesmal mehr. Da – nun da – es mußte ein Ausweg gefunden werden – so machte ich seine Unterschrift nach.

Fälschung! schrie der Vogt auf, und er rückte unwillkürlich auf einen andern Stuhl.

Ja – Fälschung. Das ist das Wort, wiederholte der Amtmann. Mein Onkel erfuhr es natürlich und schrieb mir infolgedessen. Er schonte mich nicht – ich bekam den Namen, den ich verdient hatte. Aber er schwieg über die Sache, die Familienehre mußte ja gerettet werden. Der eine und der andre wußte doch davon – es kam zwar nicht zu öffentlicher Anklage und Verurteilung, aber es sprach sich eben doch herum – unter der Hand.

Ich glaube, ich hätte den Mut gehabt – auf alle Fälle den Trotz, die Strafe öffentlich zu tragen, aber die schleichende Verachtung, die mir immer an den Fersen saß – die machte mich toll! Nun – gefallen war ich einmal – nun stieß ich mich vollends in den Rinnstein.

Viele verstehn gar nicht, was ein Fall bedeutet, aber die, die es fühlen, können es nicht ertragen. Sie müssen weg davon. Da geschieht das Merkwürdige, daß sie sich, um sich selbst ertragen zu können, noch mehr herabwürdigen. Der eine Fehltritt erleichtert den zweiten – sie machen Kameradschaft. Es ist, wie gesagt, die alte Geschichte von des »Teufels, der Welt und unsers Fleisches Reich.«

Es war spät an einem Abend in der Hochsommerzeit, aber ein gedämpftes Tageslicht lag noch über allem. Es hatte stark geregnet, Bäume und Blätter hingen voller Tropfen, die bei jeder Bewegung herabrieselten. Ich führe dies an, weil mir beim Anblick dieses Geriesels unwillkürlich die Erinnerung an meine Mutter aufstieg. Ich sah wieder die heftig hervorbrechenden Thränen, die sie an meines Vaters Leiche geweint hatte. Gott weiß, wie solche Gedanken einem in die Seele kommen, wenn sie doch so sehr umnachtet und verunreinigt ist! Aber so geschah es, und dabei erwachte mein Bewußtsein.

Ich hatte zwei Kameraden bei mir, die gerade wie ich die Zeit dazu benutzt hatten, sich um den Verstand zu bringen. Arm in Arm zogen sie singend ein Stück vor mir die Straße. Da erscholl der Hufschlag von Pferden und ein Wiehern, das wie Durchgehn klang. In demselben Augenblick kam auch ein Einspänner um die Ecke gebogen, das Pferd hatte die Zügel zerrissen, und ein alter Mann, dem die Arme in diese verwickelt waren, hing mit dem Wagensitz über das eine Rad heraus. Meine Kameraden flohen jeder nach einer andern Seite – aber da war es plötzlich, als erhöbe sich in mir die Kraft vieler Männer. Gott allein weiß, woher es kam, denn mit Überlegung geschah es nicht. Entschlossen sprang ich vor das rasende Tier und packte es mit einem Griff an der Brust, daß es sich bäumte, zurückscheute – und am ganzen Körper bebend stillstand.

Ich hätte einen Augenblick vorher mich selbst nicht bändigen können, hier wurde ich im Handumdrehn mit der Sache fertig. Es gelang mir, das Pferd zu beruhigen, dann setzte ich den halbohnmächtigen Mann wieder im Wagen zurecht, und nachdem ich über seine Wohnung Auskunft erhalten hatte, nahm ich neben ihm Platz und fuhr ihn nach seinem Heim.

Das wurde meine Rettung.

Ich blieb bei dem Manne, bis er die Folgen seines Unfalls überwunden hatte. Ich hatte ja sein Leben mit Gefahr meines eignen gerettet, das verschaffte mir ohne weiteres Respekt. Er faßte außerdem Zuneigung zu mir.

Wie wohl mir diese Zuneigung that, kann ich nicht beschreiben! Ich hatte nicht geahnt, daß das Unbefriedigtsein so tief bei mir eingewurzelt war – das heißt, ich war vorher nicht auf den Grund in mir selbst gekommen – und wenn ich keine Güte erfahren hätte, so wäre es auch sicher nie geschehn. Aber nachdem ich mein wirkliches Ich einmal erkannt hatte, konnte ich es nicht wieder verlieren. Es war, als hätte ich einen Bruder gefunden, von dem ich vorher nicht gewußt hatte, daß er da war.

Durch die Unterstützung dieses Mannes wurde mir nun auf verschiedne Weise zurechtgeholfen, und ich wurde von den unwürdigen Fesseln befreit, die ich mir allmählich selbst geschmiedet hatte. Ein Jahr später verschaffte er mir eine Anstellung als Schreiber droben im Lande.

Es war ein mageres, mühseliges Leben, gegen das ich im Anfang jeden Tag mit der Stirn anrannte. Aber ich war mir bewußt, daß die Schuld, die ich der Gesellschaft gegenüber hatte, weder mit Schaumünzen noch mit Rechenpfennigen bezahlt werden könne – wollte ich einmal ein freier Mann werden, mußte ich eine Quittung für den vollen Betrag vorweisen können. Deshalb hielt ich aus. Die Natur gewöhnte sich allmählich nach dem verantwortungslosen Sichgehnlassen an den Alltagsgang der Pflicht, und ich kam zu Frieden mit mir selbst.

Das dauerte sieben Jahre – sieben lange arbeitsvolle Jahre. Mein Retter war inzwischen gestorben, und nun starb auch der Beamte, auf dessen Kontor ich arbeitete. Ich bewarb mich um seine Stelle – ein jüngerer bekam sie. Ich meldete mich zu verschiednen Zeiten für andre Posten – ich wurde abgewiesen. Also konnte ich mir keine Hoffnung auf irgend ein Amt machen – nach siebenjähriger Probearbeit war ich noch nicht so weit gekommen, meine Papiere in Ordnung zu bringen.

Ja – das braucht Zeit, sagte der Vogt.

Gut – aber wenn ein ganzes Leben lang dazu nötig ist, dann ist das Leben verspielt.

Das ist es.

Aber dann hat die Menschheit meines Erachtens ein Unrecht begangen. Sie dürfte mit dem Einzelnen keine so falsche Ökonomie treiben. Wer seine Arbeit mit aller Kraft aufnimmt, müßte absolut denselben Lohn erhalten, wie der, der sie nie niedergelegt hat – die Arbeit ist es ja, die den Lohn bekommt.

Sie dürfen nicht vergessen, daß Sie mit der Gesellschaft gebrochen hatten, bemerkte der Vogt. Sie muß das Recht haben, ihre Bedingungen zu stellen.

Der Amtmann atmete schwer. Ja ja – dann hätte ich ja recht gehabt, daß ich der gebildeten Klasse den Rücken gekehrt habe und hierher unter die Bauern gegangen bin. Hier kann ich auf alle Fälle Zeit und Gelegenheit bekommen, die Akten meines verspielten Lebens durchzugehn.

Entschuldigen Sie, Herr Amtmann, aber mir schien, Sie erwähnten vorhin eine Frau? Sie hatten in ihrem Antlitz Gottes Ebenbild gesehen – wäre nicht von dieser Seite Hilfe zu erwarten?

Unmöglich!

Sie liebt Sie also nicht?

Nein nein! Gott soll sie davor bewahren!

Ja – aber wenn die Liebe dieser Frau der Ihrigen gleichkäme, so wäre sie ja die reinigende Kraft, die mehr als alles andre vermöchte, einen Menschen wieder aufzurichten.

Verdiene ich es denn, wieder aufgerichtet zu werden? fragte er mit versagender Stimme.

Der Vogt betrachtete ihn eine Weile. – Ja, antwortete er dann kurz und bestimmt. Dann trat er ans Fenster und sah hinaus auf das Dorf, das wie ein friedliches Traumbild in der Abenddämmerung dalag. Ja, wiederholte er mit der Bestimmtheit, die von einer festen Überzeugung Zeugnis giebt. Und darauf gebe ich Ihnen meine Hand.

So wunderbar ist das Gute, daß es ein Licht um sich verbreitet, das alles verschönt. Das Harte, Lichtscheue und Verzerrte in dem Gesicht des Mannes – das ganze Gepräge seines düstern Schicksals war in einem Augenblick ausgelöscht; sein kräftiger Körper bebte vom Kopf bis zu den Füßen, und es kam eine solche Weichheit über ihn, daß er dem Umsinken nahe war.

Der Vogt betrachtete ihn lange, und ein Thränenschimmer glänzte in seinen alten Augen. – Sie wollten natürlich morgen nicht als mein Gast kommen, ehe Sie mir das gesagt hatten? Sie wollten sich nicht unter der Kappe der Arglosigkeit einschmuggeln – ich verstehe Sie, Sie wollen offen bekennen. Gut, dadurch stehn Sie vor mir als ein Ehrenmann, denn es giebt wahrhaftig nichts auf dieser Welt, das uns eine größere Verantwortung auferlegte. – Gehn Sie nur frisch weiter! Sie werden sehen, daß das Schicksal Ihnen noch etwas Gutes aufbewahrt hat – sie kommt schon – passen Sie auf! Die Frauen sind höchst merkwürdig. Gerade in einem solchen Stadium tritt eine hochsinnige Frau vor und reicht die Hand. Und wenn sie es thut, wird sie wie eine Lichtspenderin in Ihr verdunkeltes Leben treten; sie mag kommen, woher sie will, ich werde ihren Eingang segnen! Und nun, gute Nacht, mein lieber Amtmann! Gehn Sie nun heim und schlafen Sie den Schlaf des Gerechten! Sie haben heute abend eine harte Arbeit gethan, Sie haben Ihr Leben offen aufgedeckt für das Urteil, und dazu gehört Mut und ein männliches Herz. – Ruhn Sie sich bis morgen aus: denn dann sollen Sie in Wahrheit mein lieber Gast sein.

Der Amtmann stieß einen tiefen Seufzer aus – woher dieser kam, da gab es noch Druck und Bangigkeit! Dann dankte er und ging.

Der Vogt sah ihm nach; von den breiten wohlgepflegten Feldern wandte er sich nach dem überwucherten Wildacker, wo der Amtmannshof lag. Die einsame Gestalt auf dem halblichten Grunde der Nacht erschien ihm wie ein Wandrer ohne Zuflucht, dem die eine ebenso recht ist wie die andre. Gott gönne ihm ein Heim, worin er zu ruhen vermag! seufzte er und wandte sich um, um in sein Schlafzimmer zu gehn.

Da trat ihm Ahlet aus der halboffnen Thür entgegen. Ihr Gesicht war weiß wie ein Leintuch, und ihre großen leuchtenden Augen hatten einen angstvollen Blick.

Bist du die ganze Zeit da drin gewesen? fragte er erschrocken.

Ja, Vater, antwortete sie zitternd und legte ihren Kopf schwer auf seine Schulter.

So hast du gehört, was der Mann mir anvertraut hat?

Das habe ich. Ich war vom Garten hereingekommen, um hier durch zu gehn, gerade als der Amtmann hereintrat. Aber als er angefangen hatte zu reden – mußte ich es hören.

Ja, mein liebes Kind, es mag so recht sein. Aber du siehst ja aus, als könntest du mir unter den Händen sterben!

Ach, Vater, daran sterbe ich nicht! rief sie, richtete sich kräftig auf und nickte ihm lächelnd zu.

Das ist wirklich eine merkwürdige Persönlichkeit, dieser Amtmann, sagte er nachdenklich.

Das habe ich schon lange gewußt, antwortete sie, legte ihren Arm um seinen Hals und verschloß ihm den Mund mit einem Kuß. Dann eilte sie zur Thür hinaus, von seinem fragenden Blick verfolgt, auf den sie in diesem Augenblick keine Antwort hätte geben können und wollen.

Aber als sie allein war und all die einzelnen Eindrücke, die wachsende Sehnsucht, jeden der brennenden, forschenden Blicke, die dieser Mann auf sie gerichtet hatte, samt der ungeheuern Spannung, mit der sie in dieser Nacht seinen Bekenntnissen gelauscht hatte, zusammenfaßte, da vereinigte sich alles in die eine, überwältigende Gewißheit – sie liebten sich gegenseitig.

Wie all das übrige um sie nun verschwand wie Spuren im Sande! Die mannigfaltigen Kleinigkeiten, die den Tag an den Tag geknüpft und die Jahre ausgefüllt hatten, waren für sie auf einmal wie der Regen, der gestern gefallen war. – Eine neue Welt hatte sich vor ihr geoffenbart in Schönheit und Kraft – das war das Leben der Ehegatten.

*

Der Tag des Fests auf dem alten Schulzenhof, dem mit so vieler Erwartung entgegengesehen worden war, brach strahlend an. Kein Mißvergnügen verbarg sich an irgend einer Stelle. In einsamer Majestät thronte die Sonne an dem klaren Himmelsgewölbe, und jedes Ding war an seinem Platz. In harmonischer erwartungsvoller Stille schien die ganze Natur sich vorbereitet zu haben, die festlich gestimmten Gäste zu empfangen.

Sie ließen auch nicht auf sich warten. Ein Gefährt nach dem andern fuhr vor dem Eingangsthor vor, und es war ein Stimmengewirr, besonders von weiblicher Seite, das an das Gezwitscher der Vögel bei ihrem ersten Frühlingsstelldichein erinnerte, wo einer den andern mit lautem Freudenjubel zu überbieten sucht.

Endlich kam also das, was, wie alle gewußt hatten, kommen mußte. Ein Liebesverhältnis reizt immer dazu, daß man seine Ansichten dafür oder dagegen, seine Zweifel und Vermutungen preisgiebt. Wenn es aber wie hier die Veranlassung zu einem der berühmten Feste des Schulzenhofs war, dann konnte es gar kein Dagegenreden geben. Und obgleich dieses Einverstandensein sich auch jetzt noch nur in halben Andeutungen von Mund zu Mund laut machte, war dies doch von so strahlenden Augen und so freundlichem Lächeln begleitet, daß man sah, die ganze Gesellschaft stehe bereit, ihren Segen dazu zu geben.

Trotzdem war aber doch mehr als eines da, das in dieser freudenverkündenden Luft nicht ganz frei atmete. Der liebenswürdige Vetter Niels war auf einmal bedenklich geworden. Ahlets ruhige Freundlichkeit schmeckte doch gar zu wenig nach der Würze, mit der ihn seine kleinen Liebesgeschichten von da und dort verwöhnt hatten. Was würde sein Papa dazu sagen, daß er so wenig Glück gehabt hatte? Er hatte aber ein gutes Gewissen. Von all den Mitteln, die sonst mit Erfolg angewandt zu werden pflegten, ein Frauenherz zu fangen, war nicht ein einziges unversucht geblieben. Nun machte er seinen letzten Einsatz mit einer kühlen und etwas hochmütigen Schmollerei. Half auch das nichts, dann – – Ja was dann? – Gleichwohl that er vor den frohen Gästen, als sei er der Hahn im Korbe – jedenfalls war kein andrer da!

Drinnen in dem geschmückten Saal, wo die reichgedeckten, in Hufeisenform aufgestellten Tische von dem festgegründeten Wohlstand des Hauses Zeugnis gaben, waren Vater und Tochter zusammengetroffen, als sie einen letzten prüfenden Blick auf die Anordnung werfen wollten, ehe sie als Wirt und Wirtin ihre Gäste begrüßen mußten. Der Vogt hatte jedoch seinen Blick rasch davon weg auf Ahlet gewandt, die weißgekleidet und einen Epheuzweig durch das lichtblonde Haar geschlungen in fast verklärter Gestalt vor ihm stand.

Wahrhaftig, Kind! rief er, du siehst ja aus wie eine Braut! Was soll da mit Vetter Niels werden? Der Junge muß ja aus der Haut fahren, und das wäre doch schade, wo sie so hübsch ist! Ich habe übrigens eine Überraschung für ihn. Es wird ihm sein – sagen wir zweitgrößter Wunsch erfüllt – denn daß du sein größter bist, daran zweifle ich nicht.

Ein Seufzer war Ahlets einzige Antwort. Sie ergriff seine Hand und drückte sie an ihr Gesicht, dann ging sie den Gästen entgegen.

Es war keine Gesellschaft blasierter Salonmenschen, die sich nun grüßend und händedrückend um den Vogt und seine schöne Tochter drängte, es waren lauter Leute, die sich auf ein fröhliches Fest freuten und ihre Freude offen kund geben durften.

Gleichwohl hätte ein Blitz aus heiterm Himmel nicht mehr überraschen – ja geradezu verblüffen können, als das Eintreten des neuen Amtmanns. Unwillkürlich löste sich das freundschaftliche Gedränge und verteilte sich, sodaß um den Wirt und die Wirtin ein freier Raum entstand, wodurch das Erstaunliche bemerkbar wurde, daß sowohl der Vogt als auch seine bräutlich gekleidete Tochter ihn wie einen besonders geehrten Gast begrüßten.

Ja die Pfarrersfrau wandte sich sogar an ihren Nebenmann mit der Bemerkung: Man könnte wahrhaftig meinen, die Gesellschaft sei ihm zu Ehren veranstaltet worden! worauf ihr mit einem hilflosen Achselzucken geantwortet wurde. Aber als in demselben Augenblick Niels Bork mit einer Miene, wie sie sich nur der Held des Tages leisten konnte, zu seiner Base trat und ihr den Arm anbot, um sie zu Tisch zu führen, flog ein Summen der Erleichterung und der Bewundrung durch die Versammlung – das war das Paar! Und so sehr waren die Gäste von diesem festlichen Anblick in Anspruch genommen, daß sie kaum das zweite Wunder bemerkten, daß nämlich der Vogt anstatt der Pfarrersfrau den Amtmann zu Tisch führte. Es fiel erst später auf – ganz allmählich, aber es fiel allen auf.

Dieser Mensch, der in so wenig gutem Rufe stand, daß jeder anständige Mann und jede Frau am liebsten gar nichts mit ihm zu thun haben sollte – er wurde hier auf den Ehrenplatz gesetzt! Aber glücklicherweise sah er wenigstens so aus, als ob dies ihm selbst unangenehm wäre – und das war wenigstens gut.

Ja, es war wahr, der Amtmann sah auf seinem Ehrenplatz aus wie ein zum Tode Verurteilter, und wenn das auf Rechnung des Gewissens geschrieben werden mußte, dann war es damit schlimm bestellt. Aber zum Glück für ihn hatte das Unbehagen seine Wurzel in einem ganz andern Grund; denn in der Seele giebt es verschiedne Saiten, deren Berührung Schmerz verursacht, wenn auch freilich die empfindlichste von allen wohl ein böses Gewissen ist.

Nein – es war Eifersucht, und das war gerade Pein genug. Ein heftiger qualvoller Schmerz, der ihn bei den Bemerkungen über die Bedeutung des Tages erfaßte, die er bei den Gästen da und dort gehört hatte, und die ja ihre Bestätigung in dem Anblick des schönen Paares auf der andern Seite des Vogts fand. – Es war ihm, als sei er plötzlich herabgestoßen von den sonnigen Matten des Hochlands, herab in einen dumpfigen nebligen Thalgrund, und er konnte kaum atmen.

Mußte es nicht eine Verräterei genannt werden, daß sie das Feuer in seiner Seele geschürt hatte mit den strahlenden Blicken, die sie ihm im Vorübergehn zugeworfen hatte? Oder waren es nur Beweise ihrer hochsinnigen Teilnahme mit dem Einsamen gewesen – dem Gärtner, der nach seinen eignen Worten weder Liebe noch Hoffnung hatte? Warum hatte Gott ihm dann den Glauben eingegeben, daß er hier vor der Hilfe stehe, zu der er sich in den langen Sklavenjahren emporgearbeitet hatte? Aber die Hilfe konnte auch Güte und Mitleid heißen – wollte er denn nicht dafür dankbar sein? Doch doch! – Und doch – das konnte ja sein Schicksal nicht um ein Haarbreit verrücken. Das Urteil war damit gefällt, und er mußte sich von den sonnigen Wegen der Hoffnung zurückfinden auf das öde Feld mit dem Gepräge toter Unfruchtbarkeit – und entweder das Leben hinschleppen als ein Ausgestoßner – oder – einen raschen Schritt thun über die Grenze hinaus.

Der Vogt schlug an sein Glas und erhob sich. Ein frohes, verständnisvolles Winken und Augenblinken zeigte sich bei den Gästen: Nun kam es! und sogar Ahlet durchfuhr ein Schrecken; was wollte der Vater sagen?

Meine Damen und Herren! begann er. Für längere Zeit – aber darum doch nicht lange genug! – hat mein lieber Neffe mich und meine Tochter mit seinem Besuch erfreut. Jetzt ist die Zeit – das heißt seine Zeit – abgelaufen, und er verläßt uns morgen. Er gehört ja zu dem großen Regiment der Weltbeherrscher, das man die fröhliche Jugend nennt. – Möge er die lichten Farben dieses Regiments lange tragen – und erst spät seinen Abschied nehmen! – Ich danke ihm für seine Anwesenheit in meinem Haus, und daß ihm künftig der Weg kürzer wird und leichter zurückzulegen, wenn er wieder nach Westdorf kommt – ja daß er überhaupt bald wieder kommt – habe ich im Sinn, ihm etwas zum Geleit mitzugeben.

In diesem Augenblick ließ sich draußen auf dem Wege das lustige Wiehern eines jungen Pferdes hören, das gesattelt und gezäumt von einem Knecht vorgeführt wurde, der mit aller Kraft das feurige Tier kaum zügeln konnte.

– Da meldet es sich selbst! rief der Vogt lachend, und die ganze Gesellschaft stimmte in sein Lachen ein, ohne ihn recht zu verstehn.

Was meinst du, Onkel? rief Niels von einer Vermutung elektrisiert, die ihn vor Freude zittern machte.

– Ja, wie gesagt, fuhr der Vogt fort, das Geleit steht da draußen und meldet, daß es parat sei – willst du es annehmen, Niels? Es bringt außerdem einen Garantiezettel mit, daß es sich selbst ernähren und kleiden kann, sodaß es nichts andres verlangt als eine gute Aufnahme – und eine anständige Behandlung.

Onkel! stammelte Niels und brachte vor lauter Freude kaum das Wort heraus, während er sich mit glühendem Gesicht hinter den Gästen durchdrängte, um an die Thür zu gelangen.

Ein merkwürdig sprechender Blick flog von der Tochter zu dem lachenden Vater hinüber, und sie drückten sich verstohlen die Hände. Dann wurde sogleich Gesegnete Mahlzeit! gesagt, und die Gäste eilten vom Tisch weg hinaus in die herrliche Sommerluft.

Hier saß Niels Bork schon hoch zu Roß mit dem stolzen Bewußtsein, sich brillant auszunehmen. Ist es wirklich wahr, Onkel, daß dieses Pferd mir gehört? rief er dem Vogt zu, als dieser sich Hand in Hand mit der Tochter in der Thür zeigte.

Ob es wahr ist? – Ich muß dich bitten, das kleine Dokument, das am Sattelknopf befestigt ist, zu öffnen und zu lesen. Du wirst daraus erfahren, daß nicht nur das Pferd dir gehört, sondern daß dir auch Pferdesold zugesichert ist.

Hurra, Hurra! Du bist der nobelste Onkel in ganz Norwegen! rief der Leutnant. Und Hurra! Hurra! Hurra! erklang es im Chor von allen Gästen.

Und wie das erleichterte! Das waren die Hurrarufe, die zu rufen sie gebrannt hatten, als sie am Tisch gesessen hatten, wo der Trinkspruch auf das Brautpaar so lange auf sich hatte warten lassen und schließlich ganz ausgeblieben war. Das war eine Enttäuschung gewesen, und man hatte sich ein wenig fragend angesehen, aber die Freuden der Tafel waren doch so reichlich gewesen, daß die Bereitheit, das eine fahren zu lassen und nach dem andern zu greifen, der Bedenklichkeit über den Kopf gewachsen war. Wenn nur ein Anlaß kam, sich Luft zu machen, dann sollte er nicht verschmäht werden.

Auf diese Weise wurde Niels Bork eine ganze Salve Bewundrungsrufe zu teil, und stolz wie ein König paradierte er auf seinem feurigen Roß hin und her und nahm sie entgegen. Und obgleich er Ahlet gegenüber nur zur Abwechslung anstatt des Schmollenden nun den Gleichgiltigen spielte und demzufolge that, als ob sie gar nicht da sei, war doch die ganze Entfaltung seiner stolzen Reitkunst darauf berechnet, ihr verstocktes Herz zu treffen.

Während sich dieses Schauspiel auf dem großen Platz vor dem Hause abspielte, stand im Hintergrunde eine einsame Gestalt und sah zu – das war der Amtmann. Es hatte sie freilich alle verblüfft, daß ihm der Vogt die ehrenvolle Aufmerksamkeit erwiesen hatte, ihn zu Tisch zu führen, aber es war keinem einzigen eingefallen, dem ehrenden Beispiel des Wirts zu folgen. Man brachte es nicht weiter, als ihn für das gelten zu lassen, was er war.

Sie spielen noch immer den Einsiedler, mein lieber Amtmann! sagte der Vogt mit einem leichten Vorwurf in der Stimme, während er zu ihm trat.

Ja, leider – ich bin so gewohnt daran, meinen Platz abseits zu suchen, antwortete er finster, daß ich diese Angewohnheit wohl nicht mehr los werde.

Na na, mein junger Freund, nur nicht so mutlos. Pflücke die Rose, eh sie verblüht! heißt es im Liede, oder noch besser: Freut euch des Lebens!

Ja, das sollte man – deshalb hätte ich auch lieber nicht zu Ihrem Fest kommen sollen, sagte er.

Man hat Sie doch nicht gekränkt?

Von Ihrer Seite, Herr Vogt, ist mir eine so große Ehre erwiesen worden, daß mich nur das Bewußtsein, daß ich sie mir nicht unter einer falschen Flagge erschlichen habe, vor Beschämung schützen kann. Aber trotz dieser Ehre stehe ich hier als ein Paria – nicht einer Ihrer Gäste hat mich eines Wortes gewürdigt.

Der Vogt antwortete nicht gleich, denn er hatte es selbst bemerkt und sich darüber geärgert. Aber was sollte er thun? Er wußte, daß er es ebenso gut unternehmen könnte, ein Fruchtreis auf einen Backstein zu pfropfen, als ihnen Teilnahme für eine Person einzuflößen, der es nicht gelungen war, dem Schicksal einen einzigen Vorsprung abzuzwingen. Und eine Berufung auf ihr Wohlwollen? Nein. Dieser Mann war zu stark und zu stolz, Gnadenbrot zu essen. Es gab also doch nur einen Ausweg für ihn, denselben, den er auch schon eingeschlagen hatte: sich zu verkriechen.

Schweigend schritt er mit ihm auf und ab, während der Jubel unter der Jugend immer lauter wurde. Es schnitt ihm ins Herz, diesen Mann hier neben Behagen und Freude hergehn und buchstäblich krank davon werden zu sehen. Er trug doch eine so reich begabte Lebensfähigkeit in seinem ganzen Wesen, daß sein Leben, wenn nur die Freude hinzutrat, so fruchtbringend wie wenige sein mußte. Da konnte man sehen, was die Freundschaft mit all ihrem guten Willen ausrichten konnte!

Aber nun wurde durch Rufen und Händeklatschen allgemeine Stille geboten. Frauenstimmen überschrieen einander, und Männerstimmen setzten wie wahres Donnergepolter ein, um gehört zu werden, Niels Bork sprang sogar vom Pferd, um sich in den Streit zu mischen, der glücklicherweise nur der Wahl eines Spiels galt. Es gab aber zwischen so vielen zu wählen, daß man nicht einig werden konnte.

Endlich gelang es der Pfarrersfrau, sich Gehör zu verschaffen: es sollte »die Liebeswahl« gespielt werden, und sie drang mit ihrem Vorschlag durch. Sie brachte ihn überdies mit einer so eignen Verschmitztheit in ihren trocknen Zügen vor, daß jedermann merkte, daß ihr der Schelm im Nacken saß. Ja gewiß war es lustig zu sehen, wen die Tochter des Vogts nähme, denn sie konnten sichs doch nicht anders denken, als daß durch die prächtige Gabe des Vogts der Schwiegersohn heute hatte als solcher vorgestellt werden sollen. Ein Reitpferd als Vorläufer, was konnte besser passen?

Bei der Liebeswahl handelte es sich nun darum, daß die Damen wählen mußten, und die Herren nicht nein sagen durften – da mußte selbstverständlich etwas Lustiges daraus entstehn.

Natürlich war Ahlet dazu bestimmt, den Anfang zu machen. Und so flogen die jungen Mädchen fort, um Blumen zu pflücken, mit denen die Braut geschmückt werden sollte, während die wohlerzognen Ehemänner untereinander beratschlagten, ob es sich mit ihrer Würde vereinigen ließe, daß sie sich zur Wahl stellten – unter Aufsicht!

Etwas seitab von diesem lebhaften Trubel stand Ahlet und suchte mit sich ins Reine zu kommen. Auch ihr war die kränkende Weise, mit der der Amtmann von den Gästen behandelt wurde, aufgefallen, und ihr Herz bebte, als sie ihn mit dem finstern zu Boden gerichteten Blick dort stehn sah – er, der von der Natur gerade dazu bestimmt war, über die andern weg zu sehen! Wie gern hätte sie ihm mit einem Blick einen Gruß zugesandt, der von Herzen kam, aber sie verstand es, daß alle Wunden seines Lebens gerade bei dieser Gelegenheit aufgerissen worden waren, anstatt daß sie, wie ihr Vater gemeint hatte, geheilt werden würden. Auch ein Blick von ihr würde wie Mitleid aussehen und seine stolze Seele empören.

Alles um sie verlor seine Bedeutung vollständig; es war, als stünden der finstre Mann und sie ganz allein, mit einem tiefen Abgrund zwischen sich. Auch als die jungen Mädchen mit Lachen und Scherzen herankamen und anfingen, sie mit Rosen und Maiblumen zu schmücken, blieb sie kalt und teilnahmlos. Sie war bleich wie ein Wachsbild, sogar ihre sonnigen Augen waren wie erloschen.

Bist du krank, Kind? fragte der Vater und ergriff ihre Hand.

Sie sah ihn fast erschrocken an, es war, als komme sie plötzlich zum Bewußtsein.

Du bist eine schöne Braut, fuhr er ermunternd fort. Sieh nun, daß du dir einen Liebsten findest, der deiner Wahl Ehre macht.

Vater! unterbrach sie ihn, und das ganze volle Leben erwachte in ihr. Ich wähle für Zeit und Ewigkeit! und sie schlang beide Arme um seinen Hals und küßte ihn.

Thu in Gottes Namen, was du willst, mein Kind! flüsterte er, schielte aber zugleich nach der Stelle hin, wo Niels stand und brillant aussah, weil er recht gut merkte, daß aller Augen auf ihn gerichtet waren.

Aber nun richtete sich die Braut auf, und an der Hand der Brautjungfern schritt sie zur Wahl. Die glühende Röte, die einen Augenblick ihr schönes Gesicht gefärbt hatte, erbleichte, und in ihrem Blumenschmuck glich sie einer Erscheinung aus einer idealen Welt. Dies sah allzu feierlich aus, als daß es einem Scherz hätte gleichen können, und allen wurde wunderlich zu Mute, fast unheimlich.

Doch was war das? Sie ging ja an dem kleinen Leutnant vorbei und weiter. Was in aller Welt! Sie blieb ja vor dem Amtmann stehn! Und er! Ja, und wenn man noch tausend Jahre gelebt hätte, so würde man keine solche Überraschung mehr erlebt haben – er schlang die Arme um sie und hob sie vom Boden auf, als ob er sie Gott und Menschen zeigen wollte!

Und der Vogt? Er stand ganz ruhig da und sah zu – obgleich er wie ein an der Wurzel abgehauener Stamm im Sturme schwankte. Was hatte er zu thun im Sinne?

Aber da kam das Paar Hand in Hand zu ihm hinüber. Alles drängte nun herbei, denn das war wahrlich etwas, das gesehen werden mußte, daß man es glauben konnte.

Vater! bat die Tochter. Es ist die Wahl meines Herzens für Zeit und Ewigkeit, gieb uns dein Ja!

Mein liebes Kind, sagte der Vogt mit bebenden Lippen, während die Thränen über seine magern Wangen hinabrollten. Wenn du mit geprüftem Herzen deine Wahl getroffen hast, dann weiß ich, daß du darauf beharren wirst.

Vater! Von unsrer ersten Begegnung an haben wir uns geliebt.

Ach, du gesegnetes Kind! Ja, dann verstehe ich alles! Damit reichte er ihr die eine und dem Amtmann die andre Hand und trat ein paar Schritte gegen die Gesellschaft vor. Ja – so habe ich also die Ehre, das Liebespaar als wirkliche Verlobte vorzustellen, mit der – übrigens ganz überflüssigen Bemerkung, daß ich von ganzem Herzen der Wahl meiner Tochter beistimme. Sie hat mir nie etwas andres als Freude gemacht, und in dieser Stunde hat sie mir die größte gemacht. Ich habe einmal gemeint, daß ich ein Fortschrittsmann werden könnte – ich habe es nicht erreicht – nun tritt die Tochter an meine Stelle – Ehre sei ihr dafür!

Ein Schwirren von Ausrufen und Bemerkungen ging durch die überraschten Gäste, und durchaus beifallspendend war es nicht, aber geschehn war geschehn! Und nun wurde das Paar wieder einer Prüfung unterzogen. Ja – Ahlet mit ihrer hohen Gestalt und ihren sonnigen Augen war natürlich noch dieselbe – aber er? Der Mann, der so wenig gerngesehen war – er, den keiner von ihnen mit Wohlwollen und die meisten mit Mißtrauen angeschaut hatten – er stand ja nun da und trank Lebenshoffnung und Freude aus ihrem wonnigen Gesicht – und war es nicht wie ein Wunder? Er hatte schon das Haupt erhoben und den Rücken aufgerichtet, ja, er war geradezu stramm und schön, und es schien gar nicht so, als wolle er um Gnade bitten. Und das alles miteinander war ihr Werk! Sie hatte also des Mannes verborgnen Wert herausgefunden, während die andern blind und ungläubig an ihm vorbei gegangen waren!

Niemand wußte recht, wie es zuging, aber allmählich sammelte man sich um das junge Paar, und man fand nicht Worte genug für seine guten Wünsche. Und als nun auf einen Wink des Vogts ein Tisch mit einer verführerischen Batterie von Champagnerflaschen und Gläsern aufgetragen wurde, kam neue Feststimmung über alle, und sie bekamen plötzlich Augen dafür, daß der Amtmann Gram in der That ein außergewöhnlicher Mann sei – daß er ganz gewiß alle Eigenschaften hatte, die man nötig habe – mit andern Worten: er war doch ein Fortschrittsmann.

Der eine und der andre schaute sich wohl auch nach Niels um – was sagte er dazu? Aber das Knallen der Champagnerpfropfen und das heftige Wiehern eines Pferdes – das sich fast wie ein Hohngelächter anhörte – gab schnell Antwort, denn während der Wein in den Gläsern schäumte, spornte Niels sein schnaubendes Roß der Landstraße zu und verschwand in einer Staubwolke.

Und nun trat der Vogt mit dem erhobnen Glas in der Hand vor. Aber der alte Mann mußte sich zusammennehmen, um die Worte zu finden. Meine Freunde! stammelte er. Wir können Freundschaft, Güte und Ehre bieten; es ist schön, wenn sie genügen. Aber wenn das Größte gethan werden soll, erfordert es auch das Größte – und am größten hier auf Erden ist die Liebe zwischen Mann und Weib.

Hier brach ihm die Stimme. Aber er sah, wie die Hochrufe auf aller Lippen bereit waren, und er fühlte, daß er das Zeichen zum Losbrechen geben mußte. Nun, meine Freunde, der Wein ist eingeschenkt, der Trinkspruch muß ausgebracht werden – Gott segne die Liebeswahl!

Und nun brachen die Hochrufe hervor. Wie ein jubelnder Akkord flogen sie hin über die Au und meldeten – daß es keine zwei Meinungen über die Sache gab!

Aber etwas abseits standen die beiden, die einander erwählt hatten, und sie wußten, daß der Wahlkampf schwer gewesen war – aber sie wußten auch, daß das Glück am größten ist, das durch Kampf errungen ist.

 

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Druck von Carl Marquart in Leipzig


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