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Zweites Kapitel

Ich kam einen Tag vor heiligen Dreikönig zur Welt und wurde Kaspar getauft nach dem Weisen aus dem Morgenlande, dessen Namen als der erste an die Türen geschrieben wird. Mein Göd war ein Einödbauer, der zur Freundschaft meiner Mutter gehörte und im Abendlande für einen Weisen galt, wenigstens in der nächsten Umgebung. Er las vieles aus Büchern, Kalendern und Zeitungen heraus und deutete sein tiefes Wissen mit dunkeln Worten an, ohne es jemals offen hinzulegen. Er hatte sich ein hintersinniges Mißtrauen gegen alles und am meisten gegen das, was sich klar und selbstverständlich geben wollte, erworben. Die Hebamme trug mich am kältesten Tag des Jahres in die Kirche und legte mich hinterher beim Oberwirt zum Aufwärmen auf die Ofenbank, dort stahl mich der Kreuzpointner, der immer gute Einfälle hatte, und trug mich heimlich zum Kainzenwirt, wo mich der Göd mit Freibier loskaufen mußte.

Die Taufgesellschaft hatte ihren Spaß daran, und mir schadete es nicht. Nach Landesbrauch und -unsitte, allen Lehren medizinischer Größen zuwider, wurde ich mit Mehlbrei aufgezogen, tat aber der Wissenschaft nicht den Gefallen, die Richtigkeit ihrer Warnungen zu bestätigen, sondern gedieh und kam zu festen Knochen.

Allzu viel Aufmerksamkeit wird auf meine Unterhaltung nicht gewandt worden sein. Die Nachbarlisl, ein vierzehnjähriges Mädel, dem ich oft anvertraut wurde, hat sicherlich nicht jede weinerliche Miene durch Schellenklingeln in ein Lächeln verwandelt. Sie zog mich gewöhnlich im Kinderwagen herum und war darauf bedacht, nicht ganz ums eigene Vergnügen zu kommen.

Der Wagen stand lange Jahre im Flötz unter der Stiege und leistete noch vier nachgeborenen Geschwistern seine Dienste. Er bestand aus vier grün angestrichenen Brettern, rollte auf niederen Rädern und konnte ohne große Gefahr für den Passagier umgeschmissen werden. Wenigstens nach Lisls Meinung, die ausgeprobt war. Man lag in der kleinen Truhe offen da und war vor den Strahlen der Sonne durch keinen Mullvorhang geschützt, man konnte Arme und Beine frei bewegen und auch einmal den Versuch machen, die Zehen ins Maul zu stecken. Wenn die Lisi bei der Heuarbeit helfen mußte, schob sie mich unter eine Haselnußstaude am Rain, wo ich still liegen und auf die Musik hören konnte, die Bienen und Hummeln um mich herum machten. Schrie ich gar zu jämmerlich, dann kam Lisi herüber und beruhigte mich, indem sie mich tiefer ins Buschwerk schob. Unser Schnauzl lag neben mir im Gras, und indes er anscheinend gleichgültig ins Weite sah oder nach lästigen Fliegen schnappte, gab er genau acht auf den hilflosen Kerl, der mit seinen kleinen Händen nach Sonnenkringeln haschte.

Er blieb mir ein guter Freund und ließ sich von mir die Haare zausen; er wedelte wohlwollend mit seinem Schweifstummel zu meinem Lallen und blieb sich stets seiner Würde als der Ältere und Gescheitere bewußt.

Meine ersten Gehversuche sind in keiner Familienchronik eingetragen, meine ersten Schuhe sind nicht aufgehoben worden, denn im Bauernhause ist das Natürliche kein wichtiges Erlebnis.

Eines Tages stand ich auf meinen Beinen, und wieder über eine Weile wagte ich mich allein ins Freie und gelangte auch einmal über die Tennenbrücke auf den Heuboden. Darin war es seltsam dämmerig, und wo die Verschalung nicht dicht schloß, drangen Sonnenstrahlen durch die Klumsen, und in den breiten goldenen Streifen tanzten feine Staubkörper. In der Mitte des Bodens war ein großes viereckiges Loch, durch das man das Heu hinunter warf. Als mich die Mutter zum ersten Male in der Tenne erwischte, warnte sie mich eindringlich vor dem unheimlichen Abgrunde. Ich fürchtete mich davor, kletterte aber immer wieder über die Berge von Heu und huschelte mich in ein Nest, wo es mir gruselig und wohlig zugleich war. Wie konnte ich erschrecken, wenn plötzlich unsere Katze pfauchend vor mir stand, mit feurigen Augen, weil ich ihren Jungen zu nahe gekommen war! Und wie kauerte ich mich zusammen, wenn dicht über mir der Regen auf die Schindeln trommelte! Ich wuchs bald in den Bubentrotz hinein, der sich gegen die Aufsicht des Weibervolkes auflehnt und zu den Mannsbildern hält. Mein um vier Jahre älterer Bruder Hansgirgl ging mir darin mit seinem Beispiele voran. Der stellte sich als von mir angestaunter Schulbub breitbeinig in die Küche und fragte, ob mit dem Essen nichts vorwärts ginge, als hätte er das Wichtigste vor.

Wir mußten unsere Freuden in der Arbeit der Erwachsenen, im Zuschauen und Nachahmen finden, denn Spiele und Spielzeuge, die so trefflich auf die Phantasie der städtischen Buben wirken sollen, hatten wir nicht. Wir kamen darum nicht zu kurz. Es gab bei den Handwerkern im Dorfe viel zu sehen, bei der Arbeit im Felde fanden wir unsere Lustbarkeit, auf allen Fuhrwerken durfte ich aufsitzen, und da ich auf Worte und Gebärden Acht hatte und sie gerne nachahmte, eignete ich mir nicht lauter Wohlgesittetes an. Die Mutter verwies es mir auf ruhige Art, die eindringlich genug auf mich wirkte. Ich erinnere mich nicht, daß ich grobe Schimpfworte von ihr gehört hätte, aber immerhin wäre sie leichter zum Zorne zu bringen gewesen wie mein Vater, der ein stiller, wortkarger Mensch war und immer nachdenklich seine Pfeife rauchte.

Sein schweigsames Wesen flößte uns Respekt ein, und es blieb immer eine wirksame Drohung unserer Mutter, daß sie es dem Vater sagen werde. Wenn ich im Streite mit den Geschwistern eine große Maulfertigkeit zeigte, horchte er zu und schüttelte verwundert den Kopf. Es galt als ausgemacht, daß ich die seltene Gabe vom Großvater mütterlicherseits hatte, der als Wirtshausdisputierer einen Ruf genossen hatte.

»Er ist ein sektischer Bub,« sagte mein Vater zu Nachbarn und Jagdgenossen, die zum Heimgarten in unsere Küche kamen.

Ich mußte ihnen erzählen, wie der Urtlmüller mit dem Schlitten umgeworfen hatte, wie er im Schnee gelegen und lange nicht in die Höhe gekommen war, ich machte den Wagner nach, der beim Reden stark schnaufte, oder den hinkenden Schneidergesellen. Wenn sie aus vollen Hälsen lachten, kam ich in Eifer und konnte mir nicht genug tun, bis die Mutter abbot.

Einiger Anteil an meiner Erziehung traf die Großmutter; sie lebte im Austrag bei ihrem Sohne schräg gegenüber von uns, und da dieser zwei schon halb erwachsene Mädeln hatte, wartete sie herüben, wo es mehr Kinder gab, auf. Sie war aus der tölzer Gegend, wo die Franziskaner ihren Einfluß bewahrt hatten, und hielt auf Herkommen und Brauch.

Mit neugierigen Kinderaugen sah ich ihre Hantierungen im Stalle, die Unheil abwenden sollten, und sie kargte nicht mit Unterweisungen in uraltem Aberglauben, der einen wichtigen Bestandteil ihrer Rechtgläubigkeit bildete. Den unscheinbarsten Vorgängen schrieb sie Bedeutung zu, und oft schlug sie Lärm, wenn meine allzu sorglose Mutter darin etwas übersehen oder leicht genommen hatte. Von ihren Lehren blieb etliches Gute an mir hängen, wozu ich die bäuerliche Ehrfurcht vor Brot rechne. Ich mag es heute noch nicht sehen, wenn man einen Laib Brot verkehrt auf den Tisch legt oder mit dem Messer hineinsticht, – unserm Herrgott in den Leib, wie die Großmutter sagte.

Obwohl die Alte gerne dabei war, auf meine Fragen ausführliche Antworten zu geben und daran lange Nutzanwendungen zu hängen, brachte ich sie oft genug dazu, daß sie auf das letzte Warum keine Erklärung mehr hatte. Sie machte den auch unsern Gelehrten wohlbekannten Versuch, mich vom Hauptwege abzubringen und seitwärts ins Gestrüpp zu führen, aber sie war nicht gewandt genug, um die dazu notwendigen verwirrenden Nebel aufsteigen zu lassen.

Wenn sie ihre Niederlage bekennen mußte, pflegte sie seufzend zu sagen, man habe mich als Wickelkind auf den Kalender gelegt, und darum sei ich so übergescheit und mühsam geworden.

Allmählich kam die Zeit, wo mir Wißbegierde als Tugend angerechnet werden mußte.

An einem stillen, feierlichen Herbsttag, an dem die Kuhglocken von allen Wiesen verlockender klangen wie je, ging ich neben meinem Bruder mit dem Schulranzen auf dem Buckel ins Dorf. Mein Vater stand unter der Haustüre und rauchte, und es kam mir so vor, als lachte er ein wenig. Beim Abschied hatte er mich auf den Kopf getätschelt und gesagt: »Jetzt geht's dahin …« Die Mutter hatte mir das Jöppel zugeknöpft und den Hut gerade gerückt und hatte noch an mir herumgezupft und mich dann mit einem »In Gotts Namen, Bub!« gehen lassen.

Und nun stapfte ich neben dem Hansgirgl her, der mir schon nach etlichen Schritten allen Mut nahm, indem er mir sagte, daß der Lehrer die Hiebe hinten aufmesse, der Kooperator aber lieber Tatzen hergebe.

Er redete so, als ließe sich's nicht vermeiden, und müsse bloß nach der Art verschieden als Reichnis hingenommen werden. Ich überlegte schon, ob ich mich nicht durch den Heckenzaun, in dem ich etliche Löcher kannte, auf unsere Wiesen retten sollte.

Dort hütete Nannei, die jüngere Schwester der Lisi, unser Vieh, und ihre Gesellschaft war mir noch nie so begehrenswert erschienen wie an dem Tag. Ich schaute sehnsüchtig zu ihr hinüber, da schrie sie: »Abcschütz, gehst in d' Schul und lernst nix!« Und sie streckte die Zunge heraus, so lang sie sie hatte.

Das brachte mich von meinem Verlangen ab, und ich ging weiter und kam im Schulhause an, wo ich mich von einer großen Schar von Buben und Mädeln umringt sah. Die andern Neulinge standen, wie ich, stumm und betreten herum; die älteren lärmten und balgten sich und zeigten uns auf jede Weise die Überlegenheit der gedienten Mannschaft.

Einige liefen die Stiege hinauf und rutschten auf dem Geländer herunter, bis es plötzlich unheimlich still war. Der Herr Lehrer trat unter uns.

Er war mir ja nicht unbekannt, öfters schon hatte ich ihn mit Scheu betrachtet, wenn er an unserm Hause vorübergegangen war, und ich hatte es meistens aus einem Verstecke, in das ich geflüchtet war, getan.

Zuweilen war es mir nicht gelungen, und ich war seinen Blicken ausgesetzt geblieben, und er hatte mich lachend angeschaut, als wollte er sagen: »Wart nur, du kommst mir nicht aus!« Und da war er mir wie ein Menschenfresser vorgekommen.

»Nur lauter!« sagte er jetzt zu mir. »Wer bist du?«

»Der Hagn Kaschbei,« antwortete ich verzagt.

»Da herin bist du der Kaspar Lorinser … so heißt du, und so wirst du aufg'rufen. So, das merkst du dir, und jetzt setz dich auf die Bank und paß auf alles gut auf!«

So war, ohne daß ich es ahnte, der erste leise Ruck geschehen, der mich von daheim loslöste. Ich lernte die Geheimnisse der Fibel kennen und malte die Tafel voll Buchstaben, ich drang im Lesebuch vor bis zu den lehrreichen Geschichten Christophs von Schmid, und daheim erzählte ich ihm nach, wie froh der überkluge Bauer war, daß die Eichel kein Kürbis war, als sie ihm auf die Nase fiel.

Und weder der Hansgirgl mit seinen sicheren Reichnissen behielt recht, noch die Nannei mit ihrem Spott, als sie die Zunge herausgestreckt hatte. Der Abcschütz lernte was, und der Schüler Kaspar Lorinser erwarb sich nicht bloß Kenntnisse, sondern teilte sie auch andern mit, denn er besaß ein lehrhaftes Wesen, das ihn antrieb, die Menschen seiner Umgebung auf die Höhe seines eigenen Wissens zu bringen. Es war aber auch ein Schwindelgeist in ihm, der sich damals nur anzeigte und erst später prächtiger gedieh, und der ihn alles neu Angeflogene wie längst Bekanntes und Wohlverdautes darstellen ließ.

»Ein sektischer Bub,« sagte der Vater, der mein aufmerksamer, schweigend vor sich hin rauchender Zuhörer blieb; die Weiberleute gaben weniger acht und rasselten respektlos mit Schüsseln und Pfannen in den Vortrag hinein.


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