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William Makepeace Thackeray 1858.

William Makepeace Thackeray 1858.
Bildquelle: de.wikipedia.org

Vorwort.

Thackeray sagt in seinem Roman Vanity Fair, der für uns den unmöglichen Namen »Eitelkeitsmarkt« führt, über Briefe: »Es gibt wohl in der Welt keine schärferen Satiren als Briefe. Lies ein Paket Briefe von deinem lieben Freund (vor zehn Jahren), den du jetzt nicht ausstehen kannst … Lies ein Paket von deinen eigenen Briefen, die ewige Liebe und unvergängliche Gefühle hauchen … Schwüre, Liebesbeteuerungen, vertrauliche Mitteilungen, Dankesworte, wie seltsam liest sich das nach einer Weile. Es sollte ein Gesetz erlassen werden, daß jegliches geschriebene Dokument (mit Ausnahme von quittierten Rechnungen) nach einer kurzen und angemessenen Frist vernichtet werden müsse. Die Quacksalber und Menschenfeinde, welche unverlöschliche japanische Tinte für den Gebrauch anpreisen, sollten samt ihrer abscheulichen Erfindung der Vernichtung preisgegeben werden. Die beste Tinte für den Gebrauch auf unserm Eitelkeitsmarkt wäre eine, die nach einigen Tagen gänzlich verlöschte und das Papier so rein und weiß zurückließe, daß man darauf an jemand anders schreiben könnte.«

In der Tat, auch für viele der Briefe gilt das, die nach dem Tode großer Männer die verschiedenen Schubladen im Lande verlassen, um als kostbare Vermächtnisse den großen Mann zu blamieren und die Empfänger zu erhöhen. Oder auch ganz allgemein, um möglichst nichts, was geschrieben wurde, ungedruckt zu lassen. Wir kriegen jetzt sogar schon Brief konzepte, wenn der große Mann so unvorsichtig war, sie nicht zu verbrennen, etwa, weil er keine Zeit fand, das alte Zeug zu sichten, oder auch weil sie Notizen für ihn selbst enthielten.

Dazu kommt noch ein anderer Grund, der diese Briefseuche unangenehm macht: Thackeray zitiert in seinen »Englischen Humoristen« einmal eine Bemerkung Smolletts: »Ein Mann«, sagt Smollett da, »kann sehr unterhaltend und belehrend auf dem Papier sein und doch über die Maßen langweilig im Gespräch. Ich habe die Bemerkung gemacht, daß man unter den glänzendsten Lichtern der Privatgesellschaft nur die Sterne zweiter Größe hinsichtlich des Gewinns zu suchen hat. Ein kleiner Vorrat von Ideen ist leichter zu handhaben und rascher entfaltet als eine große aufeinandergeschichtete Masse.« Was hier vom Unterschied zwischen Papier und Gespräch gesagt wird, gilt ganz ähnlich auch vom Unterschied zwischen Buch und Brief. Nicht nur aus dem erwähnten Grunde, der ja sehr zweischneidig ist, sondern auch aus dem Grunde, daß zumal der Künstler seine Ideen lieber gestaltet als darüber schreibt.

Und trotz aller dieser Gründe bringt doch gerade diese posthume Briefliteratur immer wieder so prächtige Perlen ans Licht, daß wir uns gegen den Thackerayschen Vorschlag aussprechen müssen. Denn auf der anderen Seite steht, daß die großen Werke der Kunst und des Lebens sich nicht sozusagen glatt aus ihren Zusammenhängen heben lassen. Neben allen Taten und um alle Kunstwerke fließt es von Entwürfen oder Gedanken, und nicht immer ist das, was ausgeführt wurde, größer als das, was geplant war. Manche sprechen es in Tagebüchern nebenher aus, andere in Briefen. Dazu kommt, daß ein jeder Gedanken und Gefühle in sich birgt, die ihm nicht klar genug sind, um sie künstlerisch deutlich aussprechen zu können, die aber anregend genug sind, wenn er sie in ihrem halbdunklen Zustand in Briefen verrät. Zum dritten sind die Temperamente der Großen verschieden. Es gibt solche, denen der bewußte Ausdruck dessen, was sie aussprechen möchten, so sehr ein Schweres ist, daß sie geradezu eifersüchtig darauf sind, eine jede solche Anstrengung für ihre Kunst zu sparen. Sie werden wenig und nur das Erforderliche in Briefen schreiben. Es gibt andere, die aus demselben Grunde eher und öfter dazu kommen, ihre Ideen in Briefen auszusprechen, denen sie eine letzte Vollendung nicht schuldig sind. Bei ihnen steht fast ihr Bestes in Briefen. Es gibt noch andere, die sich leicht und gern expektorieren und nicht leicht eine Gelegenheit dazu von der Hand weisen. So wird es erklärlich, daß der Wert einer Briefsammlung ganz verschieden ist von dem der Größe ihres Schreibers.

Nur kann man die Sache hier so wenig als bei Gesprächen einfach umdrehen. Es ist sehr erklärlich, daß Thackeray mit einem gewissen Wohlgefallen jene Äußerung Smolletts abdruckt, von der wir ausgingen. Wer sich persönliche Vorlesungen so bezahlen läßt, wie Thackeray es von sich berichtet – mitunter gegen tausend Mark für einen Vortrag –, der übernimmt damit die unausgesprochene Verpflichtung, sich den Veranstaltern auch irgendwie gesellschaftlich zu präsentieren. Und oft mag dieser Teil der Arbeit der schwerere sein. Nun wissen wir von Thackeray – und seine vor zwei Jahren in Neuyork erschienenen Briefe an eine englische Familie, Thackeray's Lettres to an American Family with an Introduction by W. Baxter and Original Drawings by Thackeray. New York. The Century Co. 1904. die hier in Übersetzung vorliegen, lassen es erkennen, daß er wohl Diners und Bälle gern besuchte – und wie sollte ein Kritiker der Gesellschaft wie er das nicht tun – aber daß er kein großer Unterhalter auf solchen Massenansammlungen von Menschen war –, wie anregend er auch im Familien- oder kleinen Freundeskreis sein mochte. So mag es ihm erwünscht genug gewesen sein, jene Bemerkung Smolletts als persönliche Entschuldigung und Verteidigung anzuführen. – In Wirklichkeit trifft sie aber nicht so allgemein zu, als sie formuliert ist. Und so auch nicht ihre Übertragung auf Briefe. Nur, beides muß getrennt bleiben, der Wert der Person und ihrer Bedeutung und der Wert ihrer Briefe!

Ebenso muß aber auch – und das ist wichtiger – der ästhetische Genuß der Briefe eines Künstlers ganz getrennt werden von dem Genuß seiner Werke. Denn die Briefe gehören zunächst auf die Seite des Lebens.

Und das Leben eines Künstlers ist in keinem anderen Sinne Gegenstand ästhetischen Genusses als irgend sonst ein Stück Leben oder Natur: es kann Gegenstand eines besonderen Kunstwerks werden wie jene. Ohne das sind wir bei seinem Genuß mehr ästhetisch schöpferisch als ästhetisch ausnehmend; so wie die ästhetische Betrachtung einer Landschaft wesentlich verschieden ist von der Betrachtung eines guten Gemäldes, für das sie Modell stand.

Vor allem aber ist ein Mißverständnis zu vermeiden, das in unserer wissenschaftlichen Atmosphäre [einen] gar zu leicht anfliegt und so schwer aus den Hirnwindungen zu bringen ist wie eine Fledermaus aus den Haaren. Man glaubt heute, durch Briefe und allerlei Notizen über das Leben des Künstlers am besten in das sogenannte »Verständnis« der Kunstwerke hineinzukommen. Dies ist ein grundstürzender Irrtum. Ein wirkliches Kunstwerk hat zu seinem Verständnis nie etwas außer sich nötig. Oder doch je mehr es das hat, desto weniger ist es Kunstwerk. Das wissenschaftliche Verständnis der biographischen und biologischen Bedingungen eines Kunstwerks fördert nicht, sondern hemmt die ästhetische Wirkung. Genau so, wie wissenschaftliches Bibelstudium vielleicht dazu hilft, den Boden für neue Frömmigkeit frei zu machen, aber sicherlich nicht dazu, die befreiende oder auch beschwerende, jedenfalls die wirksame Aufnahme biblischer Worte zu verstärken. Es ist ein Unterschied zwischen dem Mann, der Embryologie studiert, und dem Weibe, das ihm ein Kind gebiert, und die Embryologie kann ihm nicht helfen, das Kind zu lieben, oder auch nur, die Heiligkeit des Vorgangs zu begreifen. Aber obwohl das Leben bereichert und erhöht wird von denen, die lieben und Ehrfurcht haben, kann es derer nicht entbehren, die kalt sind und es studieren. Es ist wohl möglich, daß Wissen und Lieben, daß Kennen und Können in einer Person seien, am unwahrscheinlichsten jedenfalls in einer, welche beides nicht zu trennen versteht. Das Leben ist interessant, es ist überall interessant; wie sollte es nicht da interessieren, wo es seine großen Werke schaffte. Aber dieses Interesse empfinden und ihm nachgeben ist etwas ganz anderes, als vom Kunstwerk sich ergreifen lassen; und es wirkt ihm eher entgegen, als daß es dazu hilft. So wenig ein Prophet in seiner Vaterstadt Wunder tun kann, so wenig ein Kunstwerk an denen, welche es in dieser Weise »verstehen«.

Gewiß haben beide, Leben und Werke, miteinander zu tun, aber gegensätzlich: das Leben als Stoff im Kunstwerk, das Kunstwerk als Tat im Leben; aber der Stoff ist im Kunstwerk als solcher überwunden, und das Kunstwerk sieht man im Lebensbild von unten her, wo die Bildfläche, die Erscheinung, auf die es ankommt, nicht zu sehen ist. Denn so wahr es auch ist, daß das Kunstwerk nicht einen Schein, sondern gerade die eigenste Wahrheit, das innerste Getriebe des Lebens offenbaren und in die Tiefen sehen lassen soll, so soll es doch eben dies alles »offenbaren«! das, was es ahnen lassen will, will es durch seine Erscheinung ahnen und nicht durch den Biographen enthüllen lassen! und selbst die Tiefen, die es verbirgt, verbirgt es weder zu dem Zwecke, daß der Biograph durch ihre Ausräumung das Werk allererst »verstehen« lehre, noch sind es überhaupt Tiefen des Manuskriptenschranks, aus denen man etwas hervorzerren kann, das dann nur noch entziffert zu werden braucht, um alsbald den Philologen das leisten zu lassen, was der Dichter durch das Werk selbst offenbar nicht leisten konnte!

Schon Lessing hat die Parole ausgegeben: »Was geht uns das Privatleben eines Schriftstellers an? Ich halte nichts davon, aus diesem die Erläuterung seiner Werke herzuholen.« Aber Lessing stand noch vor jenem Grad der Erhebung der Wissenschaft, auf dem wir inzwischen gelernt haben, nichts mehr direkt, alles nur noch historisch zu genießen. Früher wünschte man sich wohl, diese oder jene Zeit persönlich erleben zu können; wir gleichen mehr dem Magister in Otto Ludwigs Hans Frei, der, als er auf die Freite geht, im Geheimen sich wünscht, daß seine zukünftige Frau schon wieder tot und begraben und alles vorbei sein möchte, und er hinterm warmen Ofen in Ruhe die traute Rückerinnerung habe. Nur daß wir zwischen uns und die Gegenwart kein warmes Erinnerungsgefühl, sondern eine kalte historische Betrachtung wünschen. Irgend eine wissenschaftliche Brille. Denn nicht zu schauen, sondern »etwas zu lernen« ist unser Begehren bei jedweder Sache. Auch das Kunstwerk wird uns eigentlich wertvoll erst durch allerlei Dinge, die im Grunde nichts mit Kunst zu tun haben, als »Dokument«, als »Experiment« und was alles! Aus dieser wissenschaftlichen Atmosphäre lediglich ist es erklärbar, daß wir meinen, dem »Verständnis« eines Kunstwerkes uns zu nähern, wenn wir seine Entstehungsgeschichte und den Charakter seines Schöpfers möglichst genau kennen lernen, unser Verständnis des Werks zu »vertiefen«, dadurch, daß wir erfahren, was sein Schöpfer mit ihm »wollte«. Wir haben es in der Kunst mit keinem Wollen als mit dem zu tun, welches das Kunstwerk uns zeigt. Der Autor »wollte« vielleicht seine Miete bezahlen! Das ist sehr ehrenwert, aber was geht es uns an! Er hat vielleicht das größte Werk der Neuzeit schreiben wollen, was geht das uns an, wenn er ein mittelmäßiges Gesellschaftsstück zustande brachte! Was erklärt solch ein Wille des Autors, außer etwa das, was am Werke nichts taugt, und also am wenigsten stört, wenn es unbeachtet bleibt, statt ins Zentrum des »Verständnisses« zu rücken!

Steht nicht häufig genug das Leben im geraden Gegensatz zum Kunstwerk? Was hilft es zum Verständnis des Kunstwerks, wenn man weiß, daß das Leben seines Schöpfers – anders war? »Dem Herrlichsten, was auch der Geist empfangen, drängt immer fremd und fremder Stoff sich an«, – die Entstehungsgeschichte eines Werkes ist recht eigentlich das, was mit Gewalt dem Werke jenen fremden Stoff andrängt, welchen von ihm fern zu halten der Dichter sich Mühe gab. Für die künstlerisch starke und tiefe Wirkung des Werkes, für das, was es sich lohnt sein »Verständnis« zu nennen, wäre es viel besser, wenn wir das Kunstwerk wieder als Offenbarung betrachteten, die der Person des Dichters im Grunde fremd ist und von ihr und ihrer Art so wenig beeinflußt wird als der Gott nach der mittelalterlichen Mythologie von der Person der Mutter, die ihn gebar. Davon, daß er die Offenbarung tragen durfte, mag dann nachher der Künstler eine Würde haben, wie Maria, zu der man wallfahrtete und von der man Reliquien zu besitzen begehrte.

Alles wendet sich, sobald es nicht auf das Verständnis des Kunstwerks, sondern der Person des Künstlers abgesehen ist, oder etwa auch auf das Verständnis des künstlerischen Prozesses, dem das Werk entsprang. Für diesen Zweck ist gerade jener Widerspruch zwischen Leben und Kunstwerk, dessen Betrachtung die tiefere Wirkung und das rechte Verständnis des Werkes nur hindern kann, außerordentlich wichtig. Es verstärkt sicherlich nicht den Eindruck des Lagardeschen Idealismus und sein »Verständnis«, wenn man weiß, ein wie kräkeliger Charakter in ihm sich zu reinigen versuchte. Aber es läßt sich kaum ein ergreifenderes Zeugnis dafür erdenken, was an Gefühlen und Gedanken in der Seele eines unglücklichen Querulanten vorhanden sein kann, das nach Erlösung ruft und der Erlösung wert ist. Die Wucht und Kraft Carlylescher Gedanken kann nur verlieren, wenn man sich dabei einen magenkranken Mann vorstellt, der »Pessimismus als zurückgetretenes Mittagessen« produziert, um mit Nietzsche zu reden, welcher wissen mußte, wie Philosophien aus körperlichen Zuständen sich gebären. Aber wenn man ein plastisches Beispiel dafür haben will, was es bedeuten kann: »Schwach am Leib, am Geiste stark«, dann ist es Carlyle mehr als Nietzsche. Und so – von wieder einer anderen Seite her – steht es auch mit den Briefen, welche Thackeray zur Zeit seiner Vortragsreisen an eine amerikanische Familie schrieb. Es verstärkt ganz sicherlich nicht den Eindruck der messerscharfen Satire des Mannes und lehrt ganz sicherlich nicht das tiefer empfinden, was sie besagen will, wenn man sich hinter ihr den weichen und grundgütigen Menschen vorstellt, der sich in diesen amerikanischen Briefen zu erkennen gibt. Aber wie man sich den Ernst des Weltprozesses verhehlte, indem man sich ihn in die Tätigkeit eines allmächtigen Privatmannes symbolisiert dachte, so stumpft man auch den Ernst der Kritik ab, welche unsere satirische Kunst an unserem Leben übt, indem man ihre ätzende Schärfe durch liebevolle Privatnachrichten über die verschiedenen Träger dieser Kritik zerteilt. Das Kunstwerk ist auch gar nicht in dem Maße Eigentum des privaten Charakters seines Schöpfers, als diese jetzt alleinherrschende Methode der ästhetischen Verständigung denken läßt, welche nicht vom vollendeten Kunstwerk und seinem Eindruck ausgeht, sondern von seiner zufälligen Entstehung. Wen aber umgekehrt gerade dieses sozusagen private Verhältnis des Künstlers zu seinem Werke interessiert, wer Psychologie des Künstlers treibt, für den gibt es kaum einen interessanteren Gegensatz als den, welchen diese Briefe zwischen Thackerays Charakter und seiner Kunst zeigen.

Die Kunst ist nicht etwas, das in jedem einzelnen ihrer Werke aus der Seele ihres Schöpfers neu entsteht. Die Kunstform des satirischen Romans ist im England Jonathan Swifts und einiger anderer, die Thackeray in seinen Vorlesungen über die englischen Humoristen schildert, in alter Übung. Thackeray schuf sich diese Form nicht als den geeignetsten Ausdruck für seine besondere Art und Weltbetrachtung. Insbesondere der Einfluß von Boz Dickens ist überall bei ihm kenntlich. Aber wie nun kommt es, daß er innerhalb dieser Kunstrichtung sich gerade durch die Schärfe seiner Satire auszeichnete? Wenn die Schilderungen, die amerikanische Reporter von ihm entwarfen, nicht nur sein Äußeres gäben, dann wäre es nicht verwunderlich. »Er ist ein stämmiges, gesundes, breitschulteriges Exemplar von einem Manne – hier wird vergessen zu erwähnen, daß er auch hochgewachsen war, man bekommt durch das »stämmige« den entgegengesetzten Eindruck – mit kurzgeschnittenem sich grau färbendem Haar und blitzenden grauen Augen, die sehr scharf durch eine Brille blicken, welche einen sehr satirischen Brennpunkt hat. Er scheint fest auf seinen eigenen Füßen zu stehen, als ob er nicht so leicht umgeblasen oder niedergeworfen werden könnte weder durch Lobsprüche noch durch Fäuste; ein Mann von guter Verdauung, der das Leben leicht nimmt und alle Winkelzüge und alle Grillen durchschaut.« Nimmt man noch dazu, daß er von einem Faustkampf in der Schule her eine eingeschlagene Nase hatte, worauf sein Pseudonym Michel Angelo Titmarsh anspielt, und daß sein Kinn stark hervorstand, so scheint man allerdings einen Mann wie von herkulischer Gestalt und Gesundheit, so von zugreifender Kampflust und überlegenem, nicht leicht an sich zweifelndem Charakter vor sich zu haben, und weshalb sollte man diesem Manne nicht zutrauen, daß ihm die gewöhnliche Kritik nicht scharf genug war! Aber ach, die Briefe zeigen einen fast in allem entgegengesetzten Charakter! Schon die Rückschlüsse, die der Reporter aus dem Eindruck der Gestalt auf seine körperlichen Bedingungen zog, sind durchaus irrig. Die Briefe geben uns einen fortwährend kränkelnden, und zwar gerade an einer Art von Magenkrämpfen, besser Koliken, leidenden Mann, der in den Pausen, die die Anfälle ihm lassen, arbeitet – kaum mit besonderem Eifer –, der bei jedem Stück, das er fertig hat, dem Argwohn fast erliegt, daß es Schund sei, der vielleicht nicht von Lobsprüchen, desto leichter aber von Angriffen (»Fäusten«) umzuwerfen ist, weichen und liebebedürftigen Charakters, der an dem Schicksal, das ihm Frauenliebe versagte, litt, und sich nur schwer durch die Liebe seiner beiden Töchter tröstete. Nein, die Schärfe seiner Satire entspricht gerade seiner Weichheit und seiner Neigung zur Selbstkritik. Man hat wohl auch sonst beobachtet – und dies Beispiel Thackerays bestätigt es –, daß gerade weiche, leicht verletzliche Naturen die eigentlichen Träger der Satire sind; es ist das auch nicht so unnatürlich, wie es zuerst aussieht: man bedenke, daß gerade solche Naturen am stärksten das fühlen mögen, was die Satire verspottet, die innere Inkongruenz von Wesen und Wort, von Sache und Schein, von vorgegebenen und wirklichen Motiven. Übrigens diese vorwiegend untersuchende, analysierende Stellung zum Leben! Thackerays Mutter war eine geborene Becher. Die Form dieses Namens ist sicherlich so unenglisch wie möglich. Damit mag es gerechtfertigt sein, wenn unwillkürlich jener Ende des 17. Jahrhunderts nach England ausgewanderte Chemiker Becher ins Gedächtnis tritt, der für einen der Väter der wissenschaftlichen Chemie gilt und der erste war, der Gas auffing und transportierte; allerdings noch nicht zu irgend einem praktischen Zweck. Dies möge man als nicht viel mehr wie ein Wortspiel nehmen. Gerade härtere kampf- und angriffslustigere Charaktere werden hier schwerhöriger sein. Und ebenso erscheint es verständlich, daß gerade die weniger Widerstandsfähigen, die Weichen darauf verfallen, eine solche indirekte Gegenwehr gegen das zu führen, was sie verletzt, wie es die Satire ist. Aber hierbei ist nun sehr wichtig zu betonen, daß nach den Briefen zu urteilen, diese Satire von Thackeray nicht im persönlichen Leben gebraucht wird. Über das, was ihm im realistischen Leben schwer wurde, hilft er sich nicht durch Satire hinweg, sondern durch einen überwältigend heiteren, zarten und harmlosen Humor – ein sehr beredtes Zeichen für ein durchaus vornehm empfindendes Gemüt. Wir kommen darauf zurück.

 

Ich berichte kurz über Veranlassung, Hauptinhalt und Charakter der Briefe. In den Jahren 1846-48 war Vanity Fair erschienen; seitdem galt Thackeray für gleichen Ranges mit Dickens, und manche stellten ihn noch höher. Ich erlaube mir nicht gern ein Urteil hierüber; mir scheint, man hat Grund sich über beide zu freuen und jeden in seiner Besonderheit zu genießen. Thackerays Vater starb, als der Sohn erst fünf Jahre alt war. Er hinterließ ein nicht unbedeutendes Vermögen. Einen großen Teil davon verbrauchte der Sohn durch eine unglückliche Spekulation, zu der ihn ein falscher Freund verleitete, einen Teil auch wohl im Kartenspiel. Doch scheint er nie eigentliche Not gelitten zu haben. 1837, im Alter von sechsundzwanzig Jahren, heiratete er. Seine Ehe war eine glückliche; aber nach der Geburt des dritten Kindes begann seine Frau zu kränkeln, und nachdem Thackeray sie längere Zeit allein zu pflegen versucht hatte, mußte er sich überzeugen, daß die Krankheit eine unheilbare Geisteskrankheit war, und einer steteren, ruhigeren, sorgsameren Pflege bedurfte, als er in seinem Hause ihr angedeihen lassen konnte. So etwa berichtet sein Freund Trollope. Und dieses Schicksal muß man als Stimmungshintergrund der Briefe kennen. Es erklärt manches in den Briefen, nicht nur die darauf anspielenden Bemerkungen, sondern auch die ganze Aussichtslosigkeit der Liebe, von der die Briefe handeln. Die Sorge für die Kinder, drei Mädchen, von denen indes eines frühe starb, scheint nun den Dichter, der von Natur träge gewesen sein soll, wozu vielerlei in den Briefen gut stimmt, zu besonderen Anstrengungen veranlaßt zu haben. Zu diesen Anstrengungen gehörten auch die Vortragsreisen, die er seit 1851 in England, Schottland und Amerika unternahm. Er wollte das Schicksal dieser beiden Töchter sicher gestellt sehen, und was er darunter verstand, verrät er an einer Stelle der Briefe, wo er davon spricht, daß zweimalhunderttausend Mark Vermögen für jede der beiden Töchter nötig seien, im ganzen also viermalhunderttausend Mark! »Das muß für die Tochter eines Schriftstellers genug sein«, sagt er. Und das vor fünfzig Jahren! Aber wir kennen den Wert des Geldes über dem Kanal nicht und wollen uns also aller Ausrufe enthalten. Bei Gelegenheit nun dieser Reisen wurde ihm in Neuyork ein Kaufherr namens Baxter vorgestellt, dessen schlichte Art ihm so gefiel, daß er in seinem Hause Besuch machte, dem »Braunen Hause«, wie er es immer nennt. Wie die Familie auf ihn wirkte, zeigt sein erster Brief: »Meine liebe Frau Baxter!« schreibt er, »Wenn ich an alle Ihre große Güte gegen mich denke, legt sich etwas wie ein Schleier vor meine Augen, und ich kann das Papier kaum sehen. Sie erlauben mir, daß ich oft, sehr oft an Sie schreibe, nicht wahr? und schreiben Sie mir auch! morgen schon, bitte!« Seite 17. Die Familie bestand außer den Eltern aus zwei Töchtern, der neunzehnjährigen Sarah und der sechzehnjährigen Lucie, dazu ein paar Knaben und eine Freundin der Lucie, mit Namen Libby. Etwas Reizvolleres als einige der an die beiden jüngeren gerichteten Briefe kann man kaum erdenken: »Meine lieben Vögelchen! Es nützt Euch nichts, daß Ihr grimmig tut und mich ausscheltet, und mit Vorwürfen überhäuft. Ich weiß wohl, daß ich Euch einen Brief schuldig bin, und daß ihr umhergeht und zu jedermann sagt: Warum antwortet uns Herr Thackeray nicht? Waren wir nicht sehr nett mit ihm? Haben wir nicht Kognakpfirsiche und eingelegte Wallnüsse für ihn zubereitet? Hat er uns nicht beide geküßt, als er fortging? – nun habe ich Euch gefangen! ich habe das nur geschrieben, damit Ihr den Brief nicht vorzeigen könnt. Jetzt wagt Ihr das nicht! ich biete Euch Trotz! – Und wir schrieben ihm die niedlichsten Briefe und denken immer freundlich an ihn. Und doch bleibt er uns seit undenklichen Zeiten einen Brief schuldig. O, Ihr verdrehten Vögelchen! Ihr sitzt zusammen auf einem Ast, und ich will Euch beide mit einem kleinen Stein herunterwerfen.« Seite 87. Worauf denn der kleine Stein geflogen kommt in Gestalt einer anmutigen Neckerei, die man selbst nachlesen mag. Die Hauptperson des Briefwechsels ist aber eine andere, die ältere Tochter Sarah, in welche Thackeray feierlich versichert »sich verliebt« zu haben. Es ist das offenbar auch in Wirklichkeit der Fall. Und dies, wie er sich wechselnd zu dieser »Verliebtheit« stellt, bildet den die Briefe zusammenhaltenden Faden. Etwa um die Mitte des Briefwechsels heiratet Sarah. Thackeray ist auf seiner zweiten amerikanischen Reise; aber er wird zu guter Zeit schwer krank, um eine Feier vermeiden zu dürfen, bei welcher er gerade so gern zugegen wäre – wie er sagt – als dabei, wenn einem seiner Kinder ein Zahn gezogen würde. Sechs Jahre ist Sarah verheiratet, dann stirbt sie; Thackerays Beileidsbrief ist der letzte der Sammlung. Ein Jahr später stirbt er selbst, im Alter von 52 Jahren. In seinem Beileidsbrief erzählt Thackeray, daß er in großen Zwischenräumen »furchtbar traurige Briefe« von ihr erhalten habe. An den Briefen, die von ihm in der Sammlung stehen, merkt man es hie und da. Einmal heißt es: »Ich las eben auch einen sehr schönen melancholischen Brief von Sarah. Sie streckt ihre Hand nach einem Gespenst der Vergangenheit aus.« Seite 185.

Hier ist nun ein eigenes Schicksal, das der Dichter ganz offenbar schwer empfunden, und dessen er sich zu erwehren hat. Und allerdings, es ist ein paarmal von bitteren Briefen die Rede, aber von unabgeschickten. Die Briefe, welche erhalten sind, weisen wenig von Satire oder überhaupt Bitterkeit auf; die persönliche Art, wie der Dichter sich gegen das Geschick wehrte, ist ein reizend harmloser und schalkhafter Humor. »An die Dame, von welcher Sie sprechen,« schreibt er kurz nach ihrer Hochzeit an ihre Mutter, »werde ich später, nach längerer Zeit einmal schreiben; jetzt nicht – es steht etwas zwischen uns.« Seite 142. Aus der späteren Zeit: »Wenn mich danach verlangte, Sarahs Kinder zu sehen, so würde ich es sagen, aber es verlangt mich nicht danach. Aber ich muß ihnen wohl einige Grüße schicken? Also: Gott segne Euch, meine lieben Kleinen. So, nun geht wieder ab, Ihr hübschen kleinen Herzchen. Wau – wau – wau! Muh – muh – muh! Kickericki – kickericki!« »O du gefühlloser Kerl!« sagt Tante Lucie und geht hochmütig zur Tür hinaus. »Aber er ist wirklich krank, das ist Tatsache,« sagt die Großmutter …« Seite 181.

Was wir hier über das Verhältnis der Thackerayschen Satire zu seinem privaten Charakter sagten, erscheint uns als das wertvollste Ergebnis, das man aus der Durchsicht der Briefsammlung davon trägt. Der private Charakter des Künstlers spiegelt sich nicht unmittelbar im Kunstwerk, das überlegten wir schon; die Briefe zeigen aber weiter, daß nicht einmal seine private Art, sich gegen das Schicksal zu wehren, und zum Beispiel eine angeborene Schwermut zu bekämpfen, sich im Kunstwerk offenbart. »Ich bin beständig krank«, schreibt er ein Jahr vor seinem Tode. »In Paris sagte mir ein Arzt vor einiger Zeit, daß ich eine gefährliche Krankheit hätte, das betrübte mich gar nicht«, und nach einigen Zwischensätzen fährt er fort: »Also seit ihres Mannes Tod reist meine arme alte Mutter hin und her und ist nirgends glücklich. Ich habe diese Veranlagung zur Niedergeschlagenheit von ihr geerbt, nur habe ich vor ihr voraus, daß ich eine starke Dosis Humor besitze, der Ihrem verdrießlichen alten Freund zu manchem heiteren Lachen verhilft.« Seite 191. Entfernter Stehende pflegten denn auch nur dies Lachen aufzufassen und zum Beispiel zu erzählen, daß ihn seiner Frau Krankheit sehr wenig berührt, vielmehr durchaus heiter gelassen habe.

Die Briefe geben uns manche biographische Notizen, durch welche eine Reihe von Bemerkungen und sogar langen Ausführungen, die sich in deutschen Büchern finden, widerlegt werden. So findet sich zum Beispiel eine lange und sehr sonderbar berührende Zumutung Trollopes in bezug auf die Kritik, welche Thackeray an dem Leben der vier George übte (das Thema der zweiten Vortragsserie des Schriftstellers), auf die Behauptung aufgebaut, daß diese Vorträge natürlich in Amerika und Schottland vielen Anklang gefunden, in England dagegen aufs tiefste verletzt hätten. Die Briefe sprechen sich gerade über die verschiedene Aufnahme der Vorträge über die vier George sehr ausführlich und wiederholt aus. Danach liegt alles umgekehrt. Die Vorträge fanden in Amerika eine scharfe, sehr ablehnende Kritik; ein Kritiker verstieg sich zu der Behauptung, daß »jeder beliebige junge Mann abends in seinem Bureau mit Leichtigkeit eine solche Vorlesung niederschreiben könne«. Von dem Erfolg in England dagegen schreibt Thackeray aus Manchester: »Sie (die Vorlesungen) haben hier einen viel größeren Erfolg als in Amerika und bringen ebensoviel ein.« Seite 163. Und er weiß dafür auch eine sehr plausible Erklärung: »Da die Leute hier mit dem Gegenstand vertrauter sind, alle Anspielungen besser verstehen u. s. w., haben sie mehr Freude an der Sache.« Und über die Verletzung loyaler Herzen heißt es ein halbes Jahr vorher, als er in London einige der Vorträge – krankheitshalber nur einem kleinen Kreise – vorlas: »Die alte Lady Morley weinte bei Nummer drei, Lord Morley, der doch zum Hofe gehört, war nicht im geringsten skandalisiert – kurz, es war augenscheinlich, daß die Leute sich sehr gut unterhielten. Ich las die Vorträge genau nach dem amerikanischen Konzept, von dem Ihre Leute sagten, ich werde nicht wagen, es in England zu lesen.« Seite 157.

Der amerikanische Mißerfolg dieser zweiten Reise, der übrigens nicht so sehr ein pekuniärer als ein ideeller war, erklärt sich wahrscheinlich mehr noch als aus dem in Amerika weniger interessierenden Stoff aus einer Zeitungshetze, die zwischen die beiden Reisen fällt und die Thackeray durch einen Satz über Washington wider sich entfesselt hatte. Ich habe diesen Satz nicht feststellen können; er muß in den Newcomes Die Herausgeberin sagt: in den »Virginiern«. Da aber die Virginier erst 1857 geschrieben wurden, der Brief aber, in dem Thackeray zuerst von der »verfluchten Zeile« spricht, aus dem Dezember 1853 stammt, so kann es sich nur um die Newcomes handeln. gestanden haben und ist wohl in den späteren Auflagen gestrichen worden. Nach dem, wie Thackeray über ihn spricht, könnte er dem Satz ganz ähnlich gewesen sein, den die Herausgeberin aus einem Privatgespräch zitiert. Crowe, Thackerays Privatsekretär auf dieser Reise, hatte einige Ölskizzen nach Gilbert Stuarts Bildnissen Washingtons und seiner Frau angefertigt. Thackeray zeigte sie und sagte über Washingtons Bild, das er besonders bewunderte: »Sehen Sie ihn doch an, sieht er nicht aus, als hätte er gerade eine köstliche Dummheit gesagt?« Einleitung Seite 9. Eine derartige Äußerung muß es sein, um die es sich handelt. Er sagt: »Ich fürchte, diese verfluchte Zeile über ›Mr. Washington‹ hat mir in den Vereinigten Staaten ungeheuer geschadet. Die Engländer und Franzosen lachen zwar, wenn sie sie lesen, aber einem geärgerten ungebildeten Menschen Erklärungen zu machen, ist ganz zwecklos«, Seite 111. und nachher: »Ich bin so beunruhigt und bedrückt dadurch, als hätte sich ein lieber Freund gegen mich gewandt und mich geschmäht. Ich, der ich … Ihr Land fast wie mein eigenes liebe, der ich die Vereinigten Staaten so übertrieben herausstreiche, seit ich nach Hause zurückkehrte und ein so fanatischer Anhänger von ihm geworden bin … Ich, der ich Washington wie kaum einen anderen Mann liebe und ehre!« Seite 115.

So wird man noch manches Interessante äußerlich biographischer Art in den Briefen finden; aber ihre eigentliche auch biographische Bedeutung scheinen sie mir durchaus in jener Selbstoffenbarung des Thackerayschen Charakters zu haben.

Wenn man den Faden der Neigung zu Sarah festhält, den die Briefe ihrem Leser übrigens sehr schnell in die Hand spielen, so wird man bald empfinden, daß die Entwicklung jener Neigung, mit deren scherzhaftem Eingeständnis die Sammlung beginnt, mit deren Totenklage sie schließt, diese Reihe zum Teil weit auseinanderliegender Ergüsse fast zu einem Kunstwerk gliedert. Und damit kommen wir zu einer gewissen Einschränkung des Satzes, daß die Briefe der großen Männer auf die Seite des Lebens, auf die private Seite gehören. Es bleibt das zwar richtig und ist prinzipiell stets zuerst in Rechnung zu setzen, aber es ist nicht alles, was darüber zu sagen ist. Bei vielen, besonders natürlich bei Künstlern, die mit dem Wort zu tun haben, sei es als Vers- oder Prosadichter oder auch als Philosophen, sind Briefe fast das, was für den Maler eine Zeichnung ist: erste Entwürfe, oder sonst Dokumente für seine Art, die reale Welt zu betrachten. Zumal für Thackerays Art könnte es so sein.

Thackerays Kunst besteht ja nicht sowohl im Aufbau eines Werkes, als vielmehr in einer fortlaufenden, friesartigen Schilderung von Welt und Schicksal. Leute, die im Besitz absoluter Prinzipien über die allein richtige Dichtweise sind, oder über die allein richtigen Motive zum Dichten, oder über die allein richtige Weltanschauung, unter deren Gesichtswinkel man dichten muß, wie Hermann Conrad in seinem für meinen Geschmack unerträglich einseitigen Buche über Thackeray, haben ja schon aus dieser Dichtweise allein zu entscheiden vermocht, daß Thackeray kein großer Dichter sein könne, ebenso wie der Genannte dasselbe Urteil aus der Tatsache des Thackerayschen Pessimismus und gar der »frivolen Auffassung und Behandlung seiner erhabenen Kunst« folgert. Wer solche unfehlbaren Maßstäbe für kurz und lang in der Kunst nicht besitzt, wird geneigt sein, in all den erwähnten Besonderheiten der Thackerayschen Kunst nicht sowohl Unvollkommenheiten als eben Besonderheiten zu sehen. Er wird finden, daß Byron ein großer Dichter war und zum Beispiel auch Goethe ihn als solchen anerkannte, obwohl er Pessimist war und das in ganz anderer Schärfe als Thackeray; er wird ferner finden, daß es überhaupt keine einfachen Motive menschlicher Handlungen gibt, sondern höchstens der einzelne diese oder jene der unendlich vielen Motivteile seiner Handlungen heller im Bewußtsein empfindet als andere, und er wird finden, daß, wenn dem so ist, die starke Empfindung für die weniger großartigen Motive die fast selbstverständliche Eigenheit des Satirikers sein wird. Und er wird eher geneigt sein, es sehr ehrenhaft zu finden und das Zeichen eines nicht ganz gewöhnlichen Geistes, daß der Satiriker Thackeray vor dem Menschen und Schriftsteller Thackeray nicht Halt machte, um etwa nur des Leben anderer satirisch zu sehen, sich selbst aber für übermenschlich zu halten. Er wird dafür halten, daß die Fähigkeit zur Selbstsatire sogar Taugenichtsen einen Anflug von Größe gibt und am allerwenigsten eine sonst fühlbare Größe aufheben kann. Und es wird ihn geradezu erbauen, in den Briefen, von denen wir handeln, zu finden, daß die Selbstsatire beinahe die einzige Satire ist, welche Thackeray in sein Privatleben hineinnahm. »Beinahe«, nicht ganz. Es findet sich zum Beispiel an einer Stelle, wo er von Krankheit und Tod spricht, folgende kleine Satire: »In der Kabine (es ist auf der Überfahrt nach England!) sind drei gelbwangige, papistische Priester, die wissen genau Bescheid über das zukünftige Gottesreich und haben die Schlüssel des Himmels in ihren Reisetaschen – aber warum wurde einer von ihnen beinahe ohnmächtig, als sich kürzlich am Abend ein kleines Stürmchen erhob? Welche Unzahl von Himmelspforten haben wir erbaut, und wenn nun am Ende gar keine Mauern da sind? Doch das ist ein Geheimnis; die hochwürdigen Osgood, Hawkes, Hughes haben die Aufgabe, sie zu bewachen.« Seite 150, 151. Indessen selbst diese satirische Stelle könnte man gut als einfachen Humor ansprechen, so gutmütig ist sie. Seine Selbstsatire ist jedenfalls sehr viel schärfer: (Über seine Vortragsreisen:) »Ich werde Sie noch einmal sehen, ehe ich mich auf die Jagd nach den Dollars begebe und den Kampf mit den Mississippimücken aufnehme. Nächste Woche wollen wir versuchen, noch recht lustig zu sein, nicht wahr? und dann werde ich den Hut in der Hand durch die Republik gehen, wie ein alter Quacksalber. (Ich schäme mich dieser ekelhaften Quacksalbereien täglich mehr!«) Seite 24.] Oder gar: »Ich bin ganz krank … aus Ekel an meinen Vorlesungen. O Steward, bringen Sie mir eine Schale! Ich hasse und verabscheue den Anblick des verfluchten Manuskripts, und ich bleibe dabei, jedem, der mir in den Weg kommt, zu sagen, daß ich ein Charlatan bin.« Seite 48. »Das beschwerliche Vorlesegeschäft geht weiter: die Goldstücke laufen in kleinen Häufchen herbei und jede Woche macht die Mädchen (seine Töchter) um zweitausend Mark reicher.« (2 Referenzen): Seite 145. Hier sieht man in die tiefsten Abgründe der von Conrad so strenge gerügten Frivolität der »Auffassung und Behandlung seiner erhabenen Kunst« hinein. Nachher heißt es: »Mein Leben sagt mir nicht besser zu als zuvor, aber ich halte dauernd meinen Hut ausgestreckt, um die Goldstücke aufzufangen und bin entschlossen, mein trübseliges Lied weiter zu singen. Was tut's, wenn ich angeödet und gelangweilt bin? Ich kann schon einige Monate der Langeweile für zwei so gute Töchter wie die meinigen ertragen.« Seite 145. Und gar über sein Bücherschreiben: »Dort (in Hamburg) will ich versuchen, einen Anfang meines neuen Buches zu schreiben. Gut wird es nicht werden; es wird keinen Fortschritt bedeuten, wie es einige ehrgeizige junge Leute in Amerika wünschten, – eher einen Rückschritt; aber wenn ich sechzigtausend Mark für meine Töchter bekommen kann, will ich vorwärts oder rückwärts oder in jede beliebige Richtung gehen.« Seite 82.

Und so werden wir denn auch fragen dürfen, weshalb jene Art der Romanschreiberei, bei welcher der Dichter zu Anfang noch nicht weiß, wie die Geschichte ausgehen wird, weshalb sie unkünstlerisch sein soll? Für ein Drama wird sie sich ja wohl von selbst verbieten, aber für den Roman? Für die epische Poesie überhaupt? Sind denn nicht einige der größten Epen und Romane der Weltliteratur in dieser Weise konzipiert? nicht die alten großen Volksepen fast sämtlich? nicht der Donquichote? nicht Wilhelm Meister?

Nun, wie dem sei, diese Briefe bieten eine einheitliche Beleuchtung eines Lebensausschnitts, und da der Zufall eine so gute Rundung in sie hineingebracht hat, so nähern sie sich auch in der Konzeption einem Kunstwerk.

Wir sagten schon, daß Briefe, sofern es sich um das Verständnis nicht einer Dichtung, sondern eines Dichters handelt, ein besonders guter Schlüssel zu sein pflegen. Wo sie, wie hier bei Thackeray, ausführlich sind und auf Lebensverhältnisse, Schicksale, Gefühle Bezug haben, können sie es in besonderem Maße sein. Denn sie versprechen, Aufklärung darüber zu geben, wie der Mensch sich zum Dichter verhält. Sind sie doch einerseits privat und beziehen sich auf eigene Gefühle und geben sie doch andererseits eine in Ruhe sich entfaltende Aussprache des Mannes darüber, der zugleich der Dichter ist. Und da nun scheint mir jene vorhin von uns gemachte Beobachtung sehr tief in den Charakter Thackerays als Dichter hineinzuführen, daß er alle Verhältnisse und Personen, die vorkommen, mit einer ruhigen Güte und mit einem allerfreundlichsten Humor behandelt und seine Satire gerade bei der eigenen Person einsetzen läßt. Verstehen kann man ein Kunstwerk, dabei bleiben wir, nicht aus irgend etwas außer ihm selbst. Wohl aber können derartige Briefsammlungen wie die vorliegende Aufschluß darüber geben, weshalb und inwiefern gerade dieser so und so beschaffene Charakter besonders wohlgeeignet war für gerade diese so und so intendierte Kunst. Diese Aufgabe scheint uns die vorliegende Briefsammlung für Thackeray in besonderem Maße zu erfüllen; sie offenbart ihn als seinem Charakter nach besonders guten und reinen Träger derjenigen Satire, welche Ehrlichkeit und schlichteste Wahrheit will und den Mut der Aufrichtigkeit dokumentiert.

Die Briefe bezeugen einen Charakter, der sich gegen das Leben mit einem freundlichen Humor wehrt und nur da, wo seine Wahrheitsliebe sich engagiert fühlt, also in der Selbstbeurteilung, satirisch wird. Erkennt man da nicht, weshalb gerade seine Kunst so scharf satirisch werden mußte? Es ist dasselbe, was Ibsen meinte, als er definierte: »Dichten – sich selber richten mit unbefangener Stirn.« Der Einblick in den privaten Charakter des Dichters ist deshalb ungeeignet, zur Vertiefung in eine Dichtung zu verhelfen, nicht weil der Privatcharakter zu tief, sondern weil er flacher liegt. Tiefer als durch seine Dichtung nämlich kann sich der Dichter nicht aussprechen. Und nur der ist der geeignete Träger einer dichterischen Offenbarung, der tief genug ist, in ihr ein Tieferes aussprechen zu können als in seinem privaten Leben.

Arthur Bonus.

Druckfehler des Verlages: sind [korrigiert]. Re für Gutenberg

Die Reihenfolge der Briefe ist schon im englischen Original keine durchweg chronologisch richtige. Die zeitliche Folge würde erfordern, daß Brief 29 auf 22, Brief 21 auf 23 und Brief 24 nach 25 folgte. Der freundliche Leser ist gebeten, diese Zurechtrückung beim Lesen vorzunehmen.


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