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1.
Die Mordnacht auf Romnike.


Dem heißen Tage war ein schwüler Abend gefolgt. Die Sonne hatte vierzehn Stunden lang an dem wolkenlosen Himmel gebrannt. Sie sandte ihre letzten Strahlen den Haiden, den Fluren, den Wäldern Litthauens, auch dem Schlosse Romnike. Das Kupferdach des Thurmes auf dem alten Schlosse leuchtete wie in dunklen Feuerflammen; heller glänzten die vergoldeten Zahlen auf dem großen Zifferblatte der Thurmuhr. Fünf Minuten vor acht meldete der Zeiger.

Das Schloß lag mit seinen Nebengebäuden und seiner ganzen Umgebung in der tiefsten Stille des Abends. Man sah keinen Menschen und kein Thier; man vernahm kein Geräusch, keinen Laut; nur hinten aus den Pferdeställen drang zuweilen ein Ton herüber, der anzeigte, daß ein Roß das frisch untergelegte Stroh stampfte und den Hafer in der Krippe mit einem leisen Wiehern begrüßte.

Sie hatten alle in der langen Tageshitze ihre schwere Arbeit gehabt; sie ruhten jetzt aus.

Der Zeiger auf dem Zifferblatte der Thurmuhr war weitergerückt; die Uhr schlug acht.

Aus einer Seitenthür des Schlosses trat eine ältliche Frau hervor; aus dem hohen mittleren Schloßportal schritt ein Mann in mittleren Jahren. Beide mußten zu der Dienerschaft des Schlosses gehören. Dienern eines vornehmen Hauses sieht man ihre Stellung auf den ersten Blick an. Der Diener war schwarz gekleidet, trug eine weiße Halsbinde, weiße Handschuhe; er war barhaupt. Alles an ihm war fast peinlich sauber; das braune Haar sorgfältig gescheitelt und geglättet. Die Dienerin trug hellere Kleidung, aber Alles von solidem Stoff, von einfachem Schnitt; sie glich einer Frau des gut situirten Bürgerstandes. Sie hatte ein einnehmendes Aussehen; durch das blasse verständnißvolle Gesicht schien zuweilen ein zurückgehaltener Gram sich zu ziehen.

Sie waren gleichzeitig auf den Schloßhof getreten, wohl mit dem Schlag der Uhr, ohne daß Eins von dem Anderen wußte, aber doch wohl mit der Gewißheit, daß sie sich treffen würden. Sie sahen sich; sie traten zusammen.

Der Mann war der Kammerdiener des Schloßherrn; die Frau war die Kammerfrau der Schloßherrin.

Schloßherr war der General der Cavallerie, Graf Waldern. Er bewohnte mit seiner Gemahlin das Schloß seit etwa einem halben Jahre. Als die Festlichkeiten und Vergnügungen des Winters in der Residenz begannen, hatten sie die Stadt verlassen und in die Stille und Einsamkeit des rauhen Litthau'schen Winters sich zurückgezogen, die beiden Gatten allein, mit weniger Dienerschaft. Sie hatten hier still und einsam gelebt; sie lebten hier noch so.

Das Gut Romnike gehörte zu den größten und reichsten Rittergütern Litthauens. Es war früher eine königliche Domaine gewesen; der König hatte es dem Grafen Waldern, seinem treuen, muthigen, umsichtigen und glücklichen Feldherrn, zum Geschenk gemacht. Die große Besitzung dehnte mit ihren Aeckern, Wäldern, Weiden und Vorwerken weit an der russischen Grenze entlang und tief in das preußische litthauische Land hinein sich aus. Das Schloß lag kaum fünfzehn Minuten von der Grenze entfernt.

»Zum Thee, Georg?« fragte die Kammerfrau den Kammerdiener.

»Zum Thee, Frau Erhardt,« war die Antwort.

Sie schritten zusammen in den Schloßhof hinein.

Der Schloßhof war ein weites, längliches Viereck. Dem offenen Eingang gegenüber lag das Schloß; die ganze rechte Langseite wurde von Wirthschafts- und anderen Nebengebäuden eingenommen; links schloß sich der Schloßpark an, dessen Wege unmittelbar in den auch hier offenen Schloßhof einmündeten.

Der Diener und die Dienerin waren eine Weile schweigend neben einander gegangen. Der Kammerdiener brach das Schweigen.

»Ich finde Sie heute bekümmert, Frau Erhardt.«

»Ich wüßte nicht, daß ich anders wäre als sonst,« war die Erwiderung der Kammerfrau.

»Doch! Und ich meine, es muß Ihnen etwas begegnet sein.«

»Durchaus nichts, Georg!«

Die Frau versicherte es ehrlich; es lag dennoch etwas Gedrücktes in ihrer Antwort.

»Freilich,« meinte der Diener, »was könnte Ihnen auch begegnet sein! Sie leben den einen Tag wie den andern, und so leben wir Alle hier. Und das ist ein langweiliges Leben, und gestehen Sie, ein langweiliges Leben ist kein angenehmes.«

Die Frau erwiderte darauf etwas strenge: »Ich kann Ihnen nur gestehen, Georg, daß ich hier noch keinen Augenblick Langeweile empfunden habe, und sollte es Ihnen hier langweilig sein, Georg, Keiner im Schlosse ist gezwungen, hier zu bleiben.«

Die Worte schienen einen eigenthümlichen Gedanken in dem Diener geweckt zu haben.

»Keiner, Frau Erhardt,« rief er. »Die gnädige Frau nehmen Sie doch wohl aus! Und am Ende Seine Excellenz selbst!«

Die Frau aber antwortete ruhig: »Ich sprach nur von Ihnen und mir!«

»Und ich,« entgegnete zähe der Kammerdiener, »mußte bei Ihren Worten doch an die Herrschaft denken.«

»Diener,« sagte entschieden die Frau, »müssen nicht über die Herrschaft sprechen.«

Sie hatten den Schloßhof durchschritten, waren in den Park eingetreten. Sie nahmen ihren Weg zu einem Bosket, das nicht weit von dem Schlosse den Anfang der weitläufigen Parkanlagen bildete. Eine lange Reihe der kostbarsten Orangeriegewächse, in grünen und weißen Kübeln aufgestellt, führten sie dahin.

Der Frühling kommt spät in jenen Norden der russisch-preußischen Grenze; er kommt dann aber auch plötzlich mit aller seiner Kraft, mit der ganzen Triebkraft seiner wärmenden Sonne, seiner milden, belebenden Luft. Heute noch liegen Strom und Feld, Wald und Wiese und Acker unter starrer Eisdecke, morgen beginnt die Sonne das Eis zu schmelzen, im Strome kommen die Fluthen ihr zu Hülfe, zersprengen die dichte Decke zu Schollen, treiben die Schollen dem Meere zu, oft unter Gefahren für Land und Leute; aber der Strom ist frei, und aus dem Schooße der Mutter Erde locken die Sonnenstrahlen die befruchtende Wärme zu der Oberfläche hinauf, und auch das Land ist von seinem starren Winter befreit, und sein Herr, der Mensch, kann es bebauen, kann darin graben, pflügen, ackern. Und wenn kaum acht Tage weiter entschwunden sind, grünt auch der Wald, und in den Gärten blühen die Kirschen, die Pflaumen, der Flieder, und der Litthauer hat seinen Pelz abgelegt, den er gestern noch trug, und arbeitet draußen, wie im Hause, in bloßen Hemdärmeln.

Der Park des Schlosses Romnike stand in vollem Grün, in voller Blüthe. Die Orangeriehäuser des Schlosses hatten sich geöffnet und ihre reizendsten und duftigsten Zierden dem Blätter- und Blüthenschmuck des Parkes hinzugesellt.

Der General und die Generalin hatten schon seit einigen Stunden den Park aufgesucht. Zum Thee wollten sie in die Gemächer des Schlosses zurückkehren.

Der Kammerdiener hatte zu melden, daß der Thee servirt sei; die Kammerfrau hatte nachzusehen, ob die Herrin Blumen oder Anderes in's Schloß zu schaffen, sonstige Befehle zu ertheilen habe.

Beide erreichten das Bosket, in dem sie die Herrschaft finden sollten.

Sie fanden sie nicht darin. Sie verwunderten sich. Sie suchten vergebens in den Windungen der Gänge, in dem Dunkel der Lauben.

Sie hatten die Gebüsche, die Alleen durchstreift, nach allen Seiten, vereinigt, vereinzelt. Sie trafen wieder zusammen. Der Diener wollte noch immer sich nur verwundern; die Frau war erschrocken.

»Wenn nur kein Unglück geschehen ist,« sagte sie.

»An was für ein Unglück könnte man hier denken, Frau Erhardt? In den Park kommt kein Fremder, und sie waren ihrer ja Zwei; Einer konnte immer Hülfe herbeirufen, wenn dem Anderen etwas zustieß.«

»Die Revolution drüben!« rief die bekümmerte Frau.

Der Diener Georg nahm die Sache trotzdem leicht.

»Was kümmern uns die Polen, und wie werden sie sich um uns hier kümmern? Sie haben genug eben mit ihrer Revolution zu thun.«

Die Frau wurde nicht beruhigter.

»Ich lese die Zeitung, Georg. Es wird drüben von Tag zu Tag grausamer, unheimlicher, trostloser. Wir hier erfahren es nicht, weil Keiner über die Grenze sich hinaus wagt und von dort Niemand hierher darf. Nur die Zeitungen berichten, wie drüben überall der offene Krieg und der heimliche Mord herrscht.«

»Drüben, Frau Erhardt! Nicht hier! Sie sagen ja selbst, es dürfe Keiner von dort hierher.«

»Wenn nun aber Einer, wenn eine jener Banden hierher rückte!«

»Hierher nach Preußen? Und gerade nach Schloß Romnike?«

»Haben Sie von der geheimen Revolutions-Regierung in Warschau gehört, Georg?«

»Nur wenig, eigentlich nichts.«

 

Die Begebenheiten, die wir hier zu erzählen haben, ereigneten sich im Mai des Jahres –.

Schon gegen das Ende des Jahres vorher war in dem unglücklichen Königreiche Polen wieder eine Revolution ausgebrochen. Sie war lange vorbereitet, verborgen, heimlich, planmäßig, sicher. Die Russen hatten sie aber so wenig geachtet, wie in früheren Jahren. Die Russen waren zu sicher, zu übermüthig, in Rußland, in Polen selbst.

Zweihundert Meilen von der polnischen Grenze entfernt, konnte, wer sehen wollte, eigenthümliche Erscheinungen und Anzeichen wahrnehmen. Ich selbst, der Schreiber dieser Zeilen, erblickte schon im September und October Gesichter und Gestalten, die aus dem Asyl, das sie gefunden hatten, seit Jahren verschwunden waren. Sie waren damals weiter gegangen, nach Amerika, nach anderen Welttheilen. Sie waren Alle in der früheren revolutionären Bewegung ihrer Nation thätig gewesen.

Im Herbst waren sie wieder da, einzeln, vereinsamt, still. Man sah sie nur des Abends, auf entfernten, wenig besuchten Promenaden. Bald waren ihrer mehrere, und immer mehrere folgten. Stets mieden sie die Oeffentlichkeit, stets wichen sie scheu zurück, wenn man zufällig auf sie traf. Als der Winter nahte, waren sie verschwunden, plötzlich, sämmtlich. Wenige Wochen, vielleicht nur Tage nachher stand Polen wieder in den Flammen der Revolution, und die Zeitungen nannten Namen an Namen von jenen Männern, die in Verborgenheit den Moment erwartet hatten, da in der Heimath die Vorbereitungen zum Losschlagen beendigt waren.

Der Aufstand gewann Boden, machte Fortschritte. Daß er von der russischen Uebermacht auch diesmal erdrückt, niedergeschlagen, vernichtet werden mußte, konnte den heißesten Sympathien für ein Volk, das für seine Freiheit kämpft, nicht entgehen. Den unglücklichen Polen selber wurde es bald offenbar. Um so verzweifelter wurden ihre Anstrengungen; um so muthiger kämpften sie; um so grausamer wurde auf beiden Seiten der Kampf; um so entfesselter wurden die Leidenschaften.

Den entfesselten Leidenschaften galten zuletzt alle Mittel: offene grausame, heimliche um so grausamere. Um die einen wie die anderen zu organisiren, einer Centralleitung zu unterwerfen, hatte im Anfang Mai in Warschau ein geheimes Revolutions-Tribunal unter dem Namen Nationalregierung sich gebildet. Die Namen der Mitglieder dieser Regierung wurden nicht bekannt. Zeit und Ort ihrer Versammlungen waren das tiefste Geheimniß; ihre Beschlüsse wurden erst bekannt, wenn sie vollzogen waren. Sie waren unbedingt befolgt, plötzlich, heimlich. Sie waren blutige Befehle.

Ihre Vollzieher erhielten den Namen Hänge-Gendarmen. Der Name wurde ein allgemein gefürchteter. Die Hänge-Gendarmen waren da, wie der Dieb in der Nacht; daß sie dagewesen seien, zeigten nur die Spuren, die sie zurückließen; diese Spuren waren die Leichen Erhängter, Erdolchter, Erschossener.

Die heimlichen Executionen der Hänge-Gendarmen entzündeten bald eine stille Wuth, einen nach Blut dürstenden Fanatismus in den unteren Schichten des Volkes. Es war so natürlich. Wer irgend einen Feind hatte, sah in diesem einen Feind des Vaterlandes, einen Unterdrücker der Freiheit; wer dem Einen ein Feind, der Nation ein Verräther war, wurde es bald den Nachbaren, dem ganzen Dorfe. Die Rache wüthete, mit ihr die Habsucht, die Plünderungslust, die Mordlust. Heimliche Ueberfälle, bei Tage wie bei Nacht, wurden täglich berichtet.

Von den letzten Tagen des Monats Mai berichten wir hier.

 

Die Frau Erhardt, die Zeitungen las, wußte dem Kammerdiener Georg Einzelheiten aus den letzten Tagen zu erzählen.

Ein vornehmer Pole, der dem russischen Regimente gedient hatte, war von der Nationalregierung – das geheime Revolutionstribunal hatte die Frau sie genannt – zu einer hohen Geldbuße verurtheilt worden. Er hielt sich auf seinem Gute auf. Die Verurtheilung war im Geheimen geschehen; er hatte keine Ahnung von ihr. Er hielt sich außerdem auf seinem Gute sicher; es lag in der Nähe einer Stadt, die von russischem Militär besetzt war.

Plötzlich des Nachmittags sah man sich von einem Haufen Hänge-Gendarmen überfallen, sie waren in das Schloß eingedrungen, ohne daß ein Auge oder Ohr sie wahrgenommen hatte. Der Führer des Haufens legte dem Schloßherrn den Befehl der Nationalregierung vor, verlangte die sofortige Bezahlung der Summe, auf die der Befehl lautete: wenn nicht binnen einer Stunde die Zahlung erfolgt sei, würde der Herr Graf gehängt werden.

Der Graf war in der Gewalt der Gendarmen; sein Schloß war besetzt; nicht er, nicht Einer von seinen Leuten konnte hinaus. Er mußte dem Zahlungsbefehle nachkommen, aber er glaubte noch einen Rettungsanker zu haben. Er habe eine so große Summe nicht zu Hause, erklärte er; er müsse einen Boten an seinen Geschäftsjuden in der Stadt senden, ihm das Geld zu schicken. Es war glaublich, es war vielleicht auch wahr. Der Führer gestattete ihm, zu thun, wie er sage.

Der Graf schrieb den Brief an seinen Juden, zugleich einen zweiten an den russischen Commandanten in der Stadt, den er um Hülfe bat. Er gab beide Briefe, den zweiten heimlich, einem seiner Diener, sie in der Stadt zu besorgen. Der Bote ging damit ab. Das Schloß blieb besetzt; Niemand konnte es verlassen. Der Graf blieb unter der besonderen Bewachung des Führers. Er war guter Dinge, lud seinen Gefangenwärter ein, mit ihm zu Nacht zu essen, ließ ein kostbares Mahl auftragen, dazu die feinsten Weine, blieb guter Dinge, in der Hoffnung, jeden Augenblick eine Schwadron Russen zu seiner Erlösung auf seinem Hofe zu sehen.

In seiner frohen Hoffnung hatte er nicht beachtet, daß der Führer auf den Wink eines seiner Begleiter das Zimmer verlassen hatte, freilich nur für einen Augenblick, und ohne die geringste Veränderung seiner Mienen bei der Rückkehr. Als das Mahl zu Ende war, wurde der Führer wiederum hinausgerufen. Er kam auch diesmal nach einem kurzen Augenblick zurück. Zwei von seinen Leuten folgten ihm. Er hatte die vergnügteste Miene von der Welt. Mit ihr zeigte er dem Grafen einen schweren Sack voll Goldstücke vor. Von dem Juden in der Stadt, sagte er.

Dann übergab er dem Grafen einen Brief. Es war das Schreiben des Grafen an den russischen Commandanten. Ein paar Hänge-Gendarmen waren dem Boten gefolgt, hatten ihn, wie er kaum den Gutshof verlassen hatte, angehalten, ihm seine beiden Briefe abgenommen, ihn dann am nächsten Baume aufgehängt. Mit dem Briefe an den Juden war darauf der eine Gendarm zur Stadt gegangen; den Brief an den Commandanten hatte der andere dem Führer übergeben. Und der Führer ließ nun den Grafen in seinem Speisesaal aufhängen.

Ein zweiter Fall, der gleichfalls erst vor kurzer Zeit sich zugetragen hatte, bot einen anderen Erfolg dar.

Der Woyt der Kwozyner Güter wurde heimlich benachrichtigt, daß er von der National-Regierung zum Tode verurtheilt sei und jeden Tag auf das Erscheinen der Hänge-Gendarmerie sich gefaßt zu halten habe. Die Güter waren von der russischen Regierung confiscirt, der Woyt von den Russen eingesetzt. Er war ein muthiger und entschlossener Mann. Er behielt die heimlich erhaltene Nachricht geheim für sich. Hätte noch ein Mensch außer ihm sie gewußt, so war er verloren. Er war ein strenger Mann gegen seine Leute, und er konnte auf sie sich nicht verlassen. Aber auch abgesehen davon, die Existenz des geheimen Revolutions-Tribunals war bekannt im Lande, und die Furcht vor den unheimlichen Hänge-Gendarmen war eine allgemeine; wer hätte gewagt, ihre Wege zu durchkreuzen?

Der Woyt änderte nichts in seiner Lebensweise, in seinem Benehmen; er besorgte am Tage seine Geschäfte wie sonst, schlief in demselben Gemache wie bisher, allein, unten im Hause, nach dem Hofe hin.

Zwei Tage und zwei Nächte lang war er durch nichts gestört oder beunruhigt worden. In der dritten Nacht, bald nach Mitternacht, hörte er auf dem Hofe Schritte nahen. Er wachte, wie in den beiden Nächten vorher. Erst wenn der Morgen graute und die Leute zur Arbeit aufgestanden waren, hatte er zu einem Schlummer von wenigen Stunden sich niedergelegt.

Mit ihm, dem Woyt, hat sie auch der große Hund gehört, der in der Nähe des Wohnhauses an der Kette liegt. Das Thier läßt ein Knurren vernehmen, aber zum lauten Bellen kommt es nicht. Ein rascher Schritt hatte von den anderen sich getrennt, war dem Hause zugeeilt, der Hütte des Hundes. Das Thier wurde still, gab weiter keinen Laut mehr von sich. Am Morgen wurde es todt gefunden; mit einem Stücke Brod hatte es ein schnell tödtendes Gift verschluckt. Sämmtliche Schritte kommen näher, leiser, vorsichtiger. Am Hause, unmittelbar unter dem Fenster des Woyt, machen sie Halt.

Das Zimmer liegt zur ebenen Erde; es ist weder mit einem Laden, noch mit einem Gitter, noch mit anderem Schutze versehen. Man ist auf den polnischen Gütern sorglos, und der Woyt kannte keine Furcht.

An dem Fenster wird gearbeitet, eine Scheibe loszulösen, um mit der Hand hindurch zu greifen und es zu öffnen.

Der Woyt läßt Alles ruhig geschehen. Er steht hinter dem Fenster, nach der Seite, auf der es sich öffnen muß. Er hat einen schußfertigen fünfläufigen Revolver in der Hand, ein zweiter mit eben so vielen Läufen liegt neben ihm auf einem kleinen Tische. So erwartet er die Henker des heimlichen Revolutions-Tribunals, den Augenblick, da sie das Fenster werden geöffnet haben, da einer von ihnen einsteigen wird. Das Fenster ist schmal; immer nur Einer kann hindurch gelangen.

Es wird geöffnet. Eine Gestalt schwingt draußen sich empor, mit einem Satze in dem Zimmer zu sein. Zwei andere sind unmittelbar hinter ihm, auf seinen Fersen ihm zu folgen. Hinter ihnen stehen noch zwei andere. Der Woyt sieht Alles genau. Daß fünf Personen draußen seien, hat sein Gehör ihm schon vorher gesagt.

Der Mensch sitzt auf der Fensterbank; er hat den einen Fuß in dem Zimmer; er will den anderen nachziehen. Der Woyt rührt sich, zum ersten Male; er zielt mit seinem Revolver. Aber muß er noch zielen auf die Gestalt, die kaum einen Schritt von ihm entfernt ist, auf die Brust, die der Mündung, allen fünf Mündungen seiner Waffe sich darbietet?

Ein Schuß ertönt dumpf in dem engen Raum des Zimmers, hallt wider durch die stille Mitternacht an den Mauern der Gutsgebäude, auf dem Hofe, an den Bäumen des Gartens, des Waldes hinter diesem. Mit dem Ertönen des Schusses fliegt der Mensch aus dem Fenster rücklings in die Arme seiner Kameraden, die hinter ihm stehen. Er kann nur noch röcheln. Der Woyt hatte gut gezielt, oder ohne Ziel gut getroffen; seine Kugel hatte das Herz durchbohrt.

Der Kameraden des Getroffenen bemächtigte sich die Wuth. Um den Sterbenden, den Todten kümmern sie sich nicht weiter. Zwei von ihnen auf einmal wollen sich durch das Fenster schwingen. Nur einer kann es. Wie er in der Oeffnung sich blicken läßt, fällt ein zweiter Schuß und er hat eine Kugel in der Brust und er fällt zurück auf den Kameraden, der vielleicht in demselben Augenblicke sein Leben aushaucht.

Noch sind drei der Henker da. Ihre Wuth hat sich verdoppelt. Einer fliegt mit einer Raserei, die an kein Leben und Sterben denkt, auf das Fenstergesims; schon indem er losstürzt, erhält auch er eine Kugel in die Brust, fällt zurück – nicht mehr in die Arme der beiden Kameraden, die noch leben.

Ein plötzlicher Schreck hatte sie ergriffen, die Wuth verdrängt. Schlag auf Schlag waren die drei Schüsse, waren von ihnen die drei Kameraden gefallen. Aus dem dunklen Raume waren die todbringenden Kugeln hervorgeflogen; man hatte nur das Zucken eines Blitzes in dem undurchdringlichen Dunkel gesehen, nichts Anderes; man hatte nur den augenblicklichen Knall gehört, kein anderes Geräusch. Keine Bewegung; dem Knall war das Fallen der Getroffenen gefolgt, dem Fallen das Röcheln, dem Röcheln der Tod.

Wer war denn in dem dunklen Raume? Was war es? Ein Mensch? Ein anderes höheres, feindliches Wesen? Eine plötzliche wilde Angst ergriff die Ueberlebenden; sie flohen, die todten Kameraden zurücklassend. Der tapfere Woyt war gerettet.

Die Gutsleute waren durch die Schüsse geweckt; sie strömten von allen Seiten herbei. Man fand die drei Leichen. Niemand kannte die Todten. Sie mußten aus weiter Ferne sein. Aber daß sie Hänge-Gendarmen des Revolutionstribunals waren, erkannte man; in der Tasche des einen der Erschossenen fand man einen Strick, einen Hammer, einen Nagel. Der heimlich Geächtete sollte, wenn man am Morgen zu ihm kam, in seiner Kammer an dem Nagel aufgehängt gefunden werden.

 

Das waren die beiden Fälle, welche die Frau Erhardt dem Kammerdiener Georg zu erzählen wußte. Sie hatten sich in den letzten Tagen ereignet. Wieviel andere ähnliche Scenen hatten stattgefunden, mußte die Revolution, wie jede Revolution, in ihrem Gefolge haben, ohne daß sie bis jetzt in weiteren Kreisen bekannt geworden waren! Wie viele konnten noch folgen, konnten, mußten mit jedem Tage, in jeder Nacht erwartet werden!

»Aber nicht hier, Frau Erhardt!« – sagte der Kammerdiener.

»Warum nicht?« – fragte die bekümmerte Frau.

»Die Revolution ist nur jenseits der Grenze.«

»Aber welche Revolution kümmert sich um einen Grenzwall? Und wir sind hier so unmittelbar an der Grenze! Und sie ist offen; sie kann zu jeder Stunde überschritten werden. Die russische Bewachung ist längst weggejagt; kein Kosak, kein Straßnik ist mehr da.«

Der Kammerdiener hatte einen anderen Einwand.

»Wir sind keine Polen, Frau Erhardt! Niemand im Schlosse, Niemand, der zum Schlosse gehört, hat mit dieser polnischen Revolution etwas zu schaffen.«

Die Frau mußte auch dazu das bekümmerte Haupt schütteln.

»Preußen und Rußland sind so eng mit einander verbunden. Unser Herr General ist ein Liebling des russischen Kaisers. Er war noch im vorigen Jahre mit unserem Könige in Petersburg und der Kaiser hatte ihn ausgezeichnet, daß die russischen Generale eifersüchtig auf ihn wurden. Die Zeitungen sprachen davon. Das mußte auch den Polen bekannt werden, und wie sollte der Haß gegen den Kaiser nicht den Liebling des Kaisers treffen?«

Die letztere Bemerkung der Frau schien dem Gespräche der Beiden eine andere Wendung geben zu sollen. Es trat indeß ein Zwischenfall ein.

»Frau Erhardt,« sagte der Kammerdiener, »so gut wie Sie von dem Hasse der Polen gegen den russischen Kaiser wissen, so gut muß dieser Haß doch auch dem Herrn General selbst bekannt sein!«

»Der gnädige Herr,« wollte die«Frau ausweichen, »spricht über solche Dinge nicht mit mir.«

»Aber mit der gnädigen Frau, und von der Gnädigen müssen Sie es haben. Und dann, Frau Erhardt, warum sind wir noch hier?«

Die Frage war eine natürliche. Sie schien dennoch die Frau in Verlegenheit zu setzen

Sie sann über eine Antwort nach. Sie wurde dieser überhoben.

»Der Wachtmeister!« rief sie plötzlich.

Sie hatte, während sie sann, in die Ferne geblickt, in die Tiefe des Parkes, als wenn sie dort eine Antwort finden werde.

Ein großer, kräftiger, alter Mann kam aus einem Seitengebüsch heran. Er hatte eine militärische Haltung. Er ging langsam, wie es schien, in tiefen Gedanken.

Die Kammerfrau mußte noch etwas Besonderes an ihm bemerkt haben.

»Er sieht so sonderbar aus,« sagte sie. »Wie verstört! Dem muß etwas Seltsames begegnet sein.«

Der alte Soldat war näher gekommen Das starkknochige Gesicht zeigte in der That auch für Den, der es noch nie gesehen hatte, eine eigenthümliche innere Erregung an.

Er gewahrte die beiden Diener. Die Richtung seines Weges hätte ihn zu ihnen führen müssen. Einen Augenblick hemmte er den Schritt, stutzend und überlegend, ob er weiter gehen solle. Er ging weiter, er langte bei den Beiden an, er wollte an ihnen vorüber.

»Guten Abend!« grüßte er kurz, mürrisch.

Die Kammerfrau hielt ihn dennoch an.

»Herr Wachtmeister, suchen Sie die Herrschaft?«

Die Frage schien ihn zu überraschen, ihm gar unbequem zu sein.

»Suchen Sie sie?« fragte er zurück.

»Wir warten wenigstens hier auf sie. Der Thee ist servirt. Wir mußten sie hier am Eingange des Parkes treffen. Wir haben sie noch nicht gesehen.«

»Sie werden sie gleich sehen!«

Damit ging er.

Er hatte jedes Wort so mürrisch, so verdrossen gesprochen.

Der Kammerfrau sah man an, daß sie noch weitere Fragen an ihn hatte; sie unterdrückte sie dem mürrischen alten Mann gegenüber.

»Was mag ihm begegnet sein?« fragte sie nun hinter ihm her.

Sie hatte sich selbst gefragt. Der Kammerdiener antwortete ihr:

»Nichts, Frau Erhardt; er ist immer der alte Brummbär, der meint, er stehe vor seiner Schwadron und müsse sie ausschelten.«

Die Frau erwiderte nichts, aber sie mußte den Kopf schütteln. Ihr beobachtendes und erfahrenes Auge hatte an dem alten Soldaten etwas bemerkt, was sie mit Besorgniß erfüllte. Sie wollte wohl darüber nachdenken.

Der Kammerdiener ließ sie nicht dazu gelangen. Oder war er ihr gar entgegengekommen?

»Wir sprachen davon, Frau Erhardt, daß auch wir am Ende vor den Polen hier nicht sicher seien.«

»Es war nur eine allgemeine unbestimmte Befürchtung, Georg!«

»Es mag sein. Aber es wird doch einen Grund haben, und warum bleiben wir denn hier?«

»Das ist Sache der Herrschaft,« wollte die Kammerfrau wieder ausweichen.

»Aber auch ihr Geheimniß, Frau Erhardt!«

Die Frau schwieg.

»Und wenn auch,« fuhr der Kammerdiener fort. »Sie, Frau Erhardt, kennen auch die Geheimnisse der Herrschaft.«

»Nein, nein!« wehrte die Frau beinahe mit Heftigkeit ab.

»Warum sind wir überhaupt hier?« fragte der Diener.

Die Frau antwortete ihm nicht.

Reizte ihn das? Wollte er sie zu einer Antwort zwingen, direct oder indirect?

»Wir verließen,« fuhr er fort, »so ganz plötzlich die Residenz, gerade als der Adel des halben Landes hineinströmte, als Hoffeste, Gesellschaften, Bälle, Schlittenfahrten, alles Andere begannen. Warum gingen wir? Der Herr General war nicht in Ungnade gefallen. Der König konnte ohne ihn nicht sein. Dennoch mußten wir fort. Und der Herr General hat die vielen und schönen Güter in den besten und reizendsten Gegenden des Landes; wir mußten hierher in dieses preußische Sibirien, in die Haiden und Wüsteneien, in Eis und Schnee – und in die Revolution der Polaken! Warum das, Frau Erhardt? Sie wollen nicht sprechen? Wenn ein Mensch es weiß, so wissen Sie es, und wenn Sie nicht sprechen wollen, so muß es etwas sehr Schlimmes sein.«

Die Frau schwieg dennoch. Sie war in Gedanken versunken.

»Eifersucht?« fragte der Kammerdiener plötzlich.

Die Frau fuhr hastig auf.

»Georg!« – rief sie.

Sie brach schnell ab.

»Georg,« sagte sie dann ruhig und verweisend, »sprechen Sie nie das Wort wieder aus, nie einen so ungerechten Verdacht! Sie müßten sofort das Haus verlassen. Heute sei Ihnen das Wort verziehen! Sie dienen kaum ein Jahr unserer edlen Herrschaft. Ich kenne die gnädige Frau seit ihrer Geburt und den Herrn General fast eben so lange. Geben wir unser Gespräch auf.«

Sie hatte mit einer Entschiedenheit und Ueberlegenheit gesprochen, der der Kammerdiener sich unterwarf.

Noch eine Viertelstunde mußten sie harren. Sie standen schweigend beisammen.

Die Glocke auf dem Schloßthurm schlug neun.

Es war dunkler geworden. Die volle Finsterniß der Nacht tritt in jenem Norden zu Ende des Monats Mai vor dem Ende der zehnten Abendstunde nicht ein

Wenige Minuten nach dem Verhallen der Schläge der Glocke trat aus dem Dunkel des Parks ein Paar hervor. Ein hoher kräftiger Herr führte am Arme eine feine, elegante Frauengestalt.

Der Herr hatte schneeweißes Haar; die Dame glänzte in der prachtvollsten Schönheit der ersten Jugend. Der leise Dämmerungsschein des Abendhimmels ließ das Alles noch erkennen.

Sie nahten sich schweigend.

»Der Thee ist servirt!« trat steif meldend der Kammerdiener vor.

Die Kammerfrau empfing aus der Hand des Herrn einen Shawl der Dame, den er auf dem Arme getragen hatte.

Alle begaben sich zum Schlosse, der Diener voran, hinter ihm die Herrschaft; dieser folgte die Kammerfrau.

Sie gingen still in dem Dunkel.

Die Kammerfrau mußte sich einmal plötzlich schütteln, als wenn jäh ein Frost sie überfallen habe. Der Abend war warm geblieben. Hatte ein Gedanke sie eisig durchzogen? Oder hatte ein Anblick sie erschreckt?

An den Gebäuden des Hofes schlich leise und langsam die große, breitschultrige Gestalt des finsteren Wachtmeisters entlang.

Tiefe Stille herrschte rings umher.


Etwa zwei Stunden waren seitdem verflossen. Die Nacht war völlig dunkel. Am Himmel waren Wolken hinaufgezogen; nur hin und wieder erschien durch ihre Zwischenräume das matte Licht eines Sternes; erhellen konnte es die Finsterniß nicht. Die Stille, die den ganzen Abend geherrscht hatte, war durch nichts unterbrochen worden. Die Schwüle des Abends aber war einer erfrischenden Kühle gewichen.

Die Bewohner des Schlosses wie der Nebengebäude hatten sich zur Ruhe begeben; es schien wenigstens so. Die tiefe Stille, die überall herrschte, sprach dafür; kein Fenster war mehr erleuchtet.

Die Kammerfrau der Gräfin Waldern, Frau Erhardt, wachte noch in ihrem Stübchen. Sie wachte noch; sie hatte sich auf ihrem Sessel niedergelassen, um von der Arbeit des Tages auszuruhen. Ihre Glieder mochten Ruhe finden; aber in dem Innern der Frau war Unruhe, Sorge.

Sie hatte ihren Sessel an das Fenster des Stübchens gerückt; das Fenster führte auf den Schloßhof. Sie konnte fast den ganzen Hof übersehen; nur der Theil zunächst der Façade des Schlosses war ihren Blicken verborgen; das Stübchen lag hoch, im dritten Stockwerk.

Die Blicke der Frau waren oft nach dem Hofe hinunter gerichtet; sie überflogen, sie durchforschten ihn, wie es schien, geleitet von der Unruhe und Sorge ihres Innern.

Sie hatte kein Licht in dem Gemache. Draußen konnte daher, wer zu dem dunklen Fenster hinaufblickte, nur annehmen, daß die Bewohnerin ihr Bett aufgesucht habe und schlafe; daß sie unruhig forschend und lauschend am Fenster sitze, ahnte wohl Niemand.

Sie saß schon eine Weile so.

Die Herrschaft hatte nach der Rückkehr aus dem Park gemeinschaftlich den Thee eingenommen; es war zugleich ihr Nachtessen. Nur der Diener Georg hatte dabei aufgewartet. Um elf Uhr waren sie aufgebrochen, hatten sie sich getrennt, ihre Schlafgemächer aufzusuchen. Der General war durch seinen Kammerdiener geleitet; die Generalin durch die Frau Erhardt, die in einem Nebenzimmer auf sie gewartet hatte.

Es war so die gewöhnliche Lebensweise auf Schloß Romnike.

Die Generalin war still gewesen, während sie sich auskleidete. Auch das war gewöhnlich so. Freilich nur in den letzteren Wochen. In der früheren Zeit des Aufenthaltes im Schlosse war es anders, ganz anders gewesen, und die Frau Erhardt mochte sich selbst wohl nicht zu sagen wissen, was sie mehr geängstigt habe, ob jene frühere oder diese spätere Zeit. Nur das war ihr gewiß, daß die Stille der Herrin am heutigen Abend fast erdrückend für sie war. Sie ging von einer gemachten, unnatürlichen äußeren Ruhe aus, die die vorgefundene innere Unruhe verbergen sollte, und diese um so mehr verrieth.

Zum öfteren drängte sich auf die Lippen der Kammerfrau ein Wort der Erkundigung, der Theilnahme an die schweigende und unter dem Schweigen um so tiefer leidende junge schöne Frau. Sie war ja von der Geburt dieser Frau an bis heute ihre Leiterin, Beschützerin, Vertraute gewesen. Sie hatte ihr die Mutter ersetzen müssen, die Mutter, die Wege wanderte, von denen ein Kind, namentlich eine Tochter, keine Ahnung haben durfte. Frau Erhardt wagte nicht, das Wort über ihre Lippen zu bringen. Ein Sturm hätte folgen müssen, ein Ausbruch des tiefsten, schmerzlichsten Leidens, Entsetzlicheres vielleicht, und der General war in der Nähe. Die Schlafgemächer der beiden Gatten waren nur durch einen kleinen Salon getrennt, der von ihnen manchmal zum gemeinsamen Frühstück benutzt wurde.

Ein Ausbruch sollte dennoch erfolgen.

Die Generalin hatte sich in ihr Bett gelegt. Die Kammerfrau strich die Decke glatt, sagte wie gewöhnlich ihr: »Gute Nacht, gnädige Frau!« wollte sich entfernen. Sie wurde zurückgehalten.

»Marianne!« rief leise die Stimme der Herrin.

»Was befehlen die gnädige Frau?«

Die junge Frau hatte sich aufgerichtet. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen starrten groß und hohl.

»Marianne, Marianne!« rief sie, und mit jeder Silbe wurde ihre Stimme lauter, ängstlicher, beängstigender, wurden ihre Bewegungen heftiger. Sie schlang die Arme um die Dienerin, riß sie an ihre Brust.

»Kind, Kind!« bat die Frau, wie in früheren Zeiten, da sie die Mutter der unglücklichen Frau gewesen war. »Wir werden gehört, Helene!«

»Mag man uns hören!«

Die Dienerin legte das geisterbleiche Gesicht an ihre Brust.

»Weine Dich aus!« sagte sie.

Die unglückliche junge Dame weinte sich aus an dem treuen Herzen der Wärterin.

»Meine Mutter!« klagte sie leise. »Ah, Marianne, ein Kind, das seine Mutter nicht lieben kann. Das nicht einmal! – Ah, warum mußte ich denn sehen und hören?«

»Sprich davon nicht, mein Kind!« bat die Frau.

»Ich muß, ich muß! Und nur gegen Dich darf, kann ich es. Bei dem braven General sie anklagen, das wäre mir unmöglich. Aber Du kennst ja mein Herz. Du kennst mein ganzes Leben und Du warst ja immer das einzige Herz, das mich liebt, dem ich mich anvertrauen konnte.«

»Auch Dein braver Gemahl liebt Dich, Helene!«

»Aber – O, Marianne, er ist der bravste, der edelste Freund; aber –«

Sie brach wieder ab. Sie weinte um so bitterlicher.

»Warum bist Du gerade heute so unglücklich?« fragte die Kammerfrau.

»Bin ich es nicht immer, Marianne? Und weiß ich, warum ich Wochen, Monate lang die Kraft habe, mein Leid in meinem Innern zu verschließen und es dann auf einmal hervorbricht?«

»Die Nachrichten aus Polen machen Dir das Herz schwer, mein Kind!«

»Sie kommen hinzu. Wenn auch wir hier so überfallen würden! Ach, Marianne, wenn ich den General verlöre –! Meine Stütze gegen – meine Mutter –!

»Helene,« sagte die Kammerfrau fast strenge, »gieb solchen Gedanken keinen Raum. Du quälst Dich grausam damit! Schlafe jetzt!«

Die Generalin schwieg, wie ein gehorsames Kind. Sie legte sich fester an die Brust der Wärterin; sie wurde ruhig.

»Gute Nacht, meine liebe Helene,« sagte noch einmal die Frau Erhardt.

»Bete für mich, Marianne!« bat die Generalin.

Dann hatte sie noch eine Bitte; wie ein Befehl kam es wahrlich nicht aus dem Munde der Leidenden

»Zieh' die Vorhänge zu! Recht fest!«

Die Kammerfrau that es; aber sie mußte den Kopf dabei schütteln. Die Generalin hatte stets, schon als Kind, mit weit zurückgezogenen Vorhängen geschlafen. Warum heute anders? Gerade heute? »Diese Polengeschichten!« sagte sich die Frau noch.

Sie konnte nur mit schwerem Herzen sich entfernen, ihr einsames Kämmerlein aufsuchen. Und hier mußte sie sich an das Fenster setzen und selbst im Dunkeln hinaushorchen und spähen in das Dunkel des Hofes.

Sie mochte eine halbe Stunde so gesessen haben. Sie hatte nichts wahrgenommen, ihr Ohr keinen Laut, ihr Auge keine Bewegung. Sie war in ihrem Forschen nicht ermüdet; eine Ahnung, fest und sicher wie das Bewußtsein, die Nacht müsse Ereignisse, müsse ein Unglück bringen, erhielt ihre Aufmerksamkeit, ihre Spannung lebendig.

Warum es ihr so war, sie wußte es nicht. Wie oft ziehen schwere Ahnungen die Brust so zusammen, ohne daß man sich Rechenschaft darüber zu geben vermag!

Halb zwölf zeigten die Schläge der Schloßuhr an. Eine Minute später regte sich etwas auf dem Schloßhofe.

In der langen Reihe von Nebengebäuden trat unter einer Thür eine Gestalt hervor.

Ob die Thür unmittelbar vorher war geöffnet worden, oder ob sie schon längere Zeit offen gestanden hatte, die Kammerfrau wußte es nicht; ein Geräusch des Oeffnens hatte sie nicht vernommen. Vielleicht war sie nicht geöffnet, und die Gestalt hatte nur dicht an der Pforte gestanden.

Der Hervortretende blieb vor der Thür stehen, in der Absicht wohl, bevor er sich weiter begebe, umher zu schauen, ob Jemand auf dem Hofe sei, ob er beobachtet, bemerkt werde.

»Wer kann es sein?« fragte die Frau Erhardt sich. Sie mußte auch nur auf eine Vermuthung verzichten; sie konnte nicht einmal unterscheiden, ob sie eine Manns- oder eine Frauensperson sehe.

Eine Minute war verflossen, die Gestalt mußte nichts Verdächtiges wahrgenommen haben. Sie trat vor.

Ein Frauenzimmer! Aber wer kann sie sein? Wer wohnt denn dort?

Die Frau Erhardt sann nach, suchte die Finsterniß zu durchbohren, um Züge des Gesichts, nur eine Form der Gestalt erkennen, nur errathen zu können. Es war vergebens. Ihre Phantasie wurde thätig.

»Die Polin!« rief sie dann plötzlich.

Aber sie erschrak rasch vor dem Gedanken

Wie sollte sie dorthin kommen? Wer sollte sie aufgenommen haben?

Die unbekannte Frauengestalt war weiter in den Hof geschritten, langsam, vorsichtig, unzweifelhaft in die Finsterniß hinein spähend, in die Stille hinein horchend. Sie vernahm auch ferner nichts.

Sie hielt sich dennoch in der Nähe der Häuserreihe, wo sie mit jedem Schritte irgend einen Versteck finden konnte. Sie hatte das Ende der Reihe erreicht.

Die Blicke der Kammerfrau waren ihr Schritt für Schritt gefolgt.

»Wohin wird sie jetzt sich wenden?«

Die Gestalt stand wieder, wieder kaum eine halbe Minute.

Dann wandte sie schnell von der Häuserreihe sich ab, durchflog den Hof, eilig, wie schwebend, nach der Parkseite hin, erreichte die Reihe der in den weißen und grünen Kübeln aufgestellten Orangenbäume, wollte an ihnen vorüber eilen, stieß bei den ersten einen unterdrückten Schrei aus, schien zurückfliegen zu wollen, eilte weiter, war den Augen der Kammerfrau entschwunden.

Die Frau Erhardt hatte trotz dem Klopfen ihres Herzens den Schrei gehört. Die Stille der Nacht hätte einen leiseren Laut aus weiterer Ferne zu ihr hinaufgetragen. Sie erschrak mit der Gestalt, die ihn ausstieß. Aber er war ihr kein Erkennungszeichen geworden.

»Die Polin?« fragte sie sich nur noch einmal.

Ihre Aufmerksamkeit mußte sich etwas Anderem zuwenden.

Vom Schlosse her kam plötzlich mit raschen Schritten Jemand, der gleichfalls das Aufschreien gehört haben mußte. Die Kammerfrau erkannte ihn: es war die große, breitschultrige Gestalt des Wachtmeisters. Er eilte mit seinem raschen Schritt dem Parke zu, den Orangeriebäumen, in denen die Frauengestalt verschwunden war; auch er verschwand dort.

Die Frau Erhardt blickte, horchte ihm mit ihrem klopfenden Herzen nach. Nicht lange mußte sie das. Nach kaum einer Minute sah sie den Mann zurückkommen; er ging langsam, wie suchend, nach allen Seiten um sich blickend.

»Er hat im Park nichts mehr gefunden,« sagte sich die Kammerfrau.

Sie hatte einen Entschluß gefaßt. Sie öffnete das Fenster, an dem sie stand, so leise wie möglich. Durch die Stille der Nacht mußte er sie dennoch hören.

Er stand, schaute zu dem Fenster hinauf, trat näher.

»Ich komme!« flüsterte sie hinunter.

Sie verschloß das Fenster, verließ ihr Stübchen, dessen Thür sie hinter sich nur anlegte, stieg fast unhörbar die Treppe hinunter.

Es begegnete ihr Niemand; kein Geräusch traf ihr Ohr, kein Lichtschein ihr Auge. Das ganze Schloß lag in Ruhe; nur sie allein wachte.

Einen Wächter hatte das Schloß nicht, der tapfere General Waldern kannte keine Furcht; so durfte Niemand in seinem Hause sie kennen.

In den Gängen, Korridors, auf den Treppen brannte niemals in der Nacht ein Licht.

Die Frau Erhardt stieg bis in das Parterre hinunter; hier begab sie sich in die Portierloge, die immer offen stand.

Auch einen Portier hatte das Schloß nicht; vor der Ankunft des Generals hatte das unbewohnte Schloß seiner nicht bedurft; der General, der nie Besuch empfing, hatte keinen bestellt.

Ein kleines Fenster der Loge führte auf den Hof. Die Frau öffnete es.

Der Wachtmeister stand darunter. Er hatte ihre zwei Worte gehört, verstanden.

»Sie suchen Jemanden, Herr Wachtmeister?« fragte ihn die Frau.

»Ja!« antwortete er rasch.

»Eine Frau oder einen Mann?«

Er zögerte mit der Antwort.

»Ich könnte Ihnen vielleicht Auskunft geben, Herr Wachtmeister!«

Der finstere und zugleich offenbar mißtrauische, alte Soldat konnte sich noch nicht zu einer Antwort entschließen.

»Sahen Sie Jemanden?« fragte er.

»Herr Wachtmeister,« erwiderte sie ihm, »Sie können der Herrschaft nicht treuer sein, als ich es bin; Ihr Mißtrauen gegen mich muß mich kränken. Aber mir ist, als handele es sich um eine Gefahr für unsere Herrschaft, und ich meinerseits will diese nicht vergrößern. So hören Sie.«

Sie hatte mit der großen Ruhe und Sicherheit gesprochen, die ihr eigen waren und durch die sie fast immer eine Ueberlegenheit gewann.

Der Wachtmeister blieb unbeweglich, entgegnete ihr nichts.

Sie fuhr fort, und der finstere Mann wurde ganz Ohr.

»Vor einigen Minuten,« theilte sie ihm mit, »trat aus den Häusern leise und vorsichtig eine Frauengestalt, blickte sich sorgsam nach allen Seiten um, eilte dann nach den Orangeriebäumen, stieß plötzlich einen Schrei aus und verschwand in demselben Augenblicke.«

»Aus welchem der Häuser kam die Frau?« fragte der Wachtmeister rasch, angelegentlich.

Die Kammerfrau wollte auch von seiner Seite irgend ein Entgegenkommen erfahren.

»Suchen Sie jene Frau?«

»Ja.«

»Sie kam aus der Mitte der Reihe.«

»Die Nummer?«

»Ich habe auf die Nummern der Häuser nie geachtet.«

Die Frau war dazu auch nicht im Stande. In der Finsterniß und Entfernung hätte sie es nicht genau unterscheiden können.

Der Wachtmeister sann einen Augenblick nach. Dann wollte er sich entfernen.

»Ich danke Ihnen, Frau Erhardt,« sagte er, mit einer gewissen Höflichkeit sogar, soweit er höflich werden konnte. Er wollte wohl das Mißtrauen wieder gut machen, durch das er die brave Frau gekränkt hatte.

Sie wollte ihren Vortheil ergreifen.

»Herr Wachtmeister, wer ist die Frau, die Sie suchen?«

Er war schon wieder der finstere, verschlossene Mann.

»Das darf ich Ihnen nicht sagen,« erwiderte er kurz.

»Ich erfahre es morgen doch,« sagte die Frau. »Ich brauche mich nur zu erkundigen, wer in den zwei oder drei mittleren Häusern wohnt.«

Der Wachtmeister erwiderte nichts, wandte sich von dem Schlosse ab, schritt langsam, wie mit sich überlegend, in den Hof hinein, dem Parke zu.

Die Kammerfrau kehrte in ihr Stübchen zurück. Sie hörte auf ihrem Wege nichts, auch nichts in dem kleinen Gemach. Ihre Besorgniß wollte trotzdem nicht weichen. Sie mußte sich wieder an ihr Fenster setzen, nach dem Hofe hinunter zu horchen und zu spähen.

Sie saß lange da, ohne etwas wahrzunehmen. Müdigkeit führte sie zuletzt zu ihren Lager; aber sie legte in ihrer vollen Kleidung sich nur auf das Bett. Sie wollte nicht schlafen; sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß die Nacht noch etwas Entsetzliches bringen werde. Da wollte sie jeden Augenblick bei der Hand sein.

Sie war dennoch eingeschlummert.

Sie erwachte. Sie glaubte, indem sie die Augen aufschlug, ein leises Flüstern und Sprechen mehrerer Stimmen, ein noch leiseres Hin- und Hergehen mehrerer Menschen zu gewahren. Sie wußte nicht, ob sie dadurch aufgeweckt war oder ob ein anderer Umstand ihren Schlaf unterbrochen habe. Das Geräusch war unten auf dem Hofe in der Nähe des Schlosses, abseits von ihrem Fenster.

Sie besann sich rasch. Sie verließ ihr Bett, trat an das Fenster. Sie blickte nur in den leeren Hof; die Menschen draußen mußten sich also ganz dicht an der Mauer des Schlosses befinden, so daß sie von oben, ohne daß das Fenster geöffnet wurde, nicht zu sehen waren.

Da waren sie noch; die Frau hörte noch ihr Flüstern und Hin- und Hergehen.

Sollte sie das Fenster öffnen? Sie wagte es nicht; es konnte unten gehört werden. Aber dann? Was konnte von unten her ihr oben geschehen? Und wer waren denn am Ende die Menschen?

»Polen!« sagte ihr wohl das klopfende Herz, das seit Tagen schon mit der Furcht vor den Polen sich getragen hatte. Aber es konnten ja auch Schloßbewohner sein, die irgend ein Ereigniß hier zusammengeführt hatte.

Da gewahrte plötzlich ihr Auge eine Bewegung unten auf dem Hofe.

Aus den Nebengebäuden – die Häuser wurden sie benannt – erschien ein Mensch. Es war an demselben Hause, aus dem vorher die dunkle Frauengestalt hervorgekommen war; die Kammerfrau hielt es wenigstens für dasselbe Haus.

Diesmal war eine Mannsperson hervorgetreten; auch unter der Thür hervor; es war, als wenn die Thür nicht wäre geöffnet worden, vielmehr der Mensch nur unter ihrem Gesimse gestanden hätte. Er war kaum einen Schritt hervorgetreten; er schien nach den Fenstern des Hauses hinaufzublicken. Und gleich darauf öffnete sich eins der Fenster; ein Kopf erschien darin, war aber fast in demselben Augenblick wieder verschwunden.

Es war, als wenn der Mensch das Haus belagere, und die Belagerten sich hatten vergewissern wollen, ob der Feind noch vor der Thüre sei.

Und der Feind?

Und wenn die Nebengebäude belagert waren, so war es auch das Schloß – von dem Haufen der Menschen, die an seinen Mauern sich befanden!!

»Und der Feind?« fragte die Frau sich noch einmal.

»Ah!« mußte sie ausrufen.

»Die Polin!«

Eine dunkle Frauengestalt war wieder auf dem Hofe erschienen. Trotz der Dunkelheit glaubte die Kammerfrau nicht zweifeln zu dürfen, daß sie dieselbe Gestalt sehe, die sie vorhin wahrgenommen, die sie für die Polin gehalten, die der Wachtmeister gesucht, verfolgt hatte.

Ihre Gedanken hatten durch die Entdeckung eine bestimmtere Richtung gewonnen. Aber zu einem Entschlusse konnte sie noch nicht gelangen. Sie fand auch diesen.

Die Frauengestalt, die vermeintliche Polin, hatte sich zu dem Manne begeben, der unter der Thür des Nebengebäudes Wache hielt, mußte mit ihm kurze Worte gewechselt haben, kehrte rasch zum Schlosse zurück.

Einen Augenblick nachher setzten die Menschen an dem Schlosse, wie es schien, der ganze Haufen, sich in Bewegung. Sie zogen ab, dicht an den Mauern des Schlosses entlang, so daß sie von oben nicht zu sehen waren, nach dem Seitenflügel des Gebäudes. Sie gingen in geschlossenen Reihen, schnell, leise. Ihre Schritte verhallten.

Die Kammerfrau mußte wieder einen Entschluß fassen.

Der Haufen hatte den Hof verlassen; aber er konnte in der nächsten Nähe geblieben sein. Die Wache an den Nebenhäusern war noch immer da. Eine genauere Auskunft konnte die Frau sich nicht verschaffen. Auch die leiseste, geringste Oeffnung des Fensters hätte sie verrathen.

Sie wußte dennoch, was sie zu thun hatte; die Herrschaft mußte benachrichtigt werden. Mochte diese mit oder ohne Noth beunruhigt werden, mochte das, was draußen geschah und noch geschehen sollte, gerichtet sein gegen wen immerhin, der Herr des Hauses mußte wissen, ob seinem Hause eine Gefahr drohe. Er wußte, wenigstens wahrscheinlich, noch von nichts.

Die Frau Erhardt verließ ihr Stübchen Es lag an einem kleinen Quergange, der in einen längeren Korridor mündete. Sie trat in den kleinen Gang. Es herrschte ebenso tiefe Stille wie Finsterniß darin. Sie blieb stehen, in die entfernteren Theile des Gebäudes zu horchen Es war überall still. Sie vernahm kein Geräusch, weder im Innern des Schlosses, noch von außen her.

Sie schritt weiter in dem kleinen Gange, in der entgegengesetzten Richtung vom Korridor. Sie gelangte zu einer Hintertreppe, die für die Domestiken des Hauses bestimmt war. Sie stieg die schmale Treppe hinunter, ein, zwei Stockwerke.

Sie hatte die Etage erreicht, in der die Schlafgemächer der Herrschaft sich befanden. Sie war wieder in einem kleinen Gange, der in einen langen Korridor einmündete. An dem Korridor lagen die Schlafgemächer, zu denen sie wollte. Es herrschte auch hier dieselbe Stille und Finsterniß, aus der sie gekommen, in der sie weiter gegangen war.

Sie schritt zu dem Korridor.

Sie hatte sich vorher Alles überlegt. Sie wollte so wenig beunruhigen wie möglich. Die Generalin sollte nicht geweckt werden, nichts erfahren, bis es nothwendig sei. Wann es nothwendig sei, sollte der General bestimmen. Diesen wollte sie wecken; nicht auch den Kammerdiener Georg, der entfernt schlief.

Auch den Wachtmeister nicht? An ihn und seine Hülfe, wenn eine solche noth thue, hatte sie wohl zuerst gedacht; aber der alte und finstere, der treue und verschlossene Diener schlief in einem noch entfernteren Theile des Gebäudes.

Sie wollte weiter schreiten. Sie hemmte plötzlich ihre Schritte, als höre sie ein Geräusch in dem Korridor, dort wo an diesem das Zimmer des Generals lag, vielleicht gerade an der Thür des Zimmers.

Sie stand, sie horchte. Sie vernahm nichts mehr. Getäuscht hatte sie sich nicht. Es hatte sich in dem Korridor etwas bewegt, hatte es auch noch so unbestimmt gelautet, mochte es ein Mensch oder ein Thier sein.

War ihr Schritt gehört worden, daß plötzlich sich nichts mehr regte? Sie stand eine Weile unschlüssig.

Da glaubte sie drunten etwas zu vernehmen, unter den Mauern des Schlosses, ein Hin- und Hergehen, ein Gemurmel, wie wenn mehrere Menschen durcheinander sprachen.

War der Menschenhaufen zurückgekehrt, den sie vorhin von ihrem Stübchen aus wahrgenommen hatte?

Sie war eine muthige Frau. Sie schritt entschlossen zu der Thür des Generals.

Eine große, kräftige Gestalt trat ihr entgegen

»Keinen Laut, Frau Erhard!«

Der alte Wachtmeister flüsterte ihr diese Worte zu.

Er zog sie auf die Seite, von der Thür des Generals zurück.

»Was wollen Sie hier?« fragte er.

»Um des Himmels willen, Herr Taudien was giebt es?«

»Antworten Sie mir!« erwiderte ihr der finstere Mann.

Sie mußte ihm antworten

»Den Herrn General wecken.«

Und er erwiderte ihr: »Wenn Sie seinen Tod wollen, dann wecken Sie ihn.«

»Aber was giebt es denn hier, Herr Taudien?«

»Nichts für Sie! Kehren Sie in Ihr Stübchen zurück!«

Das wollte, das konnte die Frau nicht.

»Herr Wachtmeister, Sie sind ein treuer Diener des Herrn! Sie wollen ihn nicht verlassen. Aber ich kann auch meine Herrin nicht verlassen.«

»Gehen Sie zu ihr.«

Der Wachtmeister sagte es rasch, als wenn ihm plötzlich ein Gedanke gekommen sei. Aber in dem Augenblicke hatte er sich schon anders besonnen.

»Gehen Sie nicht. Unter keinen Umständen!«

»Aber warum nicht?«

»Warum nicht?« wiederholte er, und seine Stimme hatte einen so sonderbaren Klang; sie sollte rauh sein und vermochte doch nicht zu verbergen, daß die Brust, aus der sie hervorkam, voll von Schmerz und Weh war. »Warum nicht, Frau Erhardt? Sie dürfen es nicht wissen! Niemals, wenn Ihnen Ihr Leben, das Heil Ihrer Seele lieb ist!«

Es waren Worte, wohl eben so seltsam und sonderbar, wie der Ton, mit dem sie gesprochen wurden. –

Die Frau stand unentschlossen.

»Kehren Sie in Ihr Stübchen zurück,« sagte er, »und verlassen Sie es heute Nacht nicht wieder! Mag geschehen was will, mögen Sie auch das Schlimmste hören. Versprechen Sie es mir. Ihrer Herrin geschieht nichts. Das verspreche ich Ihnen.«

Es waren wohl wieder seltsame Worte, namentlich dieses Versprechen.

Aber die Frau kannte die Treue des Mannes, der es gab, und sie vertraute seinem alten Muth, den er, nach den öfteren Erzählungen des Generals, an dessen Seite in so mancher heißen Schlacht bewährt hatte.

»Darf ich denn gar nicht wissen, was hier geschieht?« mußte sie dennoch fragen.

»Mit keiner Silbe.«

»Gehen Sie,« drängte er dann. »Und verlassen Sie Ihr Zimmer nicht, was auch geschehen mag! Sie verhüten größeres Unglück dadurch. Versprechen Sie es mir! Geben Sie mir die Hand darauf!«

Sie gab ihm die Hand; das Weinen war ihr so nahe dabei, und wie sie die Treppen zu ihrem Stübchen hinauf stieg, hörte sie das Tröpfeln der Thränen, die von dem kummer- und angstvoll vorgebeugten Gesichte auf die steinernen Stufen herniederfielen.

Sie hatte ihr Stübchen erreicht. Sie hatte auf dem Wege nichts weiter vernommen. Sie vernahm auch ferner nichts. Ihr Bett suchte sie nicht wieder auf; sie setzte sich auf einen Stuhl vor ihm. Es war ihr so weh um das Herz. Ein Unglück drohte; sie konnte es nicht abwenden; sie wußte nicht einmal, sie konnte nicht ahnen, was es war.

In solchen Lagen tritt unwillkürlich das vergangene Leben vor die Seele des Menschen. Das Leben der Frau war unzertrennlich mit dem ganzen Leben ihrer Herrin verknüpft gewesen, mit deren Freuden und Leiden.

Die Mutter der Frau Erhardt war schon Kammerfrau bei der Mutter der Generalin gewesen. Ihrer Mutter war die Tochter gefolgt, zuerst im Dienste der älteren Dame, dann in dem ihrer jetzigen Herrin, als diese den General heirathete.

Aber eine alte Dame war die Mutter der Gräfin Waldern noch nicht. Leider noch nicht! mußte die Kammerfrau sich sagen. Es wäre wohl Manches anders gekommen. Diese russische Grenze hätten wir nie gesehen; mit dieser Schreckensnacht wären wir verschont geblieben. Was wird sie uns noch bringen? Um meines Seelenheiles willen sollte ich meine Herrin verlassen! Was sollte das heißen? Der Wachtmeister ist ein treuer Diener, treu seinem Herrn, seiner Herrin.

Sie verfiel in tiefes Nachsinnen

Um sie her war es still geblieben, im Schlosse, auf dem Hofe, in der näheren und ferneren Umgebung.

Die Stille draußen wurde plötzlich unterbrochen; nicht laut, nicht auf einmal, desto unheimlicher.

Ein einzelner Schritt wurde hörbar unten auf dem Schloßhofe. Es war Jemand auf den Hof getreten, um das Schloß herum. Er machte wenige Schritte voran, kehrte zurück.

Im Augenblick nachher vernahm man den Tritt mehrerer Menschen. Sie gingen leise, kamen einzeln heran, wie es schien, alle von der Seite des Schlosses her. In der Nähe des Schlosses machten sie Halt.

Kein Ton einer Stimme wurde laut; wenn sie mit einander sprachen, so mußten sie flüstern. Ihre Anwesenheit konnte im Schlosse von Niemandem wahrgenommen werden, der nicht auf ein außerordentliches Ereigniß dieser Nacht ausdrücklich vorbereitet war.

Die Frau Erhardt war es.

Auf das Schrecklichste sollte sie nach den Worten des Wachtmeisters sich gefaßt halten. Was es war, hatte er nicht einmal angedeutet. Warum nicht, das war ihr wohl ein Räthsel.

Aber hatte sie nicht noch wenige Stunden vorher selbst ihre Angst vor einem Attentate polnischer Insurgenten gegen den General, den Liebling des russischen Kaisers, ausgesprochen? Und wie sie das leise, heimliche Zusammentreten der Menschen wahrnehmen mußte, wurde ihre unbestimmte Angst zu einer greifbaren Gewißheit.

Die Insurgenten waren da zu einem Ueberfall des Schlosses, zu einem rachevollen Attentat gegen das Leben des Generals.

Und der General hatte keine Ahnung davon, und unzweifelhaft auch kein Anderer im Schlosse, außer ihr und dem Wachtmeister. Und wo der Wachtmeister war, wußte sie nicht, und sie sollte, nach dem bestimmten Befehl des finstern Mannes, zu der Herrschaft nicht zurück, um des Heiles ihrer Seele willen nicht.

Aber es war ihr ein Verrath, eine Theilnahme an dem Morde, an der Ermordung ihres Herrn, wenn sie nicht warnte, nicht half; da mußte ihre Seele erst recht verloren sein.

Sie trat an das Fenster ihres Stübchens, um auch durch das Auge sich zu überzeugen, was draußen war.

Sie sah nichts. Die volle Dunkelheit der Nacht herrschte auf dem Hofe, herrschte soweit ihr Auge umher streifen konnte. Auf dem Hofe konnte ihr Blick die Finsterniß durchdringen. Wenn eine Gestalt sich dort bewegt hätte, sie hätte es gewahren müssen. Sie gewahrte nichts. Die Menschen, die da waren, mußten sich dicht an den Mauern des Schlosses halten, so daß sie durch das verschlossene Fenster des Stübchens oben im vierten Stock nicht gesehen werden konnten.

Auf einmal sah sie doch etwas.

 

Aber bevor wir weiter erzählen, müssen wir zum besseren Verständniß die Localitäten von Schloß Romnike beschreiben.

Schloß Romnike war ein Complex mehrerer Gebäulichkeiten, die unter diesem Namen zusammengefaßt wurden. Das Schloß bestand aus zwei Gebäuden, einem alten und einem neuen.

Das alte stammte aus den Zeiten des deutschen Ritterordens, der Sage nach aus noch älterer Zeit. Ein heidnischer Fürst der Litthauer oder Polen sollte hier gehaust haben, von den deutschen Rittern im dreizehnten Jahrhundert besiegt und bezwungen sein. Sein Schloß sei theilweise zerstört worden; auf den Resten und mit seinen Trümmern zum Theil hatten die Ritter ein neues Schloß erbaut.

Dieses Schloß existirte noch, als im sechzehnten Jahrhundert das Ordensland ein Herzogthum Preußen wurde und dann dem Kurfürsten von Brandenburg zufiel, um fortan mit der Krone Preußens verbunden zu sein. Romnike war nun eine kurfürstliche, dann königliche Domaine. Es war eine der bedeutendsten Domainen in Preußisch-Litthauen. Es sollte sich als solche repräsentiren.

Zu Ende des vorigen Jahrhunderts ließ die Regierung zu dem Ritterschlosse, obgleich es noch immer wohl erhalten war, ein neues Schloß im prachtvollsten Style der Zeit hinzubauen. Beide Bauten, von denen das Ritterschloß jetzt das alte hieß, stellten als zwei, aber zusammengebaute Schlösser sich dar. Im Innern waren sie miteinander verbunden durch Thüren, die verschlossen werden konnten. In jeder der zwei unteren Stockwerke des neuen Schlosses befand sich eine solche Thür, nur eine.

Beide Schlösser lagen an dem oberen Ende des ein längliches Viereck bildenden geräumigen Schloßhofes, gegenüber dem offenen Eingang desselben. Links vom Eingange aus war das alte, rechts das neue Schloß. An der Langseite des Hofes, rechts vom Eingange aus, befanden sich die Wirthschaftsgebäude, die »Häuser« genannt.

Die linke Langseite schloß sich an den Park an, oben von diesem durch die Gewächshäuser getrennt, wo diese aufhörten, ohne alle Scheidung.

Der Park war auf allen seinen anderen Seiten von der großen Gutswaldung umschlossen, die weit längs der russischen Grenze sich ausdehnte, und da, wo sie diese nicht berührte, überall von den unübersehbaren Acker-, Weiden- und Wiesen-Ländereien des Gutes umgeben war. Von mehreren Vorwerken aus mußte deren Bewirthschaftung besorgt werden.

In dem neuen Schlosse wohnte die Herrschaft mit ihrer unmittelbaren Dienerschaft. Diese war gering. Der General, wie groß sein Reichthum, schon sein angeerbter war, unter welch' großartigen Verhältnissen er seine Jugend verlebt hatte, war als Soldat der einfachste Mann gewesen, nur der Soldat, der sich abhärten, jeden Luxus von sich weisen, jeder Bequemlichkeit entsagen müsse.

Als er sich vermählte und in der Residenz, um seiner jungen schönen Gemahlin willen, ein großes glänzendes Haus machte, hatte er sich auch mit einer zahlreichen Dienerschaft umgeben. Er hatte diese nach Schloß Romnike mit hinaus nehmen wollen. Auf Bitten seiner Gemahlin hatte er es unterlassen, gern, da der Prunk ihm lästig war wie ihr.

In dem alten Schlosse befanden sich die Bureaus der Gutsverwaltung und hatten die Beamten mit ihren Familien ihre Wohnungen.

Die Häuser wurden von den Wirthschaftsleuten bewohnt, soweit diese nicht in den Vorwerken zerstreut lebten. Hinter ihnen befanden sich noch Remisen, Stallungen, Speicher und Scheunen.

 

Die Frau Erhardt war an das Fenster ihres Stübchens getreten, um in den Schloßhof hinunter zu spähen. Zuerst hatte sie in der Finsterniß nichts wahrnehmen können; dann sah sie etwas.

Fünf bis sechs Menschen erschienen in dem Hofe. Sie kamen von dem Schlosse her, dem neuen. Sie hatten also wahrscheinlich von dem Haufen sich abgetrennt, der nach der Vermuthung der Kammerfrau hier dichter unter den Mauern noch beisammen war, wie die Frau meinte, um Rath zu halten.

Die fünf oder sechs Menschen gingen einzeln, aber der eine immer nahe hinter dem anderen; sie gingen leise; man vernahm ihren Schritt nicht. Ihre Gestalten waren in der Dunkelheit nicht zu unterscheiden; es blieb der Frau auch ungewiß, ob sie bewaffnet waren.

Sie wandten sich zu den Nachbargebäuden, den »Häusern«. An diesen trennten sie sich. Zuerst blieb Einer stehen; die Anderen gingen weiter. An dem zweiten Hause blieb ein Zweiter zurück; an dem dritten ein Dritter.

Weiter konnte die Frau die Menschen nicht verfolgen; aber es war ihr unzweifelhaft, daß auch die Uebrigen sich so vertheilen würden. Und nun konnte sie auch nicht mehr bezweifeln, was die Menschen vorhatten. Sie besetzten die Häuser, um den Bewohnern, wenn sie etwas vernahmen, den Ausgang zu wehren. Sie mußten also auch bewaffnet sein. Und ihr Erscheinen war für die Frau Erhardt ein neuer Beweis, daß Insurgenten da waren, zum Ueberfall des Schlosses, zur Ermordung des Generals.

Der Entschluß der Frau stand fest. Der General schlief, war nicht erwacht, hatte keine Ahnung von dem Ueberfall, von der Gefahr, die ihm drohte. Die Generalin hätte sonst die Klingelschnur über ihrem Bette gezogen, um ihre Kammerfrau zu wecken, Hülfe herbei zu rufen. Die Glocke in dem Stübchen der Frau Erhardt hatte sich nicht gerührt.

Noch einmal horchte sie in den Hof hinunter; sie vernahm nichts, auch an den Schloßmauern nicht. War der Haufen noch da unten? Oder hatte er sich zu der Rückseite des Schlosses begeben? Er konnte sich auch vertheilt haben, um nach beiden Seiten den Schloßbewohnern den Ausgang zu versperren. Zugleich zu einem anderen, näheren Zweck, hier wie dort die Hausthüren zu öffnen, wenn auch nicht gewaltsam, doch durch Nachschlüssel. Gelang der Versuch auf der einen Seite nicht, so konnte auf der anderen ein Erfolg erwartet werden.

Nur durch die Hausthüren war der Eingang in das Schloß zu gewinnen und nur durch Nachschlüssel. Ein gewaltsames Oeffnen, auch nur eines Fensters, hätte Lärm gemacht.

Noch durch das alte Schloß hätte ein Eindringen gelingen können. Aber das setzte ein verrätherisches Einvernehmen mit einem Bewohner der alten Ritterburg voraus, und keinen von ihnen hielt die Frau eines solchen fähig.

Freilich, durch irgend einen Verrath mußten die Mörder – was Anderes waren jene Menschen der Frau? – Kenntniß von den Zuständen auf Schloß Romnike erhalten haben. Das war jenen indeß leicht gewesen. Nach dem preußischen Litthauen kommen alljährlich Polen und Syamaiten von jenseits der russischen Grenze herüber, namentlich für die Erntearbeiten; wenn sie keine Arbeit mehr finden, kehren sie in die Heimath zurück. Auch auf Schloß Romnike hatten sie sich stets eingefunden.

Und was war es mit jener Polin?

Die Frau Erhardt durfte nicht mehr säumen Die Warnung des Wachtmeisters durfte sie nicht mehr beachten. Durch das Versprechen, das sie ihm gegeben, konnte sie sich nicht zurückhalten lassen.

Sie verließ ihr Stübchen. Sie wollte die Treppen hinüber eilen, die sie zu den Gemächern der Herrschaft führten. Es waren zwei Treppen, wie wir wissen. Das untere Ende der ersten erreichte sie; sie war schnell gegangen, aber leise, durch die tiefe Finsterniß, durch die völlige Stille des großen Gebäudes, in dem Alles schlief; sie hatte nicht das geringste Geräusch gehört. Die Mörder waren also noch nicht im Hause. So vermuthete sie.

An der untersten Stufe der Treppe machte sie gleichwohl Halt, um noch einmal zu horchen.

Es blieb still um sie her. Unter ihr war der Korridor, an dem die Schlafgemächer der Herrschaft lagen, in denen ihr vorhin der Wachtmeister begegnet war.

Sie wollte die zweite Treppe hinuntersteigen. Sie hatte unhörbar die zwei Stufen zurückgelegt.

Plötzlich vernahm sie ein Geräusch. In dem Korridor unter ihr bewegte sich ein Schritt. Sie stand unbeweglich.

Der Schritt war ein leichter, leiser.

»Ein Frauenschritt?« mußte die Dienerin sich fragen.

Sie bejahete sich die Frage.

»Die Generalin?«

Sie hatte auf die Frage kein Ja und kein Nein.

»Aber welche Frau könnte da unten sein, wenn es die Generalin nicht wäre?«

Sie horchte unwillkürlich und unbeweglich weiter.

Der Schritt ging leise und langsam auf und ab, machte eine Pause, bewegte sich wieder, ein- oder dreimal, stand wieder.

»Worauf mag sie warten? Wonach horchen?«

Der Frau Erhardt klopfte das Herz, es wollte ihr unheimlich zu Muthe werden.

»Das ist nicht die Generalin!«

Sie sprach sich wieder Muth zu:

»Sie muß es.sein! Welche andere Frau könnte sich hier aufhalten? Sie wartet auf den General, der noch nicht fertig ist. Dieser tapfere Soldat konnte sich vielleicht zu der Flucht noch nicht entschließen. Sie ging voraus; da muß er ihr zuletzt doch folgen! Aber es ist ja überall still hier! Es ist keine Gefahr da, nicht für ihn, nicht für sie.«

Der Schritt bewegte sich noch immer, langsam, leicht, leise, Pause machend, wieder vorangehend, wieder rückwärts.

Die Kammerfrau mußte Gewißheit haben. Sie stieg die Treppe weiter hinunter, unhörbar, eine Stufe, zwei Stufen.

Unten veränderte sich nichts. Sie war also nicht gehört.

Sie stieg eine dritte Stufe hinunter. Sie wollte die vierte nehmen. Sie mußte unbeweglich stehen.

In dem Korridor unter ihr wurde leise die Thür geöffnet.

»Die Thür des Generals!« sagte die Dienerin sich.

Die Thür wurde wieder zugelegt, aber nicht verschlossen.

Die Frau horchte scharf; sie hörte keinen Schlüssel in dem Schlosse sich drehen.

Sie wollte sich darüber verwundern.

Ein Schritt trat von der Thür in den Korridor, vorsichtig auf und nieder tretend.

»Es könnte doch der General sein!« sagte sich die Frau. – Sie athmete auf.

»Ich werde die Herrin nicht verlassen!«

Sie wollte die vierte Stufe die Treppe hinuntersteigen. Sie mußte noch einmal den Schritt hemmen.

Die Frau unten hatte sich nicht mehr bewegt; der Mannesschritt hatte sich ihr genahet. Beide waren zusammen, gingen nicht weiter.

»Warum gehen sie nicht?«

Die Frau flüsterte ein paar Worte.

Der Mann antwortete ihr gleichfalls flüsternd ein paar Worte.

Die Frau erwiderte in gleicher Weise.

Auch das leiseste Flüstern hat einen Ton, der verräth, ob es von einer Gemüthsbewegung begleitet ist oder nicht.

Das Flüstern der Frau verrieth Erregtheit.

Das des Mannes darauf klang wie entschuldigend.

Man hörte noch ein erregteres Flüstern der Frau, ein unbewachtes Fußstampfen begleitete es.

»Herr des Himmels!« entfuhr unwillkürlich ein halblauter Angstschrei den behenden Lippen der Kammerfrau.

Die Beiden unten eilten weiter in den Korridor hinein. Ihre Schritte wurden nicht mehr gehört.

Die Frau Erhardt stand lange unbeweglich; sie war wie gelähmt von einem heftigen Entsetzen.

Das war nicht der General, nicht die Generalin gewesen. Die Generalin, die feingebildete Dame, stampfte nie mit dem Fuße, hatte sich nie so weit vergessen, ihrem Gemahl eine Erregtheit zu zeigen. Was hätte er gegen sie zu entschuldigen gehabt! Und warum flohen sie Beide? Vor ihr, der Kammerfrau, deren Hülfe, deren Gegenwart nur in diesem Augenblicke ihnen das willkommenste Ereigniß sein mußte!

Die Frau stand erstarrt.

Wer waren die beiden Menschen?

Eine furchtbare Ahnung schien sie ergreifen zu wollen.

Wohin flohen sie?

Sie waren den Korridor hinuntergeeilt, in der Richtung nach der alten Ritterburg.

Haben sie dort Verbindung?

Aber die entsetzlichste Frage kam dann.

Er, der Mann, war aus dem Schlafgemache »des Generals hervorgetreten Was hat er dort gemacht? Was that er da, während seine Gefährtin aus ihn wartete?

Sie eilte die Treppe hinunter, durch den kleinen Gang, sie war in dem Korridor.

Die Thür des Schlafgemachs war von dem Manne nicht abgeschlossen. Sollte sie in das Zimmer gehen? Sie mußte. Sie hatte dennoch nicht den Muth. Aber an die Thür konnte sie treten. Sie horchte, in dem Zimmer war Todtenstille.

.Die Stille des Todes! Ein Schauder durchschüttelte ihre Glieder.

Sie kehrte von der Thür zurück.

Zu der Generalin! blieb ihr ein Ausweg.

Sie schritt zu der Thür der Generalin.

Die Thür war immer des Nachts verschlossen.

Die Frau Erhardt schloß sie von außen ab, wenn sie ihrer Herrin behülflich gewesen war, zum Schlafengehen sich auszukleiden Sie steckte den Schlüssel zu sich, um am folgenden Morgen beim Ankleiden wieder da sein zu können. Den Schlüssel trug sie immer bei sich. Sie zog ihn hervor. Aber bevor sie begann, Gebrauch von ihm zu machen, horchte sie an der Thür.

Sie vernahm ein leises, unterdrücktes Weinen in dem Gemache.

Ihr ganzer Körper erbebte.

Die Generalin weinte so.

Die Kammerfrau horchte, ob Jemand bei ihrer Herrin sei. Sie hörte nur das Weinen, keinen anderen Laut. Die Generalin war in ihrem Bette, oder saß vor ihm.

Und der General?

Die Frau Erhardt ging zurück zu der Thür des Generals. Sie horchte noch einmal in das Zimmer. Es herrschte dieselbe Stille des Todes darin, wie vorher. Sie wollte die Thür öffnen, hineintreten. Der muthigen Frau fehlte doch der Muth. Sie bedurfte eines Schutzes, das Zimmer zu betreten.

An den Wachtmeister war ihr erster Gedanke gewesen. Aber wo ihn finden? Sie hatte ihn zuletzt hier an der Thür des Generals gesehen.War er seitdem wieder hier gewesen? Sie glaubte, es annehmen zu müssen, weil er von ihr verlangt hatte, sie solle nicht wieder zurückkehren. Sie schloß hieraus, daß er ferner sich hier aufgehalten wenigstens die Absicht dazu gehabt habe.

Aber dann mußte er ja auch wissen, was hier geschehen war. Er mußte gar ein Zeuge davon gewesen sein.

Und wo war er gewesen, als jene Frau in dem Korridor wartend auf und ab ging? Und als jener Mann aus dem Gemache des Generals hervortrat? Oder war er selbst dieser Mann gewesen? Wo war denn der General? Warum weinte die Generalin in unterdrückten Thränen auf ihrem Bette?

Die Gedanken der Frau Erhardt verwirrten sich, ihre Angst vermehrte sich.

Nach dem alten Ritterschlosse hin waren jener Mann und jene Frau in dem Korridor entflohen, vor ihr geflohen! Die Frau Erhardt ging ihnen nach.

Sie horchte vorher an dem Fenster des Korridors, das auf die freie Seite des Schlosses führte. Es war draußen Alles still; nirgends schien sich etwas zu rühren.

Waren die Mörder wieder abgezogen? Dann mußte ihr Zweck erreicht sein, das Gemach des Generals in der That einen todten Mann beherbergen.

Ihr Ausweg führte sie an dem Gemache vorüber; sie flog, als wenn der Tod an ihren Fersen sei. Sie erreichte das Ende des Korridors. Sie stand vor der Thür, die hier in das alte Schloß führte. In diesem wohnten die Beamten des Gutes. Von ihnen wollte sie Auskunft erhalten; wenn sie ohne Kenntniß des Geschehenen waren, wollte sie ihrerseits ihnen Mittheilung machen, ihre Hülfe zu dem, was zu thun sei, in Anspruch nehmen.

Das Alles konnte sie nur, wenn die Thür, vor der sie stand, offen war. Gewöhnlich war das der Fall. War sie nicht offen, so blieb ihr nichts übrig, als den Kammerdiener Georg aufzusuchen, der freilich seine Schlafstube oben in den Mansarden hatte.

Sie versuchte, ob die Thür zu öffnen sei.

Da begegnete ihr etwas Seltsames.

Das alte und das neue Schloß waren, wie wir wissen, an einander gebaut. Ihre Brandmauern berührten sich. Sie standen in Verbindung nur durch die Thür zu Ende der zwei Korridore des neuen Schlosses. Vor einer dieser Thüren befand sich die Frau Erhardt. Der Korridor mündete zunächst in einen Quergang, der das Schloß von einer Breite zur anderen durchschnitt, an jedem Ende hohe, breite Fenster hatte, durch welche der Korridor Licht erhielt.

An dem einen Ende des Querganges bewegte sich etwas, als die Frau an die Verbindungsthür getreten war. Sie mußte unwillkürlich hinblicken. In der dunklen Nacht konnte durch das Fenster auch dorthin kein Licht dringen. Unter dem Fenster war die Bewegung, die das Ohr der Frau vernommen hatte. Ihre Augen vermochten nichts wahrzunehmen.

Sie blieb horchend stehen. Sie hörte noch einmal die Bewegung, ein Stöhnen folgte. Es war der leise Schmerzensschrei einer menschlichen Stimme.

Die Frau Erhardt war eine brave, mitleidige Frau. Sie sagte sich:

»Da muß Jemand hülflos und in schweren Schmerzen liegen. Er hat unzweifelhaft meinen Schritt gehört; er weiß nicht, ob ich Freund oder Feind bin Er vermochte dennoch nicht seinen Schmerz zu unterdrücken.«

Ihr Mitleid war erwacht. Ihr alter Muth war wieder da.

Sie ging dem Stöhnen nach.

»Wer ist da?« fragte sie.

»Sie sind da, Frau Erhardt?« fragte es zurück.

»Herr des Himmels!« mußte die Frau ausrufen »Armer Wachtmeister, was ist mit Ihnen geschehen?«

Sie war an der Seite des Wachtmeisters. Er lag in einem Winkel unter dem Fenster, zusammengekauert, stöhnend. Eine Antwort auf ihre Frage hatte er nicht.

»Was ist mit Ihnen geschehen?« wiederholte sie. »Sind Sie verwundet?« – mußte sie hinzusetzen.

»Ein nichtswürdiger Messerstich!« antwortete er.

»Ich werde Ihnen Hülfe holen,« wollte die Frau forteilen

»Bleiben Sie, Frau Erhardt. Mir ist nicht mehr zu helfen. Ich sterbe. Aber ich habe Ihnen etwas zu sagen. Sie müssen es wissen. Nur Sie.«

Die Frau blieb.

Er hatte, während er sprach, gewaltsam seinen Schmerz bekämpft. Er konnte weitersprechen.

»Hören Sie mir zu. Sie werden noch oft an diese schreckliche Nacht zurückdenken müssen. Sie werden sich dabei das Wenigste erklären können; vielleicht gar nichts. Sie müssen Alles wissen. Aber Sie müssen mir versprechen, Niemandem weitere Mittheilung zu machen, keinem Menschen in der Welt. Versprechen Sie mir das!«

»Auch der gnädigen Frau nicht?« fragte die Dienerin.

»Ihr am wenigsten!«

»Und,« fuhr sie zögernd fort, »auch nicht dem Herrn General?«

»Ah –!« rief der alte Soldat, sofort seinen Ausruf abbrechend.

Dann schwieg er ganz. Die Schmerzen schienen nicht zurückgekehrt zu sein. Es war, als wenn er nachsann.

Seine dunklen, räthselhaften Worte hatten die Frau mit einer neuen Angst, mit einer quälenden Ungewißheit erfüllt. Sie mußte Gewißheit haben.

»Ich verspreche Ihnen Alles,« sagte sie. »Kein Mensch soll jemals erfahren, was Sie mir anzuvertrauen haben.«

Er antwortete ihr nicht, er lag still.

»Stirbt er?« mußte die Frau sich fragen.

Das tiefste Dunkel war umher; die Züge, die Farbe des Gesichts des alten Soldaten waren nicht zu unterscheiden.

»Wo sind Sie verwundet?« fragte die geängstigte Frau.

Er sprach wieder.

»In der Brust! Es muß nahe am Herzen sein. Dann ist ja wohl Alles bald vorbei. Und es ist gut so. Bleiben Sie bei mir, Frau Erhardt. Man stirbt nicht gern allein. Aber fragen Sie mich nichts mehr. Kein Wort! Was ich weiß, was ich Ihnen sagen wollte, es muß mit mir, in das Grab.«

Die Frau hatte doch noch eine Frage:

»Haben Sie viel Blut verloren?«

»Ich hatte wohl nicht viel mehr,« war seine Antwort.

»Wie lange liegen Sie hier?«

»Ich weiß es nicht.«

»Er will sterben!« dachte sich die Frau.

»Ich hole Ihnen Hülfe,« sagte sie.

»Mir hilft Niemand mehr!«

Sie war dennoch schon von seiner Seite. Sie eilte zu der Thür zurück, die in das alte Schloß führte.

In der Ritterburg befand sich die Schloß-Apotheke. Sie stand unter der Aufsicht eines alten Rechnungsschreibers, der früher einmal Wundarzt gewesen war, und in leichteren oder schleunigen Fällen noch jetzt für die Leute des Gutes, wie für die Bewohner des Schlosses den Arzt machte. Er hatte seine Wohnung mit den anderen Beamten in der Ritterburg.

Die Thür zu der Burg war offen. Sie lag nicht einmal in ihrem Schlosse; sie war nur angelehnt. Die Frau verwunderte sich wohl darüber. Aber sie durfte zu Nachforschungen sich nicht aufhalten. Sie eilte weiter, zu der Stube des Rechnungsschreibers. Er wohnte eine Treppe höher hinauf.

Die alte Ritterburg hatte kurze, schmale, winkelige Gänge, enge, gewundene Treppen. Der Frau Erhardt waren die einen und die anderen bekannt. Sie hatte für die Generalin oft mit dem Haushofmeister, der gleichfalls hier wohnte, und für Kranke in den »Häusern« mit dem Rechnungsschreiber, dem alten Wundarzt, zu thun gehabt. Sie fand sich auch jetzt in der Dunkelheit zurecht, die sie überall umgab.

In dieser Dunkelheit herrschte zugleich die tiefste Stille. Darüber mußte die Frau sich doch wieder verwundern! Freilich meist nur, indem sie auf Anderes zurückkam.

»Von dem Ueberfall,« mußte sie sich sagen, »hat man hier keine Kenntniß erhalten. Es läßt sich erklären: er war von keinem Tumulte, von keinem Lärm begleitet. Aber wie konnte die Eingangsthür zu der Burg offen stehen? Von welcher Seite war sie geöffnet? Von der des neuen Schlosses? Der Wachtmeister –«

Sie konnte ihren Gedanken nicht weiter nachgehen. Sie mußte in der Dunkelheit auf ihren Weg achten.

Wir wissen, daß die Verbindungsthüren zwischen den Schlössern gewöhnlich verschlossen gehalten wurden und auf beiden Seiten geöffnet werden konnten. Zu jeder ihrer Seiten hing an einem Haken ein Schlüssel. Andere Schlüssel waren in dem neuen Schlosse, in dem Zimmer des Generals, der Generalin und in dem Besitze der Frau Erhardt und des Wachtmeisters, welcher zugleich eine Art von besonderem Haushofmeister für das neue Schloß machte. In der Ritterburg führten einen besonderen Schlüssel nur der Haushofmeister und der Rentmeister, der Chef der Gutsverwaltung.

Die Frau Erhardt hatte die Stube des Wundarztes erreicht. Er lag im Schlaf. Sie mußte laut an seine Thür klopfen, ihn zu wecken.

»Sie, Frau Erhardt? Ist der gnädigen Herrschaft etwas zugestoßen?«

»Der Wachtmeister ist verwundet. Er hat einen Stich in der Brust. Nehmen Sie Ihr sämmtliches Verbandzeug mit.«

»He, he, Frau Erhardt, haben wir denn Krieg hier?«

»Hörten Sie nichts?«

»Kein Sterbenswörtchen, Frau Erhardt. Ich schlief den Schlaf des Friedens.«

Er war fertig; sein Verbandzeug lag immer bereit.

»Aber ein Licht, Herr Mosnagel!«

Er zündete auch schnell sein Licht an.

»So. Wo ist der Herr Wachtmeister?«

»An der Thür des ersten Korridors!«

»So nahe hatten wir den Krieg?«

»Folgen Sie mir.«

»Soll ich nicht Leute herbeirufen?«

»Später, wenn es nöthig ist.«

Sie kamen bei dem Wachtmeister an.

Er lag noch in jener Ecke. Er bot einen entsetzlichen Anblick dar. Die lange, starkknochige Gestalt war zusammengekauert; das kräftige Gesicht war schlaff, leichenblaß; die Augen hatten fast keinen Glanz mehr; beide Hände waren auf die Brust gedrückt. Die Hände waren blutig wie die Brust und die ganze Bekleidung. So lag er in einer Lache von Blut, das in den Gang hingeflossen war.

»Der stirbt!« sagten die Augen des Wundarztes der Frau.

»Untersuchen Sie die Wunde!« war ihre Erwiderung.

Sie nahm das Licht, er seine Sonde.

Er entfernte die Hände des Verwundeten, die Kleidung von der Brust und untersuchte mit der Sonde.

Der alte Wachtmeister ließ Alles mit sich geschehen. Er gab kein Zeichen eines Schmerzes von sich; nur glaubte man zu sehen, wie er die Zähne aufeinander preßte. Die Augen hielt er geschlossen.

»Das Herz ist nicht getroffen,« sagte der Herr Mosnagel.

»Und das Leben?« hauchten die Lippen der Frau.

»Steht in Gottes Hand!«

»Und er hat eine kräftige Natur,« sagte aufathmend sich die Frau.

Der Verwundete blieb unbeweglich, als wenn er nichts gehört habe, als wenn ihm Alles gleichgültig sei.

Der Wundarzt schritt zum Verbinden; er bedurfte weiterer Hülfe dabei. Die Frau Erhardt kehrte in das alte Schloß zurück, sie zu holen.

Sie begab sich zu dem Haushofmeister selbst. Er kam ihr schon entgegen. Der wachsame Beamte hatte schon vorhin das Hin- und Hergehen gehört. Er war aufgestanden hatte sich rasch in die Kleider geworfen, wollte nachsehen, was es gebe. Sie theilte ihm schnell mit, daß im Korridor vor der Thür schwer verwundet der Wachtmeister liege und von dem Wundarzt verbunden werde.

Während ihrer Mittheilung wurde es laut am Hauptthore des alten Schlosses unten auf dem Hofe. Die Arbeiter des Gutes verlangten Einlaß. In dem alten Gebäude war im Augenblicke Alles aus dem Schlafe erwacht, auf den Beinen.

Der Haushofmeister sandte zuerst ein paar Leute zur Unterstützung des Wundarztes.

Dann ließ er auch von den eingelassenen Arbeitern sich erzählen. Sie hatten die Ankunft der Insurgenten gehört und gesehen, wie diese das alte und das neue Schloß besetzt hatten. Sie hatten zu Hülfe kommen wollen, da mußten sie gewahren, daß sie selbst in ihren Wohnungen belagert waren. An der Vorder- wie an der Rückseite jedes der Häuser standen Bewaffnete. Wie ein Fenster geöffnet wurde, war die Mündung eines Gewehres darauf gerichtet, und Stimmen riefen in polnischer Sprache ein drohendes Zurück!

Nachdem Alles abgezogen und dann lange Zeit kein Laut mehr gehört war, hatten die Leute gewagt, ihre Wohnungen zu verlassen und wie sie beide Schlösser in Stille und Dunkelheit fanden, hatten sie an dem alten Schlosse Einlaß begehrt.

»Und die Herrschaft?« rief der Haushofmeister.

Sie wußten nichts von ihr; die Anderen nicht, die Frau Erhardt wohl. Aber durfte sie das Geheimnißvolle, das sie wußte, das Entsetzliche, das sie ahnte, allen den Menschen preisgeben? Und doch wieder, durfte sie es für sich behalten?

Sie wollte den Haushofmeister allein nehmen. Die Absicht, ihn herbeizurufen, hatte sie ja in das alte Schloß geführt.

Ein hastiger Schritt stürzte aus dem Korridor des neuen Schlosses hervor. Das bleiche Gesicht des Kammerdieners Georg wurde erkannt.

Er war oben in seiner Mansarde erst erwacht, als die Bewohner der Häuser nach dem Abzuge der Polen zu dem alten Schlosse zogen. Es mußte sich etwas Ungewöhnliches zugetragen haben. Von einem Ueberfall der Polen hatte er am Abend mit der Kammerfrau gesprochen; die Insurgenten könnten auch auf Schloß Romnike erscheinen, hatte die Frau gesagt, sein erster Schritt war zu dem Gemache des Generals gerichtet. Er fand die Thür offen, nur angelehnt.

Und den General todt!

Er war zu dem alten Schlosse geeilt, dem Haushofmeister zu berichten.

»Und die gnädige Frau?« wurde er gefragt.

Er wußte nichts von ihr. Er hatte sich um nichts weiter gekümmert.

Seine Mittheilung hatte eine allgemeine Bestürzung hervorgerufen. Jeder wollte zu den Gemächern der Herrschaft eilen. Der Haushofmeister gebot Ruhe.

»Sie, Frau Erhardt und Georg, folgen mir! Die Andern bleiben zurück, bis sie gerufen werden.«

Mit den Beiden begab er sich in das neue Schloß.

Auf dem Wege erzählte ihm die Kammerfrau, wie sie gekommen sei, ihn zu der Herrschaft zu rufen, auch die Veranlassung. Und wer waren die beiden flüsternden Menschen?

Die Frau wußte es nicht. Sie hatte eine Ahnung gehabt, als sie das Flüstern hörte. Sie hielt sich wohl nicht berechtigt, eine bloße Vermuthung gegen einen Dritten auszusprechen.

Der Haushofmeister schien nicht einmal eine Vermuthung zu haben; auch der Kammerdiener nicht.

Sie hatten das Zimmer des Generals erreicht. Die Thür war nur angelehnt, wie Georg sie gefunden und belassen hatte. Sie traten in das Zimmer; sie hatten ein Licht mitgenommen.

Sie fanden in dem Zimmer nicht die geringste Unordnung; Alles darin war noch so, wie der Kammerdiener, nachdem er seinem Herrn beim Auskleiden geholfen, es verlassen hatte. Auch das Bett war in voller Ordnung.

Es war ein einfaches Feldbett, wie der General es seit Jahren mit sich geführt hatte, im Frieden, in der Campagne. Der einfache, abgehärtete Soldat verschmähte alles Verweichlichende, konnte nicht einmal an Bequemlichkeit sich gewöhnen.

Aber die Decke und die Tücher des in seiner vollen Ordnung befindlichen Bettes waren mit Blut bedeckt, und aus ihnen hervor schaute ein schneeweißes Todtengesicht.

Der Haushofmeister hob die Decke auf.

Die Leiche des Generals lag lang ausgestreckt auf dem Rücken; den linken Arm am Körper herunter liegend, den rechten gebogen, in der Brust eine Wunde, eine feine kleine Schnittwunde, die aber tief in den Körper eingedrungen sein mußte. Die Masse des Bluts, das aus ihr hervorgequollen war, zeigte das. Es floß nicht mehr; der Körper war noch warm. Ein Instrument, mit dem die Wunde zugefügt sein konnte, war nicht zu finden.

Es war daher an keinen Selbstmord zu denken. Ein verbrecherischer Mord war unzweifelhaft, und der Mörder hatte sein Opfer in dessen tiefstem Schlafe überfallen, und er hatte gut gezielt und gut getroffen. Keine Gegenwehr, kein Kampf hatte stattgefunden. Die Lage des Todten bekundete es. Nur mit dem rechten Arm hatte er gezuckt, als er plötzlich im Schlafe den Stich in der Brust fühlte, die Hand hatte nach dem Schmerze, nach dem Herzen greifen wollen. Aber das Herz mußte in seiner Mitte getroffen und durchbohrt sein; es konnte nicht mehr schlagen; der Sterbende hatte keine Bewegung mehr. Der Mörder hatte die Decke, die er für seinen Stoß zurückschieben mußte, wieder über den Todten gelegt, den Ermordeten und die Mordstelle verlassen.

Und die unbekannte Frau, mit der er dann draußen auf dem Korridor flüsterte, hatte während des entsetzlichen Verbrechens vor der Thür gestanden? vielleicht Wache gehalten? Oder war sie gar mit in dem Gemache gewesen, dem Mörder Hülfe leistend?

Aber war denn der flüsternde Mann des Korridors der Mörder? Polen, unzweifelhaft polnische Insurgenten hatten das Schloß überfallen, hatten es umlagert, belagert, mußten einen Zweck dabei gehabt haben; der politische Zweck, von dem die Kammerfrau schon vorher gesprochen hatte, lag so nahe. Wären sie abgezogen, ohne ihre Absicht erreicht zu haben? Indeß, waren sie im Schloß gewesen?

Keine leeren Vermuthungen, sagte mit Recht der Haushofmeister. Suchen wir die Spuren auf, die sich nothwendig noch darüber finden müssen, wie Jemand in das Schloß hat gelangen und wie er es wieder hat verlassen können.

Vorher war jedoch noch Anderes zu thun.

Die Generalin! Wohl hatte man an sie gedacht. Die Kammerfrau hatte dem Haushofmeister auch von ihr erzählt. Sie hatte in ihrem Zimmer geweint; sie war daher wahrscheinlich wenigstens einerseits nicht Gegenstand des Attentates gewesen, konnte aber andererseits über dieses, wenn auch nicht als unmittelbare Zeugin, Auskunft ertheilen.

Zudem war es ein dringendes Pflichtgebot für die Diener, nach der hülflosen, leidenden Dame sich umzusehen, ihre Befehle einzuholen. Für den Haushofmeister war es nicht schicklich, in ihr Schlafgemach zu dringen. Nur die Kammerfrau durfte zu ihr.

Die Schlafgemächer der beiden Gatten lagen, wie wir wissen, an dem Korridor, getrennt durch einen kleinen Salon, aus dem in jedes der zwei Gemächer eine Thür führte. Die Thüren waren in der Regel nicht abgeschlossen.

Die zu dem Zimmer des Generals führende Thür zeigte sich heute verschlossen; ein Schlüssel war nicht zu finden. Der Verschluß der Thür ließ sich erklären; der Mörder hatte bei seiner That nicht überrascht sein, sein Opfer jeglicher Hülfe berauben wollen; aber unerklärlich blieb es, warum er den Schlüssel verborgen oder gar mit sich genommen habe.

Die Dienerin mußte zu ihrer Herrin durch die Korridorthüre sich begeben. Sie führte den Schlüssel zu der Thüre bei sich. Sie horchte, ehe sie aufschloß. Es war tiefe Stille in dem Gemache. Sie wollte die verlassene Frau nicht erschrecken.

»Ihre Kammerfrau ist da, gnädige Frau!« rief sie durch die Thür.

Es blieb still in dem Zimmer, nichts regte sich.

Schwere Ahnungen beklemmten der Dienerin die Brust.

Sie schloß auf, trat in das Zimmer.

Das Nachtlicht brannte darin, wie die Zofe am Abend es angezündet hatte.

Die Generalin saß aufrecht im Bette.

So mußte sie schon vorhin gesessen haben, als die Dienerin sie weinen hörte.

Das Erste, was die Kammerfrau that, war, daß sie hinter sich die Thür verschloß.

Dann trat sie zu dem Bette.

Die Generalin weinte nicht mehr; ihre Augen waren trocken; aber sie starrten wie im Irrsinn vor sich hin; das Gesicht war ein Leichenantlitz; die Hände lagen gefaltet in dem Schooß.

Die Frau Erhardt fiel vor dem Bette nieder.

»Arme, arme gnädige Frau!«

Die Frau im Bette rührte sich nicht.

»Helene, mein Kind, mein armes Kind!«

Die Dienerin ergriff die gefalteten Hände, küßte sie.

»Mörderin!« rief die unglückliche Frau mit gellender Stimme, die Dienerin von sich stoßend.

Dann fiel sie wie ohnmächtig in das Bett zurück.

Die Kammerfrau trat in den Korridor zu dem Haushofmeister:

»Sie haben gehört! Der Wahnsinn hat sie ergriffen. Mein Platz ist bei ihr.«

Sie begab sich wieder in das Schlafgemach.

Die Bewohnerschaft von ganz Romnike war in Bewegung gekommen.

Der General war immer der großmüthige Wohlthäter Aller gewesen, die ihm angehörten.

Sein Tod war ein ebenso erschütterndes, wie tief beklagtes Ereigniß. Die Generalin war für Alle, die ihr nahe gekommen waren, der freundliche Engel gewesen. Sie wurde nicht minder beklagt, als der General.

Wie schwer mußte die Unglückliche gelitten haben! Es war unzweifelhaft, daß sie, eingesperrt in ihrem Schlafgemache, Ohrenzeugin des Mordes gewesen war, unfähig, dem Gatten zu Hülfe zu kommen, unfähig, Hülfe herbeizurufen. Da hatte wohl die Geistesgegenwart sie verlassen können, daß sie nicht ihr Fenster öffnete, laut den Mord in die Stille des Schloßhofes verkündend. Da hatte zuletzt ihr der Geist verwirrt werden müssen.

Es wurden von allen Seiten Anordnungen getroffen und ausgeführt, das Dunkel, das noch immer über dem empörenden Verbrechen schwebte, aufzuhellen.

Daß in der Nacht fremde Menschen in dem neuen Schlosse gewesen waren, wurde bald festgestellt. Ein Seitenpförtchen an der Rückseite des Gebäudes wurde offen gefunden. Ob es durch Nachschlüssel geöffnet, ob es durch irgend eine Nachlässigkeit offen geblieben war, ob ein Verrath es geöffnet hatte, das war nicht zu ermitteln. Jedenfalls hatten Menschen in das Haus gelangen, es wieder verlassen können; viele, wenige, unbemerkt in der Nachtzeit, wenn sie unbemerkt bleiben wollten.

Wer einmal im Schlosse war, konnte in das Schlafgemach des Generals gelangen, der es verschmähte, in seinem Hause sich noch besonders einzuschließen.

Die beiden flüsternden Personen in dem Korridor vor dem Schlafgemache! Gehörten sie zu den Mördern? Waren sie allein die Mörder? Der Mann der Thäter, die Frau die Gehülfin?

Niemand konnte darüber nur eine Vermuthung hegen; auch die Frau Erhardt nicht; sie versicherte es wenigstens. Unter den Polen war kein Frauenzimmer wahrgenommen worden.

Sie seien die Anführer der Bande gewesen, wurde dennoch angenommen. Daß Weiber namentlich bei Excessen der polnischen Insurrection an der Spitze standen, war vielfach erzählt, und daß hier ein politisches Machwerk vorliege, daran zweifelte man nicht. Der Streit der Beiden, das Fußstampfen der Frau glaubte man in solcher Weise erklären zu können. Das Weib hatte von ihrem Gefährten auch den Tod der Generalin gefordert; der Mann hatte ihn ihr verweigert.

Völlig unerklärlich blieb das Ereigniß, das die Verwundung des Wachtmeisters herbeigeführt hatte. Der alte Soldat verharrte in einem hartnäckigen Schweigen.

Der Haushofmeister sandte noch in der Stunde der Entdeckung des Verbrechens einen reitenden Boten in die Kreishauptstadt, Gericht und Aerzte herbeizuholen.

Jenes wie diese waren bei dem Anbruche des Tages da; Gendarmen und Polizeibeamten fanden sich mit ihnen, nach ihnen ein.

Daß ein Mord vorlag, wurde unzweifelhaft festgestellt. Wie schon der Haushofmeister angenommen hatte, so ergab es auch jetzt die gerichtsärztliche Untersuchung; das Mordinstrument hatte die Mitte des Herzens durchschnitten. Das Instrument mußte eine schmale, scharf spitzige, scharf zweischneidige Waffe gewesen sein, wahrscheinlich ein Dolch.

Auch das wurde bestätigt, daß der Ermordete in tiefem Schlafe überfallen und erst erwacht sein müsse, als er den tödtlichen Stoß bereits empfangen hatte, so daß von einer Gegenwehr, von einem Kampfe keine Rede hatte sein können.

Nicht minder mußte nach dem Resultate der angestellten Ermittelung an der ersten Annahme festgehalten werden, daß die Mörder durch die mittelst Nachschlüssel geöffnete Thür an der Rückseite des Schlosses eingedrungen seien.

Demnach glaubte man nicht daran zweifeln zu dürfen, daß hier ein politischer Rachemord vorliege, verübt von der polnischen Insurrection, vielleicht gar verhängt von der geheimen Nationalregierung in Warschau, an dem General, der von dem russischen Kaiser wie sein Liebling ausgezeichnet war, und der gerade seit dem Beginn der Revolution, als wenn er diese überwachen solle, seinen Wohnsitz unmittelbar an der Grenze genommen habe. Die Heimlichkeit, die Ruhe und Ordnung, die Vorbereitung und Planmäßigkeit, womit das Verbrechen ausgeführt war, mußten wie unwiderleglich dafür sprechen.

Darum war auch zur Ausführung des Mordes nur Einer in das Schlafgemach gedrungen, aber wohl einer der gewandtesten, sichersten und muthigsten Hänge-Gendarmen.

Die Frau, die ihn begleitet hatte, sie blieb ein Räthsel, aber am Ende kein unauflösliches. Wie bei jeder Revolution, so hatten auch bei jener polnische fanatische Weiber sich hervorgethan. Ihren Fanatismus und ihre Rohheit hatte dieses Weib durch ihr Benehmen gegen den Mörder an den Tag gelegt, mochte dasselbe wie vermuthet wurde, in der Weigerung, auch die Generalin zu ermorden, oder in einer anderen Ursache seinen Grund haben.

Daß ein Haufe von Menschen im Schlosse gewesen war, wurde durch die übereinstimmenden Aussagen der Bewohner der »Häuser« festgestellt. In anderer Weise war es freilich nicht zu ermitteln. Die polnische Grenze war kaum eine Viertelstunde vom Schlosse entfernt; der Weg dahin führte fast nur durch dichte, unbewohnte Waldung. Nachrichten von jenseits erhielt man immer nur spärlich, in jener Revolutionszeit beinahe gar nicht, wenn nicht deutsche Zeitungen sie brachten.

Dies war Alles, was man ermitteln konnte. Spuren hatten die Verbrecher außer dem Verbrechen selbst nicht zurückgelassen; nicht einmal Fußspuren waren aufzufinden, auch nicht draußen in den Kieswegen oder auf dem hartgetretenen Boden.

Einzelnes über den Hergang des Mordes selbst, sowie über wahrscheinlich sehr erhebliche andere Thatsachen hätten noch durch die Vernehmung der Generalin und des Wachtmeisters festgestellt werden können. Aber die unglückliche Dame blieb geistesabwesend und der alte Soldat war verschlossen wie das Grab, verweigerte auf alle Fragen eine Antwort, und die Aerzte erklärten, daß er durchaus geschont werden müsse, wenn er am Leben bleiben solle.

Seine Wunde war übrigens eine ähnliche, wie die des Generals; sie war in der Brust, sie hatte nur nicht das Herz getroffen, aber sehr nahe daran befand sie sich. Sie mußte mit einem ähnlichen, sie konnte mit demselben Instrumente zugefügt sein, das dem General den Tod gegeben hatte.

Auch von derselben Hand?

Wer konnte es ermitteln?

Der Mord auf Romnike war ein politischer Mord! So ging es durch das Land, so berichteten die Zeitungen.

Räthselhaft blieb gleichwohl noch Manches dabei.



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