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V.

Durch die trüben Fenster des in ein Gefängnis umgewandelten Klosters vom «Guten Hirten» an der Place du Bouffai in Nantes fielen 112 die letzten Strahlen der Abendsonne. In mancher Zelle brütete dumpfe Verzweiflung, in andern hatten sich gereifte Menschen zu stiller Ergebung durchgerungen. Die Marquise de Bonchamps saß aufrecht auf ihrer armseligen Strohschütte und ließ in immer neuen Schleifen und Gängen ihre Gedanken rückwärts wandern. Noch kam ihr die Stille des Gefängnisses ungewohnt, ja fast erquickend vor. Das einzige, was sie tief schmerzte, war die Trennung von ihrem Kinde. Aber sie hatte Vertrauen in die guten Bauersleute und hoffte für sich bestimmt auf Freisprechung. Ihr und ihrem Gatten verdankten so viele Republikaner das Leben, daß ihr schien, es müßten sich gewichtige Stimmen zu ihren Gunsten erheben. Aber freilich, in den Motiven der Revolutionstribunale spielte die Laune eine große Rolle.

Gerne kehrte die Gefangene auf ihren Gedankengängen in den Baum von Hardouillere zurück, wo sie aus den Abgründen der tiefsten Trübsal in die lichten Höhen der Gottesnähe entrückt gewesen. Warum hatte sie diese Seligkeit wieder preisgeben müssen? Kaum wieder auf dem Erdboden und auf eigenen Füßen, hatte sie den Kampf wieder aufgenommen, erst um des Kindes willen, dann zur Verteidigung ihrer eigenen Freiheit. Einen falschen Namen hatte sie sich beigelegt. Und es war ihr gelungen, ihre Häscher zu täuschen, bis sie, durch die Unachtsamkeit einer ihr treu ergebenen Mitgefangenen verraten, erkannt wurde. Das war ihr eine tiefe Demütigung gewesen. Mit desto größerem Mut hatte sie 113 Henri de La Rochejaquelein gegen die Schmähungen der Verhörrichter in Schutz genommen, die sie höhnisch fragten, warum der gefeierte Mann sie preisgegeben habe. Mehrmals auf dem Transport und noch in Nantes war ihr die Hand zur Flucht geboten worden. Sie hatte es abgelehnt. Mochte nun geschehen, was da wollte; nach der Unruhe der Welt mit den hundertfachen Gelegenheiten zu neuer Besudelung trug Jeanne de Bonchamps kein Verlangen mehr. Nur eines beseelte sie noch: die Sehnsucht nach der Wiedervereinigung mit Arthus in den Hütten des ewigen Friedens.

Aus ähnlicher Stimmung störte sie andern Tags das Rasseln des Schlüsselbundes an der Türe auf. Die Marquise wurde wieder einmal vor die Richter geholt, nicht damit sie über ihr eigen Tun und Lassen Rechenschaft ablege, sondern um Auskunft zu geben über die Führer der Vendée. Jeanne de Bonchamps stand wie aus Marmor gemeißelt vor den Männern, die sich das Recht anmaßten, über Leben und Tod ihrer Mitmenschen zu entscheiden. Reiche Aussage hatte man von dieser durch so viel Ungemach geschwächten Zeugin erwartet. Aber weder Drohung noch Verheißung vermochte ein Wort über die schmalen Lippen zu locken. Und da die Richter den Eindruck gewannen, es würde aus dieser Frau auch nach weitern Martern nichts herauszuholen sein, wurde die Marquise de Bonchamps als der gemeinen Wohlfahrt hinderlich zum Tode verurteilt.

114 Ob irgendwer unter den Machthabern noch eine geheime Regung für sie hatte, oder ob man erst die Wirkung des Todesurteils auf die Unbeugsame beobachten wollte, die Generalswitwe wurde nicht, wie so viele ihrer Schicksalsgenossen, sofort hingerichtet, sondern mit andern zusammen in die kahl ausgeplünderte Kapelle des Klosters eingesperrt. Da waren Madame de Chauvigny und Madame de Lavalette, die ebenso wie sie selbst mit dem Leben abgeschlossen hatten und einen Heldenmut zur Schau trugen, vor welchem jede weichherzige Regung zur Schmach wurde. Jeanne de Bonchamps sonderte sich von ihnen ab, so gut es ging, und barg sich in einer Fensternische. Sie hatte noch einen letzten Kampf durchzufechten. Hatte sie nicht soeben die schwerste Probe des Mutes bestanden? Und doch war ihr Herz aufs tiefste zerrissen. Sie konnte sich innerlich nicht lösen von der Tochter. Hätte ich sie vielleicht nicht ihrem Schicksal überlassen sollen? Sollte ich nicht die Ehre, für den König zu sterben, opfern und einen Versuch zur Erhaltung meines Lebens wagen? Jeanne de Bonchamps wußte, daß draußen mancher auf eine Gelegenheit zu ihrer Befreiung harrte. Nur sie selbst hatte bis jetzt jedes Entgegenkommen versagt. Jetzt erst, in der allerletzten Spanne ihres Lebens, tat es sich mit grausamer Klarheit auf, daß der Weg der Heldin von demjenigen der Mutter abzweigte.

Tiefer und tiefer grub sie. Heiß betete sie um Erleuchtung. Aber das Licht blieb aus, und das 115 Letzte ihrer irdischen Erlebnisse blieb die unbeantwortete Frage nach dem Willen Gottes. Vor diesem Rätsel brach sie vollends in sich zusammen.

Umnachtet kauerte Jeanne de Bonchamps auf ihrem elenden Lager, als eines Tages zwei weiche Arme sich um ihren Hals schlangen und eine unendlich süße Stimme das längst vergessene «Maman» sprach. Es war Marie-Jeanne, die der Kerkermeister hereingeführt. Erst blickten der Mutter Augen wie in Irrwahn auf das Kind. Aber bald lichtete sich ihre Befangenheit. Es war nicht eine Vision. Es war ihr Kind, ihr Fleisch und Blut, und sie durfte es an ihr Herz drücken.

Wie war denn das möglich? — Viel einfacher als sie dachte. Unter den Gefangenen von St. Florens, welche durch das mutige Auftreten der Marquise vor der Niedermetzelung bewahrt blieben und auf ihres Gatten Befehl freigelassen wurden, befand sich ein Kaufmann namens Haudaudine. Als dieser vernahm, welches Schicksal seiner Retterin drohte, machte er sich auf und richtete mit vielen seiner Kameraden eine Petition an das Tribunal von Nantes. Ihm war der Marquis de Molard mit einem Gesuch um Aufschub der Hinrichtung zuvorgekommen. Er bezahlte es mit seinem Leben. Sein Haupt fiel auf dem Schafott in Paris. Eines Edelmanns Fürsprache galt als Belastung; aber eine Petition von republikanischen Wählern — und es waren ihrer viele, die es wagten, mit ihrer 116 Unterschrift für die edle Tat des Generals Bonchamps zu zeugen — verfehlte ihren Eindruck auf die Richter nicht. Die Kunde von der Begnadigung der Marquise durchlief mit Windeseile das Land. Da schien den Bauern von Hardouillere, sie könnten Schöneres nicht tun, als der befreiten Mutter ihr Kind wiederzubringen. Groß war ihr Staunen, als sie die Marquise noch immer hinter Kerkergittern fanden.

«Ist sie denn nicht begnadigt?»

«Gewiß ist sie begnadigt,» gab der Kommandant des Gefängnisses zu, «aber ich erhielt noch keinen Befehl, sie zu entlassen. Seid nur unbesorgt, gute Leute! Wo wäre die Marquise bester aufgehoben als im Hause des ‹Guten Hirten›? Es soll ihr an nichts mangeln. Und das kleine Vögelchen da mag ihr die Zeit vertreiben, bis das Begnadigungszertifikat ausgefertigt ist. Eine Weile kann es schon noch gehen, denn unsere Schreiber haben viel zu tun.»

Kopfschüttelnd zogen die Bauern ab. «Ob wir das Kind nicht besser bei uns behalten hätten? Sollte es doch wahr sein, daß den Revolutionsmännern das gegebene Wort nur gilt, wenn es ihren Zwecken dient?» Die Bauern schlugen sich vor ihre dickwandigen Stirnen. Genugtuung hatten sie nur eine: der Marquise die Kunde von ihrer Begnadigung gebracht zu haben, denn sie hatte davon noch nichts gewußt.

Jeanne de Bonchamps war wie närrisch vor Freude. Wie eine verliebte Katze spielte sie auf ihrer Pritsche mit dem Kind. Sie legte sich hin 117 und ließ es über sich purzeln, sie zog es aus und kleidete es wieder an, als wäre sie selbst ein Kind und Jeanne-Marie eine Puppe, sie küßte und biß ihre Tochter. Und die Mitgefangenen amüsierten sich daran, bis ihnen die überquellende Zärtlichkeit fast unheimlich wurde. Das Kind schien todmüde und schläfrig und wußte kaum noch, was mit ihm vorging.

Endlich war auch die Mutter des Spielens müde. Aber sie schlief nicht ein. Nachdem sie das Kind so gut gebettet, als es möglich war — ach wie viel besser lag es doch als in dem hohlen Baume! — saß sie, die Hände im Schoß gefaltet, traumverloren. Das Glück, das ihre Augensterne weitete, war allen, die den vergitterten Saal mit ihr teilten, eine Torheit. Schon bangte ihnen, die jede Hoffnung längst begraben hatten, vor der Enttäuschung, welche ihre junge Schicksalsgenossin bald genug niederschmettern würde.

Als am andern Morgen Jeanne de Bonchamps mit ihrer Tochter von der Heimkehr in die Baronniere zu plaudern begann, richtete Madame de Lavalette die Frage an sie, ob sie auch wirklich ihren Richtern so viel Edelmut zutraue, daß ihr die Freiheit geschenkt werde.

«Es ist Arthus, der mich befreit», antwortete die Generalin ohne langes Besinnen. «Sein Leib ruht zwar in Frankreichs Erde; aber ich sagte es immer: Bonchamps lebt. Seine Tat läßt die Feinde nicht eher zur Ruhe kommen, als bis sie belohnt ist. Ein Held triumphiert, und verfiele sein Leib zehnmal der Verwesung.»

118 Da glaubten die Gefangenen, die Marquise sei um den Verstand gekommen und widersprachen ihr nicht mehr. Unter vielen Tränen betrachteten sie das Spiel der Mutter mit ihrem Kinde.

Nachdem der erste Freudenrausch sich gelegt, begann Jeanne de Bonchamps ihr Kind, das weder lesen noch schreiben gelernt, zu unterrichten. Zu lesen freilich gab es hier nichts als die Sterbegebete, die irgendwer mit in das Gefängnis gebracht. Diese lernte Marie-Jeanne buchstabieren. Und obwohl ihre Mutter sie nur ganz leise buchstabieren ließ, so schlugen doch die zögernd zusammengefügten Silben wie die Ankündigung nahen Gerichts in die Herzen. Halbe Stunden lang tickte diese lebende Uhr in dem großen Sterbezimmer, und von Zeit zu Zeit antworteten murmelnde Stimmen im Chor, die Silben zu Sätzen fügend.

Hatte die Kleine ihr Pensum erfüllt, so hub sie zu singen an. Zu den wenigen Liedern, die sie kannte, lehrte man sie neue. Ihre ungewöhnlich reine Stimme erquickte nicht nur die Gefangenen. Auch die Wächter blieben auf ihren Ronden stehen und lauschten. Sie nahmen das Kind in den Korridor, ließen es vor dieser und jener Türe singen, und bald kannte man im ganzen Gebäude des «Guten Hirten» die kleine Sängerin.

So verstrichen Tage und Wochen. Eine um die andere der Mitgefangenen hatte den Kerker verlassen — von den Henkersknechten abgeholt. Noch war des edlen Blutes nicht genug geflossen, 119 und immer noch blieb der Entlassungsbefehl für die Marquise de Bonchamps aus.

Wieder und wieder wurde sie daran erinnert, daß das Ausbleiben dieses Befehls nichts Gutes bedeute. Unerschütterlich antwortete sie: «Bonchamps lebt, er wird mich erlösen.»

Einen Monat schon hatte nun Jeanne de Bonchamps ihre Tochter bei sich, und die kleine Sängerin war jedem bekannt, dessen Schritt je in den Gewölben des alten Klosters widerhallte, da drückte eines Abends der Schließer der Marquise einen Zettel in die Hand. «Fordern Sie unverzüglich Ihren Begnadigungsakt vom Tribunal, sonst sind Sie verloren», stand auf dem zerknitterten Papierfetzen.

Das gab eine bange Nacht. Wie sollte sie dem Rate nachkommen? Wer sollte für sie reden? — Jetzt half nichts mehr, wenn nicht Gott der Gefangenen einen Engel vom Himmel sandte. Und sie flehte darum, ohne sich ausdenken zu können, wie das geschehen sollte.

Der Tag brach an, vielleicht ihr letzter. Was sollte aus dem Kinde werden? Jäh erwachten die Leiden jener Nacht im hohlen Baume wieder. — Ein grauenhafter Gedanke stieg in dem gemarterten Mutterherzen auf. Hatte sie nicht das Recht, ihr Kind zu erwürgen, ehe sie es diesen Bestien überließ? — «Doch nein! — Vor diese Wahl wirst du mich nicht stellen. Noch glaube ich an dein Erbarmen, o Gott.»

Als der Kerkermeister sich meldete, befahl 120 ihm Jeanne de Bonchamps: «Führen Sie mich vor das Tribunal!»

«Das ist unmöglich», antwortete der Mann.

«So lesen Sie doch, was Sie mir gestern gebracht! Wer war es, der Ihnen den Zettel gab? — Können Sie nicht den veranlassen, meinen Begnadigungsakt herauszufordern?»

«Ich weiß nicht, wer es war, noch wo ich ihn suchen sollte.»

Die Marquise tastete nach der Wand, einen Halt suchend. Da zuckte sie zusammen. Was hatte er gesagt, der Schließer? Fragend blickte sie ihn an, und er wiederholte: «Senden Sie Ihre Tochter!»

«Wie soll das Kind... Was wird aus ihm werden?»

«Seien Sie ruhig, Bürgerin Bonchamps. Dem Kinde wird kein Leid geschehen. Ich werde es holen, wenn das Gericht zusammentritt.»

Damit ging der Schließer.

Nun — was blieb anderes übrig? Die Marquise schrieb an die Wand, was Marie-Jeanne sprechen sollte, kürzte den Satz auf das Unerläßliche und ließ das Kind die wenigen Worte wiederholen, bis der Kerkermeister sich wieder meldete.

Er löste das Kind sachte vom Hals der Mutter und führte es über einen Hof ins Gerichtsgebäude. Er sah nicht gemütlich aus, der Mann, der sie täglich überwachte, und noch weniger vertrauenerweckend erschienen ihr die vielen Unbekannten, welche Marie-Jeanne auf Treppen 121 und Korridoren erblickte. Aber sie war es gewohnt, von wild und nachlässig aussehenden Männern umgeben zu sein. Sie traten in einen Saal, wo an verschiedenen mit Papieren überladenen Tischen grimmig blickende Menschen saßen und standen. Die einen lachten und schwatzten, andere zankten sich. Es war ein Hin- und Herlaufen. Einige waren gekleidet wie Offiziere. An den mit Trikoloren geschmückten Wänden standen Bewaffnete. Auf den Papierstößen lagen mit dreifarbigen Federn geschmückte Hüte. Marie-Jeanne blickte ängstlich an den vielen großen Menschen hinauf und konnte sich nicht denken, welchem sie ihren Auftrag von Maman ausrichten sollte. Man mußte schon aufpassen, um nicht von einem Unachtsamen getreten oder umgestoßen zu werden. Die einzige Beruhigung gab ihr die derbe Hand des Kerkermeisters, welche die ihre fest umschloß.

Mitten durch den Wirrwarr wurde sie vor einen Tisch geführt, hinter welchem drei sehr beschäftigte Männer saßen, die Papiere hin und her schoben und nach allen Seiten Bescheid zu geben schienen.

Der Kerkermeister schob die Kleine dicht an den Tisch. — Gott! wie der Mann dahinter sie anblickte! Er schnauzte den Kerkermeister an: «Was?» Und der wiederholte, sich über den Tisch beugend, was er dem Manne gesagt. Da legte dieser die Hand hinters Ohr und blickte scharf auf Marie-Jeanne.

«Sprich, Kleine!» raunte ihr der Kerkermeister 122 zu, und sie sagte her: «Bürger Präsident, ich bitte Sie höflichst um den Begnadigungsbrief für Maman.»

Der Kerkermeister nannte den Namen der Marquise, worauf das Gesicht des Richters sich aufheiterte. «Ah,» rief er, «da bist du ja wohl die famose Sängerin. — Komm mal da herüber!» Marie-Jeanne mußte um den Tisch herumgehen, ward von dem Gestrengen zwischen die Knie genommen und nicht ungütig betrachtet.

«Hör mal, Kleine. Man sagt, du könntest so schön singen. Wenn du mir dein liebstes Lied ordentlich singst, so bekommst du den Begnadigungsbrief. Also, los!»

Und Marie-Jeanne begann, so frisch sie nur konnte, und ob dem ungewohnten Klang ward es im ganzen Saal auf einmal still:

«Dem König, dem König, mein Hab und Gut,
dem König mein Leben,
dem König mein Blut...»

Mit großen, ernsten Augen blickte sie auf den Mann vor ihr, dessen borstiger Mund zu einem wilden Gelächter riß, während ein hinter ihm stehender ausspuckte und alles durcheinander zu reden und zu lachen begann. Dicht neben ihr sagte einer: «Da haben wir’s ja, das ist der Patriotismus, den die verdammten Royalisten ihrer Brut vorgröhlen. Was können die armen Teufel dafür!» Mehr und mehr übertönte das Gelächter den übrigen Lärm. Ein Schreiber wurde gerufen. Und nach wenigen Minuten, während welchen der Saal wieder sein vorheriges 123 Gepräge annahm, patschte der Präsident der aufleuchtenden Marie-Jeanne einen versiegelten Brief in die Hand: «Da! Einen Gruß deiner Mutter, und sie soll dich was Gescheiteres singen lehren, sonst bei Jupiter...! Adieu, Kleine.»

Der Kerkermeister mußte ordentlich zurückhalten, so drängte Marie-Jeanne, mit dem Briefe fuchtelnd, nach dem düstern Gebäude des «Guten Hirten» zurück.

Lange brachte Jeanne de Bonchamps, die unterdessen auf den Knien gelegen, kein Wort über die Lippen, als die Tochter ihr jubelnd an den Hals flog. Sie stand wie in einer Betäubung. Frei! — Erlöst! — Wer mochte das fassen! Und nicht nur frei und vogelfrei, wie sie bis zu ihrer Verhaftung im Chausseegraben gewesen, frei und verfolgt wie ein wildes Tier — nein, erlöst aus aller Angst, Not und Gefahr und der drückenden, würgenden Sorge um die Zukunft ihres Kindes enthoben. Ketten hatte sie nie getragen, aber ihr war, als hörte sie solche klirrend zur Erde fallen, ja, als fielen ihr die Kleider vom Leibe: das schnürende, brennende Nesselgewand der Angst.

Ein glückseliges Lächeln über ihre eigene Gemütsverwirrung spielte um ihren vom Gram verbildeten Mund, als der Kerkermeister sie durch eine bloße Bewegung der Hand fragte, ob sie nicht Eile habe, das Gefängnis zu verlassen.

Ihr Töchterchen an der Hand, ging sie still und in sich gekehrt hinaus, denn hinter sich wußte und fühlte sie das Leid vieler, die ihre Treue 124 zum Königtum mit dem Leben büßten — Helden und Heldinnen. Sie — war nur noch Mutter.

Wie vieler Gefangenen letzte Freude und Erquickung verließ mit dem Singvögelchen die dumpfen Gewölbe! Dem Kinde folgten aber aus allen Fenstern dankende Segenswünsche.

Hand in Hand wandelten die Marquise und ihre Tochter durch die noch immer unter dem Terror schweigende Stadt. Sie waren arm und verlassen. Aber nun graute der Schwergeprüften vor nichts mehr. Hatte sie nicht erfahren, daß sie als Mutter noch leben sollte? Also würde, der sie das hatte erkennen lassen, auch für sie sorgen. Und so geschah es. Jetzt, da es keine Gefahr mehr brachte, mit der Marquise zu verkehren, taten sich gastliche Türen auf für die Witwe des edlen Bonchamps. Endlich, endlich durften sie den Schmutz der Landstraße, des Schlachtfeldes und des Kerkers vom gemarterten Leibe waschen, sie durften essen und schlafen, ohne auf Alarm zu lauschen. Sie durften reden — laut und klar, und durften sich bei ihrem Namen nennen lassen.

Freunde verschafften den Erlösten zu dem Begnadigungszeugnis einen Geleitbrief.

Nach langer Wanderung trafen sie an einem strahlenden Lenztag vor der mit blühendem Unkraut überwucherten Ruine der Baronniere ein. Still, wie sie aus dem Gefängnis gegangen, stieg Jeanne de Bonchamps die Turmtreppe hinauf. Ihr Kind an sich pressend, ließ sie die Blicke über das in frischem Grün auflebende Wipfelheer schweifen. Ihr war, als hörte sie im Wind eine 125 Stimme: Siehe, ich habe dir alles genommen, woran dein Herz hing, deine Heimstätte, deinen Gatten, deinen Sohn, deine Diener, deine Tiere — alles, damit du zu mir den Weg findest. — Nichts mehr sollst du sein als Mutter. Und sie wußte, daß der Frühlingswind, der die sprießenden Saaten streichelte, das gleiche Lied dem ganzen Lande sang, und begann zu hoffen für sich, für ihr Kind und für die verwüstete Heimat. Die Blumen in den Boden zu treten, fiel ihr nicht ein, wie damals, vor dem Kriege, denn sie sagten die Wahrheit, und wider die Wahrheit vermag der Mensch nichts.



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