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III.

Was die nächsten Tage brachten, war selbst für eine so tapfere Frau wie Jeanne de Bonchamps nicht leicht zu ertragen. Kein Schritt durch die halbzerstörten Gemächer, kein Gang um das rauchgeschwärzte Gemäuer, ohne daß die Marquise die Trümmer oder Fetzen irgend eines ihr wertvollen und lieben Gegenstandes gefunden hätte. Das preßte ihr noch manche Träne aus. Mit Hilfe der wenigen Getreuen, die in ihrer 58 Nähe geblieben, schleppte sie Brauchbares in den Turm und richtete sich damit ein, so gut es eben ging. Die Kinder fanden in dem Ungewohnten einen gewissen Reiz und halfen an der mitunter fast komischen Einrichtung ihres Heims gerne mit. Im Herzen ihrer Mutter wich nach und nach das tröstliche und erhebende Gefühl, um der Sache des Königs willen zum Bettler geworden zu sein, einem stolzen Trotz, der sie der Vorsicht mehr und mehr vergessen ließ. Oft hörte man abends und morgens aus den spärlich oder gar nicht erleuchteten Fenstern des Turms das Lied:

Dem König, dem König mein Hab und Gut,
dem König mein Leben,
dem König mein Blut!

Dreistimmig erklang es, denn auch der kleine Hermenée sang mit.

Sehr willkommen war den Kindern Lisette, die lustige Bretonin, die in der Nähe bei einer alten Bäuerin Unterschlupf gefunden und aus treuer Anhänglichkeit an ihre früheren Pfleglinge täglich in den Turm kam, um der Marquise behilflich zu sein. Es gab doch mancherlei Handreichung, welche sie besser zu leisten verstand als der alte Toussaint, der sich in einem andern Schlupfwinkel der Ruine eingenistet hatte und den ganzen Hausdienst, ja sogar den Dienst eines Kochs versah.

Die spärlichen Nachrichten vom Kriegsschauplatz lauteten keineswegs beruhigend. Es wurde gemeldet, Westermann, der General der nationalen Truppen, sei durch den erfolgreichen Widerstand 59 der Vendée aufs äußerste gereizt und die Kriegführung werde von Tag zu Tag grausamer. Die Parole Unterwerfung war längst abgelöst durch den Befehl, den widerspenstigen Volksstamm mit völliger Ausrottung zu bedrohen. Man vernahm, daß die Besitzungen der Herren de Lescure und La Rochejaquelein das Schicksal der Baronniere teilten. Was taten wohl die Familien dieser Anführer?

Einige Wochen lang wußte die Marquise de Bonchamps ihren Tag auszufüllen mit der Arbeit ihres sonderbaren Haushaltes, besonders solange die kleinen Entdeckungsreisen durch die Ruine noch etwas Brauchbares zutage förderten. Die Kinder waren darin unermüdlich. Sie brachten die Mutter in Verlegenheit mit ihren Funden — was sollte sie mit all den zerissenen und zerschlagenen Dingen in ihrem Turmgemach, das schon jetzt wie ein Trödlergewölbe aussah? Manchmal kamen sie mit erschreckten Augen gelaufen, so wenn sie etwa in den Höhlungen eines Schutthaufens die modernden Reste eines Hundes entdeckt hatten. Flick- und Wascharbeit ließen viel Zeit zum Nachdenken. Was die Kinder herbeischleppten, war zerstört; was aber das Gedächtnis aus vergangenen Jahren — aus den Jahren, da man hier lebte wie eine Königin — ausgrub, das glänzte, leuchtete, lachte und — schnitt in die Seele, das erzwang aus der tapfersten Brust schüttelnde Seufzer, aus den mutigsten Augen brennende Tränen. — Ach, die Welt war dahin, untergegangen! Es galt sich anders 60 einzustellen, dem Vergänglichen den Rücken zu kehren und an das Ewige zu denken. Jeanne de Bonchamps betete und lehrte ihre Kinder beten. Sie rüstete sie aus mit Worten aus dem unvergänglichen Schatze der Religion, mit Liedern, Trost- und Trotzsprüchen. Dann kamen wieder Stunden verschwiegener Bitterkeit, heißen Sehnens, stumm glühenden Hasses. Das wechselte wie der Tag und die Nacht. Noch hatte Jeanne de Bonchamps nicht gesiegt. Ihre Wachsamkeit ließ nach, und sie ward es nicht inne, daß sie einsilbig wurde, daß der Schatten tagelang auf ihrer Stirne liegen blieb. Wie durch einen Nebel hindurch sah sie ihre sonnenhungrigen Kinder mehr und mehr der lachenden, herumwirbelnden Lisette sich zuneigen. Ihr Zärtlichkeitsbedürfnis fand auf dem Sammet der Bauerndirne größeres Behagen als an der mütterlichen Seide, in der es immerfort knisterte von unsichtbaren Funken.

Eines Tages folgten den leichthuschenden Füßen Lisettes schwere Schritte.

«Wer ist da?»

«Frau Marquise, Vater Chassin ist von der Front gekommen, nach uns zu sehen.»

Wie von einer Windsbraut getragen, erschien Frau v. Bonchamps im Vorraum. Und während drinnen im Turmgemach Lisette unter Trallalla und Hopsassa mit den Kindern den Tisch deckte, ließ sich die Mama draußen in einer Fensternische von dem Bauern Bericht erstatten.

Es sei nicht recht, behauptete der Mann, daß 61 an Catelineau’s Stelle Herr d’Elbée zum Oberkommandanten erwählt worden sei, statt des gnädigen Herrn Marquis, der doch erst noch bei Moulin-aux-Chevres einen so glänzenden Sieg davongetragen.

Nur mit Mühe bemeisterte Frau Jeanne ihre innere Aufregung. Sie zwang sich zu geduldigem Anhören. Endlich aber unterbrach sie den Gesprächigen doch mit der Frage: «Hast du nichts gehört von den Familien der Herren de Lescure und La Rochejaquelein?»

«Mehr gesehn als gehört», antwortete der Bauer. «Madame de Lescure weicht nicht von der Seite ihres Mannes. Beide sind überall voran, man weiß nicht, welches von beiden die größern Wunder der Tapferkeit verrichtet.»

«Wie? Madame de Lescure? — Seit wann?»

Zum erstenmal in ihrem Leben vergaß sich Jeanne de Bonchamps so weit, daß sie mit krampfhaftem Griff eines Bauern Arm erfaßte. Aus ihren Augen brachen Flammen.

«Seitdem ihr Schloß zerstört ist.»

«Und sie folgt ihrem Mann zu Pferd?»

Der Bauer legte sich den glühenden Blick der Marquise falsch aus. «Ah, Frau Marquise», fuhr er ahnungslos fort, «wer wollte leugnen, daß die edle Frau damit ihr Leben aufs Spiel setzt. Aber sie tut ein großes Werk. Sie glauben nicht, was für ein Feuer der Begeisterung von ihr ausgeht. Man kann nicht unter ihre Augen kommen, ohne in hellen Brand zu geraten. Oh, Sie sollten unsre Anführer sehen, wenn der Blick 62 der Marquise auf ihnen ruht. Wie die Adler fliegen sie auf, unser gnädiger Herr und der unvergleichliche La Rochejaquelein, Stofflet, d’Elbée, Lescure.»

«Sage mir, Alter, weißt du mir noch ein brauchbares Pferd in der Gemeinde?»

Der Bauer besann sich. «Lauter Schindmähren, Frau Marquise.»

«Toussaint, rufe mir Merant und Loiseau! Aber sofort!»

Die Marquise ließ den Bauer mit Lisette allein und setzte sich mit den Kindern zu Tische. Das bescheidene Mahl war bald eingenommen. Die Nachmittagstunden verbrachte Frau de Bonchamps in fieberhafter Ungeduld. «Wo nur die alte Schlafmütze mit ihren Jägern bleibt? Es ist nicht zum Aushalten.»

Erst gegen Abend gelang es Toussaint die Gesuchten herbeizubringen.

«Wir reiten morgen ins Hauptquartier», erklärte ihnen die Marquise. «Besorgt mir ein Reittier und wär’s ein Schindesel. Ihr beiden geht mit, Merant und Loiseau!»

Die beiden Jäger, von ihren Familien ängstlich zurückgehalten, jubelten in ihren Herzen über den empfangenen Befehl. Als sie sich auf den Heimweg begaben, schlich ihnen Toussaint nach. Zwischen den Schutthaufen im Hofe hielt er sie an. «Denkt nicht, daß ihr euch die Gunst des Marquis verdient, wenn ihr diesem Befehl nachkommt», sagte er. «Er will, daß die gnädige Frau bei den Kindern bleibe.»

63 «Das geht uns nichts an», erwiderte Merant, «wir haben den Befehl und werden ihn ausführen.»

«Ihr könnt doch ganz gut der Frau Marquise melden, daß ihr kein brauchbares Pferd findet. Wollt ihr die Dame auf eine Waldsäge setzen?»

«Du hast doch gehört, was sie sagte. Laß uns nur machen!»

«Aber so nehmt doch Verstand an! Denkt an die armen Kinder!»

Darauf bekam Toussaint keine Antwort. Mit einem höhnischen Lächeln liefen die Jäger weg, während der Alte betrübt die Treppe hinanstieg, fest entschlossen, seiner Herrin noch einmal abzuraten. Da kam ihm Lisette entgegengelaufen, mit rotgeweinten zornfunkelnden Augen und wirren Haarsträhnen um die feuchten Schläfen.

«Daran bist du schuld», schrie sie den Diener an, «du alter Speichellecker.»

Toussaint stand verblüfft.

«Verrückt ist sie, einfach verrückt», schimpfte Lisette weiter.

«Wa... was ist denn geschehen?»

«Ei was ist geschehn! Die armen Kinder! Die armen Tröpfchen! Ich hab ihr anerboten, die beiden Kinder unterdessen zu mir zu nehmen, ins Haus der Mutter Chassin. Was sollen sie hier, in dem grausigen Gemäuer? — O du hättest sehen sollen, wie sie sich freuten. In ihren Rock haben sie sich gehängt und gebettelt: o ja, Maman, bitte Maman, lassen Sie uns zu Lisette gehen. Sie ist so lieb zu uns. Gelt, Maman, 64 wir dürfen gehn? — Aber, was hat sie gesagt? Einen Augenblick hat sie überlegt, dann hat sie mir die Hand dargestreckt — kalt wie ein Eiszapfen — und gesagt: ich danke dir, Lisette, aber die Kinder bleiben hier — mit Toussaint, er wird für sie sorgen. — Ja, Toussaint, das hat sie gesagt. O, die Undankbare!»

«Sie ist nicht undankbar.»

«Womit sollte ich denn dieses Mißtrauen verdient haben? Bin ich denn nicht den armen Kindern eine zweite Mutter gewesen?»

«Das eben wird’s sein, Lisette. — Sie will allein Mutter sein.»

In diesem Augenblick kamen die Kinder den Korridor entlang gelaufen. Die beiden Dienstboten verstummten. Lisette konnte sich nicht enthalten, die Kinder nochmals in die Arme zu schließen und zu küssen. Dann lief sie schluchzend treppab. Mit erstaunten Gesichtern blickten ihr die Kleinen nach. Endlich brach Hermenée in heftiges Weinen aus. Er umschlang seine Schwester und fragte immer wieder: «Warum geht sie fort? Wohin geht sie? Warum weint sie?»

Toussaint war durch den Jammer Lisettes selber etwas verwirrt und verfolgte mit staunenden Blicken die Davoneilende, bis sie im Bogen des Hoftores verschwand.

«Kommt, Kinder!» sagte er dann und schritt mit den Kleinen dem Turmgemach zu, wo ihn die Marquise in schlecht verhehlter Aufregung empfing.

65 «Toussaint», begann sie, «ich lasse die Kinder in deiner Obhut. Es hat sich ja nun erwiesen, daß hier niemand mehr etwas sucht. Und weile ich selber nicht mehr hier, so seid ihr umso sicherer. Du sollst dir freilich klar werden, was es bedeutet, wenn ich dir meine Kinder anvertraue. Und wenn es geschehen sollte, daß sie ihre Mutter verlören, so bringst du sie nach Beaupreau. Und vergiß nicht: Gott wird ihre Seelen von dir fordern.»

Toussaint wagte keinen Widerspruch. Als blickten sie in die Welt des menschlich Unfaßbaren, glotzten seine wässerigen Augen aus dem Kranz von Runzeln und Wülsten, die sie umgaben. Ein paar Tränen quollen auf den rötlichen Lidern. Der alte Mann bog das Knie und sagte mit gesenktem Haupt: «Wie die Frau Marquise befiehlt. — Gott helfe mir!»

Darauf gab ihm Frau v. Bonchamps eine Reihe von Verhaltungsmaßregeln und entließ ihn zu seiner Arbeit. Den Rest des Abends verbrachte sie in seltsamer Verwirrung. Sie brachte die Kinder zu Bett — früher als sonst. Sie bereitete sich auf die Reise vor, denn daß die beiden abenteuerlichen Jäger ein Pferd auftreiben würden, schien ihr sicher. Ihre Gedanken weilten im Hauptquartier, bei ihrem Gemahl, bei den Truppen, bei — Madame de Lescure und den Männern, die sie umgaben. Sie sah den feurigen Henri de La Rochejaquelein, wie er, von ihren holdselig gebietenden Blicken gepeitscht, ins Feld stürmte. Sie sah sich selber an der Seite 66 von Arthus, an der Spitze brausender Schlachthaufen. Sie sah Legionen bewundernder Augen auf sich gerichtet. Sie sah...

Ein leises Geräusch störte ihren Flug. Sie holte die schlummernden Kinder aus ihren Decken und warf sich auf ihr Lager, die Kleinen unter inbrünstigen Küssen neben sich bettend. Sie wußten nicht, was mit ihnen vorging. Ihre schlummernde Seele aber war sich’s bewußt, daß sie lagen, wo sie hingehörten, an der Mutter heiß wallender Brust. Und die Mutter wußte es auch, aber sie wollte darüber nicht nachdenken. Wieder und wieder herzte sie die beiden. Sie streifte ihnen die Hemdchen von den Schultern und bedeckte die zarten Körper mit Küssen. Als auch der allerletzte Dämmerschein aus dem Gemach verschwunden war und die tiefe Finsternis es nicht mehr gestattete, die Kinder ohne Gefahr des Anstoßens hinüberzutragen, barg sie sie zum Schlafen an ihrer Seite unter den Decken. Sie legte sich hin, den Hauch der Kinder einatmend. Und um sich zu schützen gegen die jagenden Bilder ihres ehrgeizigen Verlangens, wiederholte sie sich wie ein Abendgebet des Priesters Worte: «Vollbringen Sie das Wunder der Mutterliebe!»

Ihr Schlaf währte nicht lange. Aus unruhigen Träumen erwachte sie mit Herzklopfen. Es raschelte, flatterte etwas im Turm. Ein Vogel? Eine Fledermaus? — Ihr Geist eilte wieder hin ins Feld. Die Kameradin sah sie, die — Rivalin? — Nein, da prägte sich etwas anderes aus dem Wirrwarr heraus, die Augen 67 Toussaints, diese ungeheuer verwunderten, fragenden, flehenden, strafenden Augen. Wie konnten nur solche verwässerten Augen so eindringen! Aber da war noch etwas Furchtbareres. Im Dunkel des Gewölbes hallte eine Stimme — ihre eigene. Sie rollte wie Echo, das nicht entweichen kann und in immer neuen Hohlräumen zurückprallt: Vergiß nicht, Gott wird ihre Seelen von dir fordern. — Wer hatte es gesagt? — Ihre Seelen von dir fordern. — Hatte sie es nicht selber gesagt? — Ihre Seelen von dir fordern. — Zu einem andern Menschen? — Ihre Seelen von dir fordern. — Nein, nein, das hatte nicht sie gesagt, das hatte ein anderer auf ihre Zunge gelegt, auf die Zunge der Mutter, und das Gewölbe warf es zurück auf die Mutter, und immer wieder und von allen Seiten trommelte es: Gott wird ihre Seelen von dir fordern, ihre Seelen von dir fordern, von dir fordern, von dir — von dir...

Ein tiefer, den ganzen Leib erschütternder Seufzer — ein unterdrückter Schrei war es eher entrang sich ihrer Brust. Zur Linken und zur Rechten fühlte sie das leise Pochen eines Kinderherzens. Ihre Hand tastete nach dem Kruzifix an der Wand. Fest umschloß sie das kleine geschnitzte Bild des Erlösers, und damit jenes Echo verstumme, sagte sie laut und feierlich: «Ich will es vollbringen, das Wunder der Mutterliebe.»

Am andern Morgen blieb der Himmel mit grauem Gewölk überzogen, das sich zu besinnen schien, ob es sich ausschütten, ob es weiterschleichen 68 solle. Dann und wann fielen ein paar Tropfen. Da standen schon frühe Merant und Loiseau, bis an die Zähne bewaffnet und mit Proviant versehen, im Hof. Ein hochbeiniger, mit einem Bastsattel begürteter Klepper schnupperte in dem Unkraut, das die Schutthaufen zu überspinnen begann. Es war das Roß des Dorfes, das einzige, dasselbe, das mit den beiden Kindern durchgebrannt war. Als die Marquise am Turmfenster erschien, blickten die Jäger zu ihr auf wie zwei Lausbuben, die nach einem gelungenen Streich auf den Ausbruch der Bewunderung warten.

Frau v. Bonchamps winkte ihnen, näher zu kommen. «Wenn ihr Lust habt, ins Feld zu ziehen,» sagte sie, «so steht es euch frei. Ich wünsche es sogar, denn jetzt bedarf man dort des letzten Mannes. Hier gibt es nichts mehr zu hüten, drüben aber steht alles auf dem Spiel. — Ich bleibe bei meinen Kindern. — Diesen Brief, Merant, bringst du dem Herrn Marquis.»

Eine kleine Enttäuschung war es für die beiden, daß sie ohne die Marquise ziehen sollten, denn sie hatten sich auf eine Art Triumphzug gefreut. Dafür aber waren sie nun frei und durften ihren Weg, durch keinerlei Pflichten beschwert, wählen und konnten ihren Angehörigen in das jammernde Gesicht erklären: die Marquise will’s haben. Das Pferd brachten sie der Eigentümerin zurück, und dann zogen sie singend durch den regenfeuchten Wald.

Toussaint war sehr glücklich über diese Wendung 69 der Dinge, obschon er jetzt erst im Gefühl der Ernüchterung entdeckte, wie stolz er im Grunde seines Herzens über das Vertrauen seiner Herrin gewesen. Diese kam ihm übrigens heute recht seltsam vor, so daß er wiederholt an Lisettes wenig respektvolle Aeußerungen über den Gemütszustand der Marquise dachte. Sie sang schon vom Morgen an, sang mit den Kindern, summte mittags, sang sich durch den öden Nachmittag hindurch und wollte sich in kein Gespräch einlassen, auch nicht, wie sonst, allein gelassen sein. Sie will sich über etwas hinwegsingen, dachte der Alte.

Noch war am folgenden Morgen kein Tagesschimmer durch die Luken hereingedrungen, als Toussaint wieder einmal den Kauzenruf hörte. Er legte sich auf das Gesimse und entdeckte bald im Dämmer zwischen den Bäumen einen Reiter. Auf seine Antwort hin ritt er unter dem Geäste hervor an die Mauer heran und gab sich zu erkennen als Baron d’Autichamps. Er fragte nach seiner Cousine, der Marquise, worauf Toussaint hinunterstieg, um den jungen Herrn einzulassen. Um die Dame des Hauses nicht unnötig zu erschrecken, ließ sich der Baron durch Toussaint bewirten und wartete in seiner Gesellschaft den Tag ab. Die beiden ungleichen Menschen redeten aneinander vorbei. Piccard erging sich in Lobsprüchen auf die Marquise, die nun ihre patriotische Leidenschaft siegreich überwunden habe, um ihren Kindern zu leben. Ein richtiges Wunder habe sich da vollzogen, es müsse in der vorigen 70 Nacht ein Engel Gottes in dem alten Turm eingekehrt sein.

Auf all das hatte der junge Kavalier keine Antwort. Desto mehr wollte er wissen, ob noch streitbare Männer in der Gegend zu finden wären, brauchbare Waffen oder Pferde. Wie ein Feuerbrand loderte seine Rede. Bald übrigens, versicherte er dem Diener, werde alles aufbrechen, auch die Weiber und Kinder, um über die Loire auszuwandern.

«Aber all die Häuser und Dörfer, Herr?» wandte Toussaint ein. «Es wird nicht ein Stein auf dem andern bleiben. Unser Vieh, unsere Aecker? Wovon werden wir leben?»

«Laß fahren! Die Vendée wird den König retten oder nicht mehr sein. Wir werden uns mit den Treuen der Bretagne und der Normandie verbinden und mit großer Heeresmacht auf Paris marschieren.»

Als endlich das helle Tageslicht durch die Fenster brach, verlangte Herr d’Autichamps mit Ungestüm seine Cousine zu sehen. Die Marquise empfing ihn an ihrem zusammengeflickten Frühstückstisch, und bald hörte Toussaint draußen am Kamin des Vorraums, in dem die Küche für den Haushalt eingerichtet war, den Sturm seiner glühenden Rede brausen.

«Mein Gott, mein Gott!» seufzte der Alte einmal übers andere. «Er wird ihr die heilige Krone wieder vom Haupte reißen.»

Nachdem sie den ersten Ansturm über sich hatte ergehen lassen, schob die Marquise die beiden 71 Kinder durch die Türe zu Toussaint hinaus. In diesem Augenblick hörte der Diener Herrn d’Autichamps zu seiner Cousine sagen: «Uebrigens... weißt du eigentlich, daß dein Mann verwundet ist?»

«Ist ja längst wieder geheilt», antwortete sie.

«Unmöglich», fuhr er fort. «Es geschah erst vor wenigen Tagen. Ein Schuß durch den Ellbogen. Ungefährlich, aber sehr schmerzhaft...»

Die Türe fiel ins Schloß, und das Weitere entging Toussaint. Aber nun ahnte er auch, daß es die Frau nicht länger hier leiden werde. Und so kam es. Noch im Laufe des Vormittags verließen die beiden reisefertig den Turm. Der Mangel an einem brauchbaren Pferd war der letzte Einwand der Marquise gewesen. Sie hatte ihrem Vetter von dem einzigen Gaul des Dorfes gesprochen, von dem sie nur ungern Gebrauch machen würde. «Laß doch!» hatte er ihr geantwortet. «Den lassen wir den Leuten, sie werden ihn nötig haben, wenn sie mit ihren Habseligkeiten mit über die Loire kommen müssen. Mein Pferd steht zu deiner Verfügung, Jeanne, und ich werde die Rolle des Säumers spielen.» Er ruhte nicht, bis er die in tiefster Seele Ringende in den Sattel gehoben hatte. Den Kindern hatte man gesagt, daß Maman nur auf kurze Zeit zu Papa reise und ehestens wieder da sein werde, und die Aussicht, mit dem guten Toussaint ein paar Tage allein Haushalt zu machen, hatte die Kleinen vom Schmerzlichen des Abschieds glücklich abgelenkt.

72 «Ha, Kinder!» rief der Baron ihnen zu, als sie von der Freitreppe dem Aufbruch zusahen, «seht eure Mutter! Ist sie nicht wie Jeanne d’Arc?» Er selbst verschlang die stolze Reiterin auf dem feurigen Rappen mit bewundernden Blicken und schwor, sie werde die Heerscharen in lodernde Begeisterung versetzen. Einmal im Sattel, ward auch Frau v. Bonchamps von einem ungestüm nach Taten drängenden Geist ergriffen. Sie fühlte die aufrichtige Bewunderung ihres jungen Führers, und die Sorge um Zaum und Sitz ließ sie für den Augenblick alles vergessen, was ihr das Herz so schwer gemacht. Ach, warum war jetzt kein Courgeon da, kein kühl denkender Mensch, der ihr das Wort auf die Zunge legte: Du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Weiche von mir!?

Sie hatten kaum das Schloß aus dem Gesicht verloren, als ein sprühender Regen einsetzte, der den Kavalier nötigte, seinen Radmantel der Reiterin über die Schultern zu legen. Es ging sich mühsam auf den aufgeweichten Wegen, und man kam langsamer vorwärts, als sich Herr d’Autichamps vorgestellt hatte. Mannhaft zwar wies er die Reue von sich, die den des Marschierens Ungewohnten ob seiner unüberlegt übernommenen Ritterpflicht beschleichen wollte, aber er wurde doch in dem andauernden Regen schweigsamer als zuvor. Und die Frau Marquise übertraf ihn darin noch. Nicht als ob der kühle Regen sie verdrossen hätte, aber ihre Seele wollte sich 73 nicht finden in das, was sie mit kecker Stirne begonnen hatte.

So oft der junge Herr zu der Dame aufblickte, traf ihn aus ihren wunderherrlichen Augen ein höhnischer Blick. Er fühlte den Grund und schwieg deshalb um so beharrlicher. Herr d’Autichamps, der kühne Jäger und Kriegsmann, hatte längst den Weg verloren und bemühte sich umsonst, es der Marquise zu verhehlen. Er mußte sich schließlich drein schicken, daß die Geführte die Führung übernahm, und ihrem natürlichen Ortsgefühl hatten sie es allein zu verdanken, daß sie bei einbrechender Nacht in die Nähe jenes verborgenen Waldlagers kamen. Die Außenwachen des Lagers fingen die Verirrten ein und brachten sie zu den Baracken. Die Marquise wurde erkannt und alsobald unter das beste vorhandene Obdach gebracht. Herr d’Autichamps zog es vor, mit einigen Männern am Biwakfeuer zu bleiben, um seine triefenden Kleider zu trocknen.

Längst lagerte tiefste Stille über der ganzen Lichtung — man hörte nur noch das Knistern des Feuers. Auch die Wachablösungen schnarchten unter einem Schirmdach, als eine Frauengestalt den vor sich hinträumenden Baron aufschreckte. Es war Jeanne de Bonchamps, die trotz ihrer Ermüdung keinen Schlaf finden konnte. Kein Laut, kein Rauschen wollte den Klang jener Worte übertönen oder verwischen, die, von der eigenen Zunge geglitten, immer und immer wieder an das Ohr der Sprecherin zurückkehrten: «Gott wird ihre Seelen von dir fordern...»

74 «Hast du mir auch die Wahrheit gesagt?» fragte die Marquise mit eindringlicher Stimme. «Ist Arthus verwundet?»

«So wahr uns Gott an diesem Feuer sieht», antwortete der Offizier aufspringend.

«Und von neuem?»

«Es können nicht mehr als fünf Tage sein.»

«Ist es eine ernste Verletzung?»

«Als ich ihn sah, konnte er seinen Arm nicht rühren und litt große Schmerzen.»

«Es ist also nicht überflüssig, daß ich hinkomme?»

«Wenn er dir etwas gilt, gewiß nicht.»

Darauf zog sich die Marquise zurück.

Als der Morgen graute und der düstere Waldsaum immer noch im Schleier des Sprühregens rauschte, besprach sich Baron d’Autichamps mit den Männern des Lagers, wie der Marquise zu einem bequemeren Reisemittel verholfen werden könnte. Man schlug ihr vor, den Marsch auf einem Ochsenwagen fortzusetzen.

«Bist du deines Ritterdienstes müde?» fuhr sie auf. «Hast du noch nicht bemerkt, daß ich vor Ungeduld brenne? Ist Arthus verwundet, so ist mir kein Tier schnell genug.»

So half denn nichts. Der Baron überließ der Marquise wiederum sein Pferd und lief, die Führung einem wegeskundigen Bauern überlassend, hinterher. Die Reiterin blieb noch schweigsamer als gestern. Ihre Gedanken kamen nicht los von den Erlebnissen der vorletzten Nacht. Aber allmählich wurde ihre Aufmerksamkeit durch 75 das in Anspruch genommen, was ihren Weg kreuzte. Die Nähe des Kriegsgebietes machte sich geltend. Man stieß auf kleine Kolonnen, die sich mühsam fortbewegten und die Hohlwege sperrten. Verwundete und Gebrechliche kamen des Wegs und wurden belehrt, daß sie Schutz nicht mehr im Waldlager suchen, sondern die Richtung nach St. Florens an der Loire einschlagen sollten. Immer häufiger stellten sich solche Begegnungen ein. Die Leute sprachen von Kämpfen, die gestern stattgefunden, und gar vieles verriet Ratlosigkeit und Verwirrung. Als sie sich Jalais näherten, änderte sich die Bewegung. In größeren und kleineren Trupps zogen Bewaffnete dorthin, ohne Zweifel in der Erwartung neuer Kämpfe. Man hörte den Führer einer kleinen Kolonne einen des Weges Kommenden fragen: «Wo bleibt Bonchamps?»

Ach, daß sie doch die Straße frei bekäme und ihr Pferd in Galopp setzen könnte! — Endlich hielt sie es nicht mehr aus. Auf einmal sah der Baron die Reiterin ausbiegen. Durch Pfützen spritzend, über Hecken setzend, Kolonnen kreuzend, eilte sie galoppierend voraus und verschwand bald im Gewirr von Sträuchern und Bäumen. Lange vor ihrem galanten Begleiter erreichte Frau v. Bonchamps das Städtchen, dessen Straßen bis weit auf das platte Feld hinaus von den Bagagetrains und den Truppen ihres Gemahls überfüllt waren. In weitem Umkreis glommen die von graublauen Haufen umlagerten Biwakfeuer, deren Rauch sich mit den schleichenden 76 Nebeln vermengte. Indem sie, fragend und unbewegliche Leute anherrschend, sich Bahn brach, wurde die Reiterin erkannt. Nicht lange währte es, so folgte ihr unter freudigen Zurufen ein dichter Schwarm kindlich froh zu ihr aufblickender Chouans, und schon begann in ihrer Seele etwas Ungewohntes sich zu regen. Erwartungsvolles Vertrauen umschmeichelte sie. Sie begann zu ahnen, daß Worte, die ihren Lippen entfielen, aufgegriffen wurden, als wären es Goldstücke. Nein — um Goldstücke rauft man sich — ihre Worte entfachten gemeinsames Aufbrausen in Kampfeslust für die heilige Sache von Thron und Altar. Jeanne de Bonchamps geriet selber in ein rauschartiges Hochgefühl.

In diesem ihr neuen Gemütszustand drang sie in das Haus und das Gemach, wo ihr Gatte auf dürftigem Bette lag.

«Mein Gott, Jeanne! Sie hier?» Weitere Worte schnitt sie ihm mit stürmischer Zärtlichkeit ab. Der Marquis verbiß die Schmerzen, die ihm die ungestüme Umarmung verursachte. Aber Jeanne merkte bald, daß er an der Antwort auf ihre sich überstürzenden Fragen würgte. Vor allem wollte sie wissen, was es mit der neuen Wunde sei.

«Ach, das ist nicht so schlimm,» sagte er, «wenn nur das andere nicht wäre.»

«Was denn?»

«Das hier.» Er enthüllte seine Schulter und legte die wiederaufgebrochene Wunde unter dem Schlüsselbein bloß. Diese, wie die neue am 77 Ellbogen, war völlig vereitert und häßlich blau umrandet. O, die ärztliche Kunst dieser guten Chouans! Frau v. Bonchamps erschrak nicht wenig ob dem Anblick und machte sich sofort an die Reinigung der Wunden. «Nun bin ich also doch nicht umsonst gekommen», sagte sie leuchtenden Auges.

«Gewiß nicht,» seufzte der Verwundete, «mir wird es schon zugute kommen. Aber, meine innigst Geliebte, was soll ich nur! Ich werde mich nicht um Ihre Sicherheit bemühen können. Und die Kinder? Haben Sie die Kinder mitgebracht?»

«Nein.»

«Meine armen Kinder! Was wird aus ihnen werden!»

Da brach die Marquise in Leidenschaft los: «Werden Sie mich schelten? Quälen Sie mich nicht noch mehr, Arthus! D’Autichamps brachte mir Kunde von Ihrer Verwundung. Wie konnte ich da noch ruhig in der Baronniere bleiben? Ich habe die Kinder Toussaint anvertraut. Gibt es einen treueren Menschen? — O tadeln Sie mich nicht, ich ertrage das nicht. Wenn Sie wüßten, was ich ausgestanden habe! Ich werde wieder zu den Kindern eilen, wenn ich... wenn ich... ach, wann werde ich um Sie ohne Sorge sein! Sie sind zu gut und zu tapfer, mein Arthus.»

«Jeanne,» sagte der Marquis, sich zu gelassener Rede zwingend, «seien Sie ruhig. Ich mache Ihnen keinen Vorwurf, aber es wäre mir 78 schrecklich, Sie und die Kinder in diesem Kriegsgetümmel zu wissen. Ich werde euch alle drei eurem Schicksal überlassen müssen, denn meine Pflichten rufen mich in die vordersten Reihen. Sie wissen doch, daß nur das Beispiel der Führer diese undisziplinierten Leute zum Aushalten im Feuer bringt. Ich will Ihnen nichts verschweigen. Wir kämpfen einen Kampf der Verzweiflung. Paris entsendet immer neue Divisionen. Wir werden uns verbluten. Aber wir dürfen unsere Ahnungen nicht verraten, wir müssen zeigen, daß wir imstande sind, den letzten Tropfen Blutes für Gott und den König hinzugeben. Warum hängen Sie daran, Augenzeuge dieses Todeskampfes zu sein?»

Voller Erwartung ruhten des Generals Blicke auf seiner Gattin. Diese machte sich, Stecknadeln zwischen den festverschlossenen Lippen, an dem Verbände zu schaffen. Als sie ihn endlich festgesteckt hatte und abermals nach einem Vorwand suchte, sich diesen fragenden Blicken zu entziehen, richtete sich Arthus auf und faßte sie fest bei der Hand. «Daß nur Ihre Sorge um mich Sie an meine Seite treibt,» sagte er, «das weiß ich, Jeanne. Und wie sollte ich dieser Liebe widerstehen! Aber sagen Sie mir, meine Teuerste, glauben Sie nicht selber auch, daß es größer wäre, bei den Kindern in der Baronniere zu bleiben?»

Tief betroffen hatte sich Jeanne auf dem Bettrand niedergelassen. Nun warf sie das Haupt in den Nacken und blickte mit einer Schmerzfalte 79 auf der Stirn sinnend ins Leere. In Sekunden durchlebte sie die Qual der letzten Nächte. — War es Einbildung oder Wirklichkeit, daß während des Gespräches vorhin eine weibliche Gestalt, von jauchzenden Heerhaufen umgeben, vor dem Fenster vorüberritt?...

Plötzlich sagte sie, wie zu sich selbst: «Soll ich allein in meiner Höhle zurückbleiben, wo alle andern sich mit Ruhm bedecken? — Und wer» — jetzt heftete sie drängende Blicke auf den Verwundeten — «wird es Ihnen melden, wenn wir schließlich doch entdeckt und fortgeschleppt werden?»

«Lassen Sie die Kinder heranholen!» sagte der Marquis nach kurzem Besinnen. Da warf sich Jeanne von neuem über ihn und bedeckte sein Haupt mit Küssen.

Wenige Tage später brachte Toussaint unter sicherem Geleite die beiden Kinder nach Jalais. Noch waren die Wunden des Generals nicht verheilt, so wurde aus der Gegend von Chollet seine Hilfe dringend verlangt. Alles Abmahnen fruchtete nichts. Der Unbeugsame ließ seine Divisionen alarmieren und setzte sich zu Pferde. Seiner Gemahlin befahl er, mit den Kindern den Weg nach St. Florens einzuschlagen und ihn dort zu erwarten. Einige Meilen hatten sie noch die gleiche Straße zu reiten. Sie waren nun mit brauchbaren Pferden versehen. Von einem dichten Schwarm räuberhaft ausgestatteter Krieger umgeben, ritt die Familie an der Spitze der Heeresmasse. Der General und seine Gemahlin 80 ließen Marie-Jeanne mitten zwischen sich reiten, während Toussaint vor ihnen her das Pferd des kleinen Hermenée führte. Der blonde Knabe, dessen Füße kaum über den Sattelrand reichten, hatte seine Trommel umgehängt und schlug darauf los. Von Zeit zu Zeit rief er den ihn umdrängenden Soldaten Befehle zu. Sie taten ihm den Willen und freuten sich wie Kinder. Hüte wirbelten in die Luft, und wilde Jauchzer wechselten mit chorweise gesungenen Psalmen. Die Marquise richtete anfeuernde Worte an die Mitmarschierenden und mußte es geschehen lassen, daß die Männer den Saum ihres Kleides küßten. Der Hochrufe auf Bonchamps war kein Ende, und zum blitzenden Strome wuchs die Masse, in deren Mitte die Siegesmutigen ritten. Nach einigen Meilen Marsches ließ ein in der Ferne rollender Kanonenschuß die Leute einen Augenblick verstummen. Man lauschte, immer zumarschierend, auf weitere Schüsse, die denn auch nicht lange auf sich warten ließen. Da jubelte Hermenée hellauf und schwenkte seine Mütze, und zu Hunderten antworteten dem kleinen Helden die rauhen Kehlen der kampflustigen Männer: «Es lebe der König! Es lebe Bonchamps! Unser wird der Sieg sein.»

So zogen sie, bis die Wege sich trennten. Hier ließ der General seine nur durch den Siegeswillen und die Kameradschaft notdürftig geordneten Truppen defilieren, wobei Zuruf und Beifallsgebrause erst endigten, als die letzten Rotten den Weg nach Chollet eingeschlagen 81 hatten. Der Marquis befahl seiner Gemahlin, sich in St. Florens mit Bauernkleidern zu versehen, um im Fall eines Rückzuges und einreißender Unordnung desto leichter der Verfolgung durch die Republikaner zu entgehen. Dann nahm er zärtlichen Abschied von der Familie und sprengte, von seinen Ordonnanzen gefolgt, an die Spitze der Kolonne. Er atmete auf. Seine Führerpflichten befreiten ihn von dem Druck, der seit der Ankunft Jeannes auf seiner Seele lag. Die Amazonen, welche sich unter die Heerscharen der Vendée mischten, waren ihm verhaßt. Wunder wirkend, solange die guten Regungen ihre Schritte lenkten, wurden sie zu gefährlichen Feuerbränden, sobald die Leidenschaft in ihnen zum Ausbruch kam. Der Marquis hatte sich glücklich gepriesen, daß seiner Gattin die Versuchung erspart geblieben, am Feldzuge teilzunehmen. Er war sich bewußt, daß früher oder später sein Familienglück, ja seine Liebe zuschanden werden müßte, sobald seine angebetete Frau solcher Versuchung erlag. Nun war es doch geschehen, und er hatte ihr, die er wahrhaftig heißer liebte, als sich selbst, harte Worte geben müssen im Augenblick, da sie aus reiner Liebesglut und heiliger Begeisterung seine blutigen Pflichten und seine Leiden zu den ihrigen machte.

Jeanne de Bonchamps hielt sich an den Befehl des Marquis. Eine Strecke weit ritt sie des Weges, ohne auf etwas anderes als ihre Kinder zu achten. Aber bald genug kam ihr die Bedeutung der Wegscheide zum Bewußtsein. Dort 82 drüben — allmählich im Wirrsal der Hecken und Büsche verschwindend — brauste dahin das Heer der siegesfreudigen Männer, gelenkt von den Blicken jener Augen, in denen ihre eigene Seele glühte. Hier aber schleppte sich vor und hinter ihrer kleinen Kavalkade in Hunderten gebückter Menschen das Bangen. In unerträglicher Langsamkeit zogen abgemagerte Ochsen die Habe von Familien, die nur deshalb nicht rückwärts blickten, weil die Rauchwolken ihrer zerstörten Heimstätten weit hinter ihnen den Himmel verschleierten. Arme, wie einst Begüterte, trugen auf müden Schultern das Unentbehrlichste und im Herzen Fluch und Verwünschung. Wo zogen sie hin? Was wartete ihrer jenseits der Loire? Rücksichtslose, deren Glaube zugleich mit der irdischen Habe in die Brüche gegangen, suchten auf freiem Feld die Schicksalsgenossen zu überholen und stießen Unbeholfene roh zur Seite, wenn sie in ihrer Langsamkeit den Weg sperrten. Blutenden Herzens sah Frau v. Bonchamps diesen Einbruch in die sonst so fromme, vertrauensvolle Seele ihres Volkes. Sie mahnte ab, tadelte, suchte zu trösten, verhieß Sieg und Rettung; aber hier ward kein Hut jubelnd in die Luft geworfen. Ungläubige, scheue, ja höhnisch lächelnde Blicke begegneten ihr.

Als in langen glühenden Streifen die Abendsonne sich in den Karrgeleisen spiegelte, die den müden Flüchtlingen den Weg zeigten, begann wieder weit drüben, hinter dem Wald, der die Männer verschlungen, Kanonendonner zu rollen. 83 Jeanne de Bonchamps gedachte des Sprichwortes, daß der Blitz des feindlichen Geschützes die Chouans auf die Beine jage, der Knall zum Sturmlauf sie locke. Hier warf das dumpfe Rollen nur Bangen und Lähmung in Herz und Sehnen.

Die Kinder hatten sich längst nicht mehr im Sattel halten können. Marie-Jeanne schlummerte trotz allen Rüttelns in den Armen der Mutter, Hermenée netzte mit seinen Tränlein den gefurchten Nacken des treuen Toussaint, der den Knaben Huckepack trug und das Pferd an schlaffem Zügel führte. Auf des Dieners Rat verließ man die Straße und fand in einem Bauernhofe kümmerliches Obdach.

Früh schon rollte am andern Morgen aus der Gegend von Chollet der Geschützdonner. Blutiges Morgenrot beleuchtete den schleichenden Zug der Vertriebenen auf der Straße nach St. Florens. Er hatte sich über Nacht noch verdichtet. Auch die Zahl derer, die querfeldein liefen, um rascher ans Ziel zu kommen, hatte sich vermehrt. Da und dort erhoben sich Verschlafene aus dem Nachtlager unter Bäumen. Auf der Straße scharten sich Menschen um einen zusammengebrochenen Karren. Um das Gedränge zu meiden, beschloß die Marquise einen Feldweg einzuschlagen, den ihr ein Bauernjunge zeigen wollte. Die Kinder waren noch müde und zerschlagen. Um sie aufzumuntern, sagte ihnen die Mutter, sie müßten sich um des Königs willen zu Pferde setzen lassen, ein Edelmann sei niemals müde, wenn sein 84 König etwas von ihm verlange. Papa sei gewiß schon lang im Sattel. Nur mit Mühe konnte sich Frau v. Bonchamps der Tränen erwehren, als sie sah, welche Wirkung ihre Worte hatten und mit welchem Eifer die Kleinen ihre Adelspflicht auf sich nahmen. Der Feldweg führte sie nach einer Stunde auf eine andere nach St. Florens einmündende Straße. Sie bot dasselbe Bild wie diejenige, die man gestern abend verlassen hatte. Und je näher man der Stadt kam, desto dichter wurde allenthalben das Gewimmel, während der Schlachtenlärm zunahm und deutlicher wurde. Sie begegneten nun auch verschiedenen bewaffneten Truppen, die sich in der Richtung des Geschützdonners fortbewegten. Dicht vor der Stadt stießen sie auf weitere Truppen, welche Befehl zu erwarten schienen. Die zuströmenden Flüchtlinge stauten sich hier zu großen Maßen. Die Straßen der kleinen Stadt waren vollgestopft, da viele Fliehende sich der Hoffnung hingaben, das Gefecht bei Chollet werde eine entscheidende Wendung herbeiführen und die Ueberfahrt über die Loire unnötig machen. Umsonst bemühten sich einige Führer, die Scharen zur Fortsetzung ihres Marsches an den Fluß zu bewegen. Außer den geordneten Mannschaften, welche zur Vorbereitung des Uebergangs kommandiert waren, gingen nur wenige weiter, nur solche, die jede Hoffnung auf einen Sieg der königlichen Sache begraben hatten. Fast allen, die da ratlos in den engen Gassen und vor der Stadt lagerten, stand Angst auf der Stirne, wußte man doch, welche 85 Rachewut den Feind beseelte. Wehe, wenn es heute der königstreuen Armee nicht gelang, die Blauen abzudrängen! Priester redeten in die Gassen hinein vom ewigen Lohn treuen Ausharrens, von der Märtyrerkrone, die der sich Opfernden harrte. Meilenweit hinter der Front hatten solche Ermahnungen den Mut zum Lodern gebracht. Hier aber, wo man den Löwen brüllen hörte, ja sozusagen den Hauch seines Rachens fühlte, stand der Glaube auf harter Probe. Die frommen Chouans drängten nach der Abtei. Man verlangte das Angesicht Gottes zu sehen. Aber das Heiligtum war gesperrt. Fünftausend gefangene Republikaner, Abgefallene, Schufte, füllten Hof und Hallen. Bis an die Stufen des Altars waren sie zusammengepfercht. — Wer weiß, wie mancher auch unter diesen unglücklichen Verführten flehende Blicke nach dem Allerheiligsten sandte, während um ihn herum Hohn und Lästerung über die Angst hinwegzutäuschen suchten. — Wie, diese Unwürdigen sperren uns den Weg zum Heiligtum? Sollen wir uns die Entweihung gefallen laßen? Das ist doch nicht der Wille unserer frommen Führer. Heraus mit den Schurken! — Was fällt euch ein? Im Rücken unserer kämpfenden Armee wolltet ihr die Feinde herauslassen? — So machen wir sie nieder, Mann für Mann! Soviel Feinde Gottes und des Königs weniger auf Erden. — So murmelte es vor dem Portal der Abtei und bald in allen Gassen. Und darüber prallte immer wuchtiger der Geschützdonner an die klirrenden 86 Wände der mürrisch blickenden Häuser. — «Näher! — Es kommt näher!» sagten sich erst nur die Blicke der Kopf an Kopf Stehenden. Und bald gestanden es auch die erbleichenden Lippen. In dem Meer von Köpfen begannen sich Strömungen zu zeichnen, die nach den Toren der Stadt drängten. Glücklich, wer auf freiem Felde geblieben. Immer wuchtiger schlug der Donner in die Gassen. Die Aufgeregtesten wollten schon Flintenschüße gehört haben.

Mitten in der Masse, die sich, unruhig wogend, auf dem Platz vor der Abtei staute und, von einzelnen Schreiern gepeitscht, murrte, hielt auf unwirsch den Kopf werfendem Pferde die Marquise de Bonchamps. Was wollte sie? Dienstfertige Männer hatten versucht, ihr den Weg ins Freie zu bahnen; aber sie hatte es abgelehnt. Hier, in der Mitte der Geängsteten, wählte sie ihren Platz. Hier hoffte sie die Befehle ihres Gatten aufzufangen und mit der Autorität ihres Ranges an die Menge weiterzugeben. Sie erwartete solche Befehle und wollte dafür sorgen, daß sie trotz dem kopflosen Wirrwarr gehört wurden. Man sollte sie finden, ohne lange zu suchen. Mit königlicher Ueberwindung ihrer eigenen Unruhe sprach sie zu den Umstehenden, und es gelang ihr, Ruhe zu verbreiten. Es gelang ihr, bis der erste Schrei des Schreckens in die Gassen gellte. «Sie kommen,» hieß es, «sie fliehen, die Unsrigen.» Und wie eine Brut schwirrender Insekten ausbricht, so verbreiteten sich plötzlich die Gerüchte von Niederlage, 87 Flucht, Tod und Verderben. D’Elbée gefallen, Bonchamps gefangen, Bonchamps tot! So schwirrte es von Mund zu Mund. Im wilden Durcheinander ward es der Reiterin auf dem Abteiplatz von allen Seiten zugerufen. — Hörte sie es? Verstand sie das Furchtbare? — Sie hielt unbeweglich still, schien nichts zu hören.

Nach dem ersten sinnverwirrenden, atemraubenden Ansturm, der die Maßen bis zur Erstickung zusammengepfercht hatte, begann das Gedränge sich zu lockern. Von außen her. Die geschlagenen Truppen fluteten an der Stadt vorbei nach den Uferdörfern an der Loire und rissen die um St. Florens Lagernden mit. Aus allen Toren begann es loszuströmen, so daß sich endlich auch in den Gassen Leib von Leib löste und fortschwamm. Auf einmal entstand vor der Abtei heftige Bewegung. Irgendwoher war der Befehl ergangen, die Gefangenen niederzumachen. Niemand wußte, wer das befohlen hatte, niemand fragte danach. Die Flintenläufe, Piken und Sensen bewegten sich in grausigem Glitzern gegen die Pforten der Abtei hin. — Aber eine Stimme, die man keiner menschlichen Kehle zugetraut hätte, gellte über die Köpfe: «Bonchamps verbietet, daß irgendeinem Gefangenen ein Leid angetan werde. Im Namen Gottes und des Königs: haltet ein!» In Verblüffung wandten sich aller Augen nach der Richtung, aus der die Stimme scholl. Da war einzig die Reiterin, die mit flammenden Blicken das wogende Meer beschwor.

88 In der entstandenen Stille fiel von trotzigen Lippen kalt und schneidend das Wort: «Bonchamps ist tot!»

Und wieder klang die unirdische Stimme: «Bonchamps lebt.» Und die staunende Menge sah die Reiterin einen kleinen Knaben hoch in die Luft heben, und ein Sonnenstrahl flammte in des Knaben blondflatterndem Schopfe. Da brach es wie Wogengebrüll empor aus tausend Männerkehlen: «Es lebe Bonchamps! Es lebe der König!» Und die Luft schwirrte von wirbelnden Hüten. Dann aber fürchtete man die Reiterin vornüberstürzen zu sehen, denn sie neigte sich tief über den auf des Rosses Widerrist sitzenden Knaben und barg ihr bleiches Antlitz in dessen seidenen Locken.

Die Männer drängten sich, ihr beizustehen. Jetzt bahnte sich ein Reiter auf schweißbedecktem Pferde den Weg durch die Menge: «Befehl von Marquis de Bonchamps: Es darf keinem Gefangenen ein Haar gekrümmt werden. Des Marquis letzter Wunsch ist die Freilassung aller Gefangenen.»

Jeanne de Bonchamps richtete sich auf, den Knaben an sich pressend. «Ihr hört es,» rief sie mit bebenden Lippen, «laßt sie frei!» Dann erst wandte sie sich an den Boten: «Des Marquis letzter Wunsch? — Sprich, was willst du damit sagen?»

«Er ist verwundet und wird nach La Meilleraie geführt. Abbé Courgeon begleitet ihn.»

«Wo liegt La Meilleraie?»

89 «Es liegt dort, weiter rückwärts. Aber der Herr Marquis läßt Euer Gnaden bitten, vorerst mit den Kindern über die Loire zu gehen. In Varades hofft er morgen Euer Gnaden einzuholen.»


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