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III.

«U jitz, was het er gseit, der Dolder?» fragten sie im «Bären» den Krämer, der eben an den Stammtisch herantrat.

«He, was het er gseit,» antwortete Müller, indem er sich am Hinterhaupt kraute, «es gang ne nüt a. Er heig nütmeh dry z’reden im Pfarrhus obe. Wenns zwöi eso guet zsäme chönne, wie sy Tächter u der Pfarrer, so müeß me ne nid welle ga dry rede. Das het er gseit. Dernah bin i ume gange. Er het afah wärche, un i ha däicht, i gang, gäb daß mr no e Laden uf d’Füeß gheji.»

Frau Wälchli stand auch dabei. Sie schenkte dem Krämer seinen Schoppen ein und sagte: «Me weiß afe bal nümme, was me söll däiche vo däm Mannevolch. Es darf ja kene meh ds Muul uftue.»

Da lachten die Mannen verlegen. «Gang du, Liseli,» meinte der Gemeindeschreiber, «wär anders het dä Pfarrer i d’Gmein yhe gutschiert als du? Hei ne d’Wybervölcher härebracht, so sölle si jitz mit ihm tanze.»

«Es wird dir öppe nid ärscht sy, dir, daß i dä söll härebracht ha.»

«Hörit uf chähre!» brummte der Bauer vom Kalten Färrich. «Eifach fertig, der Schuelmeischter söll mit Aenneli ga rede.»

Jetzt schrien alle auf den Färrich-Bauer ein, ob er «öppe vo letscht» in Amerika gewesen sei, daß er noch nicht wisse, wie es der Schueli mit ds Pfarrers habe. Gerade den habe man ja geheißen mit der Frau Pfarrer reden, als der Pfarrer in der Schulkommission mit der «verrückten Donners Idee» aufgerückt sei, man solle den Kindern am Examentag das Wirtshaus verbieten, wo doch das «meh oder minger der Hauptwitz» am Examen sei. «Eh du Herrieses», man sollte auch meinen, «was so ein Tröpfeli Wy den Bürschtlene» schaden könnte. Aber der «Schueli, der Höseler» habe sich widersetzt. Fürs erste gönne er den Kindern das Freudeli nicht — ja, so einer sei er eben, nur weil er selber nichts erleiden möge und schon ins Plampen gerate, wenn er nur von weitem eine Flasche sehe. Und dann eben habe er gesagt, wenn der Pfarrer nicht wolle, so trage es hell nichts ab, der Frau davon zu stürmen, denn die seien eins, wie sonst im ganzen Kanton nicht «ihrere zwöi».

«So?» sagte Frau Liseli, «das wär mir de aber o ds Neuischte. Es het ja da di Mal gheisse...»

«Äbe hets,» belehrte sie der Krämer, «aber mr hein is mit Schyn dä Chehr trumpiert, Liseli. — Du chasch de um ds Neujahr ume ga Gotte sy bi der Pfarrere.»

«Du wirsch mr öppis wellen agä.»

«Lue de nume.»

«Wohär wettisch du so öppis wüsse.»

«Dahär. — Es isch uscho. — U wie der Schueli seit, sider däm glahri ds Glück us allne Pfäischtere vom Pfarrhus.»

Die Stammtisch-Zeitung wäre lückenhaft geblieben, hätte nicht noch einer das Glück im Pfarrhaus mit dem Besuch jenes andern «Pfarrers» in Zusammenhang gebracht. Aber das Lästermaul fand diesmal keinen Glauben. Das strahlende Glück und das prächtige Zusammenspannen von Matthias und Aenneli hatten schon jetzt alles müßige Gerede über das pfarrherrliche Paar zum Verstummen gebracht. Ihr geeinter Wille kämpfte siegreich für das Wohl der Gemeinde. Er weckte allenthalben neues Leben, stieß freilich auch auf die Feindschaft; aber die Feinde wagten sich nicht ans Licht, und wer nicht tief in das Leben der Gemeinde hineinsah, durfte glauben, es widerstehe niemand und nichts dem tapferen Streben des jungen Pfarrers.

*   *   *

Nun begab es sich, daß in der großen Ferienzeit jenes Jahres Krankheit in das Pfarrhaus zu Flüehbrunnen einbrach. Matthias Brändli hatte sich auf einem seelsorgerlichen Gange schwer erkältet und lag in Fiebern. Er wollte sich nicht ergeben und rechnete bestimmt darauf, daß die sorgfältige Pflege, die ihm seine Frau angedeihen ließ, ihn auf Ende der Woche wieder kampffähig machen werde. Es ward aber Mittwoch, und die Fieber wollten nicht fallen. Es ward Donnerstag Morgen, und zu den Fiebern gesellten sich Fröste. Da half alles nichts, der Arzt mußte her. Er kam, griff nach dem Puls, tastete, klopfte, horchte und rief endlich die Pfarrfrau in die Studierstube hinüber. Er drückte die Türe behutsam hinter sich ins Schloß und sagte: «Frou Pfarrer, Eue Ma isch z’grächtem chrank. Er het e doppleti Lungenetzündtung. Da gits nüt z’brichte.»

Aenneli raffte ihre ganze Energie zusammen, um sich zuversichtlich zu zeigen. Vorerst galt es nun, ihrem Manne klar zu machen, daß auf den Sonntag ein Ersatzmann berufen werden müsse. Aber da war guter Rat teuer, denn weit im Umkreis stand niemand zur Verfügung. Es mußte nach Bern berichtet werden. Die Antwort ließ auf sich warten, denn auch in der Stadt gibt es während der Ferienzeit wenig Pfarrer. Inzwischen packte die Krankheit immer fester zu. Matthias verlor sogar zeitweise das klare Bewußtsein.

Hindämmernd lag er am Samstag mittags in seinen Kissen, hatte wunderliche Träume und verlor immer mehr das Gefühl von Ort und Zeit. Vorsorglich hatte Frau Aenneli die Hausglocke verbunden, den Klopfer an der Haustür umwickelt. Kein Geräusch außer dem Geläute und Schlag der Kirchenglocken drang in das Krankenzimmer. Bange verfolgte Aenneli die Atemzüge ihres geliebten Mannes, der auf nichts mehr zu achten schien. Plötzlich schlug er die Augen weit auf. Er schien gespannt zu horchen. — «Jitz isch er da», sagte er mit so seltsamem Tonfall, als wollte er sich außer Stande erklären gegenüber einer Macht, der man sich fügen muß.

Auch Frau Aenneli horchte auf. Wie ein Wiesel glitt sie aus dem Zimmer die Treppe hinab.

Bald darauf hörte Matthias im Zimmer unter dem seinigen Stimmen.

Frau Aenneli war nicht wenig erschrocken, als sie im Sääli Düß gefunden hatte, der sie gar nicht erst zu Wort kommen ließ, sondern fragte: «Was isch mit dem Matthias? Isch es ärnscht? I ha’s z’Bärn vernoh und ha dänkt, i well cho luege, ob ig Ech öppis chönni hälfe.»

«Myn Gott!» entwischte es der Geängstigten, «i ha geng no niemer zum Predige morn. I ha Bscheid gmacht ga Bärn und...»

«I ha’s ghört. Drum bin i cho.»

Der guten Frau flimmerte es vor den Augen. Düß auf der Kanzel zu Flüehbrunnen! Sie durfte ihrem Manne nicht davon reden. Was sollte sie tun? Nur stockend und halb fragend brachte sie ein «ja...» heraus.

«Dir weit frage, ob i ds Rächt heigi», fuhr Düß fort. «I ha ds Rächt, i ha ja als Studänt o scho... aber da druuf chunts gar nit a, Frou Pfarrer. — Es isch wahr, i bi nie konsakriert worde. I bi villicht ganz unwürdig. Aber säget mr, wo isch di möntschlechi Zunge, wo würdig wäri, ds Wort Gottes z’verchünde, wo —?»

«I will...» Sie war im Begriff zu sagen, sie wolle ihren Mann fragen, ob es ihm recht sei; brachte es aber nicht heraus, denn es wäre eine Notlüge gewesen. Nein, nein, er durfte nicht in Aufregung gebracht werden.

«Chömet übere,» korrigierte sie sich, «ässet öppis.» Nachdem sie dem Gast einen Imbiß aufgestellt, erklärte Frau Aenneli, sie wolle nach ihrem Mann sehen, und verschwand. Sie befand sich in einer Aufregung, die ihr nicht gestattete, an das Bett des Schwerkranken heranzutreten. Ins Studierzimmer trat sie, in die Fensternische, von wo sie durch die offene Zwischentüre den Kopf ihres Mannes beobachten konnte. Er lag ruhig. Da er zu schlummern schien, ließ Aenneli ihre Blicke durch das Fenster schweifen, aber sie sah nichts. Soll ich’s ihm sagen? überlegte sie. Nein, ich kann nicht. Er wird sich entsetzlich aufregen. — Und wenn er nein sagt? Muß ich dann hingehen und Düß mitteilen, daß er ihn nicht für würdig erachtet? Ihm, der doch eigentlich uns beiden die Tür zum Glück aufgetan hat. Ist er denn nicht bei all seiner «Unmöglichkeit» ein lauterer, wahrer, echter Mensch — mit allen Sünden Adams beladen, aber doch ein Mensch, der Gott im Herzen trägt? Mag er verrückt erscheinen in den Augen der Welt, gut ist er doch, so gut als ein Mensch sein kann. Hat er mir je Uebles getan? Sollte er nicht der Gemeinde die Wahrheit sagen können, einmal so ganz, ganz anders, so unmittelbar — ohne Theologie... ohne — Weihe, einfach als Mensch zum Menschen, als Sünder zu den Sündern. — Und wenn sie schließlich einmal die Stimme eines Verlorenen aus der Hölle schreien hörten, vielleicht würde das die Mauern erschüttern, hinter denen sie sich gegen die Stimme des Hirten verschanzt haben.

Eine Bewegung des Kranken lenkte sie ab. Leise trat sie an die Türe und dann vollends hinein, an das Bett. Matthias sah zu ihr auf und sagte: «Gäll, der Düß isch da?»

«Ja.»

«Was wott er?»

Da war die Frage, die sie zu sagen zwang, was sie so gern verschwiegen hätte. Zaghaft antwortete sie: «Für di predige.»

Matthias starrte mit groß aufgerissenen Augen auf sie. Er sah einen Augenblick wie gelähmt aus.

Da wollte ihn Aenneli erlösen und sagte: «Gäll, er söll lieber nid?»

In Matthias’ Zügen löste sich etwas. Er schien nachzudenken, und dann sagte er leise zu sich selbst: « fiat tua voluntas!» und vernehmlich laut zu seiner Frau: «Er söll cho!»

«Der Düß?»

Matthias nickte.

«Hiehäre? Zu dir?»

«Ja.»

Wenige Minuten später stand Düß am Krankenlager seines Freundes, der mit glänzenden Augen zu ihm aufblickte.

«Du wellisch für mi predige?» hauchte Matthias.

«Isch es dr rächt?» fragte Düß mit tiefernstem Gesicht.

Matthias hatte ein freundliches Lächeln, als er, auf seine Hinfälligkeit anspielend, antwortete: «Das het hie nüt z’säge.» Er drückte Düß die Hand, und als Aenneli diesen wegzog, legte sich Matthias auf die Seite. Zurückblickend merkte Frau Aenneli an einem ganz leisen Zucken von Matthias’ Schulter, daß er lachte. Ja, er konnte es nicht niederzwingen. Der auf die seltsamen Umstände seiner Berufung nach Flüehbrunnen zurückgleitende Gedanke in Verbindung mit seiner augenblicklichen Hilflosigkeit brachte den Kranken zu einem Lächeln über die menschliche Ohnmacht. Dieses Lachen erschreckte ihn selber. Es erhoben sich Gewissensnöte, aber er war nicht imstande, sie klar zu überdenken, und schlief ein.

Die Frau Pfarrerin wollte nun nichts versäumt haben und redete mit ihrem Gast, ob er auf die Studierstube verzichten und im Gastzimmer sich vorbereiten könnte. Falls er Bücher benötigte, möchte er sie möglichst geräuschlos...

«Was Bücher?» Ein spöttisches Lächeln unter den Bartspitzen rief der Pfarrfrau in Erinnerung, wen sie vor sich habe. Sie mochte in ihrem Blick einen leisen Schreck verraten haben, denn Düß fuhr gleich fort: «Das wär überhoupt e bösi Sach, wenn ig erscht jitz wetti afah ne Predig studiere. Wenn faht albe der Jas a?»

«I weiß nid. I gloub, er faht nie a und hört nie uf.»

«Äbe, so han i’s o.»

Frau Aenneli blickte ihn sehr verwundert an und fügte dann bei: «I meine nume so wäge der Sammlung.»

«Sammlung? — Isch Eue Ma überhoupt je echly usenand? — Chömet, Frau Pfarrer, mr wei jitz no chly vor ds Hus ga sitze, i Garte. I hätt’ Ech no allerhand z’frage.»

Schon beschlich eine leise Reue die junge Pfarrfrau. Ob sie nicht doch besser getan hätte, von vornherein die Hilfe des unberechenbaren Menschen abzulehnen? Sie sann auf einen Vorwand, sich diesem Beisammensitzen zu entziehen, als der Wagen des Arztes vorgefahren kam. Sie entschuldigte sich bei Düß und begleitete den Arzt ins Krankenzimmer. Der Besuch währte lange, und als die Pfarrfrau endlich wieder dazu kam, sich nach ihrem Gast umzusehen, war er nirgends zu finden. Der Sigrist wußte zu berichten, es sei so einer — zur Köchin hatte er von einem Waldmenschen gesprochen — in die Kirche gekommen, habe sich die Kanzel angesehen und ein Lied angegeben. Dann sei er bergauf davongegangen.

Der Nachmittag ging zur Neige. Es begann zu dunkeln. Kein Düß erschien. Es war längst Nachtessenszeit — kein Düß. Es ward Nacht — kein Düß.

Was soll ich nur anfangen? plagte sich Frau Aenneli. Sie mied das Krankenzimmer ihres Gatten, aus Besorgnis, dieser könnte nach dem Gaste fragen. Es war Zeit, sich zur Ruhe zu begeben, und kein Düß da. Die Haustüre mußte offen gelassen werden.

Frau Aenneli wachte in der Studierstube, horchte mit einem Ohr nach dem Kranken, mit dem andern nach dem Korridor. Endlich hörte sie die Haustüre gehen. Sie wurde von innen verriegelt. Es kamen leise Tritte die Treppe herauf. Frau Aenneli trat in den Gang. Groß, fest und sicher kam Düß an sie heran, die Schuhe in der Hand, und bot ihr gute Nacht. — Ob er nicht erst etwas zu sich nehmen wolle, fragte sie. Er winkte ab und ging auf den Fußspitzen in sein Zimmer.

Was wird es werden? fragte sich die Pfarrfrau. Sie weinte vor Müdigkeit, als um Mitternacht die ablösende Pflegerin kam. Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen war: was wird er von der Kanzel reden? — Nun, das Schlimmste wird er uns nicht antun. Dafür bürgten die Schuhe in der Hand.

Als am andern Morgen die Glocken das erste Zeichen zum Gottesdienst gaben, erschien Düß, leise klopfend, an der Türe der Studierstube und fragte nach dem «Mantel des Propheten».

Frau Aenneli wollte das Herz stille stehn. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Aber... dieser Düß im Kanzelrock ihres Mannes! War es möglich, ihr das zuzumuten? Bis jetzt hatte man im Pfarrhaus nie ein Wort darüber verloren; aber Frau Aenneli hatte nie etwas anderes geglaubt, als daß der schöne schwarze Talar das Symbol der priesterlichen Weihe sei. Wie sollte sie nun dieses vornehmste aller Ehrenkleider einem überwerfen, der... Nein, das nun doch nicht!

Aber Düß stand da und wartete auf Antwort. Und auf seinem Antlitz stand geschrieben: hältst du mich nicht für würdig, so weiß ich, daß die Menschen mich in Acht und Bann getan haben. Und dann... ist mein letzter Halt dahin.

Zögernd fragte sie, ob er nicht so auf die Kanzel steigen könne, wie er da sei.

«Ja,» antwortete Düß, «wenn i de Lüt bekannt wär als fläckelose, untadelige Möntsch, de chönnt’ i i däm Habitus cho, wo me mi drinne kennt. Aber d’Zuehörer sötte chönne vergässe, wär zue ne redt. Am beschte wärs, me gsäch der Treger vom Wort gar nid. Der lieb Gott weiß ja, wär i bi; aber de Möntsche mueß me’s nid schwärer machen als nötig. Decket, decket vo mir, soviel Dir chönnet, Frou Pfarrer.»

Da nahm Frau Anna ihres Mannes Ehrenkleid, warf es dem Unstäten über und dachte dabei: Vergib uns unsre Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldnern. — Gehe hin und rede, was dir Gott gibt!

Und Düß ging und predigte und las die liturgischen Gebete und sang mit der Gemeinde. Die Kirche war vollbesetzt, denn es hatte sich am Abend zuvor das Gerücht verbreitet, jener «andere» werde die Kanzel besteigen, von dem sie einst im Wirtshaus gesagt, er würde ein «gäbiger» Pfarrer sein. Er predigte anders als man’s gewohnt war, aber tief aus dem Leben heraus von Jesu Sünderliebe. Mancher fühlte eine Beichte heraus, ein packendes Bekenntnis, und alle mußten zugeben, daß sie solch klangvolle, erquickende Stimme noch nie von der Kanzel vernommen, weder im Gesang, noch in der Rede.

«U mir hei doch rächt gha», sagte hernach der Krämer Müller, «es isch halt doch e Pfarrer. Jitz heit drs ghört.»

Und ein anderer raunte: «Das isch öppis angers als üse. Dä ghörti uf üse Chanzel u nid dise.»

«Gäll, i ha’s emel o däicht», antwortete es irgendwoher.

Als Düß wieder ins Pfarrhaus trat, ergriff Frau Aenneli seine Hände und dankte ihm mit warmen Worten.

«Rüehmet nid!» wehrte er ab. «Es isch nüt. Aber i ha ds Beschte gä, wo-n-i ha, wie me’s öppen a mene Fründ schuldig isch.»

Er hatte es eilig, den Talar abzulegen. Da kam ihm Frau Aenneli zuvor, zog ihn vor den Spiegel und sagte: «Halt! Lueget Ech jitz z’erscht no! Gäbet nume zue, Dir wäret e stattleche Pfarrer. — Es wär geng no nid z’spät.»

Düß machte eine abwehrende Bewegung. Hastig streifte er den Kanzelrock ab, legte ihn sorgsam über einen Stuhl und sagte: «Nei, nei, dadry ghören i nid.» Frau Aenneli tat, als hätte sie’s nicht gehört. Sie nahm sich vor, mit ihm bei Tisch ein ernstes Wort zu reden. Zu ihrem Erstaunen ließ er sich aber nicht bewegen, so lange hier zu bleiben. Noch schnell seinem kranken Freunde die Hand drücken, das wollte er; aber dann war er nicht mehr zu halten. Es gab eine Menge pfarramtlicher Funktionen, Taufen, Trauungen, Leichenreden, Unterricht. Dem wollte Düß ausweichen. Dazu fühlte er sich nicht berufen. Er werde nun nach einem Stellvertreter Umschau halten, versprach er der Pfarrfrau, und damit empfahl er sich.

 

Als die Krisis in der Krankheit vorüber war, verbrachte Frau Aenneli jede nur freizumachende Stunde an ihres Gatten Lager. Oft kam nun zwischen ihnen die Rede auf Düß, der sich ihnen immer wieder als guten Freund erwiesen hatte. Frau Aenneli erwärmte sich immer mehr für die Idee, man sollte Düß veranlassen, seine Studien wieder aufzunehmen und zu vollenden. Solch gutes Holz sollte nicht unbenützt — verfaulen, ja verfaulen. Das sei just das rechte Wort. Ja, meinte der Pfarrer, wenn er seine Unarten lassen könnte; aber gerade in diesen Unarten, diesen Wasserschossen, liege seine besondere Kraft. Wäre er jünger, so ließe sich hoffen, daß das Beschneiden dieser Schösse zu Gutem führen würde; aber der Baum sei zu alt.

«Me isch nie z’alt zu öppis Guetem», eiferte Frau Aenneli, und sie ließ nicht locker, bis Matthias ihr versprochen hatte, die Sache mit andern Freunden und mit den Professoren, die Düß seinerzeit aufgegeben hatten, von neuem zu besprechen.

Die beiden ahnten nicht, was seit jenem Sonntag in Flüehbrunnen am Stammtisch und in gewissen Hinterstüblein verhandelt wurde. Für die kommenden Wochen hatte nun der Bezirkshelfer das Pfarramt in Flüehbrunnen übernommen und hatte sein Quartier im Pfarrhaus bezogen. Matthias hatte sich vorbehalten, alltäglich mit ihm die Angelegenheiten der Gemeinde zu besprechen. Aber schon die erste Beratung hatte ihn dermaßen ermüdet, daß der Arzt alle weiteren Konferenzen aufs strengste verbot. So blieb denn sein Priestertum auf die Zwiesprache mit Gott beschränkt. Die Amtssorgen gelangten höchstens bis zu Frau Aenneli, die mit dem feinen Spürsinn der berufenen Pfarrersgattin ihres Mannes Ansicht und Willen zu erkunden wußte. Gar manches, insbesondere das Dorfgeschwätz, soweit es überhaupt bis zum Pfarrhof gelangte, wurde vom Helfer aufgefangen und ad acta gelegt.

*   *   *

Im Hinterstübli des Kramladens, Müllers «Büro», saßen sie bei einem Gläslein Malaga, der Gemeindeschreiber und der Krämer.

«Eifach fertig,» hatte der letztere soeben erklärt, «alli Schuld rächt sich uf Ärde. Es het müesse so cho. Es isch z’sälbisch nid mit rächte Dinge zuegange, wo me dise gwählt het. Der anger, der anger wär der rächt gsi. Hätt men is glost!»

«Du chasch lang brichte», belehrte der Gemeindeschreiber seinen Freund. «Gwählt isch gwählt. Jitz hei mr ne halt für sächs Jahr. U der anger isch gar nid wählbar, er het äbe nie fertig gstudiert.»

«Henu, so söll er no fertig mache. Sövli viel wird ihm däich nümme fähle. Wenn me die Predig vom Sunde ghört het! — U wäge dene sächs Jahr! Tusigdonner doch o! Das nähmti mi de grad wunger, öb me si so lang sött müesse lyde mit eim, wo me gseht, er ghört nid dahäre, er isch dür Mißverständnis härecho. Dänk doch o, was dä-n-is no alls cha z’leid wärche. Ds Examefescht het er is afe vertonneret, u we’ mr ne löi la wyter fuuschte, so darf de bal niemermeh öppe nes aständigs Glesli Wy helte.»

«Janu äbe, drum meine-n-i, mr sötte dä Düß usem Spiel la, emel einschtwyle. Aber dise mueß ewäg. Spränge cha me ne vor sächs Jahre nid; aber weisch, was mr chöi: ne fäxieren un ihm etgägeha, bis es ihm erliidet un er von ihm sälber geit.»

«Da chöi mir de sächs Jahr lang fäxiere, ehnder lüpft dä nid, i bi dr guet derfür.»

«Item, probiere geit über studiere. Aber me mueß si derzue ha u öppe süferli mit de Lüte rede.»

Es wurde nun Mann für Mann des Dorfes durchgesprochen und ausgeklügelt, wie man jeden einzelnen bearbeiten wolle. Als sie endlich aufstanden, meinte der Gemeindeschreiber mit einem höhnischen Lächeln: «Wär weiß, es töt ne de no vorhär.» Und der Krämer antwortete: «Henu, so gschehj nüt Bösers! Aber juscht drum sötti me mit dem angere rede, daß er pressiert und fertig macht.»

An der Türe blieb der Gemeindeschreiber stehen. «Jitz chunt mr no öppis z’Sinn: U we’ mr probierte z’chlage gäge Pfarrer, wil er dä het la predige? Er het ja gar nid ds Rächt gha.»

«’s isch mr alls rächt, wenn mr ne nume wägbringe.»

«Henu, das lat si no überlege. Guetnacht, Kari.»

«Guetnacht, Fritz.»

*   *   *

Am Hilben Stützli, einem ziemlich weit außerhalb des Dorfes liegenden Gehöft, hatte der Bruder Summer seine kleine Zuhörergemeinde soeben entlassen. Eine Weile standen sie noch vor dem Hause und streckten die Hände aus, ob es wohl regnen wolle. Dann löste sich die Schar in Trüpplein zu zweien und dreien auf, wie es der Umfang der vorhandenen paar Regenschirme erlaubte, und verlor sich in der Finsternis. Nicht daß der Bruder Summer es grad mit dürren Worten ausgesprochen hätte, aber «angezogen» hatte er’s, das ganz gewiß, nämlich, daß der gute Pfarrer Brändli nicht wachsam gewesen sei und einem Manne die Kanzel erlaubt habe, dem alle Salbung fehle. Ja, so komme es, hieß es unter den baumwollenen Dächlein, auf die unter fernem Donnern schwere Tropfen fielen, so komme es, wenn ein Geistlicher eine Frau aus ungläubigen Kreisen heimführe. Ja, das Aenneli! Wer kenne es nicht, das Aenneli! Es nähmte sie auch wunder, woher das eigentlich das Zeug zu einer Pfarrfrau hätte. Ganz gewiß sei der Pfarrer «nid byn ihm sälber gsi», und dann habe das Aenneli aus Verlegenheit dem verhudelten Studenten die Kirche aufgetan. «Isch es eigetlech wahr, daß es dä Gitärreler isch, wo einisch hätti sölle Pfarrer wärde?» So hörte man unter einem Schirm fragen, und unter einem andern hervor antwortete einer, der es wissen konnte: «Das wär no ds Mingschte; aber heit dr scho ghört, daß es wieder drum z’tüe isch, dä Kundi zueche z’bringe? Si wotte der Brändli sprängen oder verjagen und de disen erzwänge.» — «Öppe doch nid.» — «Da wei mr de o no nes Wort mitrede.» — «Das fragt sech äbe. Villicht wär es besser, me mischleti sech nid dry. — Di Landeschilche — di Landeschilche! Wär seit is, öb se nid der Herr verworfe het?» — «Sygs, wie’s well, uf all Fäll darf me’s doch nid la druuf abcho, daß grad diräkt e settige Hudel a di Gmein chunt. Der Herr hat doch no ein Volk in dieser Stadt.» — «Ja, und es sind ihrer usser üs geng no es paar Versteckti, wo ihre Kniee nicht gebeuget habe vor Baalim.»

So redete es unter den wandelnden Dächlein, die hin und wieder im Scheine ferner Blitze aufleuchteten und verschiedenfarbige Säume zeigten. Ehe die Letzten am Dorfeingang auseinandergingen, ward ausgemacht, daß man jemanden nach Bern schicken wolle, um dort zu sagen, was man hier herum von diesem Düß wisse, und daß man dabei «d’Schwerzi» nicht sparen solle, so einer gehöre überhaupt nie und nirgends auf eine Kanzel, eher in eine Arbeitsanstalt. Wenn er toll werken müßte, vergingen ihm die Flausen.

Als sie sich gute Nacht wünschten, ging eine hagere Gestalt an ihnen vorbei. Der unsicher schreitende Mann hielt den Hut, während ein unwirscher Windstoß die Schöße seines Rockes aufblähte. Ein Blitz ließ ihn erkennen. «Rötele-Miggu», sagte jemand. «So so, isch dä o umen im Land? Es macht aber Gattig, er heig geng no viel ufem Schnaps. En arme Züttel! Da cha men o säge: ihr habt den Armen schuldig wärde lasse.»

*   *   *

Matthias Brändlis Genesung war soweit fortgeschritten, daß man von einem Erholungsaufenthalt reden durfte. Nach einigem Hin- und Herraten entschieden sich die Pfarrersleute für Locarno. Als eines Abends Vater Dolder heraufkam, teilte man ihm diesen Plan mit. Er billigte ihn und drang darauf, daß Matthias sich Zeit nehme, damit der nächste Winter ihn wieder gehörig bei Kräften finde. Aenneli und Matthias hatten beide gefunden, Vater Dolder habe etwas Bedrücktes. Er war ohnehin nicht sehr gesprächig, aber heute schienen ihm die Worte nicht von der Zunge kommen zu wollen, und manchmal hatte man den Eindruck, er sei mit seinen Gedanken ganz anderswo. Allzuviel Sorgen machte sich Aenneli aus dem Benehmen ihres Vaters nicht. Wie oft hatte sie ihn so gesehen! Das bewirkten doch einfach die Geschäfte. Matthias freilich erklärte sich des Schwiegervaters Einsilbigkeit anders, seitdem dieser ihm mit der Anordnung des Hochzeitsfestes aus Gründen der Popularität Gewalt angetan, fühlte er sich in der Nähe des Pfarrers unbehaglich. Er hatte bei all seiner Bravheit zu wenig Lebensart, um den Eindruck zu verwischen, daß die ganze Instandstellung des Pfarrhauses nur Aenneli zulieb geschehen sei. Anstatt frisch aufzuräumen mit der Mißhelligkeit, hatte sich Vater Dolder im Bewußtsein seines Unrechts immer mehr vom Pfarrhause ferngehalten, sich immer enger in das Schlinggewächs seiner politischen Popularität verwickeln lassen.

Was er heute abend dem jungen Paar hatte vorschlagen wollen, brachte er nicht über die Lippen. Beschwert und düster nahm er Abschied. Vater Dolder hatte dem Schwiegersohn die Augen öffnen wollen über die Umtriebe seiner Gegner, die mehr und mehr den Charakter einer Verschwörung annahmen. Er hatte ihm raten wollen, sich all den Teufeleien, die nun gegen ihn geplant waren, durch Demission aus Gesundheitsrücksichten zu entziehen. Der Erholungsurlaub bot ja die natürlichste Gelegenheit dazu. Aber, der Kuckuck weiß, wie es kam, einmal im Pfarrhaus, entfiel ihm jeglicher Mut zu solchem Vorschlag. Der Pfarrer und seine Frau schienen hier so sehr an ihrem richtigen Platz zu sein, der ganzen Gemeinheit ihrer Gegner so gottvertraulich harmlos gegenüberzustehen, daß er anfing sich zu schämen. Wenn er grundehrlich sein wollte, so mußte er sich gestehen, daß der Präsident und Sägermeister Dolder, der auf dem Werkplatz wie ein Löwe zu brüllen vermochte und den sie allenthalben respektierten, ein gang gewöhnlicher Feigling war. Dem entsprach denn auch sein Entschluß. Anstatt jetzt noch seine so gewichtige Faust zugunsten des Pfarrers auf den nächstbesten Tisch sausen zu lassen, entschloß er sich, sein Gemeindeamt niederzulegen, «um nicht als Schwiegervater des zu Sprengenden in eine schiefe Stellung zur Gemeinde zu geraten.» Ja, so hätte die Sache Sinn und Klang. Als aber der Präsident unter seine Wähler trat, erstickte in der Atmosphäre dieser Gesellschaft sein Mut wiederum, und es blieb alles beim Alten.

*   *   *

Anfangs August erschien auf der Kanzlei der Kirchen- und Armendirektion in Bern Herr Pfarrer Matthias Brändli. Er war auf der Reise nach Locarno begriffen und wünschte in einer dringenden Armensache den Herrn Direktor zu sprechen. Der Zufall wollte es, daß gerade der Armeninspektor zugegen war, und das traf sich gut, denn Pfarrer Brändli wollte zugunsten des Rötele-Miggel intervenieren, der nächster Tage in einer Arbeitsanstalt versorgt werden sollte. Er möchte doch dringend bitten, sagte der Gemeindehirte von Flüehbrunnen, den Mann in eine Gottesgnad-Anstalt für Unheilbare zu bringen und nicht in eine Arbeitsanstalt. Für seine Verkommenheit sei er nicht voll verantwortlich. Viele hätten an ihm gesündigt. Es sei die alte Geschichte, daß man einen Unehelichen von vornherein als überzählig betrachte und daß kein Mensch es für nötig erachte, die besondern Gaben eines solchen Findlings zu pflegen. Hätte jemand dem Rötele-Miggel den Weg ins Konservatorium gebahnt, er wäre heute vielleicht ein Bühnenstern. Man müsse immerhin sagen, daß er mit seinem Gesang- und Lautenspiel vielen Mitmenschen Freude bereitet habe. Daß ihm der nötige sittliche Halt fehle, um als freier Künstler ein anständiges Leben zu führen, daran sei er nicht allein schuld.

Solches hörten der Direktor und der Armeninspektor nicht zum erstenmal. Der erstere hatte sich das Dossier des armen Miggels vorlegen lassen. Leise lächelnd zupfte er sich am Bart, indessen der Inspektor, ein stattlicher Mann mit glänzendem Schädel, dem ein gutes Herz aus den graublauen klugen Augen guckte, losbrach: «Alles rächt, Herr Pfarrer, alles rächt; aber mir chönne, weiß der Herrgott, nid a mene jede Schiffbrüchige nes apartigs Näscht boue. Wenn dir ne i der Gottesgnad abringet, guet, mir o rächt. Aber wär zahlt für ihn?»

«Äbe,» antwortete Matthias mit Achselzucken, «da müesse mr halt de no luege.»

«Einschtwyle hei mr ne no gar nid», fuhr der Inspektor fort. «Me weiß nie, wo-n-er sech umetrybt. Wenn mr ne de hei, so versorget menen einschtwyle z’Witzwil, und wenn dir de sowyt nache syd, so isch er de bald züglet.»

Damit empfahl sich der Armeninspektor. Der Regierungsrat bat den Pfarrer, noch einen Augenblick zu bleiben, da er wohl in der Lage sei, über einen andern Armen- oder gar Arbeitshauskandidaten Auskunft zu erteilen. «Das heißt,» berichtigte sich der Herr Direktor mit einem feinen Lächeln, das den Antragstellern galt, «das heißt, Armehuskandidat, wenn me der vox populi wetti lose, hehe.»

Der Pfarrer spitzte die Ohren.

«Es handlet sech ume Herr candidatus theologiae Hans Bälliz, bekannt underem Name Düß», fuhr der Direktor fort. «Dir heit ne-n-als Stellverträtter bruucht, Herr Pfarrer.»

Matthias wollte eine Begründung vorbringen, aber der Regierungsrat winkte ab, es bedürfe dessen nicht. Aufrichtiges Bedauern im Ton, teilte er dem Pfarrer mit: «Für nes Yschryte vo üser Syte fählen einschtwylen alli gsetzleche Vorussetzunge; aber was nid isch, chönnti schließlech no wärde. Mr hei’s da mit mene hochbegabte Möntsch, me möchti säge mit mene Genie z’tüe, wo sech es Pläsir drus macht, sech um alli Behörden und alli gsetzlechi Ornig z’foutiere. Er möcht’ is alli am Narreseil füehre, und derby isch er eigetlech e glöubige Chrischt, er het es gwüsses Charisma, nume kei Spur vo Disziplin. Settigs cha me sech leischte, wenn me finanziell unabhängig isch, hehe. Aber dä Ma het Schulde, chunt syne Verpflichtunge nid nache. Vo allne Syte wird gchlagt, und us Euer Gmeind, Herr Pfarrer, muetet men is zue, ne ineren Anstalt z’versorge, für ne-n-unschädlech z’mache.»

Matthias, der von diesen Dingen noch nichts gewußt, saß da, wie aus den Wolken gefallen. Er bat den Kirchendirektor, doch ja nicht einzuschreiten, bevor er mit seinem Studienkameraden noch ein ernstes Wort gesprochen hätte.

«Grad das han i erhoffet,» sagte der Direktor, «drum han ig Ech wellen orientiere. Wie gseit, hütt hei mir no kei Grundlag zu amtleche Schritte; aber es chönnti, wenn er sech nid eines Bessere bsinnt, no derzue cho, daß me ne mueß internieren und zwar de i ne-n-Arbeitsanstalt. Säget ihm das nume.»

Matthias dankte für das Wohlwollen, mit dem der Fall behandelt wurde. Seiner Frau, die bei Verwandten auf ihn wartete, erklärte er, daß die Abreise verschoben werden müsse, bis er Düß gesehen. Unverweilt machte er sich auf die Suche und hatte das Glück, ihn auf seiner Bude zu finden, die ihm diesmal einen ärmlichen und ungemütlichen Eindruck machte. Düß hatte in den Kleidern auf dem zerwühlten Bett gelegen, die lange Pfeife rauchend und lesend. Bei Matthias Eintreten sprang er auf. Mit arg zerzaustem Haupthaar und ohne Schuhe stand er da, hoch aufgerichtet, und deklamierte zum Gruß: «Und er genas, denn nicht war sterbliches Los ihm beschieden.» Dann schob er Matthias auf das Sofa und fragte teilnehmend nach seinem Befinden. Matthias berichtete, daß er auf der Reise in den Süden begriffen sei, zuvor aber noch einmal Düß habe danken wollen für seine Hilfe in der Not.

«Hör uf!» unterbrach ihn Düß, während er Schuhe anzog.

«Und de,» fuhr Matthias, mehrmals von seinem Kommilitonen unterbrochen, fort, «und de han i no öppis ufem Härz, Düß.»

«Cha mr scho dänke was», antwortete dieser. «Aber da bruuchsch dr nid la graui Haar z’wachse. — I weiß ja alles. Aber los jitz! Troutisch du mir zue, daß i mi ließ la bruuche, für di wägz’spränge vo Flüehbrunne? Öppe doch wills Gott nid — oder?»

Als Matthias ihn verblüfft anstaunte, fuhr er fort: «Gäll nid, i gseh drs a. Du weisch am Änd no gar nüt. Umso besser. So sägen i o nüt. Warum sött i dir das z’leid tue!»

«I meine ganz öppis anders, Düß. I möcht als guete Fründ... i cha eifach nid verreise oder i heig dir das no gseit. Me cha schließlech nie wüsse, ob me sech umegseht.»

«Du wirsch doch nid, chuum dem Hades ertrunne...»

«Los jitz! La mi rede. I wills churz mache. Du wirsch mir zuegä, daß e Läbtig, wie du se füehrsch, di nie wird glücklech mache. Es isch dyr Muetter ihre Wunsch gsi... la mi jitz rede... dyr Muetter ihre Wunsch, daß du Pfarrer wärdisch.»

Düß ließ sich auf sein Bett fallen, wandte sich ab und wühlte in seinem Haarschopf, während Matthias, immer fester und dringender redend, fortfuhr: «Me het Opfer bracht für di. Alles isch guet gange, bis du auf eismal öppis i di gfahren isch. — I weiß o gar nid und wott nid wüsse, was du agstellt hesch, daß d’ nie zum Staatsexame cho bisch. Nume das weiß i, daß es no jitz nid z’spät wär, ds Trom wieder ufz’näh und fertig z’mache. Ds Züüg hättisch derzue. Es steckt öppis i dir, wo Wunder chönnti würke. Dä Wahrheitsdrang und dy Härzeswermi! Du hesch Erkenntnis. Es isch eigetlech nüt als der Muet zum Dürebräche, wo dir fählt. Und jitz los — für das bin i zue dr cho — i cha mr dänke, daß es dir schwär wird, umen az’fah; aber i will dir Wäg mache. I will mit de Profässore rede. My Frou wott dr ds Gäld vorstrecke. Mr wei für alles ufcho. I will di dürebätte, Düß. Es bruucht nüt als e neuen Alouf, es Bitzeli Etschluß. — Lue, mir beidi, ds Aenneli und i, mir verdanke dir z’viel, als daß mr chönnte zueluege, wie du... wie du... darf i drs nid säge? — versimplisch.»

Düß fuhr herum, schoß auf und sagte unwirsch: «Hör uf! — Du weisch ja nüt. Du weisch nid, was im Wäg steit, was gangen isch. — Darf eine, wo nes Meitschi i ds Unglück bracht het, i ds Pfarramt?»

Matthias schwieg. Es blieb lange stille zwischen den beiden. Dann hob Matthias wieder an: «Freude ist im Himmel über einen Sünder, der Buße tut. Und ob deine Sünde gleich blutrot wäre, soll sie doch schneeweiß werden. Düß, es git e Gnad.»

«Ja, es git e Gnad, Matthias, aber z’erscht mueß me loscho — welle loscho. — Ha...» Er lachte, sich selber verhöhnend, auf. «I wieder afah studiere... i, der Düß...! No meh Schuld uf mi lade! — M’m. Ne schöne subere Chanzelrock über soviel Dräck hänke. — Nei, Matthias, dir meinets guet mit mr, du und dy Frou. Aber da isch nüt meh z’welle. I ha’s verpasset. I bi grad no guet zu mene Bänkelsänger und akademische Vagant. D’Lüt z’amüsieren isch mys Ministerium. Dankheiget und bhüet ech Gott.»

«Nei,» protestierte Matthias, «das isch nid wahr, das isch nid dy Bruef. Das söttisch du no ärmere Möntschen überla. — Versprich mr, daß du di no einisch bsinnsch!»

«I verspriche dir, daß i dene Flüehbrunnener klar Wasser yschänke. Vo da nache hesch nüt z’förchte. Zum drittemal sölle si mi nümme für ne Pfarrer näh, i bi dr guet derfür.»

«Düß, gäll!»

«Gang du jitz! Plag di nid um mi, Matthee! Sorg derfür, daß si z’Flüehbrunne bald wieder e gsunde Pfarrer hei.»

Dabei blieb es. Matthias Brändli vermochte nichts mehr zu erreichen und reiste mit dem Vorsatz ab, sein Glück noch in Briefen zu versuchen.

*   *   *

Ein ungewöhnlich schwüler Tag hatte nach Feierabend wieder gar manchen Gast in den «Bären» zu Flüehbrunnen getrieben. Mit der Ernte hatte man noch nicht begonnen, und darum waren auch Bauern dabei. Da saß nun wieder einmal, in der gleichen Ecke wie damals, der rätselhafte schwarze Mann, den man des schwarzen Rockes wegen für einen Pfarrer gehalten. Jetzt wußte man’s, daß es ein Pfarrer sei, denn zwei oder drei von denen, die hier ihren Durst löschten, hatten ihn vor einigen Wochen auf der Kanzel gesehen und gehört. Ja, ja, so war es. Und die Kellnerin und Liseli kannten ihn, und er hatte sich ja damals nicht dagegen gewehrt, daß sie ihn «Herr Pfarrer» nannten.

Aber wunderlich kam’s ihnen doch vor, daß er abermals die verstaubte Gitarre heruntergeholt und gestimmt hatte, dem Rötele-Miggel seine. «Doch kurlig, so für ne Pfarrer, he?» brümmelte jemand. Und ein anderer raunte in seinen Bierschaum hinein: «Es isch am Änd doch keine.» Item, man blieb sitzen, blickte dann und wann scheu in jene Ecke und lauschte. Stimme hatte der Mann — das mußte man ihm laßen — und was für eine! Aber was er heute sang, das schickte sich doch schlecht für einen geistlichen Herrn. Nichts, aber auch rein nichts als Lumpenliedlein. «Wie länger, je verflüechter», meinte einer.

Düß entging dieses Mißfallen nicht. Er merkte verschiedenen Gästen an, daß ihnen nicht recht wohl war dabei. Just desto schlimmer trieb er’s. Das Gemeindevolk mußte zur Einsicht kommen, daß er nicht zum Pfarrer tauge, dann würden die angesponnenen Intrigen ganz von selber aufhören. Und der Gegensatz zwischen den beiden Theologen würde dem Ansehen des braven und treuen Matthias Brändli zugute kommen.

Düß war im besten Zug, als eine hagere Gestalt, welche die Spuren des Schnapses im Gesichte trug, sich durch die Türe hereinschob und an einen Tisch drückte. Der Neuangekommene heftete böse Blicke auf den Sänger. Ein unheimliches Feuer flackerte in seinen wüsten Augen. Trotzdem entging ihm nicht, daß an einem andern Tisch eine Uniform mit grünem Kragen saß und daß jemand den Landjäger auf seine Anwesenheit aufmerksam machte. Kaum hatte das der ärmliche Gast bemerkt, leerte er mit einem Schluck sein Schnapsgläschen und verschwand, wie er gekommen.

Der Landjäger erhob sich, trat in den Gang hinaus, blickte links, blickte rechts und fragte endlich den Stallknecht: «Hesch Rötele-Miggu nüt gseh?»

«Ä’ä. Warum? — Vori isch eine dert hinger use, aber i ha ne nid bchennt.»

Der Landjäger ging zur Hintertüre, guckte hinaus und schlich dann unauffällig um das Haus herum. Er ging dicht an der Stalltüre vorbei, hinter welcher der Gesuchte mit dem Spürsinn des oft Verfolgten lauerte.

Es ging gegen Mitternacht, und ein schwarzer Gewitterhimmel hing regungslos über dem Dorfe, als Düß das Wirtshaus verließ und den Weg gegen das Tal einschlug. Unweit der Kehre, wo der Fußweg abzweigt und linker Hand zwischen der Straße und dem dichten Tannenwald ein Bächlein in tiefem Graben murmelte, vernahm der einsame Wanderer Schritte hinter sich. Es war fast nicht möglich, anderswo als auf dem helleren Band der Straße einen Menschen zu unterscheiden. Aber da kam einer in eigentümlich unregelmäßigem, sich beschleunigendem Schritt. Noch war Düß unschlüssig, ob er den Mann sollte vorangehen laßen, als dieser, mit dem Arm ausholend, dicht an ihn heransprang und ein häßliches Schimpfwort hervorkeuchte. Zugleich fühlte Düß einen furchtbaren Schlag in den Nacken und rasch darauf einen zweiten in den Hals. Er fühlte, wie ihm das Blut über die abwehrende Hand spritzte, und fiel, durch den Schreck gelähmt, kopfüber in die Karrgeleise der Straße. Er hörte den Mann, der sich offenbar noch überzeugen wollte, ob er gut getroffen, mit wutknirschender Stimme sagen: «Gäll, du hesch gmeint, si heige mi scho u du chönnisch jitz mit myr Gitarre ga Gäld mache.» Ein Fußtritt folgte, in dem der ganze unbewußte Haß des mühselig Ringenden gegen das alle Schranken verachtende Genie sich kundtat.

Düß merkte, daß er schwer getroffen war, und erkannte sogleich die Unerreichbarkeit jeder Hilfe. Ein Versuch aufzustehen ließ ihn spüren, daß seine Kraft versagte und die Sinne ihm zu schwinden drohten. Da schoß ihm allerlei durch den Kopf. Es ist aus, dachte er. Und in einer blitzartigen Erinnerung an das Gespräch mit Matthias wollte er seinem Mörder vergeben, wollte ihm sagen: «du bist in deinem Recht. Ich verstehe dich ja. Du bist der noch ärmere Mensch! Du bist’s. Aber ich hab es ja nicht so gemeint. Ich wollte dir nichts stehlen. O du Unglücklicher, daß du an mir zum Mörder werden mußtest, du armer Betörter! — Herr — Herr — Gott, vergib ihm! Er wußte ja nicht...»

So schoß es Düß durch die schwindenden Sinne. Aber das aus der Stichwunde in der Kehle sprudelnde Blut verhinderte ihn, deutliche Worte auszusprechen.

Während dergestalt das gute Herz des unglücklichen Düß sich mühte, dem Feinde zu vergeben, überwältigte die jähe Erkenntnis der furchtbaren Tat und das aufflammende Schuldbewußtsein den Mörder derart, daß er, um nichts zu hören, einen großen Stein am Wegrand losklaubte und seinem Opfer mehrmals auf den röchelnden Leib warf. Er hörte auch gar nichts, als die grausigen Geräusche seines Tuns.

Aber Gott hatte die Stimme des Herzens vernommen, das im Vergeben gebrochen war.

Eine Weile stand der noch Aermere still, mitten auf der Straße, lauschte, ob menschliche Schritte naheten. Es blieb still, totenstill, bis auf einmal ein gewaltig heulender Windstoß über die Wipfel der Tannen daherfuhr. Im zweiten Windstoß rannte der Mörder fort, ohne zu wissen wohin, ohne die schweren Regentropfen zu fühlen, ohne den Wetterschein zu sehen, der ihm zur Flucht leuchtete.

Als am andern Morgen zwei Säge-Arbeiter im strömenden Regen von der Station heraufkamen, sahen sie im Frühschein einen dunkel gekleideten Mann auf der Straße liegen, naß wie aus dem Wasser gezogen. Jetzt erst bemerkten sie, daß ein Karrgeleise durch den ganzen Bogen der Straßenkehre hinunter von Blut gerötet war. Voller Grausen blieben sie stehen, und es währte eine ganze Weile, bis sie sich herangetrauten und sich überzeugten, ob der Verunglückte tot sei. Dann liefen sie ins Dorf hinauf, zum Landjäger. Mit Windeseile verbreitete sich die Schreckenskunde. Eine lähmende Stille legte sich auf die ganze Gemeinde.

Pfarrer Brändli kehrte sofort zurück, seinem unglücklichen Freunde die Gedächtnisrede zu halten. Als die Leute, deren gar viele aus Neugier gekommen waren, auseinandergingen, sagten sie zu einander, sie hätten nicht geglaubt, daß von solch einem Menschen noch so viel Gutes zu sagen wäre und dazu durch den Mund des Pfarrers — dieses Pfarrers, wollten sie eigentlich sagen, den man mit Hilfe des nun hier Begrabenen aus der Gemeinde zu vertreiben gedacht hatte. Sie behielten es aber für sich und sagten nie mehr etwas gegen den Pfarrer. Aus der Grabrede nahmen sie die Ermahnung mit heim, auch der Unglücklichste sollte nie vergessen, daß es einen noch Unglücklicheren gäbe, und daß der Verschupfteste am wenigsten dem Uebel zu widerstehen vermöge.

 



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