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II.

Vor vierzehn Tagen noch hatte der erst vor kurzem nach Flüehbrunnen versetzte Landjäger dem Regierungsstatthalter beim Rapport die Erwägung nahegelegt, ob nicht zum Schutze der Ordnung eine Kompagnie Infanterie in erreichbare Nähe herangezogen werden sollte. Der Statthalter hatte den jungen Landjäger freundlich angeblinzelt, ohne sich in seinen Geschäften stören zu lassen. Er kannte die Flüehbrunnener und die Berner Bauern überhaupt.

Heute, das heißt zehn Tage nach der Wahlschlacht, zeigte die Spätsommersonne dem Pfarrer Matthias Brändli im Rahmen des offenen Fensters seiner Studierstube einen gar freundlichen Ausschnitt aus seinem Gemeindegebiet. Er war belebt durch die weidende Herde des Kalten Färrich, deren Geläute beinahe noch überzeugender als der Sonntagschoral der Kirchenglocken tiefen Frieden verkündigte. Es mischte sich mit dem Rauschen des Mühlbaches. Vor dem «Bären» drunten am Dorfplatz streute Frau Liseli den Hühnern. Verstummt und vergessen hing in der Gaststube die Gitarre des verschollenen Rötele-Miggels. Im Kramladen wog Vater Müller Paketlein. Unterhalb des Dorfes, in der grünen Mulde, zischten die Kreissägen und Vollgatter des Meisters Dolder, der mit einem gelben Meterstab zwischen seinen Bretterbeigen herumhantierte, während seine Tochter bei offenem Fenster an der Nähmaschine saß.

Daß Aenneli Dolder am offenen Fenster arbeitete, verstand sich bei solchem Wetter von selbst. Von der Straße guckte kaum jemand zu ihr hinauf. Man war so daran gewöhnt, den schönen Kopf da droben im Fensterrahmen über die Arbeit gebeugt zu sehen, daß längst kein Vorübergehender mehr darauf achtete. Es schien, als schaute die Sägerstochter überhaupt nie von der Arbeit auf. Und doch entging ihr nichts. Sie, die ihrer Lebtage nie im Pfarrhaus gewesen, wußte dessen Einteilung ganz genau. Die beiden Fenster im ersten Stock zu äußerst links waren des Pfarrers Schlafzimmer, denn dort hing frühmorgens Bettzeug über die Simsen. Die beiden Fenster daneben und das eine auf der Ostseite kennzeichneten die Studierstube, denn sie zeigten in späten Abendstunden ein gedämpftes grünes Licht, das ihnen den Ausdruck sinnender Augen verlieh. Darunter mußte das Sääli sein, denn von dort hörte man zuweilen Klavierspiel. Unter der Schlafstube war ohne Zweifel das Eßzimmer, wurde doch dort alltäglich nach der Essenszeit ein weißes Tuch mit roten Streifen unterm Fenster ausgeschüttelt.

Nun, das alles konnte schließlich jeder erraten, der etwa gelegentlich nach dem Pfarrhaus hinaufblickte. Aber Aenneli Dolder wußte noch viel mehr. Sie wußte zum Beispiel, daß in der Studierstube, vorn, an einem Fenster, ein trostlos nüchternes Stehpult aus Tannenholz stand, in der Mitte des Zimmers ein Tisch, an der Hinterwand ein Sofa mit einem großen Kupferstich in schwarzem Rahmen darüber, daneben und an der Wand neben dem Stehpult schlichte tannene Bücherregale, sie wußte, daß alle diese Möbel, die aus dem Pfrundkauf stammten und — wer weiß? — seit der Reformation dort gestanden hatten, mit Papier vollgestopft und überladen waren. Auf dem Sofa fand neben den aufgeschichteten Schmökern noch ein schmalhüftiger Mensch Raum zum Sitzen. Der Papierkorb enthielt ganz sicher zu unterst noch Briefumschläge mit Basler Täubchen und andern philatelistischen Raritäten. Die Spuren der Staubschicht, die alles bedeckte, trug der Pfarrer an seinen Rockärmeln in der ganzen Gemeinde herum. Wo ungefähr die Möbel stunden, ließen die vorhanglosen, meist offenen Fenster erraten. Aber daß die Aschenbecher von ihrer Fülle ganze Wälmlein auf die fadenscheinige Tischdecke abgaben, wie konnte man das sehen? Und daß die Zündholzsteine leer standen? Und das von den Briefmarken? Und das von den windschiefen Bücherhaufen auf dem Ruhbett? — Das alles sah man nicht von der Dorfstratze, die ja tief unten vorbeilief. Das sah nur ein... nein, nicht ein Auge, sondern ein Herz. O, es gibt Herzen, die Dinge sehen, welche keine noch so klare Linse zutage bringt. Eine Linse kann letzten Endes nur Dinge sichtbar machen, die vorhanden sind, das Herz hingegen sieht, was es sehen möchte, sei es möglich oder unmöglich, und es hat schon oft, wenn auch nicht Stein und Holz, so doch Kräfte ins Leben gerufen, an die zuvor niemand glaubte. So kam es, daß Aenneli Dolder zugleich an zwei Orten arbeitete. Seine Füße traten die Nähmaschine, seine geschickten Finger schoben die blanke Leinwand unter die hastende Nadel, und genau zur gleichen Zeit leerte es Aschenbecher, wischte es Staub aus Falten und Ritzen, setzte es zierliche Vorhänge, wie man Segel setzt an den Mastbaum, damit ein froher Wind dem Schifflein Fahrt gebe. Und wenn es so im Pfarrhaus herumwischte und ins Singen geriet, geschah es immer im Gefühl, es müsse ihm dabei ein lebend Wesen über die Schultern gucken und danken. Aber sobald es sich nach diesem Wesen umschauen wollte, um Dank und Liebe aus hellen Augen zu lesen, kam etwas zwischen Aenneli und jenes Wesen, so daß plötzlich die Sehkraft des Herzens versagte. Eine demütige, fromme Scheu wob dichte Schleier über die eben noch so deutlichen Bilder, und eine Stimme rief aus unergründlicher Tiefe: «Ich bin seiner nicht wert.» Dann blieb auf einmal die Nähmaschine stehen, und eine bange Stille trat ein, bis von drunten das Rauschen des Baches und das Rasseln der Sägen mahnten, daß der Strom der Zeit nicht leer laufen dürfe. Und aus dem emsigen Rauschen klang wieder etwas gar wundersam auf, wie ein heiß aufquellendes Lied ohne Worte und doch so voll süßen Sinnes, so voll ewigen Klanges: «Und ob ich deiner nimmermehr wert bin, so schreiet doch mein Herz nach dir, und ich glaube an deine Liebe, denn deine Liebe sucht und findet und adelt das Unwürdige.»

Um den Giebel der Sägemühle flatterte eine Elster. Die höhnte vom nächsten Baumwipfel herunter: «Törin du, an Wunder zu glauben!» Wenn Aenneli diese Stimme hörte, war’s aus mit allem. Das Morgenrot ihrer Träume erlosch; aber auch die Nähmaschine stand still. Alle Arbeit hatte keinen Sinn mehr. Da half nichts mehr als Weglaufen, gleichviel, wohin. Erst wenn irgendwo in der Einsamkeit das Herz wieder nach Wundern verlangte, kam neuer Fleiß in die Hände.

Und der junge Pfarrer? Sah er nicht, was in seinem Hause fehlte? O, er sah alles, alles, den Staub und die Asche und das Papier und die Flecken und die fehlenden Vorhänge. Dann und wann legte er Hand an, um selber Ordnung zu schaffen; aber er ward gar schnell lahm dabei. Etwas in ihm sagte: «Tu’s nicht, es ist eines andern Sache.» Aber die Magd, die ihm den Haushalt besorgte, litt Matthias nicht in der Studierstube. Fertig! Sanktuarium! Da kommt kein anderes weibliches Wesen herein. — Kein anderes? Dem andern müßte aber doch ein «eines» gegenüberstehen. — O ja, es stand. Und über das eine konnte kaum ein Zweifel herrschen. Die Vorhänge fehlten nicht umsonst an den Fenstern. Wenn der Pfarrer über sein Dorf hinwegblickte, sah er doch das Fenster am Giebel der Sägemühle und was in diesem Fensterrahmen lebte. Das war doch jenes holdselige Wesen, das ihn an der Gemeindegrenze empfangen hatte. Das waren die wundervollen Augen, von denen Düß gesprochen, die famose Pfarrfrau — ohne Zweifel! Aber, die hic haeret aqua. Wie oft nun schon hatte Matthias Brändli das in stillen Stunden ausgesprochen! Es wäre alles schön und recht. Hier würde sich ein Weg zur Gemeinde öffnen. Und wenn Matthias es mit der Ehrlichkeit genau nahm, so mußte er sich eingestehen, daß von der ersten Begegnung an sein Herz für Aenneli Dolder etwas mehr übrig hatte als für jedes andere Schäflein seiner Herde. Es wäre gar nicht erst notwendig, daß die wundervollen Augen allsonntäglich so glaubensvoll nach der Kanzel heraufblickten. Alles wahr, alles recht! — Aber ebenso wahr blieb, daß von der ersten Begegnung an in Matthias Brändlis Seele ein Kampf eingesetzt hatte, in dem er nun Tag und Nacht stand. Wie oft schon hatte er beim Entwerfen der Predigt die Feder hingelegt, mit beiden Händen unwillkürlich an die Kanten des Pultes gegriffen und geknirscht: ich will, ich will, ich will jetzt nicht sie ins Auge fassen, wenn ich der Gemeinde das Brot rüste. — Aber warum denn nicht einmal dieser Not ein Ende machen? Warum nicht Aenneli Dolder, das schöne, feine Wesen, zur Pfarrfrau machen? — Weil, so warnte es immer wieder in des wackern Mannes und Priesters Herzen, Düß es war, der diese lockende Erscheinung aus dem Dunkel der Zukunft hervorgerufen. War er ermächtigt gewesen, sie vor den Schleier treten zu lassen? Hatte Gott durch diesen unklaren Menschen gesprochen oder — der Satan? Düß hatte heilige Worte in seinen unheiligen Mund genommen, um ihn auf diese Kanzel zu rufen. Hatte er Vollmacht? — Matthias hatte damals die Frage seinen Vertrautesten vorgelegt. Und sie halten gesagt: «Warum sollte Gott nicht einmal durch einen Toren reden? Gehe du hin und leihe Gott deinen Mund!» — So hatten sie geantwortet. Aber konnte das nicht auch törichter Menschenrat sein, angemaßte Wegleitung? Aus dieser qualvollen Ueberlegung, die Tag und Nacht nicht von seiner Seele wich, gab es nur einen Ausweg: ringen, ringen um das Heil der Gemeinde, bis man sich sagen durfte: ich habe alles getan und mein Letztes gegeben. Aber schon in diesem Entschluß dämmerte die Einsicht: ich werde nie — nie alles getan, nie mein Letztes gegeben haben, denn unerschöpflich quillt der Born der ewigen Liebe in einem aufrichtigen Herzen. Ich bin’s ja gar nicht selber, der da schafft und gibt, sondern Christus lebet in mir. Und wo man diese Quelle rieseln hört, hat alles andere zu schweigen. Alles muß weggeräumt werden, was diesem Quell in den Weg tritt. Herr, mache mich stumm! Rede du! — O was bin ich, daß du dich dieses elenden Werkzeuges bedientest! Matthias erschauerte ob dem Heiligen, das von ihm Besitz genommen hatte, und sann mehr und mehr nur dem einen nach: wie er dieses Heilige vor der Berührung mit der Welt schirmen und schützen sollte. So lebte in Kirche und Pfarrhaus zu Flüehbrunnen tatsächlich ein Allerheiligstes, von dem aber nur ganz wenige, von ähnlicher Sehnsucht beseelte Menschen etwas merkten. Die große Menge der übrigen Gemeindegenossen sah einstweilen in dem Pfarrer nur einen menschenscheuen, ihr trotz seiner gütigen Art fast unheimlichen Eiferer um das Reich Gottes.

*   *   *

Es war an einem milden Herbstabend. Aenneli trat an ihr Kammerfenster, um, wie gewohnt, noch einen Blick über das schlummernde Dorf zu werfen, ehe sie sich selber zur Ruhe legte. In den Häusern glommen nur spärliche Lichter. Am tiefschwarzen Himmel hingegen flimmerte verschwenderisch das Heer der Sterne. Der letzte Blick des Mädchens galt dem Pfarrhaus, das mit seinen tiefliegenden grünen Augen in die Finsternis hinausschaute. Schon wollte Aenneli die Fensterflügel zuziehen, da griff sie plötzlich mit zitternder Hand nach dem hastig klopfenden Herzen. Ueber die kreuz und quer in der Finsternis liegenden Dachfirsten kam von den grünen Fenstern her ein singender Ton. — Das war doch die Stimme von damals. Ja ja, gerade so hatte er gesungen, nur daß jetzt statt der Gitarre das Klavier begleitende Akkorde gab. Aenneli kam es wie ein Spuk vor. Es war nur eine Stimme zu hören. Immer dieselbe. Sie sang, sie redete laut und scharf, sie lachte so seltsam — kein gutes Lachen. Jetzt verdunkelte eine breite Gestalt das eine Fenster, und auf einmal klang es in die laue Nacht hinaus:

«...wüßt gärn amen Ort es Härz,
wo für ne verschüpfte Möntsch wett’ schla.
Villicht, villicht bisch du’s.»

Es scholl in die tiefe, grenzenlose Finsternis, gegen welche weder die himmelweit ihre vorgezeichnete Bahn laufenden Sterne, noch die wenigen Lichtlein aus menschlichen Wohnungen etwas vermochten. Aenneli hingegen kam es vor, als flögen die Töne von Fenster zu Fenster. Sie löschte ihr Licht und schloß die Läden. Unwillkürlich preßte sie die Hände auf das klopfende Herz. Ihr Ohr konnte keinen Ton mehr vernehmen. Aber ihr Gehör ward weit wie ein Himmelsgewölbe, und durch dieses unermeßliche Gewölbe hallte... nein, es war nicht ein Singen, es war ein Rufen.

Sie legte sich zu Bett und preßte das Kissen um ihr Haupt, daß es in den Ohrmuscheln rauschte; aber durch das Rauschen rief es: «Villicht — villicht bisch du’s.»

Ein wildes Durcheinander von Erinnerung und Ahnung, von Herzensdrang und keuscher Abwehr, von Erbarmen und Grausen, Liebe und Abscheu zerwühlte die ganze Nacht ihre Seele. Fieberhaftes Träumen brachte sie nach und nach in einen Zustand von Ueberreizung, so daß sie jeden Augenblick darauf gefaßt war, eine derbe Mannesfaust an ihre Kammertür pochen zu hören, wo doch draußen der seligste Gottesfriede über dem Lande lag.

Jetzt weiß ich, was ein Dämon ist, sagte sich das Mädchen, als der erste blasse Schein des Morgens durch die Ritzen der Fensterläden drang. Es wurde mit sich eins, heute gar nicht aufzustehen. Krank oder nicht krank. Vor allem verborgen bleiben. Aber was dann? Fliehen? — Wohin? — War er nicht überall und nirgends? Irgendwo, wenn Düß ihr nachstellte, konnte sie ihm gerade in die Arme laufen. Wer sollte sie schützen und beschirmen? Der Vater? — Niemals würde sie es wagen, ihm ein Wort von dieser allerheimlichsten Herzensnot zu verraten. — Seine Antwort wußte sie zum voraus. Ein Lachen, ein kaltes, sicheres, wehtuendes Lachen wär’s. «Babeli», würde er etwa sagen, «mach du dy Sach. Und wenn er cho sötti, so bin i de o no da.» Ja, sie hörte das Lachen schon zum voraus. Also schweigen! Aber schon der Gedanke an die nüchterne Art des Vaters begann Aenneli neuen Halt zu geben. Was sollte sie ihm denn sagen, wenn er fragte, was ihr fehle?

Heller und heller strahlte der Morgen. Es mußte frische Luft herein. Aenneli riß die Läden auf und legte sich wieder hin. Und nun kam Ruhe über sie. Das Dorf schlug seine braven Augen auf. Die Hähne krähten. Man hörte Sensen dengeln, Wagen knarren, Hölzer rollen, und bald begannen im Sägewerk Räder zu surren. Der nüchterne klare Tag war wieder da. Aenneli erhob sich und ging an die Arbeit wie gestern und ehegestern. Nur war sie stiller, lauschender und tat keinen Schritt über die Schwelle der väterlichen Heimstatt.

Anders der Pfarrer. Er lief bis an die Grenzen des Gemeindebannes, durch Wald und Weide, und wußte nicht wohin. Erst auf entfernter Bergeshöhe hielt er Rast, einen Wald hinter sich, der ihm das Dorf verdeckte. Nach den Bergen blickte er, die im leuchtenden Silberglanz aus den Nebelschleiern traten wie die Lösung eines quälenden Rätsels. Welch eine Nacht lag hinter ihm!

Eben war gestern abend Matthias Brändli wieder in die Tiefen der Gottesoffenbarung eingedrungen gewesen und hatte versucht, sich klar zu machen, ob ein protestantischer Christ den gleichen Grad absoluter Hingabe erreichen möchte wie etwa der heilige Franz von Assisi, als ein unerhört dreister Schlag des Haustürklopfers durch den Gang knallte. Sein erster Gedanke war: Düß. Und alsobald füllte die Stimme des unberechenbaren Heimatlosen das stille Pfarrhaus. Mit brutalem Schmettern flog die Türe des Studierzimmers auf, und da stand er in seinem unheimlichen Selbstbewußtsein. «Matthia, steig herunter!» donnerte er in das dämmerige Sanktuarium. — Da ist er wieder mit seinem verwegenen Mißbrauch heiliger Worte, dachte Brändli. Diesmal hingegen kommst du mir nicht bei, Düß! Aber noch ehe der Pfarrer etwas erwidern konnte, fuhr der Unheimliche fort: «Chumm aben us dyne seraphische Gipfelwächte, uf d’Wält abe. Mit üs andere channsch nume rede, wenn d’ mit den Absätz im Härd steisch.»

Noch verhielt der Aerger dem aufgescheuchten Pfarrherrn die Stimme, als Düß schon mit rücksichtslosen Schritten im Zimmer hin- und herlief, um sich dann ungebeten auf das Ruhbett fallen zu lasten, aus dessen Polster ihm alsbald eine Staubwolke in die Nase stieg. «Prrr,» machte er, «jitz weiß i eigetlech scho alles, was i ha welle wüsse, ohni daß es einzigs Wort vo dyne heilige Lippe gfalle wär. — Wenn isch das Ruehbettli zum letschtemal gchlopfet worde?»

Brändli wollte ablenken. «Wo chunsch du här? Hesch z’Nacht gha oder cha me dr öppis ufstelle?»

Düß fuhr fort: «Hättest du meiner Stimme gehorcht, so würde ich Speise von deiner Hand nehmen und das Lob deines tugendsamen Weibes singen. — Aber wenn der glych Tschanggel i dyr Chuchi schaltet, wo hie abstoubet, so gluschtet mi nüt. — Dir isch o nid z’hälfe. — No nidemal versproche, no nid abändlet? — Me sött di strafe, Matthee.»

Mit diesen Worten war Düß seinem Studienkameraden sozusagen an die Gurgel gesprungen. Er stand dicht vor ihm und schlug seine Fänge in die hagern Schultern des Hirten. Diesem war einen Augenblick ungemütlich. Hatte man nicht schon oft erwogen, ob Düß vielleicht ein klein wenig verschroben sei? Wer vermochte zu sagen, wann solches in Tobsucht ausartete? Alsogleich aber kam die Lust des Gottesstreiters über Brändli. Er rang sich los, stieß den Gast sachte zurück, wobei er inne ward, daß dessen Widerstandskraft in keinem Verhältnis stehe zu dem zur Schau getragenen Selbstbewußtsein. Er war ja immer so, sagte sich der Pfarrer mit aufkeimendem Mitleid. Immer sucht er zuerst die Leute aus dem Gleichgewicht zu bringen. Und dann wird er gemütlich. Er erinnerte sich gewisser Abende, da einem in der Gesellschaft des unberechenbaren Kameraden königlich wohl war. Dieses sonderbare Gehaben war ja auch das Geheimnis seines verhängnisvollen Erfolges bei den Frauen. Er erschütterte sie durch seine dämonischen Einfälle, um sie hernach mit verwirrender Liebenswürdigkeit vollends zu entwaffnen.

Unter diesen mit Blitzesschnelle sein Gehirn durchzuckenden Ueberlegungen beschloß der Pfarrer, nun auch seinerseits zu überhören, was sein Gast gesagt. Er ergriff die Lampe und lud Düß ein, ihm zu folgen. «E vernünftigi Gaschtfründschaft stillet z’erscht Hunger und Durscht», sagte er auf den obersten Treppenstufen. Kaum hatte er es gesagt, als Düß mit solcher Vehemenz seinen Arm anpackte, daß der Pfarrer, aus Sorge, die Lampe möchte seiner Hand entfallen, still hielt und mit der freien Linken den klirrenden grünen Porzellanschirm schützte. «Du chochisch sälber?» hatte Düß gesagt. Und Brändli antwortete: «Wo nähm i Zyt här? Du hesch doch my alte Husgeischt gseh, wo-n-er dir d’Türen ufta het.»

Glücklich unten angelangt, schob der Pfarrer seinen Gast in das frostige Sääli, stellte die Lampe auf den Tisch und lief nach der Küche, seiner Magd Weisung zu erteilen. Er hielt es für angezeigt, die Alte auf die Absonderlichkeiten des Fremden vorzubereiten. Noch war er damit nicht zu Ende gekommen, als vom Sääli her Klavierspiel und Gesang erscholl. Nun gut, dachte Brändli. Beinah wäre er der Versuchung erlegen, den Sänger sich selbst zu überlassen, in die Studierstube hinaufzufliehen und den Faden seiner unterbrochenen Meditation wieder aufzunehmen. Das wagte er nun doch nicht. Aber vom Zuge seines Herzens ergriffen, nahm er ein Kerzenlicht und stieg damit in sein wieder still gewordenes Heiligtum hinauf. Sachte stellte er das Licht auf den Tisch, ließ sich auf die Knie nieder an der Stelle, wo er täglich, auf einen Stuhl gestützt, Zwiesprache zu halten pflegte mit Gott. «Hilf mir schweigen, hilf mir überlegen und reden und stelle dich zwischen uns!» flehte er aus tiefster Seele. Dann schwieg er lauschend, als ob er auf eine Antwort wartete. Und in diese Stille drang von unten herauf ein Studentenlied. Ach, wie oft hatten sie’s zusammen gesungen und sich nichts dabei gedacht! Und jetzt drang daraus ein ungebändigtes Heimweh nach dem Morgenrot einer schönen Jugend und das unruhvolle Sehnen nach Ruhe und Frieden, das Rufen nach einem verstehenden Herzen.

Ich will ihn nicht länger den Qualen seiner Vereinsamung preisgeben, sagte sich Brändli. Er stand auf und begab sich in das Sääli hinunter. Bei seinem Eintreten verstummte Düß. Er blickte eine Weile stumm auf die Tasten. Dann wandte er sich, ohne aufzustehen, gegen den Pfarrer und sagte: «Du, han i dir nit gseit: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei?»

Brändli schwieg. Er dachte: kommst du mir nun wieder mit dem? Was weißt du von meinem verborgenen Verhältnis zu Gott? Was geht es dich an, wenn ich mich zum Opfer geben und allein bleiben will, um ein wahrer Priester zu sein? Du bist nicht der Bote Gottes. — Und, als ob er sich gegen störende, irreführende Reden schützen wollte, drückte er die Handflächen gegen die Ohren. Da sprang Düß auf, zog ihm die Arme herunter und fuhr eindringlich fort: «Hie isch es Härz, wo na mene Gspane rüeft und dertänen isch eis, wo na mene Gspane rüeft. Si ghöre zsämen und chönnte, eis im andere, ds Gröschte tue — und du wottsch nid.»

«Wohär wettisch du wüsse, daß dertänen es Härz na mir begährt?»

«I weiß es.»

«Und wenn i nüt dervo wott?»

Jetzt trat Düß einen Schritt zurück, warf einen bohrenden Blick auf seinen Kameraden und rief hart und entschlossen: «So wott i se.» Damit schritt er zum Fenster, riß es auf, blickte über das schlummernde Dorf hin und hub an zu singen. Es klang herzandringend, brünstig und voll begehrlicher Gewalt, so daß der Pfarrer seinen Gast vom Fenster wegzog und dieses schloß.

Dann ward eine Totenstille. Plötzlich riß sich Düß zusammen, drückte dem Pfarrer die Hand und eilte wie im Sturmwind davon, in die Nacht hinaus. —

Wieder und wieder ließ jetzt Matthias Brändli die Erlebnisse von gestern abend durch sein Besinnen gleiten. Und immer blieb er bei dem Worte stecken: «So wott i se.» Wie ein Messerstich, den man in der Hitze des Kampfes nicht fühlt, der aber beim ersten Verschnaufen zu brennen beginnt und bei jedem Atemstoß das heiße Blut aus der kleinen Wunde quellen läßt, hatte ihn der trotzige Ruf des Freundes getroffen. Es war ihm geradezu, als müßte er mit der Hand irgendwo an seiner Brust solche Wunde zudrücken.

«So wott i se.» — Ja, wahrhaftig, er war imstande, dieser Düß, Aenneli Dolder in seine Gewalt zu bringen, ohne Ueberlegung, was er, der stellen- und nun wohl auch bald mittellose Mensch, hernach mit einer Frau beginnen solle. Eine Familie gründen, nur so aus einem Liebeswahn, und sie nach kurzem Rausch dem Elende preisgeben. So trieben’s solche Leute. Und daß es dem dämonischen Wesen des Düß gelingen würde, sie zu betören, daran war nicht zu zweifeln. — Brändli blickte rings um sich und in den Wald hinein, als wollte er sich überzeugen, ob der Unheimliche nicht irgendwo zwischen den von der Morgensonne scharf auf den rötlichen Boden gezeichneten Schätten herumgeistere. Dann fiel ihm plötzlich wieder ein, daß Düß schon damals in Bern, als er ihn aufforderte, sich um die Gemeinde zu bewerben, eine erste Anspielung auf das Mädchen gemacht hatte. Sinn und Bedeutung hatte die Anspielung freilich erst in dem Augenblick erlangt, als Matthias zu Aenneli Dolder auf den Wagen gestiegen war. Wäre es nicht Düß gewesen, der ihn zuerst auf das Mädchen hingewiesen, wer weiß, er hätte sich längst an sie herangemacht. Daß Aenneli ihm zuliebe in die Kirche kam und überhaupt mit der Pflege ihres Seelenlebens ernst machte, das lag klar zutage. Wenn überhaupt Matthias je eine Lebensgefährtin aus Flüehbrunnen heimführen sollte, dann konnte keine andere in Betracht fallen als Aenneli. — Aber einstweilen, das hatte er sich fest vorgenommen, sollte die Gemeinde seine Braut sein. Und ehe er die Gemeinde aus ihrer entsetzlichen Lethargie wachgerufen, wollte Matthias Brändli auch nicht den kleinsten Teil seiner Geisteskräfte an irgendetwas anderes verschwenden. Wenn es sein sollte, daß sie als Mann und Weib sich fänden, dann würde der liebe Gott schon dafür sorgen, daß ihre Wege sich kreuzten, und zwar so, daß es ohne Schaden für die Gemeinde geschähe. Düß sollte ihm in seiner angemaßten Prophetenrolle hinfür nicht mehr Eindruck machen als der Teufel in der Gestalt eines Geißbocks.

Mit diesem Entschluß erhob sich Matthias Brändli von seinem Baumstrunk, um ins Pfarrhaus zurückzukehren. Aus seinem stürmischen Gang war jetzt ein gelassenes, zielbewußtes Wandern geworden. Ab und zu freilich brachte ihn die Frage zum Stillstehen: was aber, wenn Düß wirklich Aenneli nachstellen sollte? Dieser Frage folgte jedesmal eine ängstliche Ungeduld, die Matthias mit dem Vorsatz niederkämpfte, das Schicksal Aennelis in zuversichtlichem Vertrauen Gott anheimzustellen. Dieser Vorsatz wurde durch die Innigkeit, mit der ihn der Pfarrer faßte, zum Gebet. Das war ihm bewußt, und es wurde ihm darüber klar, wie es der Apostel wohl meinte, wenn er verlangt, man solle ohne Unterlaß beten. Ward nicht sein Gang zum priesterlichen Gebet, während er dem Dorf entgegenschritt, das in lieblicher Talmulde zu seinen Füßen lag? Frohen Mutes und voll heiliger Gedanken durchschritt er das heimelige Häusergewirr. Links und rechts erwiderte er freundlich die Grüße seiner Pfarrkinder. Rüstigen Schrittes wandte er sich dem Hohlwege zu, der hügelan zum Pfarrhof und darüber hinaus führte. Kaum hatte er in den Hohlweg eingelenkt, als er eine schlanke Frauengestalt vor sich her hinansteigen sah. — Aenneli. Ein süßer Schreck befiel ihn. Langsamer gehen, um sie nicht überholen zu müssen? — Das wäre doch wohl erst recht aufgefallen. Also möglichst unbefangen an ihre Seite!

«Grüeßech, Aenneli!» — Das ganze Dorf nannte die Jungfer Dolder beim Vornamen, und sie hätte es übel empfunden, wenn der Gemeinde-Hirte es anders gehalten hätte.

«Grüeßech wohl, Herr Pfarrer.»

Zwei Herzen klopften in Verwirrung, zwei Menschen waren übernommen von einem Zusammentreffen, das ihnen so gar nicht zufällig erscheinen wollte. Warum leitete sie ein gütiges Geschick in der gleichen Richtung in einen steilen Hohlweg?

Beide fingen gleichzeitig vom Wetter an, und erst, als sie sich dem Pfarrhofe näherten, kam dann die Erklärung Aennelis, wohin sie unterwegs sei. Ihr Vater habe droben, etwa eine Viertelstunde über dem Kirchhügel, ein Stück Wald gekauft und arbeite dort. Sie habe da Briefe für ihn.

«So so,» forschte der Pfarrer, «da wird der Wald dänk o grad gschlage? Der Vatter Dolder chouft e Wald nid zum Spaziere drin.»

«Es wird scho so sy, Herr Pfarrer.»

«Da überchumen i de im Pfarrhus der Bysluft z’gspüre.»

«Das isch no nid gseit, Herr Pfarrer. Wenn Dr es paar Schritt wyter chömet, so gseht Drs.»

Und sie gingen die paar Schritte selbander und ahnten bald, daß es die ersten sein würden auf dem gemeinsamen Lebensweg, denn ihre Herzen drängten gegeneinander und machten sich Augen und Zungen zu willfährigen Trabanten.

Wie in einer Wolke standen sie auf dem Bergvorsprung, von dem man zugleich den gekauften Wald und das Dorf sah. Das bedeutete jedoch den beiden jungen Menschen in diesem Augenblick nichts mehr. Was sie beide beherrschte und tief beglückte, war das Gefühl, Schutz gewonnen zu haben vor — Düß. Keines sagte ein Wort davon, denn noch wußte keines von der inneren Bedrängnis des andern. Die Glückseligkeit des Augenblicks hätte nun wohl mit einem ersten Kuß besiegelt werden dürfen. Aenneli wartete darauf, wurde rot und kriegte heftiges Herzklopfen. Sie dachte nicht daran, daß ein Pfarrer nicht auf solcher Aussichtswarte mitten in seiner Gemeinde Zärtlichkeitsbeweise geben darf. Immerhin nahm er mit einem ungewöhnlich kräftigen Händedruck Abschied von ihr, so daß sie ihren Weg in einer gar seltsamen Aufregung fortsetzte. Nicht geringer war die Verwirrung in des Pfarrers Seele. So lange er unter dem freien blauen Himmel dahinschritt, umflutete ihn die Wonne des eben Erlebten. Aber schon zwischen den Buchshecken des Pfarrgärtleins und dann vollends aus der Haustüre schlug ihm die ganze heilige Stimmung wieder entgegen, die er daselbst in ständigem Verkehr mit Gott geschaffen hatte, und in der allein das Werk reifen konnte, zu dem er den Grund schon gelegt. Da wollte keine Bindung zustandekommen. Die beiden Atmosphären wollten nicht ineinander aufgehen, und im Herzen des wackern Matthias erhob sich ein qualvoller Kampf. Von Stube zu Stube, vom Schreibtisch zum Klavier, vom Klavier zum Fenster trieb es ihn. Etwas Unfaßbares hielt ihn fern vom Allerheiligsten, von dem Plätzlein, wo er sonst des hohenpriesterlichen Amtes zu walten pflegte. Und doch wußte er ganz bestimmt, dort mußte die Entscheidung fallen. Er mochte Hinschauen, wo er wollte, in seine staubigen Winkel oder durchs Fenster auf die schimmernden Berge, überall trat unverwischbar das wunderliebliche Bild Aennelis in seinen Gesichtskreis, wie sie mit graziös wiegenden Hüften vor ihm den Hohlweg hinangestiegen. Die Erinnerung trieb ihm wieder und wieder das Blut in heißen Wellen zum Herzen. Es ward ihm grausam bewußt, daß er bei all seiner hohen Geisteszucht noch jedem Begehr der Sinne preisgegeben sei. Und wenn er nun gar die helleuchtenden und doch Schutz erflehenden Augen des Mädchens auf sich gerichtet sah, da wußte er, wie es um seine Widerstandskraft bestellt war. Nachgeben hieß: sich an sie verlieren. Es konnte ein Sichverlieren in die süßeste Seligkeit, in ein schattenloses Glück werden; aber die Gemeinde — die Gemeinde mußte dabei um all das Große kommen, was er ihr in seinem Herzen angelobt hatte. — Vielleicht würde ihn der Liebesrausch nur für kurze Zeit umfangen und ihn dann seiner hohen Aufgabe wieder freigeben — vielleicht! Matthias glaubte aber daran nicht und fand es auch nicht würdig, sich einem Liebesrausch hinzugeben mit der Absicht, sich nach kurzem wieder zu ernüchtern. Nein, nein, das war gewiß nicht sein Weg. — Stand er nicht vielleicht einer von Düß angezettelten Prüfung gegenüber? — Düß! Nein, du sollst es nicht sein, der mir die Wege weist — du ganz gewiß nicht. — Was aber, wenn er mit seiner Drohung ernst machte und Aenneli in seine dämonische Gewalt brachte? Dieses herrliche junge Weib, dessen Seele so gut seiner Obhut anvertraut war wie jede andere der Gemeinde, und die ihm — wer weiß — auf die lichten Höhen der Gotteserkenntnis folgte. Schon fühlte Matthias, daß er sie nicht mehr preisgeben konnte. Also blieb nur eines: Aenneli zu seiner Lebensgefährtin machen und sie durch weise Zurückhaltung und sorgsame Führung auf den hohen Beruf vorbereiten. Freilich, er, Matthias, der schwache Mensch, vermochte das aus eigener Kraft nicht. Aber an die Quelle führen wollte er die Auserwählte. An der gleichen Quelle, aus der er göttliche Kraft geschöpft, sollte auch sie sich gesund trinken. — Nicht aus den Händen des rätselvollen Düß wollte er seine Braut und Gattin nehmen, sondern aus Gottes Hand.

So wurde Matthias wieder eins mit sich und so fand er die innere Freiheit wieder, in seinem Heiligtum alles vor Gott auszubreiten und in Ergebung auf Antwort und Führung zu warten. Das priesterliche Eintreten für diese eine Seele erfüllte ihn mit ungeahnter Glückseligkeit. Daraus erfloß ihm eines schönen Tages ohne jegliches Bedenken der Mut, Aenneli Dolder aufzusuchen und um dauerndes Geleite auf seinen fernern Lebenswegen zu bitten. Aenneli gab ihm ein von lauterem Glück klingendes Ja zur Antwort. Vater Dolder stimmte zu, und die Gemeinde bis in die «Bären»-Gaststube und den Kramladen hinein nahm die Nachricht von dem Verlöbnis mit freundlicher Neugier auf. Diese Neugier heftete sich vor allem an die Fersen der Braut.

Es war die Glanzzeit der Bauerngärten. Fast vor jedem Hause wetteiferten zwischen den Buchsborden Rosen, Dahlien und Aster um die Bewunderung der Vorübergehenden. Sogar die Karrer und Erdknechte vergafften sich zuweilen an der Pracht dieser Maien, wenn sie neben ihren Mistfudern her durch die Dorfgassen schlurften. Schritt aber Aenneli in glücklicher Versonnenheit vorüber, so hieß es aller Enden hinter den Dahlienbüschen, die sich ihr über die Häge zuneigten: «Ds Pfarrers Brütli!» Zwischen allen Staketen hindurch wurden freundliche Grüße laut. Hatte die Gefeierte gedankt, so folgten ihr Blicke voll Gwunder, und bog sie um eine Ecke, an der die Blicke umkehren mußten, so blieben ihr die Gedanken der freundlichen Dorfgenossen auf den Absätzen. «Geit es zue-n-ihm? — Wo wartet er ihm? — Hei si scho verchündtet? Wo hei si Hochzyt?» Dies und noch vieles andere wollte man wissen. Aennelis Jugendgespielinnen hatten sich die Zukunft ihrer Freundin so ganz anders gedacht. Wenn man so ein wenig rückwärts sann. — Nein, dieses Aenneli! Es war ja doch eigentlich von jeher ein Chrottli gewesen, hübsch und glimpfig und sehr gewandt auf dem Tanzbein. Seine Hübsche war ihm bewußt und es hatte manchen damit zum Narren gemacht. Es war gescheidt, ankehrig, einziges Kind und hatte einen für landläufige Begriffe reichen Vater. Da hatte man sich immer vorgestellt, es werde einmal einem Manne die Hand reichen, der etwa noch wisse, was leben heißt. — Und jetzt ließ es sich von einem Pfarrer heimführen, und ausgerechnet noch von diesem Eiferer! Man wunderte sich allenthalben, daß es ihm fromm genug sei. Es «uluters» sei es ja gewiß nicht, aber grad eso, wie man sich die Frau eines solchen Pfarrers vorstellte, war es «de hingäge ganz gwüß nid». In dieses Getuschel der Dorfjungfrauen mischten sich zuweilen derbere häßlichere Klänge aus dem Lager der Jungmannschaft. Ja, ja, hieß es etwa, Aenneli werde um jeden Kuß auf den Knieen durch die ganze Kirche rutschen müssen. Kein Mensch verstehe, wie ein solches Meitschi zu einem so «aparti Helige» komme. Es werde dann noch Augen machen, wenn es «necher zueche» komme. Woher so einer wissen wollte, was mit einem hübschen Meitschi anfangen. — Es fehlte auch nicht an Burschen, die Matthias zu einem Scheinheiligen stempeln wollten. Wochenlang mußte er herhalten als Gegenstand des Wirtshauswitzes. Er selber freilich merkte nichts davon. Wer in seine Nähe, kam, rühmte, das sei jetzt einmal recht, daß der Pfarrer eine aus der Gemeinde heimführe. Das solle ihn nicht reuen. Aeltere Gemeindsmannen hatten einen Schalk in den Augen und sagten, dem Pfarrer zu gefallen: «Soso, Herr Pfarrer, Dir wüsset o no ne Frou usz’läse.» Dabei dachten sie, er sei «mit Schyn de no nid der dümmscht», sonst hätte er nicht just die «Undersetztischti vo der ganze Flüehbrunne-Gmein gnoh». Für die gutgemeinten Komplimente hatte Matthias immer ein gütiges Lachen, und auch die unbeholfenen oder gar hämischen Glückwünsche nahm er nicht allzu tragisch. Sorge hingegen machte ihm, was er gewissermaßen aus dem Winde witterte, der vom Dorfe her ums Pfarrhaus herumstrich. In Worte geprägt hätte dieses Säuseln ungefähr folgendermaßen gelautet: «Sehr gut, verehrtester Herr Pfarrer, Sie haben sich als klugen Diplomaten erwiesen, indem Sie die Tochter unseres Gemeindepräsidenten als Lebensgefährtin erkoren. Sie wird zwischen Pfarrer und Gemeinde ein Bindeglied darstellen, wie man es sich besser gar nicht wünschen kann. Aenneli Dolder wird die berufene Vertreterin der Gemeinde im Pfarrhaus sein. Mit ihr erst recht wird die Gemeinde Wohnsitz in Ihrem priesterlichen Herzen nehmen und ihre — Interessen wahrnehmen.»

Greifbarer wurde der Sinn dieser Aeolsklänge in den Vorbereitungen, welche Flüehbrunnen traf, um das Hochzeitsfest zu einem Ehrentag der Gemeinde zu machen. Nicht nur schwenkte Frau Liseli ihre zahlreichen Schoppengütterli, man besprach die Ausschmückung der Kirche, man sandte Delegierte nach der Stadt, eine schöne Regulatoruhr für das junge Paar zu kaufen, man beschloß, im Pfarrhaus zerrissene Tapeten flicken, die schlimmsten Zimmerböden abhobeln zu lassen. Alles, was zu spielen oder zu singen vermochte, übte unter des Lehrers Leitung.

All das brachte Freude, aber auch Unruhe ins Haus, und Matthias Brändli, der es bereits erlernt hatte, zu allem ein freundliches Gesicht zu machen, fand nachgerade, er sei nicht mehr so ganz allein Herr im Hause. Nun ja, tröstete er sich, Aenneli hat eben schon einen Fuß über die Schwelle hereingesetzt. Vielleicht ist das gerade, was ich brauche. Immerhin, ich möchte die Zügel in Händen behalten. Ich muß doch noch einmal deutlich mit ihr reden.

Zu der klaren Erkenntnis, daß es recht schwierig sein werde, dem liebevollen Eifer einer reizenden jungen Braut um die Behaglichkeit ihres künftigen Heims entgegenzutreten, brauchte Matthias sich nicht erst durchzuringen. Der erste schlaflose Augenblick in der Nachtstille brachte sie ihm ganz ungesucht. Umso reizvoller aber war es, sich auszudenken, mit welchen Liebenswürdigkeiten diese Schwierigkeit zu überwinden wäre. Man würde etwa anfangen: «Liebes Aenneli», dann ein wenig Atem schöpfen, um den lieben Zuhörer darauf aufmerksam zu machen, daß der Sache ein gewisses Gewicht beizumessen sei, dann etwa: «Liebstes, Herzigstes!» Dann würde ein Kuß dartun, daß es sich um ein Herzensanliegen handle. Dann würde Aenneli, neugierig geworden, fragen: «Was möchtisch, Schatz?» und man führe fort: «Du gisch dir e settigi Müej, für us myr alte Hütte nes Paradiesli z’mache. Du verwöhnsch mi. Aber lue, Schatz»... hier wäre vielleicht wieder ein K... Nein, nicht zu dicht aufeinander, oder vielleicht doch, ja, also ein Kuß und dann: «lue, Schatzi, es wird nume z’schön. Wenn de d’Lüt nümme zue mr yne dörfe! Und — und — i wott ja nüt säge. Natürlech söll me merke, daß da e liebi Frou... aber gäll du begryfsch, eso chly sötti halt doch o ds Wäse vom Ma, der Charakter vom Pfarrhus... eso, ja, i meine öppis vo Heiligtum... oder villicht nidemal das; aber so öppis Gwüsses sötti halt vo hie usstrahle.» — Ja, ungefähr so müßte die Einleitung lauten, und dann wäre die Bahn gewonnen, auf der in warmen, überzeugenden Worten alles weitere gesagt werden könnte.

Je gründlicher Matthias Brändli sich diese Sachen überlegte, desto tiefer ward er durchdrungen von der Notwendigkeit dieser Aussprache. Aber endlich übermannte ihn der Schlaf.

Andern Tags um die Mittagszeit war schon wieder ein Handwerksmeister da, diesmal ein Tapezierer. Er hantierte im Sääli, als ob er hier zu Hause wäre. Matthias hörte von seinem Eßtisch aus die ihm ungewohnten Schritte, trotzdem der Mann am hellichten Tage in geblümten Pantoffeln herumlief. Kaum den letzten Bissen verschluckt, trat der Pfarrer so breit wie möglich in die Sääli-Türe und schaute dem Ausmessen der Fensterrahmen zu. Er sagte kein Wort. Sein bloßes Erscheinen sollte sprechen. Der Tapezierer bemerkte den Pfarrer, fing sofort an zu brümmeln: «Einenünzg uf zwöiesibezig, einenünzg uf zwöiesibezg», träppelte zum Tisch, netzte seinen Bleistiftstummel im Munde und notierte laut in sein dortliegendes Büchlein: «einenünzg — eine-nünzg — uf — zwöiesibezg — grüeßech, Herr Pfarrer.»

«Grüeßech, Meischter,» antwortete Matthias, «wär het Euch eigetlech Uftrag...?» Weiter kam er nicht. Zwei zierliche Handflächen, die sich von hinten zu beiden Seiten seines Hauptes vorgeschlichen, legten sich sachte auf seinen Mund, und ein leises Kichern gab Antwort auf die unterdrückte Frage. Da brodelte in des Pfarrers Brust ein gar seltsames Mischmasch von Gefühlen auf. Natürliches Empfinden zwang ihn, sich umzuwenden und den Ueberfall mit einem Kuß zu verdanken. Ader... diesen geschwätzigen Dorfhandwerker im Rücken... nein... das ging nun wirklich nicht. Natürlich und unbefangen sein, ja, aber gerade dahinein hatte die Gemeinde nicht zu gucken. Pfarrherrliche Zärtlichkeiten sind das delikateste, was man sich denken kann. Einen leisen Aerger überwindend, zog Matthias seine Braut rasch in das Zimmer herein, um sie dann vor den Augen und Ohren des Meisters auf liebenswürdig-schickliche Art über die neuen Verschönerungspläne zu interpellieren. «Herr Pfarrer,» antwortete Aenneli leuchtenden Auges — Jaßli sollte sie ihn in Gegenwart anderer Leute niemals heißen, das gehörte einstweilen noch ins Geheimfach — «Herr Pfarrer, der ‹Verschönerungsverein› het beschlosse, ds Grauen us Eunen öde Fänschterhöhline z’verschüüche.»

«So?» lachte der Pfarrer, «gits z’Flüehbrunnen o so öppis? Also doch emel no e Verein, wo-n-i nid derzue ghöre.»

«Einschtwyle villicht...»

«Wie wär’s,» unterbrach sie der Pfarrer, «wenn der Verschönerungsverein das mit mir bi nere Tasse Café würdi diskutiere? Bi där herrleche Herbschtsunne ließi sich das im Gartecabinetli am beschte dürenäh.»

Aenneli stimmte mit Freuden bei. Sobald der Tapezierer Meterstab und Notizbuch versorgt hatte, ward er sachte durch die Haustüre geschoben, und das Brautpaar begab sich in den Garten. Die Beratung sollte gewissermaßen öffentlich sein, vor den Augen der Gemeinde, doch immerhin durch Hecken und Zäune wohl abgesondert. Das habe ich fein eingefädelt, gratulierte sich Matthias, als die Köchin unter dem morschen Schirmdächlein an der Terrassenmauer das Kaffeegeschirr auf den von Wetter und Sonne ausgedörrten Tisch schob. — Nun kam also nach dem nächtlich entworfenen Programm die Anrede: «Liebes Aenneli.» Sie gewann dadurch, daß man sie mitten in das angesponnene Gespräch hineinschob, an Gewicht. Und die Fortsetzung «Liebstes, Herzigstes» mußte noch viel kräftiger wirken als vorgesehen war. Nummer drei hingegen — der Kuß — schickte sich in dieser Oeffentlichkeit nicht. Matthias überlegte, und damit brach sein ganzer Plan in sich zusammen, denn was der Herr Pfarrer auf der Schaubühne seines Gartens sorgfältig zu meiden gedachte, um sich keine Blöße zu geben, das gönnte sich nun Aenneli mit so wenig Zurückhaltung, daß der Tisch ins Wanken geriet und die Kaffeekanne sich ihres Inhalts über die pfarrherrlichen Hosen entledigte. Aufspringen, Klirren, Schütteln, Wischen und Lachen folgte sich blitzschnell. — Nein, nein, es hatte ganz gewiß niemand etwas von dem Unglück gesehen, und die warme Herbstsonne tat auf den glänzenden Oberschenkeln Matthias Brändlis ihre Schuldigkeit. Der Schaden war ganz gering; aber Matthias war innerlich derangiert durch die stürmische Liebkosung, nicht wegen der Verletzung der äußerlichen Amtswürde, sondern wegen der Süßigkeit des ausgestandenen Schrecks. Er war sich ganz klar bewußt, daß etwas in ihm nach mehr dergleichen verlangen und Unordnung in seine Selbstbeherrschung bringen werde. — Widerstehet den Anfängen! rief sein kühleres Ich in den Schacht des Gefühls hinunter.

«Was hesch mr eigetlech welle säge, Jaßli?»

«Was i dir ha welle säge?! — Äbe, jitz mueß i ds Trom ume finde.»

Matthias senkte den Blick und schwieg ein überlegtes Schweigen. Er wollte damit Aenneli zur Ruhe bringen. Aenneli aber betrachtete ihn derweilen. Die Freude an solch schönem, stattlichem Manne kam über sie, und weil sie gemerkt hatte, daß ihr stürmisches Losbrechen nicht nach des Geliebten Sinn sei, wollte sie ihren Gefühlen auf passendere Art Luft machen. «Das Schicksal ist mir aufs Liebliche gefallen», platzte sie aus ihren Betrachtungen heraus, indem sie nach Matthias Hand griff.

Damit hatte sie ihn ganz unvermutet aus seinen Gedankengängen hinausgesprengt. Ihren Händedruck kräftig, väterlich erwidernd, sagte er: « Los heißt’s i däm Spruch. Das Los ist mir aufs Liebliche gefallen. Aber jitz bin i grad eis froh, daß du vo Schicksal redsch. Das Wort söll i üsem Wörterbuech nümme vorcho, gäll. Versprich mers. Was isch Schicksal? Nüt, es dumms Verlägeheitswort. Zu mene Schicksal cha me doch nid bätte. Mir sy Möntsche. Mir chönne rede mit Gott, wo üs füehrt. Du weisch no gar nid, wie viel Gott i üsi Hand gleit het. Aber frylech, numen im Verchehr mit ihm chönne mir üsi Bestimmung erfülle.»

«Nu, mynetwäge. Das sy Wort. Du seisch Bestimmung, i ha gseit Schicksal. Natürlech isch alles i Gottes Hand. So meinen i’s ja o. Und das dunkt mi ds Wunderbarschten a üsem Läbe, daß mir Möntsche no so viel derzue sölle z’säge ha. Mängisch tschuderets ein schier, z’dänke, was me mit däm für ne Verantwortung treit.»

«Äbe so isch es. Aber mir hei e Troscht, und dä isch ds Gottvertroue. Ihn darf me geng la mache.»

«Ja, scho. Aber öppis müesse doch mir derzue tue.»

«Ja, aber es cha nid fähle, wenn mers i der Liebi tüe.»

«Und das dunkt mi de no ds Schönschte, daß me sech druuf darf verla: was i der Liebi gscheht, isch rächt. — Gäll, Jaßli?»

Diese Worte seiner Braut beglückten Matthias. Er fühlte: hier war der Grund gelegt zu einem Bau, den er auszuführen gedachte in der Erziehung seiner Lebensgefährtin. Aber das «gäll Jaßli» ließ ihn erkennen, daß in Bezug auf die Liebe noch Unklarheit in ihrem Geiste herrschte. Und noch deutlicher sprach das aus ihrer Haltung, denn ihm schien, sie wolle ihm, den Sinn ihrer Auffassung bekräftigend, wieder um den Hals fallen. Dem kam er zuvor, indem er plötzlich aufstand. Und um den schmalen Pfad seiner Gedankengänge mit ihr besser einhalten zu können, führte er Aenneli durch den Garten, vorn an die Terrassenbrüstung, wo man sie von der Straße aus sehen konnte. Dort spann er das Gespräch weiter, und sie hörte ihm gesenkten Hauptes zu, nur hin und wieder einen liebevoll bewundernden Blick zu ihm aufwerfend. So war’s ihm lieb. So hatte es eine «Gattig» vor der Gemeinde. Und so gedachte er mit ihr den Lebensweg anzutreten und zu wandern. Fester als je nahm er sich vor, seiner Gemeinde Priester zu sein und dieser Aufgabe alles andere hintan zu setzen. Danach hatte sich auch seine Gefährtin zu richten.

Das Pfarrhaus war Staatseigentum, so daß die Gemeinde bei der Regierung einkommen mußte um Anordnung einiger Renovationsarbeiten. Es bedurfte wiederholter Vorstellungen, bis auch nur der Bescheid kam, man werde einen Augenschein vornehmen lassen. Endlich erschien ein Regierungsbeamter. In Flüehbrunnen war dafür gesorgt worden, daß ihm die Schäden gehörig in die Augen sprangen. Aber er schüttelte den Kopf. Was sie auch sinneten, fragte er. Alles könne man nicht haben. Viehprämien regneten ja auf Flüehbrunnen. An das Grätschelensträßlein seien 25 Prozent Beitrag gesprochen. Da dürfe man nicht noch mit Hoffartsansprüchen eines Pfarrers kommen. Das einzige, was der Herr Regierungsexperte bewilligte, war ein neuer Laden aufs Güllenloch, damit nicht etwa ein Kind einbreche und man noch Unbeliebigkeiten habe. Aber es könnte ein Brett aus der Ladenwand am Garten genommen werden. Diese Ladenwand sei unnötig. Das übrige Holz würde dann an den Meistbietenden verkauft. Nun gab es aber doch böse Worte, und der Herr Experte mußte sich das Versprechen abtrotzen laßen, über die Sache in empfehlendem Sinne zu referieren. Die Markterei dauerte noch wochenlang, und die Gemeinde zwängte unter Androhung von Opposition bei den nächsten Regierungsratswahlen einen ganz neuen Laden aufs Güllenloch, den Anstrich der Fensterläden und — o Wunder — die Einrichtung elektrischer Beleuchtung durch. Die Lieferung des Güllenlochdeckels wurde Vater Dolder zugeschlagen.

Ueber diesen Sieg durfte sich Matthias Brändli freuen. Wenn ihm nur nicht bei jeder Gelegenheit unter die Nase gestrichen worden wäre: «Lueget, Herr Pfarrer, wie mir is i ds Gschirr lege für Euch!» Daß alles nur seiner Braut zuliebe geschah, brauchte ihm niemand zu sagen.

Vater Dolder war selten zu einem Plauderstündchen zu haben. Von der Säge in den Wald, vom Wald auf die Werkplätze, von den Werkplätzen zur Eisenbahnstation und zwischen hinein schnell zu einem Schoppen, weil nun einmal im Bernerland Handel und Wandel hinter dem Wirtshaustisch Antrieb finden müssen, so spielte sich sein Tagwerk ab, rastlos wie die Arbeit seiner Sägen. Nach wiederholten Versuchen gelang es endlich seiner Tochter, ihm einen Abend abzuschmeicheln, an dem in aller Ruhe die Hochzeit besprochen werden konnte. Sie saßen in des Meisters Wohnstube, Vater und Tochter und der Pfarrer. Diese Stube wurde fast nie benützt; aber da fuhr kein Staubwölklein auf, als Matthias und Aenneli sich auf das dunkelrote, mit gehäkelten Schonern bedeckte Sofa niederließen. Man hätte mit weißen Glacehandschuhen über jedes Möbel fahren können, ohne daran den leisesten Schatten wahrnehmen zu können. Vater Dolder hatte eine Flasche guten Waadtländers entkorkt und lud das Brautpaar ein, mit ihm anzustoßen. Einmal von den Geschäften los, wollte er gemütlich sein und seinem künftigen Schwiegersohn als den sich zeigen, der den Seinen alles gönnt. Aus dieser Stimmung des überquellenden Wohlwollens heraus begann er seine Pläne für das Hochzeitsfest zu entwickeln. Dabei strahlte sein wetterhartes Gesicht vor Stolz und Freude. Die Flüehbrunnener sollten sich nicht über ihn zu beklagen haben.

In ihrer stillen Genugtuung über des Vaters Gunst tätschelte Aenneli ab und zu ihres Bräutigams Hand. Sonderbarer Weise beantwortete diese Hand die Liebkosung immer nur mit leisem Zucken. Matthias lehnte sich, still zuhörend, zurück. Man sah ihm an, daß er auf eine Pause wartete, um auch seine Meinung kundzutun. An Pausen fehlte es ja eigentlich nicht, denn der Gemeindepräsident redete gsatzlich und mit Ueberlegung. Aber gerade diese Sicherheit und die unverhehlte Freude am Aufrollen der frohen Pläne benahm dem Pfarrer den Atem zum Einspringen ins Gespräch. Als sich nun aber herausstellte, daß aus dem Familienfest ein Volksfest werden, und daß dieses sich im «Bären» abspielen sollte, durfte Matthias nicht länger an sich halten. Er habe sich die Sache nun freilich anders gedacht, sagte er mit hilfesuchenden Blicken nach seiner Braut.

«Ja, wie de?» fragte Dolder verwundert.

Die Trauung, meinte Matthias, müßte doch wohl in einer Nachbargemeinde stattfinden oder vielleicht in der Stadt durch Professor Schindler, mit dem sich der junge Pfarrer in religiöser Hinsicht besonders gut verstand. Durch Schindler müßte ihre Ehe eine ganz besondere Weihe empfangen. So ließe sich dann auch all das Becherklirren, Juhejen und Tanzen vermeiden, das der Hochzeit eines Pfarrers nicht wohl anstehe. Unter keinen Umständen sollte das Fest in Flüehbrunnen stattfinden und am wenigsten im «Bären». Erst etwas zaghaft, machte Matthias seine Wünsche immer nachdrücklicher geltend. Vater Dolder schwieg, er wischte nur mit der Hand über den Tisch, schob sein Glas hin und her, rückte mit dem Stuhl nach hinten, und als Matthias seine Sache vorgebracht hatte, machte der Meister eine Handbewegung, die allein schon deutlich genug erklärte: Scho rächt; aber so cha me nid. Laut fügte er lachend hinzu: «So hüratet ds Aenneli Dolder nid, Herr Pfarrer. — So wie-n-i’s gseit ha, mueß es gah und nid anders, punktum.»

Matthias widersprach, suchte dem Verstimmten klar zu machen, daß eine solche Dorfhochzeit dem Feste die Weihe nehme und ihm auf alle Zeiten die unabhängige Stellung der Gemeinde gegenüber untergrabe. Der Präsident erklärte gereizt, ihm brauche niemand vorzurechnen, was er der Gemeinde schuldig sei. Und als sich beide gehörig in Eifer geredet und auf ihre Position festgelegt hatten, zog der Alte den Schlußstrich: «So wott i’s u we’s Ech nid passet, Herr Pfarrer, henu, so blybt ds Aenneli mys.»

Damit war, wie Meister Dolder später seinem Bruder erzählte, «der Riemen ab der Wälle». Es stand alles still, und man hörte eine ganze Weile — genau wie am Feierabend im Sägewerk — nur noch den Bach vor den Fenstern rauschen. Als erste brach Aenneli das Schweigen, nachdem sie wohl drei Minuten lang große fragende und zuletzt entrüstete Blicke auf die beiden Männer geworfen. «Aber loset jitz, wägen öppisem eso...» Dann blieb sie stecken, weil es sie plötzlich ankam über die verfuhrwerkte Situation zu lachen. Sie konnte einfach nicht glauben, daß zwei gescheite Menschen ob solch nebensächlicher Meinungsverschiedenheit ein verheißungsvoll aufkeimendes Lebensglück in den Staub treten würden. Und doch getraute sie sich nicht zu lachen, denn wirklich und wahrhaftig, die beiden Mannsköpfe sahen in diesem Augenblick um nichts nachgiebiger aus als zwei Granitkugeln. Freilich waren es nur Nebensachen, um die man sich stritt; aber — das fühlte Aenneli nur zu deutlich — in diesen Nebensachen prallten Grundsätze, prallten Lebensanschauungen aufeinander. Da standen die Erwartungen einer Dorfgemeinde und die Amtsauffassung eines Gottesboten einander gegenüber. Siegte die letztere, was Aenneli als Verlobte des Pfarrers wünschen mußte, so war es um ihren Familienfrieden geschehen, siegte das Dorf, so war ihrem künftigen Manne Gewalt angetan, und wer weiß, ob ihr die daraus erwachsende Bitterkeit nicht den Gatten von Anfang an entfremdete?

Die Herzensnot begann Aenneli Tränen auszupressen. Sie tat ihrem Vater leid, nicht etwa weil er eingesehen hätte, daß er sie in solch schwierige Lage gebracht, sondern weil dieser geistliche Mann da, dem sie sich versprochen hatte, nun so wunderliche Bedingungen stellte. Die Sache lag durchaus klar. Er, Meister Dolder, hatte die Tochter zu vergeben. Der junge Pfarrer hatte sich den Bedingungen zu fügen, wenn er sie haben wollte. Er würde sich doch wohl nicht einbilden, er könne hier befehlen. Man hatte ja wohl gemerkt, daß er die Gemeinde nach seinem Sinne umkrempeln wollte. Nun er um die Tochter des Präsidenten warb, hatte man das Heft in Händen. Nachgeben hieß vor dem Fanatiker, der alle Gemütlichkeit im Dorf zu stören gedachte, das Feld räumen. Das würde die Gemeinde ihrem Präsidenten nie vergeben. Und überhaupt, nachdem man sich so um das neue Heim des Pfarrers bemüht, hatte man das Recht, Bedingungen zu stellen. Was war denn dem Pfarrer Schlimmes zugemutet? Handelte es sich nicht gerade darum, sein Ansehen zu heben, seine Popularität zu begründen?

«Ja nu,» sagte Vater Dolder, aufstehend, «überleget Ech’s, Herr Pfarrer.»

Damit ließ er das Brautpaar allein. Kaum hatte er die Türe hinter sich geschlossen, als Aenneli sich ihrem Liebsten um den Hals werfen wollte. Dem kam aber Matthias zuvor, indem er aufschoß und wie eine Säule stehen blieb. Er hatte etwas so Starres angenommen, daß Aenneli zurückschrak und aufschluchzend in die Sofaecke zurückglitt.

Matthias betrachtete sie schweigend. Der Jammer schüttelte sie. Der junge Pfarrer war ergriffen; aber der Widerstand des Alten hatte ihn dazu gebracht, all seine Gefühle niederzukämpfen und in kühler Ueberlegung den Hochweg seiner Lebensziele fest ins Auge zu fassen. Nun, dachte er, ich werde auch das über mich ergehen lassen müssen; es wird eine Prüfung sein. Ich darf nicht untreu werden, und wenn es mich das Liebste auf Erden kostete. Ein Gefühl, in diesem Augenblick in wahre Größe zu wachsen, umschmeichelte ihn. Er wollte einen Verzicht formen und suchte nach schonenden Worten. Da fuhr es ihm wie ein Blitz durch den Kopf: Düß! — Tiefgesenkten Hauptes betrachtete er seine Verlobte. Dann ging er ein paar Schritte hin und her und trat dicht vor Aenneli. Er ergriff ihre beiden Hände, zog sie an sich und sagte feierlich: «I la nid vo dir, Aenneli, i will’s über mi la ergah, was der Vatter wott.»

Da umschlang sie ihn mit kräftigen Armen und antwortete: «Häb doch nid Angst! Wie meh si sech chönne vertue a der Hochzyt, deschtmeh vergässe si üs drob. Und sy mir einisch binenand, so wett i de gseh, wär dir no i dyni Sachen yneredt.»

*   *   *

Das junge Paar war nach kurzer Hochzeitsreise in das gründlich herausgeputzte, heimelige Pfarrhaus zurückgekehrt. Matthias hatte sich redlich Mühe gegeben, seiner Frau die Freude an der Reise nicht durch Launen zu beeinträchtigen. Es war ihm indes nicht gelungen, ihr die Verstimmung ganz zu verhehlen, die er vom Hochzeitsfest davongetragen. Wenn sie etwa an den sonnigen Hängen über dem Lago Maggiore in den blauen Tag hineinträumten und Aenneli dachte, jetzt hat er sich endlich ein wenig vergessen, entwischte ihm plötzlich eine mißmutige Bemerkung über die Gmeindsmannen von Füehbrunnen. «Tue jitz das dännen und la dr nid d’Freud verderbe!» pflegte dann Aenneli zu sagen. Als es zum erstenmal geschehen, hatte sie versucht, ihren Mann mit Zärtlichkeiten aus dem Dickicht seiner Grübelei herauszulocken. Da er aber nicht nur kalt blieb, sondern sogar eine leise Abneigung verriet, ließ sie von weiteren Versuchen ab, tröstete sich mit der Hoffnung, die Verstimmung werde versurren und dann eine um so schönere Sonne an ihrem Himmel aufgehen. Aber der Himmel blieb verhängt. Wie man in langen Regenzeiten den Eindruck empfängt, das graue Heer der Wolken umschlinge in lückenlosem Ring die Welt, verlor die junge Frau alle Hoffnung auf eine Aufheiterung ihres Gefährten. Es hilft nur eins, dachte sie, er muß heim, an die Arbeit. Wenn er den Kampf aufnehmen kann, wird ein frischer Zug in sein Gemüt kommen, und wenn er dann merkt, daß die Männer, in denen er Feinde des Reiches Gottes wittert, Menschen sind, denen nur die fromme Geste gänzlich fehlt, so wird der Druck von seiner Seele weichen.

Eines Abends zogen sie im Pfarrhaus ein. An der Haustüre prangte eine mit Fichtenzweigen umrahmte Inschrift «Willkommen». Auf allen Tischen prangten Maien, und aus der Küche drang ein köstlicher Duft bis an die Estrichtüre hinauf. Alles war und blieb in den nächsten Tagen auf Traulichkeit gestimmt; alles — bis an den Pfarrer. Aennelis Rechnung hätte geklappt, eine klare Auseinandersetzung mit den Leuten, die am Hochzeitsfest nicht müde wurden in witzig sein sollenden Reden dem Pfarrer vorzuhalten, daß er alles, was ihm das Leben in Flüehbrunnen angenehm machen werde, sogar die schöne junge Frau, nur der Wohlmeinenheit der Gemeindegenossen verdanke, würde mit einem Schlage alles zum Besten gewendet haben. Aber diese Leute hielten sich fern. Was sie in ihren Festreden und von Mann zu Mann gesagt hatten, das sollte gesagt bleiben, dem Pfarrer zum ewigen Gedächtnis. Er sollte sich ihnen verpflichtet fühlen und in diesem Gefühl seines Amtes walten müssen, und Aenneli, des Präsidenten Tochter — das hatte einer beim Hochzeitsmahl erklärt — Aenneli sollte die Generalbevollmächtigte der Gemeinde im Pfarrhaus sein. So hatten sie ihm die Freude an der jungen Frau vergällt. Aenneli hatte dazu geschwiegen, hatte nur verschämt gelächelt. Sie hatte auch nachher nie ein Wort über diese Komplimente und Anspielungen verloren, weil sie kurz und bündig — ohne darüber hin- und herzuraten — gedacht: Schwatzt, was ihr wollt, ich werde des Matthias Frau sein. Und weil das so selbstverständlich war, hatte sie nie davon gesprochen. Dieses Schweigen aber hatte Matthias nicht begriffen.

Nun sie eingehaust waren und die Pfarre gewissermaßen in Verteidigungszustand gesetzt werden sollte, nahm sich Matthias vor, in erster Linie seine Frau geistlich mit Wehr und Waffen zu versehen, sie hinauf und hinein zu führen ins Heiligtum, wo man selber geheiligt wird. Wieder folgte ihm Aenneli schweigend, wie man eben schweigt, wo man in heilige Luft hinein kommt. Und wieder verstand Matthias sie nicht. Er meinte um sie ringen zu müssen und wußte gar nicht, wie nahe sie dem Ziele stand. Er vergaß darüber auch, was ein junges Weib aus der Natur heraus, die ihm Gott verliehen, beanspruchen darf. Eine Pfarrfrau ist ihres Mannes Gehilfin. Sie hat Anteil an seinem Priestertum, sie hilft ihm das Kreuz tragen und das Kreuz zeigen, sie baut ihm Brücken, sie öffnet ihm Pforten, zu denen er keinen Schlüssel fand; sie fängt vergiftete Pfeile auf, die ihm galten, und verbrennt sie, ohne daß er darum weiß, auf dem Brandopferaltar ihrer Liebe, sie trägt seine Heilandsliebe aus und streut sie mit wunderwirkender Hand ins Volk, sie nimmt sein Leiden auf sich, leidet um ihn und stirbt für ihn. Sie ist aber auch sein Weib. Seine Freude an ihrer Schönheit und Güte ist ihr Lohn, und sie will, ob sie auch im Geiste eins geworden, mit ihm ein Fleisch sein, mit ihm des Menschseins Wonne und Leid teilen und mit ihm eine Sehnsucht nach Erlösung leiden, mit ihm fremd werden dieser Welt und mit ihm aufgehen in einem Heimweh nach der Stadt Gottes.

Das alles keimte und wuchs in Aennelis Herzen. Matthias aber sah es nicht. Sein Blick war auf die Gegner gerichtet, war auf den Feind gespannt, der, wie er wähnte, sich seines Weibes bedienen wollte, um ihn zu entwaffnen. In jeder dargebotenen Frucht sah er Anfechtung, und er wappnete sich mit Askese dagegen.

Aenneli diente ihm, pflegte den Gesunden wie einen Kranken. Matthias dankte ihr, war lauter Herzensgüte gegen sie, ließ sich binnen wenigen Wochen aufs gründlichste verwöhnen und verlor darob, wie alle Verwöhnten, die Fähigkeit, sich in des Nächsten Seele hinein zu versetzen. Hätte Aenneli die Gewohnheit gehabt, sich selber auf Herz und Nieren zu prüfen, so hätte sie sich eingestehen müssen, daß sie erwartet hatte, ihr Mann werde wenigstens in den ersten Wochen ihrer Ehe über seiner jungen Frau die Gemeinde ein wenig vergessen. Ueber diese törichte Erwartung gab sie sich nicht Rechenschaft, aber daß es nun umgekehrt war und um so schlimmer, als dieses Vergessen der Frau über den Amtssorgen Absicht war und eher den Namen Vernachlässigung verdiente, das empfand sie mit unerträglicher Klarheit.

Wenn der Tag sich neigte und des Abends trauliche Stille die beiden einlud, näher zusammenzurücken, saßen sie wohl am gleichen Tisch im Sääli. Der grüne Lampenschirm verteilte mit Gerechtigkeit das Licht gleichmäßig auf Aennelis Handarbeit und ihres Mannes tiefgründige Bücher. Matthias verlor sich in seine heiligen Gedankengänge, gab auf ihre spärlichen schüchternen Fragen zerstreute Antwort oder auch gar keine. Und wenn der Kirchturm die zehnte Stunde auskündete, legte Aenneli die Bibel vor Matthias hin, manchmal mit einem leisen Plumps, um ihn aufzuschrecken. Dann las er einige Verse, wobei er nicht selten sich unterbrach, um einen Einfall auf ein Notizblatt hinzukritzeln. Dann faltete er, ein Bild tiefster Versenkung, die Hände über der Bibel und betete, wie nur ein Priester beten kann. In der Fürbitte vergaß er niemand, auch seine Beleidiger nicht, nur — sein Weib.

Indes er, die Andacht schließend, seine Bücher und Hefte unter den Arm packte, trug sie ihm die Lampe voran, die Treppe hinauf, und setzte sie auf dem Schreibtisch des Studierzimmers wieder in Kontakt. Manchmal dankte er ihr mit einem Kuß, zuweilen auch nicht. Und meist saß er schon zwischen den hölzernen Armen seines Schreibstuhls, wenn sie auf der Schwelle zum anstoßenden Schlafgemach noch einmal nach ihm blickte, um dann bitterlich weinend auf ihr Bett hinzusinken.

Morgens, wenn die Sonne die Pfarrfrau an die Arbeit rief, lag Matthias mit gefurchter Stirn noch im ersten Schlaf. Ihn wecken wäre ein Frevel an des überarbeiteten Kämpfers Gesundheit gewesen.

Wem sollte sie ihr Leid klagen? — Dem Vater? — Nie und nimmer. Denn — trotz allem — sie fühlte sich im Schifflein sitzen, das Matthias Brändli mit sicherer Hand steuerte, während Vater Dolder ferner und ferner an seinem alten Ufer hantierte. — Beten? — Ja, beten können, wenn man Gott grollt! — Je mehr Matthias ihr mit Beten voranging, desto tiefer ließ Aenneli die Hände hängen. «Warum hast du mich aus dem frohen Leben in diese Klause geführt, mit meinem Lebenshunger in diese weihrauchduftende Höhle gebettet?» So schrie es in ihr. Es? Wer ist dieses «es», das im Menschen schreit, wenn er die Worte verloren hat? Ist es nicht die lebendige Gottesseele, der Geist von seinem Geist? Das Geschöpf, das nach dem Schöpfer schreit?

Ostern war vorbei, die größte Arbeit des Pfarrers getan, die für Aenneli wenigstens insofern ihr Gutes gebracht, als der Pfarrer abends oft zu müde war zum Studieren und dann, wenn auch recht still, ein Stündlein heimelig bei zugeklappten Büchern neben seiner Frau saß. Kaum aber war Matthias’ Seele wieder ein wenig entspannt, so kam mit erneuter Wucht das heilige Dämonium über ihn. Da saßen sie nun eines Abends wieder im Sääli bei der Lampe und schwiegen. Vor den offenen Fenstern wogte der duftige Atem der Frühlingsnacht. Noch zeichneten sich die saftstrotzenden Gerten der Fliederbüsche vor einem blassen Himmel, in dessen Zenit schon Sterne flimmerten. Aennelis Augen waren auf die zackige Horizontlinie der Berge gerichtet, über welcher, kaum sichtbar, immer neue Himmelslichter erwachten. Auf einmal war ihr, als hätte sie im Garten Schritte gehört. Sie horchte auf. Ein leises Knarren, ein wischender Laut, und noch ehe der jungen Frau ein Ton von den Lippen geglitten, hatte sich in den dämmernden Ausschnitt des offenen Fensters der Schattenriß eines Mannes geschoben, der nun die Arme auf das Gesimse legte. Blitzschnell war in Aenneli eine Ahnung erwacht, die alsobald ihre Bestätigung fand durch die klangvolle Stimme, mit welcher der ungebetene Gast in das Dunkel der Stube rief: «Löit ech nid stören uf euem Sädel! — Aber gäll, Matthees, das isch doch jitz en anderi Läbtig?»

Unwirsch fuhr Matthias aus seinen Büchern auf: «Bisch du’s, Düß? — So chumm yne.» Ein feines Ohr mochte den leisen Aerger aus dieser Einladung heraus hören. Jedenfalls schickte Düß sich an weiterzugehen. Aber die Pfarrfrau war mit ihrem Mann ans Fenster getreten. «Halt, halt!» riefen beide, und Aenneli fügte hinzu: «Wartet, i chumen Ech cho uftue.» Die Schnellfüßige wußte dem unschlüssigen Flüchtling den Weg zu vertreten und brachte ihn nach kurzem Widerstreben, das sich bald als nicht ernst gemeint verriet, herein. — Endlich ein Gast im Hause, einer von auswärts, ein Mensch, mit dem sich reden ließ, einer, der in Flüehbrunnen nichts zu sagen hatte und einfach als Freund eintrat — ein wunderlicher Gesell, aber ein Gesell!

Der feinfühlige Düß hatte, kaum mit der jungen Frau ins Lampenlicht getreten, aus ihrem Antlitz gelesen, was sie empfand. War nun in ihm seit dem letzten Besuch eine Veränderung vor sich gegangen, oder zwang er sich erst angesichts des pfarrherrlichen Ehepaares, Düß hatte sein burschikoses Wesen draußen gelassen und gab sich, ohne seinen Humor zu verleugnen, ganz als den vernünftigen Freund und Studiengenossen. Er forderte sogar Matthias zu friedlichem Disput über theologische Fragen heraus und ermunterte ihn zur Standhaftigkeit gegenüber der Gemeinde. «Aber z’höch flüge muesch ne nid,» mahnte er bloß, «du muesch mit ne Möntsch sy. Mit nüt cha me d’Möntsche besser etwaffne, als wenn me ne a sich sälber zeigt, was e vernünftige Möntsch isch. Das tuet de Brave wohl, und di Uebersühnige schüüche’s wie der Tüüfel. — Möntsch sy mueß me, Matthee, Möntsch sy!» Dabei schlug Düß seinem Kommilitonen mit der flachen Hand aufs Knie, daß es klatschte. Aber es lag so viel Ernst in seinem Ton, daß Matthias ins Nachdenken verfiel.

Aenneli redete nicht drein. Ihre Blicke verglichen die beiden Freunde, wobei das vergeistigte Antlitz ihres Mannes sie zu stiller Bewunderung herausforderte. Es hatte für sie eines Gegenstückes bedurft, um das stille Leuchten auf dieser ihr so vertrauten Stirne zu erkennen. Düßens Gesicht trug die Spuren des Kampfes, aber der Siegerglanz fehlte darin. Eine gewaltige, herbe, herrschsüchtige Männlichkeit lag in seinen schönen Zügen, eine süße Leidenschaftlichkeit, die ein Weib zu heimlichem Beben bringen konnte, dann aber auch wieder ein herzandringender Ruf nach Mitleid und Güte, kurz, es war ein Antlitz, das man nicht betrachten konnte, ohne in Verwirrung zu geraten. Aenneli wandte ihre Blicke wieder Matthias zu und dachte mit einem Gefühl herzlicher Verehrung: «Du bist mein Mann.»

Diesmal ließ sich Düß wider Erwarten leicht bewegen, Nachtquartier anzunehmen. Bald darauf sagte er, des Disputierens müde: «Mr hei hütt no nüt gsunge.»

Matthias erschrak. — Das stille, horchende Dorf! Die offenen Fenster! Schon stand er auf, um sie zu schließen. Da lachte Düß sein altes dröhnendes Lachen. «La se numen offe! Was meinsch, daß i singe well? Du trouisch mr nidemal zue z’wüsse, was i dir schuldig bi.»

Düß war aufgesprungen. Aenneli fürchtete, er werde wieder davonlaufen, und flüsterte Matthias zu, indem sie ihm heftig die Hand drückte: «La ne doch!»

«I troue drs scho zue, Düß, aber begryf doch,» sagte der Pfarrer, «daß es nid ganz glychgültig isch, bsunders hie, was ds Dorf usem Pfarrhus ghört.»

«Was söll es usem Pfarrhus ghöre?» fragte Düß, einlenkend, sich selber. Er warf einen schwer bedeutsamen Blick auf seine beiden Gastgeber, setzte sich ans Klavier und begann schwermütige Volkslieder zu singen von Liebe und Leid, bald dringend und gewaltig, bald einschmeichelnd und bald in wühlendem Weh. Der Sänger achtete sich der Zuhörer nicht. Er sah nicht, daß der Pfarrer am Kachelofen stand und mit Bangen dem Gesang folgte. Er sah auch nicht, daß Aenneli zu Matthias hinfloh, ihm die Hände auf die Schultern und das Haupt an die Brust legte, als wollte sie seinen Herzschlag belauschen.

«So,» sagte endlich Düß, «jitz no zum Schluß — aber de bis de z’fride mit mr... ds Abedlied vo dym Namesvetter!» Dann sang er:

«Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar;
der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget,
der weiße Nebel wunderbar.»

Erst jetzt, als er aufstand und man sich anschickte, zur Ruhe zu gehen, sah Düß, daß Aenneli geweint hatte. Man stieg hinauf. Frau Aenneli geleitete Düß in sein Zimmer, machte Licht, schleppte Wasser herbei und schaute nach, ob auch sonst alles in Ordnung sei. Als sie in das eigene Schlafgemach kam, war sie allein. Matthias saß bereits wieder nebenan an seinem Schreibtisch und hatte die Türe so angelehnt, daß nur ein schmaler Lichtstreifen herüberschimmerte. Einen Augenblick überlegte sie, ob sie nicht hingehen und ihrem Manne einen Gutenachtkuß abnötigen wolle. Nein, dachte sie, jetzt hat er uns einen ganzen Abend geopfert. — Aber... wie kann er nur nach diesem Abend... Ist nicht vielleicht jetzt der Augenblick, ihn zu einem Blick in mein Herz zu zwingen?... Nein, nicht so.

Aenneli legte sich zu Bett. Sie hatte oft in solchen Stunden in die Kissen hinein geschluchzt. Heute weinte sie nicht mehr. Aber von Schlafen war keine Rede. Zuweilen lauschte sie nach der Studierstube hin. Liest er nur? — Betet er? — Sie glaubte das Geräusch der schreibenden Feder zu vernehmen. Sie lauschte — lauschte, und verfiel darob doch endlich in einen ganz leichten Schlummer, aus dem der Schlag der Studierstubenuhr, jenes Hochzeitsgeschenkes der Gemeinde, sie wieder aufschreckte. Noch immer kritzelte die Feder. — Ist’s noch nicht genug? — Jetzt wurde es still. Der Lehnstuhl knackte leise, wurde zurückgeschoben. Jetzt stand er auf. Aenneli richtete sich gespannten Blickes und mit stockendem Atem auf. Die Worte, in denen sie ihm das Herz zu leeren gedachte, entfielen ihr plötzlich wieder. Aber sie raffte sich, da die Türe angelehnt blieb, auf, verließ ihr Lager, schlich sich an die Türe und guckte durch den Spalt. Er stand vor seinem Büchergestell und blätterte in einem schweren Bande. — Genug! In plötzlichem Entschluß stieß sie die Türe auf und rief, rasch an den Schreibtisch tretend: «Alles Ding hat seine Zeit, Jas.» Lachend rief sie es und mit leuchtenden Augen. Und ehe Matthias diesen Ueberfall begriffen, hatte sie das Licht abgedreht, ihm das Buch aus der Hand geschlagen und hielt ihn mit kräftigen Armen umschlungen. «Jas, Jas, bin i dir de o gar nütmeh?»


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