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Der Ausgestoßene

Gegen Abend hatte das Gewitter den Höhepunkt erreicht. Der Regen kam wütend herabgestürzt, wild krachte der Donner, und unaufhörlich zuckten die Blitze über den Himmel hin; es war, als ob in den Lüften eine Schlacht zwischen Göttern und Dämonen rase. Schwarze Wolken flatterten daher wie die Fahnen des Verderbens. Der Ganges war zu wilder Wut aufgepeitscht, und die Bäume an seinen Ufern schwankten seufzend und stöhnend hin und her.

In einem der Häuser am Fluß, in Tschandernagur, saß bei geschlossenen Türen und Fenstern ein Mann neben seiner Frau auf dem Bett und redete eindringlich auf sie ein. Eine irdene Lampe brannte neben ihnen.

Scharat, der Mann, sagte: »Ich wollte, du bliebst noch ein paar Tage hier, bis du ganz wiederhergestellt bist, dann könntest du frisch und gesund nach Hause zurückkehren.«

Kiran erwiderte: »Ich bin schon ganz wiederhergestellt. Es kann mir unmöglich schaden, wenn ich jetzt reise.«

Jeder Verheiratete wird sofort begreifen, daß die Unterhaltung nicht ganz so kurz war, wie ich sie berichtet habe. Die Sache selbst war nicht schwierig, aber die Gründe für und wider wollten sie zu keiner Entscheidung kommen lassen. Wie ein steuerloses Boot drehte sich die Diskussion immer um denselben Punkt, bis sie zuletzt in Gefahr kam, von einem Tränenstrom überflutet zu werden.

Scharat sagte: »Der Doktor meint, du solltest noch ein paar Tage hier bleiben.«

»Dein Doktor weiß natürlich alles«, erwiderte Kiran.

»Aber du weißt doch auch, daß gerade jetzt überall so viel Krankheiten sind!« sagte Scharat. »Du tätest gut, noch ein paar Monate hier zu bleiben.«

»Als ob hier alle Welt gesund wäre!«

Die Sache war die: Kiran war der allgemeine Liebling ihrer Verwandten und Freunde, so daß, als sie ernstlich erkrankte, alle in großer Sorge um sie waren. Die Besserwisser im Dorfe zwar fanden es lächerlich von ihrem Gatten, daß er sich um eine Frau so anstellte und sogar Luftveränderung für sie für nötig hielt. Als ob noch niemals eine Frau krank gewesen wäre! Und meinte er denn, daß an dem Ort, wohin er sie bringen wollte, die Leute unsterblich seien? Aber Scharat und seine Mutter hatten für solche Reden taube Ohren, ihnen war das Leben ihres Lieblings wichtiger als alle Weisheit eines Dorfes. Denn in solchen Fällen haben die Menschen immer ihren eigenen Maßstab. So waren sie also nach Tschandernagur gereist und Kiran war genesen, wenn sie auch noch sehr schwach war. Ihr Gesichtchen war so schmal und blaß, daß der Gatte, wenn er sie ansah, von Mitleid erfüllt war, und der Gedanke, wie nahe sie daran gewesen war, ihm zu entgleiten, machte sein Herz erzittern.

Kiran liebte fröhliche Geselligkeit; das einsame Leben in der Villa am Fluß war gar nicht nach ihrem Geschmack. Es gab nichts zu tun, keine interessanten Nachbarn, und sie haßte es, sich den ganzen Tag mit Medizin und Krankenkost zu beschäftigen. Sie hatte genug von dem ewigen Aufwärmen und Einlöffeln. Dies war der Gegenstand, über den die Gatten sich unterhielten, als sie an diesem stürmischen Abend zusammen im Schlafzimmer saßen.

Solange Kiran sich zu Erörterungen herbeiließ, war ein ehrlicher Kampf möglich. Aber als sie nun aufhörte, ihm zu antworten, den Kopf zurückwarf und verzweifelt nach der andern Seite starrte, war der arme Mann entwaffnet. Er war schon im Begriff, sich bedingungslos zu ergeben, als ein Diener etwas durch die geschlossene Tür rief.

Scharat stand auf und öffnete die Tür. Der Diener berichtete, daß ein Boot im Sturm gekentert, und daß es einem der Insassen, einem jungen Brahmanenknaben, gelungen sei, ans Ufer zu schwimmen und in ihrem Garten zu landen.

Kiran war mit einem Male wieder sie selbst mit all ihrer liebreichen Hilfsbereitschaft. Sie machte sich sofort daran, trockenes Zeug für den Knaben herauszusuchen. Dann wärmte sie eine Tasse Milch und ließ ihn in ihr Zimmer kommen.

Der Knabe hatte langes, lockiges Haar, große ausdrucksvolle Augen, und noch keine Spur von Flaum auf dem Gesicht. Nachdem Kiran ihn genötigt hatte, etwas Milch zu trinken, mußte er ihr alles von sich erzählen. Er sagte ihr, daß er Nilkanta hieße und zu einer Schauspielertruppe gehöre. Sie waren unterwegs nach einer benachbarten Villa, um dort zu spielen, als das Boot plötzlich im Sturm gekentert war. Er hatte keine Ahnung, was aus seinen Gefährten geworden war. Er war ein guter Schwimmer, und seine Kräfte hatten gerade noch gereicht, um ans andere Ufer zu gelangen.

Der Knabe blieb bei ihnen. Daß er so mit genauer Not einem schrecklichen Tode entronnen war, erweckte Kirans warme Teilnahme für ihn. Scharat fand, daß die Ankunft des Knaben gerade in diesem Augenblick sich sehr glücklich traf, da seine Frau Unterhaltung haben und sich vielleicht bewegen lassen würde, noch eine Zeitlang zu bleiben. Auch ihre Schwiegermutter freute sich über die Aussicht, sich dem brahmanischen Gast wohltätig erweisen zu können. Und Nilkanta selbst war entzückt, daß er sowohl seinem Prinzipal wie dem Jenseits entronnen war und zugleich in dieser reichen Familie eine Heimat gefunden hatte.

Aber in kurzer Zeit wurden Scharat und seine Mutter andern Sinnes und sehnten sich danach, ihn wieder loszuwerden. Der Knabe fand ein geheimes Vergnügen daran, Scharats Pfeifen zu rauchen; er ging mit größter Seelenruhe im strömenden Regen mit Scharats seidenem Regenschirm davon, um einen Spaziergang durchs Dorf zu machen, und freundete sich mit jedem, den er traf, an. Dazu kam noch, daß er aus dem Dorf einen Bastardköter mitbrachte, den er so rücksichtslos verzog, daß er mit schmutzigen Pfoten hereinkam und Spuren seines Besuchs auf Scharats reiner Bettdecke zurückließ. Dann sammelte er eine treu ergebene Schar von Jungen jeden Standes und Alters um sich, und die Folge war, daß in der ganzen Nachbarschaft kein einziger Mango in dem Sommer mehr zur Reife kam.

Es war kein Zweifel, daß Kiran den Knaben verzog. Scharat machte ihr oft Vorstellungen deswegen, aber sie hörte nicht auf ihn. Sie putzte ihn geckenhaft heraus mit Scharats abgelegten Kleidern oder mit neuen, die sie ihm schenkte. Und weil sie sich zu ihm hingezogen fühlte und auch neugierig war, mehr über ihn zu erfahren, ließ sie ihn beständig in ihr Zimmer rufen. Wenn sie gebadet und zu Mittag gegessen hatte, pflegte sie auf ihrem Bett zu sitzen, ihre silberne Betelbüchse neben sich, und während das Mädchen ihr das Haar kämmte und trocknete, stand Nilkanta vor ihr und deklamierte Stücke aus seinen alten Rollen, wobei er durch Gesang und Gesten das Spiel belebte, während seine Koboldlocken ihn wild umflatterten. So gingen die langen Nachmittagstunden fröhlich hin. Kiran versuchte oft, Scharat zu überreden, sich als Zuhörer zu ihnen zu setzen, aber Scharat, der den Jungen von Herzen verabscheute, lehnte ab. Auch konnte Nilkanta seine Rolle nicht halb so gut spielen, wenn Scharat da war. Seine Mutter ließ sich mitunter bewegen zu kommen, in der Hoffnung, in den Vorträgen heilige Namen zu hören; aber die Neigung zu ihrem Mittagsschläfchen erwies sich stärker als ihre Andacht; sie nickte jedesmal bald ein.

Der Knabe bekam oft Knüffe und Ohrfeigen von Scharat, aber da das nichts war im Vergleich zu dem, was er bei der Schauspielertruppe gewohnt gewesen war, machte er sich nicht das geringste daraus. Er hatte aus den Erfahrungen, die er in seinem kurzen Leben gemacht hatte, den Schluß gezogen, daß das menschliche Leben aus Essen und Schlägen besteht, und daß die Schläge bei weitem überwiegen.

Es war schwer, Nilkantas Alter zu bestimmen. Für 14 oder 15 war sein Gesicht zu alt; für 17 oder 18 zu jung. Er war entweder ein frühreifer Knabe oder ein knabenhafter Jüngling. Die Sache war die, daß er, als er als ganz kleiner Junge zu der Schauspielertruppe kam, die Rollen der Radhika, der Damajanti, der Sita und der Gefährtin Bidjas gespielt hatte. Die Vorsehung war rücksichtsvoll genug gewesen, ihn genau so groß wachsen zu lassen, wie sein Direktor ihn brauchte, und dann sein Wachstum anzuhalten. Da jeder sah, wie klein er war, und er selbst sich auch sehr klein vorkam, wurde ihm nicht die seinem Alter gebührende Achtung zuteil. Alles dies kam zusammen, um ihn mitunter als einen unreifen Siebzehnjährigen erscheinen zu lassen, und dann wieder als einen Vierzehnjährigen, der aber selbst für einen Siebzehnjährigen schon zu viel wußte. Und als keine Spur von Flaum auf seinem Gesicht sich zeigen wollte, wurde die Frage noch schwieriger. Entweder infolge des Rauchens oder weil er sich gewöhnt hatte, altklug zu reden, zogen sich Falten um seinen Mund, die ihn alt und hart erscheinen ließen, aber aus seinen großen Augen leuchtete Unschuld und Jugend. Ich glaube, sein Herz war jung geblieben, nur seine äußere Erscheinung war zu früh gereift in der Treibhausatmosphäre, die das grelle Licht der Öffentlichkeit um ihn geschaffen hatte.

In dem stillen Schutz von Scharats Haus und Garten in Tschandernagur hatte die Natur Muße, ungehindert ihr Werk zu tun. Er hatte unnatürlich lange im Zustande der Kindheit verharrt, jetzt glitt er unbemerkt und schnell aus diesem Stadium heraus und seine siebzehn oder achtzehn Jahre kamen zu ihrem Recht. Niemand bemerkte die Veränderung; sie zeigte sich zuerst darin, daß er sich schämte, wenn Kiran ihn wie einen Knaben behandelte. Als die lustige Kiran ihm eines Tages vorschlug, er solle die Rolle einer Gesellschafterin spielen, verletzte ihn der Gedanke, daß er Frauenkleider anziehen solle, obgleich er selbst nicht wußte, warum. Und als sie ihn rief, damit er ihr seine alten Rollen vorspiele, verschwand er. Es kam ihm nie der Gedanke, daß er auch jetzt noch nicht etwas viel Besseres war als ein Bursche für alles bei einer herumziehenden Truppe. Er entschloß sich sogar, bei Scharats Geschäftsführer etwas Unterricht zu nehmen. Aber da Nilkanta der verzogene Liebling seiner Herrin war, konnte der Geschäftsführer ihn nicht ausstehen. Auch machte es die Gewohnheit seines unsteten Lebens ihm unmöglich, seine Gedanken längere Zeit auf eine Sache zu richten; bald begann das Alphabet einen verworrenen Tanz vor seinen Augen aufzuführen. Er pflegte lange Zeit am Fluß zu sitzen, den Rücken an einen Tschampabaum gelehnt und das geöffnete Buch auf dem Schoß. Die Wellen seufzten zu seinen Füßen, Boote trieben an ihm vorüber, und Vögel zwitscherten um ihn herum und schwirrten rastlos über ihn hin. Welche Gedanken ihn bewegten, wenn er so dasaß und in sein Buch starrte, das wußte nur er, und vielleicht wußte er selbst es auch nicht. Er kam nie von einem Wort zum andern, aber der erhebende Gedanke, daß er tatsächlich ein Buch las, füllte seine Seele mit stolzer Freude. Immer, wenn ein Boot vorbeikam, hob er sein Buch hoch und tat so, als ob er eifrig läse, indem er mit lauter Stimme deklamierte. Aber sobald die Zuhörer vorüber waren, ließ sein Eifer nach. Früher sang er seine Lieder mechanisch, aber jetzt erregten ihre Melodien seine Seele. Der Text war unbedeutend und voll von spielerischen Stabreimen. Und das Wenige, was an Sinn darin lag, ging über sein Verständnis. Doch wenn er sang:

Zweigeborener Vogel, ach, welch Unheil hat dich hergetragen?
Was tat dir unsre Königin, daß du sie willst im Wald erschlagen?

so fühlte er sich in eine andere Welt versetzt, zu Wesen anderer Art. Diese vertraute Erde und sein eigenes armes Leben wurden zu Musik, und er selbst wurde ein anderer. Jenes Märchen von der Gans und der Königstochter warf ein Bild von unendlicher Schönheit auf den Spiegel seiner Seele. Es ist unmöglich zu sagen, welche Rolle er selbst in seiner Phantasie spielte, aber der arme und verlassene kleine Sklave der Schauspielertruppe war ganz vergessen.

Wenn ein armes verwahrlostes Kind sich am Abend hungrig und schmutzig in seinem elenden Heim schlafen legt und von Prinzen und Prinzessinnen und Märchenschätzen träumt, dann befreit sich in der dunklen Hütte mit ihrer trübe flackernden Kerze die Seele von den Banden der Armut und des Elends und schreitet in jugendlicher Schönheit und mit strahlendem Gewande kühn durch das Märchenreich, wo nichts unmöglich ist.

So schuf auch dieser herumgestoßene, heimatlose Knabe sich und seine Welt neu, wenn er durch die Melodien seiner Lieder schritt. Das plätschernde Wasser, die rauschenden Blätter, die zwitschernden Vögel; die Göttin, die ihm, dem Hilflosen, Verlassenen Obdach gegeben hatte, ihr Gesicht voller Anmut und Liebreiz, ihre wundervollen Arme mit den glänzenden Spangen, ihre rosigen Füße, zart wie Blumenknospen, alles dies wurde wie durch einen Zauber eins mit der Musik seines Liedes. Aber wenn das Lied zu Ende war, so schwand das Zauberbild, und er war wieder der Nilkanta der kleinen Wanderbühne mit seinen wilden Koboldlocken. Und dann kam Scharat herein, noch ganz erregt über die Klagen seines Nachbarn, dessen Mangobäume geplündert waren, und ohrfeigte und knuffte ihn. Und der Bursche Nilkanta, der Verführer der Dorfjugend, ging hinaus, um neues Unheil anzustiften zu Lande und zu Wasser und in der Luft, auf den Zweigen der Bäume.

Bald nach der Ankunft Nilkantas kam Scharats jüngerer Bruder Satisch, um seine Ferien in Tschandernagur zuzubringen. Kiran war entzückt, eine neue Unterhaltung zu finden. Sie und Satisch waren im gleichen Alter, und die Zeit verging ihnen angenehm mit Spiel und Streit und Verkleidungen und Lachen und selbst Weinen. Sie schlich sich von hinten an ihn heran und hielt ihm plötzlich die Augen zu, mit Scharlachpaste an den Fingern, sie schrieb »Affe« auf seinen Rücken, oder schloß ihn unter schallendem Gelächter in sein Zimmer ein. Satisch seinerseits gab ihr nichts nach; er nahm ihr ihre Schlüssel und Ringe weg, mischte Pfeffer unter ihren Betel und band sie unbemerkt am Bettpfosten fest.

Gott mag wissen, was inzwischen in den armen Nilkanta gefahren war. Er war plötzlich so voll Bitterkeit, daß er sie an irgend jemandem oder irgend etwas auslassen mußte. Er verprügelte seine treu ergebenen Anhänger, so daß sie laut weinend davonliefen. Er stieß seinen Lieblingsköter, bis der Himmel von seinem Heulen widerhallte. Wenn er spazieren ging, bestreute er seinen Weg mit Zweigen und Blättern, die er mit seinem Stock von den Sträuchern am Wege hieb.

Kiran mochte den Menschen gern etwas Gutes zu essen vorsetzen. Nilkanta konnte im Essen Unglaubliches leisten und wies nie einen guten Bissen zurück, wie oft man ihn ihm auch bot. Daher ließ Kiran ihn gern zu sich rufen, damit er bei ihr aß; es machte ihr die größte Freude zuzusehen, wie dieser Brahmanenknabe sich ordentlich satt aß, und sie überhäufte ihn mit Leckerbissen. Nachdem Satisch gekommen war, hatte sie viel weniger Zeit für Nilkanta übrig und war selten dabei, wenn er sein Essen bekam. Sonst hatte ihre Abwesenheit seinen Appetit nicht beeinträchtigt, und er stand nicht auf, bis er seine Milch bis auf den letzten Tropfen getrunken und die Tasse noch gründlich mit Wasser nachgespült hatte. Aber jetzt war er unglücklich, wenn Kiran nicht dabei war, um ihn zu diesem oder jenem Gericht zu nötigen, und nichts wollte ihm schmecken. Er stand auf, ohne viel gegessen zu haben, und sagte gepreßt: »Ich bin nicht hungrig.« Er bildete sich ein, daß Kiran von seiner dauernden Appetitlosigkeit hören würde; er malte sich ihre Besorgnis aus und hoffte, sie würde ihn rufen lassen und ihn zum Essen drängen. Aber nichts dergleichen geschah. Kiran erfuhr nie davon und ließ ihn nicht rufen, und das Mädchen aß alles auf, was er übrigließ. Dann löschte er die Lampe in seinem Zimmer aus, warf sich in der Dunkelheit aufs Bett und drückte krampfhaft schluchzend das Gesicht in die Kissen. Was war sein Kummer? Wer hatte ihm etwas getan? Und wer sollte ihm helfen? Endlich, wenn niemand kam, neigte sich der Schlaf mütterlich über ihn und besänftigte liebkosend das wehe Herz des mutterlosen Knaben.

Nilkanta kam zu der festen Überzeugung, daß Satisch Kiran gegen ihn einnahm. Wenn Kiran zerstreut war und ihm nicht wie sonst freundlich zunickte, zog er sofort daraus den Schluß, daß Satisch ihn bei ihr verleumdet hätte. Er betete jeden Tag zu den Göttern mit der ganzen Inbrunst seines Hasses, sie möchten ihn in seinem nächsten Leben als Satisch und Satisch als Nilkanta geboren werden lassen. Er glaubte, daß der Zorn eines Brahmanen nicht wirkungslos sei, und je mehr er Satisch mit dem Feuer seiner Flüche zu verzehren suchte, je mehr verzehrte sich sein eigenes Herz. Und dabei hörte er, wie Satisch oben mit seiner Schwägerin scherzte und lachte.

Nilkanta wagte es nie, Satisch seine Feindschaft offen zu zeigen. Aber er fand hundert kleine Gelegenheiten, ihn zu ärgern. Wenn Satisch beim Baden auf den Fluß hinausschwamm und seine Seife auf den Stufen des Badeplatzes liegen ließ, so war sie, wenn er zurückkam, allemal verschwunden. Einmal schwamm ihm sein schöner gestreifter Lieblingskittel davon, und er glaubte, der Wind habe ihn ins Wasser geweht.

Eines Tages wollte Kiran Satisch eine Unterhaltung verschaffen und ließ Nilkanta rufen, daß er wie sonst seine Rollen vordeklamierte. Aber er stand in finsterem Schweigen da. Ganz überrascht fragte ihn Kiran, was ihm fehle. Nilkanta gab keine Antwort. Und als sie ihn noch einmal drängte, er solle ein besonderes Lieblingsstück von ihr vortragen, sagte er: »Ich habe es vergessen« und ging hinaus.

Endlich kam die Zeit ihrer Rückkehr nach Hause. Jeder war mit Packen beschäftigt. Satisch sollte mit ihnen reisen. Aber zu Nilkanta sagte niemand ein Wort. Die Frage, ob er mitgehen solle oder nicht, schien niemandem eingefallen zu sein.

Natürlich war diese Frage von Kiran aufgeworfen worden, und sie hatte den Vorschlag gemacht, ihn mitzunehmen. Aber sowohl ihr Gatte wie seine Mutter und sein Bruder waren so energisch dagegen gewesen, daß sie die Sache aufgab. Ein paar Tage vor der Abreise ließ sie den Knaben rufen und riet ihm mit freundlichen Worten, wieder zu den Seinen zurückzukehren.

Er hatte sich solange von ihr vernachlässigt gefühlt, daß ihr gütiger Ton ihn jetzt überwältigte; er brach in Tränen aus. Auch Kirans Augen füllten sich mit Tränen. Ihr Gewissen sagte ihr, daß sie hier gedankenlos und selbstsüchtig ein Band geknüpft hatte, das nicht dauern konnte.

Aber Satisch wurde unwillig, als er diesen großen Jungen weinen sah. »Was steht der Narr da und heult, statt zu sprechen?« sagte er. Und als Kiran ihn ein gefühlloses Geschöpf schalt, erwiderte er: »Liebe Schwester, das verstehst du nicht. Du bist zu gut und vertrauensvoll. Dieser Bursche kommt von Gott weiß wo hergelaufen und wird wie ein König behandelt. Natürlich hat der Tiger nicht Lust, wieder in eine Maus verwandelt zu werden. Bezieht sich auf eine Sage von einem Heiligen, der eine zahme Maus in einen Tiger verwandelte. Und augenscheinlich hat er sich gemerkt, daß dein Herz mit ein paar Tränen leicht zu rühren ist.«

Nilkanta eilte hinaus. Er hätte ein Messer sein mögen, um Satisch zu zerfleischen, eine Nadel, um ihn durch und durch zu stechen, ein Feuer, um ihn zu Asche zu verbrennen. Aber Satisch trug nicht einmal eine Schramme davon. Nur sein eigenes Herz blutete unaufhörlich.

Satisch hatte ein großes Tintenfaß von Kalkutta mitgebracht. Der Tintenbehälter steckte in einem Perlmutter-Boot, das von einer neusilbernen Gans gezogen wurde, die einen Federhalter trug. Er liebte es sehr und reinigte es jeden Tag sorgfältig mit einem alten seidenen Taschentuch. Kiran pflegte dem Vogel lachend auf seinen silbernen Schnabel zu klopfen und zu singen:

»Zweigeborner Vogel, ach, welch Unglück hat dich hergetragen?«

und dann begannen die beiden sich wie gewöhnlich zu necken.

Am Tage vor ihrer Abreise fehlte das Tintenfaß und war nirgends zu finden. Kiran sagte lachend: »Schwager, deine Gans ist weggeflogen, um deine Damajanti zu suchen Satisch eine Gattin zu suchen.

Aber Satisch war in großer Wut. Er war fest überzeugt, daß Nilkanta es gestohlen hätte, denn man hatte ihn am Abend vorher um das Zimmer herumlungern sehen. Er ließ den Angeschuldigten rufen. Kiran war auch da. »Du hast mein Tintenfaß gestohlen, du Dieb!« brach er los. »Bring es sogleich her!« Nilkanta hatte von Scharat alle Strafen und Züchtigungen, ob sie nun verdient waren oder unverdient, mit vollkommenem Gleichmut hingenommen. Aber als man ihn in Kirans Gegenwart einen Dieb schalt, flammten seine Augen in wildem Zorn auf, seine Brust wogte, und seine Kehle war wie zugeschnürt. Wenn Satisch noch ein Wort gesagt hätte, so hätte er sich wie eine wilde Katze auf ihn gestürzt und seine Nägel als Krallen gebraucht.

Kiran war sehr unglücklich über diese Szene. Sie führte den Knaben hinaus in ein anderes Zimmer und sagte in ihrem liebevollen, gütigen Ton: »Nilu, wenn du das Tintenfaß wirklich genommen hast, gib es mir ganz still zurück; dann will ich schon dafür sorgen, daß dir niemand ein Wort darüber sagt.« Große Tränen rannen über die Wangen des Knaben, bis er endlich bitterlich weinend sein Gesicht in den Händen verbarg. Kiran ging zu den andern zurück und sagte: »Ich bin sicher, daß Nilkanta das Tintenfaß nicht genommen hat.« Aber Scharat und Satisch waren ebenso fest überzeugt, daß kein anderer als Nilkanta es getan hätte. »Ganz gewiß nicht!« versicherte Kiran. Scharat wollte mit dem Jungen ein Kreuzverhör anstellen, aber seine Frau ließ es nicht zu.

Dann machte Satisch den Vorschlag, sein Zimmer und seinen Koffer zu untersuchen. »Wenn ihr das zu tun wagt,« sagte Kiran, »so werde ich euch nie in meinem Leben verzeihen. Ihr sollt diesem armen unschuldigen Knaben nicht nachspionieren.« Und dabei füllten sich ihre Augen mit Tränen. Das entschied die Sache und bewirkte, daß man Nilkanta in Ruhe ließ.

Kirans Herz quoll über von Mitleid mit dem armen heimatlosen Jungen, den man so hatte kränken wollen. Sie kaufte zwei neue Anzüge und ein Paar Schuhe, und mit diesen Sachen und mit einer Banknote ging sie am Abend leise in Nilkantas Zimmer. Sie wollte ihm diese Abschiedsgeschenke als Überraschung in den Koffer legen. Der Koffer selbst war auch ein Geschenk von ihr.

Aus ihrem Schlüsselbund suchte sie einen aus, der paßte, und öffnete geräuschlos den Koffer. Er war so vollgestopft mit verschiedenen Dingen, daß die neuen Kleidungsstücke nicht mehr Platz darin hatten. Daher schien es ihr besser, alles herauszunehmen und den Koffer für ihn zu packen. Zuerst kamen Messer, Kreisel, Rollen mit Drachenschnur, Bambuszweige, polierte Muscheln zum Schälen von unreifen Mangos, Böden von zerbrochenen Gläsern, kurz all solche Dinge, woran ein Knabenherz hängt. Dann kam eine Schicht Wäsche, rein und schmutzig durcheinander. Und ganz unten, unter der Wäsche, lag das vermißte Tintenfaß mit Gans und allem!

Kiran stieg das Blut heiß in die Wangen, sie sank wie betäubt neben dem Koffer nieder, das Tintenfaß in der Hand, ganz verwirrt und ratlos.

Inzwischen war Nilkanta von hinten ins Zimmer gekommen, ohne daß Kiran ihn bemerkte. Er hatte alles gesehen und glaubte, daß Kiran sich bei ihm eingeschlichen habe, um ihn als Dieb zu entlarven, und daß seine Tat nun entdeckt sei. Wie konnte er je hoffen, sie zu überzeugen, daß er kein Dieb sei und daß nur Rachsucht ihn bewogen hatte, das Tintenfaß wegzunehmen mit der Absicht, es bei nächster Gelegenheit in den Fluß zu werfen? In einem schwachen Augenblick hatte er es statt dessen in seinem Koffer versteckt. »Ich bin kein Dieb!« rief es in ihm; »ein Dieb bin ich nicht!« Was war er denn? Was hätte er sagen können? Er hatte gestohlen und war doch kein Dieb! Er würde Kiran nie begreiflich machen können, welch schweres Unrecht sie ihm tat, wenn sie ihn für einen Dieb hielt! Und wie konnte er es je vergessen, daß sie versucht hatte, ihm nachzuspionieren?

Endlich legte Kiran mit einem tiefen Seufzer das Tintenfaß in den Koffer zurück, und als sei sie selbst der Dieb, verbarg sie es wieder unter der Wäsche und den anderen Dingen, und obenauf legte sie die Geschenke und die Banknote, die sie mitgebracht hatte.

Am nächsten Tage war der Knabe nirgends zu finden. Die Leute im Dorf hatten ihn nicht gesehen, die Polizei konnte keine Spur von ihm entdecken. »Nun laßt uns doch einmal unsere Neugierde befriedigen und seinen Koffer ansehen«, meinte Scharat. Aber Kiran ließ es nicht zu.

Sie ließ den Koffer auf ihr Zimmer bringen, und nachdem sie das Tintenfaß herausgenommen hatte, warf sie es in den Fluß.

Die ganze Familie kehrte nach Hause zurück. Am nächsten Tage lag der Garten verlassen da. Nur Nilkantas hungriger kleiner Köter lief suchend am Flußufer auf und ab und heulte und heulte, als ob ihm das Herz brechen wollte.


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