Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die glückverheißende Schau

Kantitschandra war noch jung, doch nachdem ihm seine Gattin gestorben war, suchte er keine zweite Gefährtin, sondern gab sich ganz seiner Leidenschaft für die Jagd hin. Sein Körper war lang und schlank, zäh und behende, sein Blick scharf, seine Hand verfehlte nie das Ziel. Er ging wie ein Landmann gekleidet, und seine Gefährten waren der Wettkämpfer Hira Singh, der Sänger Khan Saheb, Mian Saheb, Tschakkanlal und viele andere. An müßigen Begleitern fehlte es ihm nicht.

Im Monat Agrahayan November-Dezember. jagte Kanti mit einigen Jagdgefährten im Sumpfgebiet von Naidighi. Sie waren in Booten, und ein ganzes Heer von Dienern, gleichfalls in Booten, füllte die Badestufen. Die Dorffrauen fanden es fast unmöglich, zu baden oder Wasser zu holen. Den ganzen Tag lang erzitterten Land und Wasser von den Schüssen ihrer Flinten, und Abend für Abend scheuchte ihre Musik den Schlaf hinweg.

Eines Morgens, als Kanti in seinem Boot saß und seine Lieblingsflinte reinigte, wurde er plötzlich durch einen Schrei wie von einer wilden Ente aufgeschreckt. Als er aufsah, erblickte er ein Dorfmädchen, das zwei weiße junge Enten im Arm hielt und sich dem Wasser näherte. Der kleine Fluß stand fast ganz still, da viele Schlingpflanzen seinen Lauf hemmten. Das Mädchen setzte die Vögel ins Wasser und bewachte sie ängstlich. Augenscheinlich war die Nähe der Jäger die Ursache ihrer Unruhe und nicht die Wildheit der Enten.

Die Schönheit des Mädchens war von einer seltenen Frische und Unberührtheit, als ob sie eben erst aus der Werkstatt Wischwakarmans Der göttliche Bildner in der indischen Mythologie. hervorgegangen wäre. Es war schwer, ihr Alter zu erraten. Ihre Gestalt war fast die eines Weibes, aber ihr Antlitz hatte einen Ausdruck von so kindlicher Reinheit, daß man sah, die Eindrücke der Welt hatten in ihrer Seele noch keine Spur hinterlassen. Sie schien selbst nicht zu wissen, daß sie die Schwelle des Jungfrauentums erreicht hatte.

Kanti hatte mit dem Reinigen seiner Flinte aufgehört. Er saß da, wie von einem Zauber gebannt. Solch Antlitz hätte er nie an solchem Ort zu finden erwartet. Und doch paßte seine Schönheit besser in diese Umgebung hinein als in die Pracht eines Palastes. Eine Knospe ist lieblicher am Zweig als in einer goldenen Vase. Das blühende Schilf glänzte im Herbsttau und in der Morgensonne, und in diesem Rahmen erschien das frische, jugendreine Antlitz dem entzückten Auge Kantis wie ein heiliges Tempelbild. Kalidasa hat vergessen zu besingen, wie Schivas Gattin, die Bergkönigin selbst, zuweilen zum jungen Ganges herabstieg mit ebensolchen jungen Entlein im Arm. Während er noch in ihren Anblick versunken war, fuhr das Mädchen erschrocken zusammen, und einen halbartikulierten Schmerzensschrei ausstoßend, ergriff sie hastig die Enten und barg sie an ihrer Brust. Im nächsten Augenblick hatte sie das Flußufer verlassen und war in dem nahen Bambusdickicht verschwunden. Als Kanti sich umsah, erblickte er einen seiner Leute, der mit einer ungeladenen Flinte auf die Enten zielte. Er sprang sofort auf ihn zu und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Der verblüffte Spaßmacher beendete seinen Spaß am Boden. Kanti fuhr mit dem Reinigen seiner Flinte fort.

Aber die Neugier ließ ihm doch keine Ruhe und trieb ihn zu dem Dickicht, in dem er das Mädchen hatte verschwinden sehen. Als er sich hindurchgearbeitet hatte, befand er sich auf einem Bauernhofe, der von der Wohlhabenheit des Besitzers Zeugnis gab. An einer Seite war eine Reihe Scheunen mit kegelförmigen Strohdächern, an der andern ein reinlich gehaltener Kuhstall, an dessen Ende ein Jujubenstrauch wuchs. Unter dem Strauch saß das Mädchen, das er am Morgen gesehen hatte, und schluchzte über eine verwundete Taube, in deren gelben Schnabel sie aus dem feuchten Zipfel ihres Gewandes etwas Wasser zu tropfen versuchte. Eine graue Katze hatte die Vorderpfoten auf ihr Knie gestemmt und sah verlangend nach dem Vogel, und hin und wieder, wenn sie sich zu weit vordrängte, wies das Mädchen sie durch einen warnenden Schlag auf die Nase wieder an ihren Platz.

Dies kleine Bild, im Rahmen des in der Mittagsstille friedlich daliegenden Bauernhofes, verfehlte nicht seinen Eindruck auf Kantis empfängliches Herz. Unter dem zarten Laub des Jujubenstrauches huschten die Lichtkringelchen hin und her und spielten auf dem Schoße des Mädchens. Nicht weit davon lag eine Kuh behaglich wiederkäuend und wehrte mit trägen Bewegungen ihres Kopfes und Schwanzes die Fliegen ab. Der Nordwind flüsterte leise im nahen Bambusdickicht. Und sie, die ihm in der Morgenfrühe am Flußufer wie die Waldkönigin erschienen war, erschien ihm jetzt im Schweigen des Mittags wie die Gottheit des Hauses, die sich voll Erbarmen über ein leidendes Geschöpf neigte. Kanti, der mit seiner Flinte in ihr Bereich eingedrungen war, überkam ein Gefühl der Schuld. Er fühlte sich wie ein Dieb, der auf frischer Tat ertappt war. Es drängte ihn, ihr zu sagen, daß nicht er es war, der die Taube verletzt hatte. Als er noch so dastand und nicht wußte, wie er beginnen sollte, rief jemand vom Hause her: »Sudha!« Das Mädchen sprang auf. »Sudha!« rief die Stimme noch einmal. Sie nahm ihre Taube und lief hinein. »Sudha!,« dachte Kanti, »welch ein passender Name!« sudha bedeutet Nektar.

Er kehrte zu seinem Boot zurück, gab seine Flinte einem seiner Leute und ging zu der vorderen Tür des Hauses. Dort fand er einen Brahmanen von mittleren Jahren, mit einem friedlichen, glattrasierten Gesicht, der auf einer Bank vor dem Hause saß und in seinem Erbauungsbuch las. Kanti fand auf seinem gütigen ernsten Antlitz etwas von der Mildherzigkeit wieder, die aus dem des Mädchens leuchtete.

Kanti trat grüßend näher und sagte: »Darf ich um etwas Wasser bitten, Herr? Ich bin sehr durstig.« Der Brahmane hieß ihn mit eifriger Gastfreundlichkeit willkommen, und nachdem er ihn zum Niedersitzen auf die Bank genötigt, ging er hinein und brachte eigenhändig einen kleinen Zinnteller mit Zuckerwaffeln und einen zinnernen Krug mit Wasser.

Nachdem Kanti gegessen und getrunken hatte, bat der Brahmane ihn, ihm seinen Namen zu sagen. Kanti nannte seinen und seines Vaters Namen und seinen Wohnort. »Wenn ich Ihnen irgendwie zu Diensten sein kann, Herr,« fügte er in der üblichen Weise hinzu, »so werde ich mich glücklich schätzen.«

»Sie können mir nicht zu Diensten sein, mein Sohn,« sagte Nabin Banerdschi, »ich habe augenblicklich nur eine einzige Sorge.«

»Und was für eine Sorge ist das?« fragte Kanti.

»Die Sorge um meine Tochter Sudha, die herangewachsen ist« (Kanti lächelte, als er an ihr Kindergesicht dachte) »und für die ich noch keinen würdigen Bräutigam habe finden können. Wenn ich sie nur gut verheiratet hätte, so würde ich der Welt meine Schuld abgetragen haben. Aber hier am Ort ist kein passender Bräutigam für sie, und ich kann den Dienst meines Gottes hier nicht im Stich lassen, um anderswo für sie einen Gatten zu suchen.«

»Wenn Sie mich in meinem Boot aufsuchen möchten, Herr, so könnten wir über die Heirat Ihrer Tochter sprechen.« Mit diesen Worten verabschiedete sich Kanti und kehrte zu seinem Boot zurück. Dann sandte er einige von seinen Leuten ins Dorf, um sich nach der Tochter des Brahmanen zu erkundigen. Die Antwort war ein einstimmiges Lob ihrer Schönheit und Tugenden.

Als am nächsten Tage der alte Mann zu dem Boot kam, um seinen versprochenen Besuch zu machen, begrüßte ihn Kanti mit tiefer Ehrfurcht und bat ihn um die Hand seiner Tochter für sich selbst. Der Brahmane war so überwältigt von diesem ungehofften Glück, – denn Kanti gehörte nicht nur einer wohlbekannten Brahmanenfamilie an, sondern war auch ein reicher und angesehener Gutsbesitzer –, daß er zuerst kaum ein Wort erwidern konnte. Er dachte, es müsse sich um einen Irrtum handeln. Endlich wiederholte er mechanisch: »Sie selbst wollen meine Tochter heiraten?«

»Wenn Sie mich ihrer für würdig halten«, sagte Kanti.

»Sie meinen Sudha?« fragte der Alte noch einmal.

»Ja«, war die Antwort.

»Aber wollen Sie sie nicht erst sehen und mit ihr sprechen?«

Kanti verschwieg, daß er sie schon gesehen hatte, und sagte: »O, das wird bei der Hochzeit geschehen, im Augenblick der glückverheißenden Schau Nach der Verlobung dürfen Braut und Bräutigam sich nicht wiedersehen bis zu dem Teil der Hochzeitsfeierlichkeit, den man als »glückverheißende Schau« bezeichnet.

Mit vor innerer Erregung zitternder Stimme sagte der Alte: »Meine Sudha ist wirklich ein gutes Mädchen, in allen häuslichen Dingen geschickt. Da Sie sie so großmütig auf Treu und Glauben nehmen, so möge sie Ihnen nie einen Augenblick Kummer bereiten. Dies ist mein Segen!«

Man mietete das große Backsteingebäude des Archivars für die Hochzeitsfeierlichkeit, die auf den nächsten Magh Januar-Februar. festgesetzt wurde, da Kanti nicht gern länger warten wollte. Zur bestimmten Zeit erschien der Bräutigam auf seinem Elefanten mit Trommeln und Musik und einem Fackelzuge, und die Feierlichkeit begann.

Als der Augenblick der glückverheißenden Schau gekommen und der Scharlachschleier über das Brautpaar geworfen war, sah Kanti zu seiner Braut auf. In dem schüchternen, verwirrten Antlitz, das sich unter der Brautkrone neigte und ganz mit Sandelpaste bedeckt war, konnte er kaum das Dorfmädchen, dessen Bild seiner Phantasie vorschwebte, wiedererkennen, und seine Erregung war so groß, daß es sich wie ein Nebel über seine Augen legte.

Als die Hochzeitsfeierlichkeiten vorüber waren und die Frauen sich im Zimmer der Braut versammelten, bestand eine alte Dame aus dem Dorf darauf, Kanti solle selbst seinem Weibe den Brautschleier abnehmen. Als er es tat, fuhr er zurück. Es war nicht dasselbe Mädchen.

Es war ihm, als ob etwas in ihm aufstiege und sein Gehirn durchstäche. Als ob die Lichter der Lampen sich verdüsterten und Dunkelheit das Gesicht der Braut selbst schwarz färbte.

Im ersten Augenblick war er zornig auf seinen Schwiegervater. Der alte Halunke hatte ihm das eine Mädchen gezeigt und das andere verheiratet. Aber bei ruhiger Überlegung erinnerte er sich, daß ihm der alte Mann überhaupt keine Tochter gezeigt hatte, – daß alles seine eigene Schuld war. Er hielt es für das beste, seine heillose Dummheit den Menschen nicht zu verraten, und nahm mit scheinbarer Ruhe wieder seinen Platz ein.

Er brachte die Pille glücklich herunter, aber ihren Geschmack konnte er nicht loswerden. Die ausgelassene Fröhlichkeit der Hochzeitsgesellschaft war ihm unerträglich. Er war wütend auf sich selbst und auf alle anderen.

Plötzlich merkte er, wie seine Braut, die neben ihm saß, zusammenschrak und einen Schrei unterdrückte; ein junger Hase war ins Zimmer gesprungen und über ihre Füße gehuscht. Dicht hinter ihm kam das Mädchen, das er vorher gesehen hatte. Sie ergriff das Häschen, nahm es in ihren Arm und begann, ihm liebkosend etwas zuzumurmeln. »Ach, das verrückte Mädchen!« riefen die Frauen und machten ihr Zeichen, das Zimmer zu verlassen. Aber sie beachtete es nicht, sondern kam herein und setzte sich ganz unbekümmert dem Brautpaar gegenüber, das sie mit kindlicher Neugierde anstarrte. Als ein Dienstmädchen kam und sie am Arm nahm, um sie hinauszubringen, wehrte Kanti ihr hastig und sagte: »Laß sie in Ruh.«

»Wie heißt du?« wandte er sich dann an das Mädchen.

Diese wiegte mit dem Körper hin und her, aber gab keine Antwort. Alle Frauen im Zimmer begannen zu kichern.

Kanti stellte eine andere Frage: »Wie geht es deinen kleinen Enten?«

Das Mädchen fuhr fort, ihn unbekümmert anzustarren.

Der ganz verwirrte Kanti raffte seinen Mut noch einmal zusammen und erkundigte sich teilnahmsvoll nach der verwundeten Taube, aber es half ihm nichts. Das zunehmende Gelächter im Zimmer zeigte, daß irgend etwas bei der Sache sehr komisch war.

Endlich erfuhr Kanti, daß das Mädchen taubstumm und die Gefährtin aller Tiere im Dorfe sei. Es war nur Zufall gewesen, als sie sich damals bei dem Ruf Sudha erhoben hatte.

Jetzt traf es Kanti zum zweitenmal wie ein Schlag. Der dunkle Vorhang zerriß, der sich vor seine Augen gesenkt hatte. Mit einem aus tiefster Seele kommenden Seufzer der Erleichterung, wie aus einer furchtbaren Gefahr befreit, blickte er noch einmal in das Antlitz seiner Braut. Dann kam in Wahrheit die glückverheißende Schau. Das Licht, das aus seinem Herzen und von den hell leuchtenden Lampen strahlte, fiel auf ihr liebliches Antlitz, und er sah es in seinem wahren Glanz und wußte, daß Nabins Segen sich erfüllen würde.


 << zurück weiter >>