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Die ältere Schwester

I

Nachdem Tara den andern Frauen des Dorfes ausführlich berichtet, welch bösen, tyrannischen Gatten ihre unglückliche Nachbarin habe, und alle seine Missetaten aufgezählt hatte, sprach sie ihm kurz und bündig das Urteil: »Möge Feuer solchem Manne die Zunge verbrennen!«

Diese Worte verletzten Dschoygopal Babus Frau; es geziemte einem Weibe unter keinen Umständen, ein anderes Feuer als das einer Zigarre in eines Gatten Mund zu wünschen.

Als sie daher jenem Urteil sanft widersprach, rief die hartherzige Tara mit doppelter Heftigkeit: »Ich wollte lieber in sieben Leben nacheinander Witwe werden als die Frau eines solchen Mannes.« Und damit hob sie die Versammlung auf und ging fort.

Sasi dachte bei sich: Ich kann mir keine Kränkung von Seiten eines Gatten vorstellen, die das Herz so verhärten könnte. Und wie sie darüber nachdachte, wallte all die Zärtlichkeit ihres liebenden Herzens für ihren eigenen Gatten, der jetzt fern war, in ihr auf. Sie warf sich mit ausgestreckten Armen auf die Seite des Bettes, wo ihr Gatte zu liegen pflegte, sie küßte das leere Kissen und sog den Duft seines Hauptes ein. Dann schloß sie die Tür, holte aus einem hölzernen Kästchen eine alte, fast ganz verblichene Photographie mit seinen Schriftzügen und saß lange da, in Anschaun versunken. So verbrachte sie die stille Mittagszeit, allein in ihrem Zimmer, alten Erinnerungen hingegeben, und manch heiße Sehnsuchtsträne rann über ihr Antlitz.

Die Ehe zwischen Sasikala und Dschoygopal war nicht mehr jung. Sie waren früh verheiratet und hatten Kinder. Die lange Gewohnheit des Umgangs hatte ihr Leben in gemächlicher Alltäglichkeit dahinfließen lassen. Auf keiner Seite hatte sich je eine Spur großer Leidenschaft gezeigt. Sie hatten sechzehn Jahre ununterbrochen zusammen gelebt, als ihr Gatte plötzlich aus geschäftlichen Gründen von Hause abgerufen wurde, und nun erwachte ein starkes Liebesbedürfnis in Sasis Herzen. Da die Trennung das Band zwischen ihnen straffer spannte, zog sich der Knoten noch fester, und die Leidenschaft, die Sasi bisher gar nicht in sich gespürt hatte, preßte ihr das Herz jetzt schmerzhaft zusammen.

So geschah es, daß Sasi nach so vielen langen Jahren, in ihrem Alter und obgleich sie längst Mutter von Kindern war, an diesem Frühlingsmittag auf ihrem vereinsamten Ehebett liegend, den süßen Traum bräutlicher Jugend zu träumen begann; die Musik jener Liebe, die sie bisher nie vernommen hatte, drang plötzlich an ihr Ohr und spann sie in ihren Zauber ein wie der murmelnde Sang eines Flusses. Sie wanderte den Fluß hinauf und sah an beiden Ufern manch goldenen Palast und manchen schattigen Hain; aber ihr Fuß fand unter den entschwundenen Glückshoffnungen keinen Halt mehr. Da sagte sie sich, daß, wenn ihr Gatte erst zurückkäme, ihr Leben nicht wieder so leer dahinrinnen, daß der Frühling nicht wieder vergeblich an ihre Tür klopfen sollte. Wie oft hatte sie mit müßigem Streit und kleinlichem Zank ihren Gatten gequält! Mit der ganzen Einfalt eines reuigen Herzens gelobte sie sich, ihm nie wieder Ungeduld zu zeigen, niemals sich seinen Wünschen zu widersetzen, alle seine Befehle gehorsam hinzunehmen und in allem, im Guten wie im Bösen, mit liebevollem Herzen seinen Willen zu tun; denn für sie war der Gatte das Ein und Alles, der höchste Gegenstand der Liebe, ja, ein Gott.

Sasikala war die einzige Tochter und das Schoßkind ihrer Eltern. Darum machte Dschoygopal, der selbst nur ein kleines Vermögen hatte, sich keine Sorgen um die Zukunft. Sein Schwiegervater hatte genug, daß sie in einem Dorfe mit fürstlichem Aufwand leben konnten.

Da wurde Sasikalas Vater noch in seinem Alter ein Sohn geboren. Man muß gestehen, daß Sasi von diesem unerwarteten unschicklichen und ungerechten Benehmen ihrer Eltern sehr schmerzlich berührt war, und auch Dschoygopal war nicht gerade erfreut darüber.

Die ganze Liebe der Eltern richtete sich jetzt auf diese späte Frucht ihres Alters, und als der neuangekommene, winzige, schläfrige Schwager mit seinen beiden schwachen kleinen Fäustchen alle Hoffnungen und Erwartungen Dschoygopals an sich riß, da nahm dieser eine Stelle in einem Teegarten in Assam an.

Seine Freunde rieten ihm dringend, doch mehr in der Nähe Beschäftigung zu suchen, aber sei es nun aus einem allgemeinen Gefühl des Grolls oder weil er die guten Aussichten auf schnelles Emporkommen in einem Teegarten kannte, Dschoygopal wollte auf niemanden hören. Er schickte Frau und Kinder zu seinem Schwiegervater und reiste nach Assam. Es war die erste Trennung der Gatten, seit sie verheiratet waren.

Dies Ereignis machte Sasikala sehr zornig auf ihren kleinen Bruder. Der Groll, der nicht über die Lippen kommen darf, frißt um so mehr am Herzen. Wenn der kleine Bursche nach Herzenslust sog und schlief, fand seine große Schwester hundert Gründe zur Unzufriedenheit. Bald war der Reis kalt, oder die Knaben kamen zu spät zur Schule, oder was es sonst war. Tag und Nacht plagte sie sich und andere mit ihren ärgerlichen Launen.

Aber nach kurzer Zeit starb die Mutter des Kindes. Vor ihrem Tode übergab sie den kleinen Sohn der Sorge ihrer Tochter.

Da eroberte das mutterlose Kind schnell das Herz seiner Schwester. Laut schreiend streckte er seine Ärmchen nach ihr aus und versuchte mit aller Anstrengung ihren Mund, Nase und Augen in sein eigenes kleines Mäulchen zu bekommen; er packte mit seinen kleinen Fäustchen ihr Haar und wollte es nicht wieder loslassen; wenn er vor Tagesanbruch erwachte, wälzte er sich zu ihr hinüber, und sie fühlte die wohlige Wärme seines Körperchens und hörte seinem Lallen wie dem Plätschern eines Bächleins zu; später nannte er sie Dschidschi und Dschidschima und tyrannisierte sie ganz regelrecht, indem er bald verbotene Dinge tat, bald von verbotenen Speisen naschte, bald an verbotene Orte lief. Da konnte Sasi ihm nicht länger widerstehen. Sie ergab sich bedingungslos diesem eigenwilligen kleinen Tyrannen. Seit das Kind keine Mutter mehr hatte, hatte es Macht über sie bekommen.

 

II

Der Name des Knaben war Nilmani. Als er zwei Jahre alt war, wurde sein Vater ernstlich krank. Dschoygopal erhielt einen Brief mit der Bitte, so schnell wie möglich zu kommen. Als er mit viel Mühe Urlaub erhalten hatte und ankam, lag Kaliprasanna schon im Sterben.

Vor seinem Tode übergab er seinen Sohn der Sorge Dschoygopals und vermachte seiner Tochter den vierten Teil seines Besitzes.

Nun gab Dschoygopal seine Stellung auf und kam nach Hause, um nach seinem Eigentum zu sehen.

Nach langer Trennung sahen sich die Gatten wieder. Wenn irgendein Ding zerbricht, so kann man die Teile wieder zusammenfügen. Aber wenn zwei Menschen getrennt werden, so fügen sie sich nach langer Trennung nie wieder an derselben Stelle und zur gleichen Zeit zusammen; denn die Seele ist ein lebendes Wesen und wächst und wandelt sich jeden Augenblick.

In Sasi weckte die Wiedervereinigung neue Gefühle. Die Erstarrung jahrelanger Gewohnheit in der früheren Zeit ihrer Ehe war durch die Sehnsucht der Trennungszeit gänzlich gelöst, und es war ihr jetzt, als ob ihr der Gatte enger als je wieder verbunden würde. Hatte sie sich doch im Herzen gelobt: was für Tage auch kommen und wie lange sie auch dauern möchten, nie sollte der Glanz dieser Liebe zu ihrem Gatten sich trüben.

Dschoygopal jedoch empfand anders bei dieser Wiedervereinigung. Als sie früher beständig zusammengewesen waren, hatten ihn seine Interessen und Eigenheiten an sein Weib gebunden. Sie war damals eine lebendige Wahrheit in seinem Leben, und das Gewebe seiner täglichen Gewohnheiten hätte einen großen Riß bekommen, wenn sie plötzlich gefehlt hätte. Daher fühlte er sich, als er zuerst sein Heim verließ, ganz verloren. Aber mit der Zeit wurde dieser Riß in seiner Gewohnheit durch eine neue Gewohnheit wieder zugeflickt.

Und dies war nicht alles. Früher hatte er ganz sorglos und träge dahingelebt. In den letzten beiden Jahren war der Trieb, seine Lage zu verbessern, in ihm so mächtig geworden, daß er an nichts anders dachte. In der Heftigkeit dieser neuen Leidenschaft schien ihm sein früheres Leben wie ein wesenloser Schatten. In der Natur der Frau werden die größten Veränderungen durch die Liebe bewirkt, in der des Mannes durch den Ehrgeiz.

Als Dschoygopal nach zwei Jahren zurückkehrte, fand er, daß seine Frau nicht ganz dieselbe geblieben war. Ihr Leben hatte durch seinen kleinen Schwager an Umfang gewonnen. Dieser Teil ihres Lebens war ihm ganz fremd – hier hatte er keine Gemeinschaft mit seinem Weibe. Sie gab sich alle Mühe, ihn an ihrer Liebe für das Kind teilnehmen zu lassen, aber man kann nicht sagen, daß es ihr gelang. Sasi kam wohl mit dem Kinde auf dem Arm zu ihm und hielt es ihm lächelnd entgegen – aber Nilmani umklammerte Sasis Nacken und verbarg sein Gesicht an ihrer Schulter und wollte von der andern Verwandtschaft nichts wissen. Sasi wollte, daß ihr kleiner Bruder Dschoygopal all die Künste vormachte, womit er die Herzen zu gewinnen pflegte. Aber Dschoygopal lag gar nichts daran. Wie konnte das Kind dann Lust dazu haben? Dschoygopal konnte gar nicht begreifen, was an diesem dickköpfigen Kinde mit dem ernsten, bräunlichen Gesicht sei, daß man so viel Liebe an ihn verschwenden solle.

Frauen verstehen solche Dinge schnell. Sasi verstand sofort, daß Dschoygopal Nilmani nicht leiden mochte. Und von nun an hielt sie ihren Bruder sorgfältig im Hintergrund, um ihn vor dem lieblosen, abweisenden Blick ihres Mannes zu schützen. So wurde das Kind für sie ein heimlich gehüteter Schatz, der Gegenstand ihrer einsamen Liebe.

Dschoygopal war sehr ärgerlich, wenn Nilmani schrie; daher suchte Sasi das Kind immer schnell zu beruhigen, indem sie es zärtlich an sich drückte und ihm liebkosend zusprach. Und wenn Nilmanis Schreien des Nachts Dschoygopal einmal im Schlafe störte und Dschoygopal gefoltert aufbegehrte und über das Kind schalt, so zitterte Sasi innerlich und fühlte sich gedemütigt und schuldig. Dann nahm sie das Kind auf ihren Schoß und setzte sich mit ihm in die entfernteste Ecke und schmeichelte es mit tausend zärtlich geflüsterten Liebesworten wie: »mein goldiger Schatz, mein Augenlicht, mein holdes Kleinod« wieder in Schlaf.

Kinder zanken sich um hundert Kleinigkeiten. Sonst pflegte Sasi in solchen Fällen ihre Kinder zu bestrafen und ihres Bruders Partei zu nehmen, da er ja keine Mutter hatte. Jetzt veränderte sich mit dem Richter auch das Gesetz. Nilmani mußte oft unschuldig schwere Strafe erleiden, ohne daß Dschoygopal untersuchte, wer der Schuldige war. Dies Unrecht traf Sasi wie ein Dolch ins Herz; sie nahm ihren bestraften Bruder in ihr Zimmer und suchte, so gut sie konnte, mit Süßigkeiten und Spielsachen und durch Küsse und Liebkosungen sein gekränktes Herz zu trösten.

Je mehr Sasi Nilmani liebte, desto mehr ärgerte sich Dschoygopal über ihn. Und wiederum, je mehr Dschoygopal seine Abneigung gegen Nilmani zeigte, desto mehr badete Sasi das Kind in dem Nektar ihrer Liebe.

Und wenn Dschoygopal seine Frau rauh behandelte, so diente sie ihm mit schweigender Sanftmut und liebevoller Güte. Aber innerlich verletzten sie sich jeden Augenblick Nilmanis wegen.

Dies heimliche Aneinanderreiben bei einem solchen Konflikt ist viel schwerer zu ertragen als ein offener Zusammenstoß.

 

III

Nilmanis Kopf war das Größte an ihm. Es war, als ob der Schöpfer eine große Blase durch ein dünnes Rohr aufgeblasen hätte. Die Ärzte fürchteten zuweilen, daß das Kind auch einmal schnell wie eine Blase dahinschwinden könnte. Es lernte sehr spät sprechen und gehen. Wenn man sein ernstes, trauriges Gesicht sah, so hätte man denken können, daß seine Eltern die ganze traurige Last ihres Alters auf das Haupt dieses kleinen Kindes abgeladen hätten.

Dank der sorgfältigen Pflege seiner Schwester überstand Nilmani die gefährliche Periode der Kinderkrankheiten und war nun schon fünf Jahre alt.

Im Monat Kartik Mitte Oktober bis Mitte November. am Bhaiphoto-Tag Wörtlich Bruderzeichen. Ein schöner und rührender Brauch bei den Hindus: die Schwester macht mit Sandelpaste ein Zeichen auf die Stirn ihres Bruders und spricht eine Formel aus, kraft deren sie »vor das Tor Jamas, des Todesgottes, eine Schranke setzt« (d. h. ihm langes Leben wünscht). Bei dieser Gelegenheit bewirten die Schwestern ihre Brüder, machen ihnen Geschenke usw. (Anm. d. engl. Übersetz.) hatte Sasi Nilmani wie einen kleinen Babu herausgeputzt mit Rock und Tschadar Eine Art Plaid, das als Mantel getragen wird. und rotumsäumtem Lendentuch und war dabei, das Bruderzeichen auf seine Stirn zu malen, als ihre freimütige Nachbarin Tara hereinkam und anfing, mit ihr zu zanken.

»Es hat keinen Zweck,« rief sie, »dem Bruder mit so viel Prunk und Staat das Bruderzeichen zu geben, wenn man ihn im geheimen seines Eigentums beraubt.«

Sasi war wie vom Donner gerührt. Staunen, Wut und Schmerz kämpften in ihr. Tara wiederholte ihr das Gerücht, Sasi und ihr Mann hätten sich den Plan ausgeheckt, das Besitztum des minderjährigen Nilmani wegen rückständiger Pacht zum Verkauf zu stellen und es durch einen Vetter Dschoygopals für sich ankaufen zu lassen. Als Sasi dies hörte, stieß sie den Fluch aus, daß denen, die eine so schreckliche Lüge verbreiteten, die Zunge gelähmt werden möge. Dann ging sie weinend zu ihrem Manne und erzählte ihm von der Klatscherei. Dschoygopal sagte: »Man kann heutzutage doch niemandem trauen. Upen ist der Sohn meiner Tante, und ich fühlte mich ganz sicher, als ich ihm die Sorge für das Besitztum überließ. Wenn ich nur den geringsten Verdacht gehabt hätte, so hätte es nicht geschehen können, daß er das Gut Hasilpur in Zahlungsrückstand geraten ließ und es nachher heimlich für sich ankaufte.«

»Willst du ihn denn nicht verklagen?« fragte Sasi erstaunt.

»Den eigenen Vetter verklagen!« rief Dschoygopal. »Außerdem würde es gar nichts nützen, es wäre bloße Geldverschwendung.«

Es war Sasis vornehmste Pflicht, den Worten ihres Gatten zu glauben, aber sie konnte es nicht. Ihr glückliches Heim, ihr liebendes Wirken im Hause wurde ihr verhaßt. Das Familienleben, das einst ihre höchste Zuflucht gewesen war, war für sie jetzt nichts mehr als ein grausames Netz von Selbstsucht, das Bruder und Schwester von allen Seiten umstrickte. Sie war eine Frau und stand allein, wie sollte sie den hilflosen Nilmani retten? Je mehr sie grübelte, je mehr füllte sich ihr Herz mit Abscheu gegen ihren Gatten und mit unendlicher Liebe für ihren gefährdeten kleinen Bruder. Wenn sie nur gewußt hätte, wie sie es machen sollte, so wäre sie gern zum Lat Saheb Vizekönig. gegangen, ja sie hätte der Maharani Der Königin. selbst geschrieben, daß sie das Eigentum ihres Bruders rettete. Die Maharani hätte sicher nicht geduldet, daß Nilmanis Gut Hasilpur mit einem jährlichen Einkommen von 758 Rupien verkauft würde.

Als Sasi so bei sich überlegte, wie sie ihres Mannes Vetter zur Rechenschaft ziehen könnte, indem sie sich an die Maharani selbst wandte, wurde Nilmani plötzlich von Fieber und Krämpfen ergriffen.

Dschoygopal rief den Dorfarzt. Als Sasi ihn bat, einen besseren Arzt zu holen, sagte Dschoygopal: »Ach was, Matilal versteht seine Sache ganz gut.«

Sasi fiel ihm zu Füßen und beschwor ihn bei ihrem Leben, worauf Dschoygopal sagte: »Gut, ich werde den Arzt aus der Stadt schicken.«

Sasi kauerte auf dem Bette mit Nilmani im Schoß; er wollte sie auch keinen Augenblick aus den Augen lassen; er klammerte sich an sie, damit sie ihm nicht unter irgendeinem Vorwand entschlüpfte, selbst im Schlaf ließ er ihr Kleid nicht los.

So verging der ganze Tag, und abends kam Dschoygopal und sagte, daß der Doktor nicht zu Hause sei, er sei fort zu einem entfernten Kranken. Er fügte hinzu, er selbst müsse noch am selben Abend wegen eines Prozesses fortreisen und habe Matilal Bescheid gesagt, der sich regelmäßig nach dem Kranken umsehen wolle.

In der Nacht begann Nilmani im Schlaf zu phantasieren. Sobald der Morgen dämmerte, nahm Sasi, ohne sich im geringsten zu bedenken, ein Boot und fuhr mit ihrem kranken Bruder zum Arzt. Der Arzt war zu Hause – er war gar nicht aus der Stadt fortgewesen.

Er fand schnell ein Unterkommen für sie, und nachdem er sie der Fürsorge einer ältlichen Witwe übergeben hatte, unternahm er die Behandlung des Knaben.

Am nächsten Tage kam Dschoygopal. Kochend vor Wut gebot er seiner Frau, sofort mit ihm nach Hause zurückzukehren.

»Und wenn du mich kurz und klein schlägst, so kehre ich doch nicht zurück«, erwiderte sie. »Ihr alle wollt meinen Nilmani umbringen, der nicht Vater noch Mutter, der niemand als mich hat, aber ich will ihn retten.«

»Dann bleibst du hier und kommst nicht wieder in mein Haus zurück«, rief Dschoygopal zornig.

Da fuhr Sasi endlich auf. » Dein Haus! Das Haus gehört meinem Bruder!«

»Gut, wir werden sehen«, sagte Dschoygopal. Die Nachbarn erhoben einen großen Lärm über diesen Vorfall. »Wenn du mit deinem Mann zanken willst,« sagte Tara, »so tu es zu Hause. Wozu mußt du ihm davonlaufen? Er ist doch immer dein Gatte.«

Es gelang Sasi, indem sie alles Geld, was sie bei sich hatte, ausgab und ihre Schmucksachen verkaufte, ihren Bruder aus dem Rachen des Todes zu retten. Da hörte sie, daß ihr großes Besitztum Dwarigram, auf dem ihr Wohnhaus stand und dessen jährliche Einkünfte mehr als 1500 Rupien betrugen, mit Hilfe des Zemindars Der von der Regierung gegen eine Pachtsumme angestellte Hauptpächter eines Landstriches mit dem Recht der Unterverpachtung. von Dschoygopal auf seinen eigenen Namen umgeschrieben worden war. Jetzt gehörte also das ganze Besitztum nicht mehr ihrem Bruder, sondern ihnen.

Als Nilmani sich von seiner Krankheit erholt hatte, bat er immer wieder kläglich: »Laß uns nach Hause gehen, Schwester.« Er hatte Heimweh nach seinen Neffen und Nichten, seinen Gespielen. Daher sagte er immer wieder: »Laß uns heimgehen, Schwester, in unser altes Haus zurück.« Sasi weinte, wenn er so bat. Wo war ihr Heim?

Aber das Weinen nützte nichts. Ihr Bruder hatte niemanden auf der Welt als sie. Das sagte sich Sasi. So wischte sie denn ihre Tränen ab, ging in das Haus des stellvertretenden Friedensrichters, Tarini Babu, und bat seine Gattin, ihr zu helfen. Der stellvertretende Friedensrichter kannte Dschoygopal. Daß eine Frau ihr Haus verließ und wegen Eigentumssachen mit ihrem Manne Streit anfing, brachte ihn sehr gegen Sasi auf. Doch ließ er sich nichts merken, er schrieb sofort an Dschoygopal und hielt Sasi eine Zeitlang hin. Dschoygopal kam, setzte seine Frau und seinen Schwager mit Gewalt in ein Boot und brachte sie nach Hause.

So waren die Gatten nach einer zweiten Trennung zum zweitenmal wieder vereint. So wollte es Pradschapati Der Gott der Ehe bei den Hindus..

Nilmani war vollkommen glücklich, daß er nach langer Abwesenheit seine alten Gespielen wieder hatte. Wie Sasi seine ahnungslose Freude sah, war es ihr, als ob ihr das Herz brechen wollte.

 

IV

Der Friedensrichter bereiste während der kühlen Jahreszeit das Land und schlug sein Zelt im Dorf auf, um zu jagen. Auf der Dorfwiese traf der Sahib Nilmani. Die andern Knaben gingen dem großen Herrn wie einem gefährlichen Untier weit aus dem Wege. Aber Nilmani blieb unerschrocken stehen und starrte den Sahib ernsthaft und neugierig an.

Der Sahib ging belustigt auf ihn zu und fragte auf Bengalisch: »Du gehst in die Dorfschule?«

Der Knabe nickte stumm. »Was für pustaks Ein gelehrtes Wort für Bücher. liest du?« fragte der Sahib.

Da Nilmani das Wort pustak nicht verstand, starrte er den Friedensrichter nur weiter schweigend an. Zu Hause erzählte Nilmani seiner Schwester mit großer Begeisterung von dieser Begegnung.

Am Mittag ging Dschoygopal, mit Beinkleidern, langem Rock und Turban angetan, um dem Sahib seine Aufwartung zu machen. Ein Schwarm von Bittstellern, Dienern und Polizisten standen um ihn herum. Da der Sahib die Hitze fürchtete, hatte er sich draußen vor dem Zelt an einem kühlen schattigen Platz an den Gerichtstisch gesetzt, und nachdem er Dschoygopal einen Stuhl hatte bringen lassen, fragte er ihn, wie alles im Dorfe stände. Als Dschoygopal so vor aller Augen auf dem Ehrensitz Platz nahm, schwoll sein Selbstgefühl gewaltig, und er dachte, wie schön es wäre, wenn jetzt einer von den Tschakrabartis oder Nandis käme und ihn da sähe.

In diesem Augenblick kam eine Frau, das Antlitz dicht verhüllt und Nilmani an der Hand führend, geradewegs auf den Friedensrichter zu. »Sahib,« sagte sie, »Ihrem Schutz übergebe ich meinen hilflosen Bruder. Retten Sie ihn.« Der Sahib, der den ernsten Knaben mit dem großen Kopfe sogleich wiedererkannte und sich sagte, daß die Frau sicher einer angesehenen Familie angehörte, stand sogleich auf und bat sie, in sein Zelt einzutreten.

Doch die Frau sagte: »Was ich zu sagen habe, will ich hier sagen.«

Dschoygopal erbleichte. Für die neugierigen Dorfbewohner war die Geschichte ein Hauptspaß, und sie drängten sich heran. Aber sobald der Sahib seinen Stock erhob, machten sie sich davon.

Noch immer die Hand des Bruders haltend, erzählte Sasi die Geschichte dieses Waisenkindes von Anfang an. Sobald Dschoygopal versuchte, sie zu unterbrechen, donnerte ihn der Friedensrichter mit zornrotem Gesicht an: »Schweig!« und machte ihm mit dem Stock ein Zeichen, sich zu erheben und stehenzubleiben.

Dschoygopal, der innerlich vor Wut schäumte, stand stumm da. Nilmani schmiegte sich an seine Schwester und hörte scheu und furchtsam zu.

Als Sasi ihre Erzählung beendet hatte, richtete der Sahib ein paar Fragen an Dschoygopal, und nachdem er seine Antworten gehört hatte, schwieg er eine ganze Weile. Dann wandte er sich an Sasi: »Gute Frau,« sagte er, »wenn auch diese Angelegenheit eigentlich nicht vor mein Gericht gehört, so können Sie doch gewiß sein, daß ich die nötigen Schritte tun werde, um Ihnen zu helfen. Sie können ohne Sorge mit Ihrem Bruder nach Hause gehen.«

Doch Sasi erwiderte: »Sahib, solange das Haus nicht ihm gehört, wage ich nicht, ihn dahin zu bringen. Wenn Sie selbst nicht Nilmani bei sich behalten, wird niemand anders ihn retten können.«

»Und was soll aus ihnen werden?« fragte der Sahib.

»Ich werde in meines Gatten Haus zurückkehren«, sagte Sasi; »für mich ist nichts zu fürchten.«

Der Sahib lächelte ein wenig zweifelnd, und da ihm nichts anderes übrigblieb, so willigte er ein, diesen mageren, dunklen, ernsten, gesetzten vornehmen bengalischen Knaben, dessen Hals dicht mit Amuletten behängt war, in seine Obhut zu nehmen.

Als Sasi fortgehen wollte, klammerte der Knabe sich an ihr Kleid. »Hab' keine Angst, baba, – komm«, sagte der Sahib. Während die Tränen hinter ihrem Schleier flossen, sagte Sasi: »Ja, geh, mein Bruder, mein geliebter Bruder – du wirst deine Schwester wiedersehen!«

Damit umarmte sie ihn, strich ihm noch einmal liebkosend über Kopf und Rücken und riß sich dann eilig los, während der Sahib seinen linken Arm um ihn legte. Das Kind schrie auf: »Schwester, o meine Schwester!« Sasi wandte sich jäh um und streckte noch einmal stumm den Arm nach ihm aus, als wollte sie ihn trösten, dann eilte sie mit brechendem Herzen davon.

Und wieder trafen die Gatten in dem altvertrauten Hause zusammen. So wollte es Pradschapati!

Aber diese Vereinigung dauerte nicht lange. Denn bald darauf hörten die Dorfbewohner eines Morgens, daß Sasi in der Nacht an der Cholera gestorben und sofort eingeäschert sei.

Niemand äußerte ein Wort darüber. Nur die Nachbarin Tara wollte mitunter mit etwas herausplatzen, aber die Leute brachten sie schnell mit erschrockenem »Pst« zum Schweigen.

Sasi hatte beim Abschied ihrem Bruder versprochen, daß sie sich wiedersehen würden. Wo das Versprechen erfüllt wurde, kann niemand sagen.


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